Читать книгу Zusammen träumt sich's schöner - Teresa Nagengast - Страница 3
ОглавлениеKAPITEL 1
Es gibt Momente im Leben, in denen du jemanden so sehr vermisst, dass du ihn aus deinen Träumen entführen möchtest, um ihn wirklich zu umarmen!
Ich stehe auf rotbraunem Sand. Mein Blick gleitet von einer orangebraunen Düne zur Nächsten und schließlich Richtung Horizont, wo die Farben mit dem leuchtend roten Himmel zu verschmelzen scheinen. Es ist ein unglaublicher Anblick, den Sonnenuntergang in einer Wüste zu erleben. Die Landschaft hat etwas surreales, als wäre sie gemalt, so ungeheuer weitläufig und geradezu grotesk leer. Früher dachte ich immer, dass eine Wüste nur aus Sand besteht, doch jetzt, wo ich mitten drin stehe, entdecke ich vor allem Kies, kleine Felsen und Geröll. Wenn ich die Augen zusammenkneife und vor dem gleißenden Licht der Sonne schütze, kann ich ganz in der Ferne eine Oase sehen. Sattgrüne Bäume und gigantische Palmen umzingeln einen tiefblauen Teich. Es ist skurril, so einen paradiesischen Ort mitten in der Einöde zu sehen. Neugierig laufe ich durch den heißen Sand und freue mich darauf mir das kühle Wasser ins Gesicht zu spritzen, denn die Sonne strahlt unerbittlich auf meine dunklen Locken.
Hoffentlich ist es nicht nur eine Fata Morgana. Plötzlich höre ich hinter mir ein Geräusch. Erschrocken fahre ich herum und wirbele dabei den Sand unter meinen Füßen auf. Ich blinzele, um keine Sandkörner in die Augen zu bekommen und schirme mit einer Hand meine Augen ab, um durch den grellen Sonnenstrahl besser sehen zu können. Nur einige Meter von mir entfernt steht ein junger Mann mit dunkelbraunen Locken, die ihm wirr ins Gesicht fallen und großen braunen Augen, die mich überrascht anstarren. Er müsste in etwa in meinem Alter sein und er sieht wirklich verdammt gut aus. Das kann doch nur ein Traum sein, oder? Ