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DIE SEE

Ich bin am Ende des Pfades angelangt, der durch den Stechginster hindurch zu den Dünen führt. Der Pfad geht über in einen Betonweg, angelegt vom Verteidigungsministerium, um zwischen den Dünen Zugang zum Strand dahinter zu ermöglichen. Automatisch lese ich wieder das Schild, womit gewarnt wird, dass, wenn die rote Flagge sich in der Luft bewegte, die Royal Air Force das Gleiche tut und die Hüllen der alten Panzer und Armeelastwagen unter Beschuss nimmt, die über die Weitläufigkeit des Strandes verstreut sind. Heute ist die Flagge nicht gehisst.

Ich bewege mich zwischen den Dünen entlang, nehme die kleine Steigung im Betonpfad und gehe dann das sanfte Gefälle hinunter und habe jetzt die Dünen im Rücken und vor mir nur die See und den Strand.

Etwa eine halbe Meile links von mir hockt ein von Raketen zerschossener Panzer wie eine Fliege auf der Kante eines Tisches. Über den platten Sand steuere ich auf ihn zu. Hier hinterlässt das Meer beim Zurückwei­chen keine Riffeln im Sand, sie zeigen sich erst in nicht weniger als zweihundert Meter Entfernung, in etwa dort, wo das Gerippe eines Transporters steht, das einzige Objekt, das als Maßstab herhalten kann für die flache Linie, entstanden aus dem Zusammentreffen von See und Himmel.

Auf meinem Weg Richtung Panzer gehe ich entlang der unberührten Fußspuren meiner Tour tags zuvor und der des Tages davor, und während ich gehe, sind auch meine Gedanken Überbleibsel der Gedanken meiner vorherigen Touren, und sie werden mich weiter verfolgen.

Mein Augenmerk konzentrierte sich auch auf die Bü­ro­ausstattung. Ich unterhielt vier Läden und ein paar Lagerhäuser. Nicht ein Jota dieser Geschäfte schien anrüchig. Kein Aktenschrank, kein Fünfzigpencestück. Wäre ein in diesem speziellen Zweig des Geschäftes Beschäftigter mit einer geklauten Packung Blaupapier hereinspaziert, man hätte ihn mit einem Tritt in den Arsch hinausbefördert und seine Papiere wären eineinhalb Sekunden später auf die Straße geschleudert worden. Ich hatte zwei oder drei solcher Firmen.

Es war die London-Bridge-Filiale, wo ich Jean kennenlernte. Sie war eine der Angestellten. Harris war dabei, uns zu verlassen. Edmonds, zuständig für das Geschäft insgesamt, beförderte Jean und das nicht nur, weil ihre Beförderung völlig in Ordnung gewesen wäre. Es brach­te ihm jedoch nichts ein, denn zur rechten Zeit machte ich ihre Bekanntschaft und anschließend lief er mit Scheuklappen umher, damit mir niemand hätte er­zählen können, er habe sie auch nur angesehen.

Ganz klar, es läuft nicht so, wie sie einem in der Glotze glauben machen wollen. Man geht nicht in die nächstbeste Bar, nachdem man seine erste Million gemacht hat, und erzählt der erstbesten Tusse, auf die man ein Auge geworfen hat, wie man sie gemacht hat. Noch spricht man darüber, bevor man es gemacht hat ... sonst macht man es nie. Das beweisen all diese traurigen Ge­schichten, von denen man aus den Zeitun­gen erfährt, absolute Pechvögel, die zwischen zwei Knastaufenthalten ihren Lohn nicht länger als fünf Minuten in den Händen halten.

Als ich sie kennenlernte, wohnte Jean in Orpington. Sie besaß dort ein Haus. Die Scheidung lief und das Haus sollte Teil der Vereinbarung werden. Er war zu jener Zeit in Kalifornien, trug geblümte Hemden und wollte seine vergeudete Jugend in Singlebars wettmachen. Er wolle frei sein, hatte er gesagt. Er sei natürlich bereits zuvor diverse Male fremdgegangen, aber das sei nicht gleichbedeutend mit Freiheit. Sie hätten zu jung geheiratet, hatte er gesagt. Als wir uns verabredeten, als wir dann darauf zu sprechen kamen, sagte sie mir, dass sie nie darüber hinwegkommen werde, niemals. Sie hätten einander so sehr geliebt, unmöglich, so habe es geschienen, dass es jemals dazu kommen könne, sagte sie mir.

Nun, das war in Ordnung. Ich stand unter keinem besonderen Druck. Sie war dreiunddreißig und die Zeit auf meiner Seite, nicht auf ihrer. Ich führte sie aus, so wie Chefs ihre Angestellten ausführen, musste in ihrem Falle nichts überstürzen. Andere meiner Angestellten, besser bezahlte, konnten meine zeitweiligen Bedürfnisse befriedigen und das während der Geschäftszeiten. Als es dann passierte, dauerte es noch drei Monate, bis ich herausfand, dass ihr Haar nicht seine natürliche Farbe hatte, und es dauer­te zwei Jahre, bis sie herausfand, wer ich war. Das war eine Woche vor unserer Hochzeit und spielte zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr. Allerdings hatte es andere Probleme gegeben.

DER RAUCH

Zwei Stunden später kam Collins vorbei, und er war nicht begeistert. Doch hatte er eine Wahl?

Er setzte sich auf das Sofa, sein fetter Hintern sorgte für Falten der Verdrängung auf dem Lederbezug. Ich goss ihm etwas von dem restlichen Champagner ein, setzte mich dann auf das Sofa ihm gegenüber und sah ihn an. Er war gepflegt und gut gekleidet wie immer.

»Wie geht’s Jean?«, fragte Collins.

»Komm zur Sache«, erwiderte ich.

Collins trank noch etwas Champagner.

»Warum hast du keinen Kontakt aufgenommen?«, fragte ich. »Bevor die ganze Scheiße bei euch losging?«

»Es war schwierig. Ich konnte nichts tun, ohne die Aufmerksamkeit auf unsere Beziehung zu lenken.«

»Komm mir nicht mit der Nummer, Dennis. Jeder bei euch weiß, welche Beziehung wir haben. Deshalb bist du ja dort.«

»Genau. Nachdem Arthur mit Farlow gesprochen hat­te, haben sie nur noch rumgestanden und gewartet, was ich tun würde. Terry festnehmen oder dich anrufen? Sie haben quasi Wetten auf mich abgeschlossen. Was immer sie auch wissen, ich musste Terry festnehmen, damit es so aussah, als werde dem Recht Genüge getan. Andernfalls hätte es Farlow die Gelegenheit gegeben, mit dem Commissioner zu sprechen.«

Ich dachte über Farlow nach.

»Schon mal erwogen, Farlow für uns einzunehmen?«

Collins schüttelte den Kopf.

»Ich trau ihm nicht.«

»Wir könnten ihm mehr bieten als die Shepherdsons.«

»Er würde nicht drauf eingehen. Eine Prinzipienfrage. Außerdem ...«

»Außerdem?«

»Sollte er für dich arbeiten, könntest du, könnte er oder könntet ihr beide möglicherweise zu dem Schluss kommen, dass ich entbehrlich bin.«

»Wie könnte ich jemals zu diesem Schluss gelangen, Dennis? Sollte ich dir irgendwann den Laufpass geben, würdest du mich nur der guten alten Zeiten wegen wohl kaum in deinen Memoiren vergessen.«

Ich goss noch etwas Champagner ein.

»Wann hat Farlow davon ausgehen können, dass Arthur alles zu Papier bringen und in Saffianleder binden lassen würde?«

»Keine Ahnung. Gut für uns, dass ich Terry herbeischaffen musste, bevor Farlow die Aussagen von Arthur und den beiden anderen präsentiert bekam. Er war derart aus dem Häuschen, dass ihm fast einer abging, bevor er die Hosen runter hatte.«

Ich trank ein wenig Champagner.

»Wie geht’s Arthur?«, fragte Collins.

»Nun, es scheint nicht notwendig, sich länger dabei aufzuhalten.«

»Und die anderen zwei?«

Ich sah auf meine Uhr.

»Die sollten mittlerweile verschwunden sein.«

»Mickey?«

Ich nickte.

»Dann ist das also auch geregelt.«

Er nahm einen Schluck Champagner und beäugte das Essen.

»Da du mich von meinem weggerissen hast, wie wär’s mit etwas von deinem?«

»Bedien dich.«

Collins nahm einen sauberen Teller und machte sich daran, ihn mit Rindfleisch zu bestücken.

»Trotzdem, Dennis«, sagte ich. »Über den Zeitpunkt bin ich nicht glücklich.«

»Ich hab dir ja gesagt«, erwiderte er und schaufelte dabei etwas von dem Zeug aus der Salatschüssel auf seinen Teller, »ich konnte nicht das Geringste dagegen un­ter­nehmen.«

DIE SEE

Wie in einem Traum scheint der Panzer nicht näher kom­men zu wollen. Je weiter der Morgen vorangeschritten ist, desto mehr hat sich der Wind gelegt und seine Abwe­senheit scheint die Perspektiven in die Länge zu zie­hen.

Nehmen wir einen Mann wie mich und die Liebe. Ein Schlachter liebt. Er schneidet einem Tier die Kehle durch, zerlegt es und wäscht sich das Blut von der Haut, geht nach Hause und mit seiner Frau ins Bett und lässt sie vor Lust schreien. Der Mann, der den Wieder­aufbau Hiroshimas zu verantworten hatte, liebte und wurde geliebt, womit ich nicht zwingend den Piloten meine oder den Mann, der die Bom­benklappen öffnete. Wer auch immer die Bombe in den Räumlichkeiten des Abercorns zurückließ, er würde sein Kind trösten, wenn es mit einer Schürfwunde am Knie nach Haus käme. Jeder liebt. Jeder denkt über Angelegenheiten nach, denkt über sich nach. Und ich denke darüber nach, was dazu geführt hatte, dass es anstelle einer anderen ausgerechnet Jean hatte sein sollen. Und wie jeder andere auch könnte ich eine Liste mit Dingen zusammenstellen, die sich zu meiner Obsession addieren ließen und die, wie bei jedem anderen, nur eine Liste bliebe; die Endsumme widersetzt sich dem simplen Prozess der Addition.

Der Ehemann hätte sich keinen besseren Zeitpunkt für seine Rückkehr aus Kalifornien aussuchen können. Nur wenige Tage, nachdem wir uns zum ersten Mal geliebt hatten. Eine Woche lang sah ich sie nicht. Ich wartete darauf, dass sie sich bei mir melden würde. Als sie es tat, schlug sie vor, gemeinsam zu Mittag zu essen; es sollte eine dieser Verabredungen werden.

Wir trafen uns im Al Caninos. Aus irgendeinem Grund mochte sie dieses Restaurant.

Sie erklärte mir, es werde sich nun alles einrenken. Was ich verstehen müsse, sei, dass er habe tun müssen, was er getan habe. Es sei falsch gewesen, und er habe es bereut, kaum dass er gegangen sei. Jetzt sei er zurück und bei seiner alten Firma gewesen. Die könnten noch immer Vertreter seines Kalibers gebrauchen. Es gebe keinen Grund mehr, die Scheidung voranzutreiben. Es werde keine Affären mehr geben, kein Wiederaufleben des Freiheitsdranges. Zu Hause sei jetzt dort, wo sein Herz sei.

»Tja«, erwiderte ich, »was soll ich sagen? So ist der Lauf der Dinge. Da kann ich nichts machen. Außer dir all das zu wünschen, was du dir selbst wünschst.« Sie bedankte sich für mein Verständnis. Nur wenige Männer besäßen dieses Feingefühl, meinte sie.

DER RAUCH

Mickey suchte mich nicht vor zehn am Vormittag auf. Niemals. Nicht einmal in einer Situation wie dieser, wo er doch einen Erfolg zu vermelden hatte oder, besser gesagt, das Aufspüren von Wally Carpenter und Michael Butcher und das Entsorgen ihrer Leichen zusammen mit dem, was einst Arthur Philips gewesen war. Mickey hatte keine Veranlassung, mich mitten in der Nacht an­zurufen. So sehr vertraute ich ihm, und er wusste das. Alles eine Frage des Delegierens.

Als Mickey eintraf, hatten sowohl Jean als auch ich bereits ein Bad genommen und gefrühstückt, und sie war hinüber ins Büro gegangen, um die wöchentliche Kontrolle verschiedener Umsätze vorzunehmen. Ich saß an dem schwedischen Schreibtisch mit der Glasplatte, das Fenster im Rücken, trank Kaffee und las im Express den Bericht über das Spiel zwischen den Queens Park Rangers und den Spurs. Es bestand kein großer Zweifel, die Spurs würden absteigen, aus welchem Blickwinkel man es auch betrachtete.

Während des Frühstücks hatten Jean und ich nur we­nig miteinander gesprochen. Die Themen wurden eingeschränkt, um Toast und Kaffee den Vorzug geben zu können. Aber wir würden Zeit zum Reden haben, nachdem das Tagesgeschäft erledigt worden war.

»Nun, Mickey?«, fragte ich.

»Lief wie am Schnürchen«, sagte er und goss sich etwas Kaffee in die Tasse, die ich für ihn bereitgestellt hatte.

Er nahm einen Schluck und setzte sich mir gegenüber, das Fenster im Blick.

»Auch wenn es ein Glücksumstand für uns gewesen ist, dass alles so schnell ging«, sagte er.

»Meint auch Collins«, sagte ich.

»Die hatten überhaupt keinen Plan. Vorkehrungen sind für sie zweitrangig gewesen. Ist mir schlei­erhaft, wirk­lich.«

»Wo haben sie gesteckt?«

»In dem Bau, den Carpenter immer augenzwinkernd als sein ›Pied-à-terre‹ bezeichnet hat. In Brighton. Ich glaube wirklich, er hat sich vorgemacht, dass nur er da­von gewusst hat.«

»Wie ist es abgelaufen?«, fragte ich interessehalber.

»Ich hab ihn angerufen. Anonym, sozusagen als einer, der es gut mit ihm meint. Dann habe ich in Wallys Wa­gen gewartet. Sie kamen rausgeflogen wie Tontauben. Ich habe mich aufgesetzt und Wally gesagt, wohin er fahren soll. Danach bin ich zurück in die Stadt und habe die Leichen zu Arthurs Leiche gelegt. Nachdem das erledigt war, bin ich mit dem Wagen zu Cliff Wray gefahren.«

Was bedeutete, dass der Wagen vom Nummernschild bis zur Karosserie überholt worden war und mittlerweile schön und glänzend auf dem Vorhof einer bestimmten Werkstatt in Ealing zum Verkauf stand. Ich beleidigte Mickey nicht und verzichtete auf die Frage, ob man die Leichen ebenfalls noch überholen könne.

»Danke, Mickey.«

Mickey machte nur eine verhaltene Geste mit der Hand, was sein Gravurarmband leise zum Klimpern brachte. Sofern man überhaupt nah genug herankam, um es zu entziffern, war da nur ein einziges Wort in das Metall eingraviert: KISMET. Und es stand dort nicht nur, weil der Film Mickey gefallen hatte.

Er bemerkte die Rückseite des Express und drehte die Zeitung auf der Glasplatte herum, sodass er das Ergebnis des Spiels lesen konnte.

»Mein Gott!«, sagte er.

»Nun, was soll’s. War bereits in der letzten Saison ab­sehbar.«

»Sie hätten Billy Nick niemals ziehen lassen dürfen. Er hat alles im Griff gehabt.«

»Tja ...«

Mickey studierte die Zeitung noch eine Weile, drehte sie anschließend so herum, dass das Gedruckte von meiner Position aus wieder lesbar war. Dann schien für kurze Zeit der Himmel jenseits des Fensters hinter mir seine Aufmerksamkeit zu beanspruchen.

»Was ist?«, fragte ich.

Er richtete seinen Blick auf die Schreibtischkante, fuhr mit dem Daumen daran entlang.

»Ich hab nachgedacht«, sagte er.

Ich wartete.

»Vergangene Nacht«, sagte er. »Sie waren bisher nie dabei gewesen. Ich meine, nicht seit diesen paar Monaten im Anschluss an meinen Einstieg in die Firma.«

Ich wartete weiter.

»Und Mrs. Fowler. Ich weiß, wie Sie und Mrs. Fowler, Sie wissen schon, in vielen Dingen einen gemeinsamen Entschluss fällen.«

Ich lächelte.

»Kein Grund, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, Mickey«, sagte ich. »Mittlerweile sollte es dir klar sein ... solche Dinge haben nichts mit uns zu tun. Ich meine, du bist ein Hauptaktionär. Was, wenn nicht das, sollte mein Vertrauen in dich unter Beweis stellen?«

Mickey schniefte.

»Nun, ich hätte es wirklich nicht ansprechen sollen«, sagte er.

»Es bestand kein Anlass.«

»Nein.«

Mickey schniefte wieder, dann stand er auf.

»Nun denn«, sagte er, »ich bin auf dem Weg zu Maurice Ford. Nur eine Kontrolle. Wollen Sie, dass ich ihm was ausrichte?«

»Nichts, was mir jetzt einfiele. Im Falle unvorhergesehener Ereignisse liegt es natürlich bei dir, was du ihm sagst.«

»Genau«, sagte Mickey. »Ich hau dann mal ab.«

Er klopfte mit dem Knöchel einmal auf die Tischkante, ging um den abgesenkten Bereich herum, öffnete die Doppeltür und schloss sie hinter sich.

Ich blickte auf die Zeitung vor mir. Die Fotos zeigten Stan Bowles, der die Faust in die Luft streckte, als er sich Sekunden nach dem entschei­denden Treffer vom Tor abwandte.

Mickey war schon ein sehr cleverer Junge.

Schwere Körperverletzung

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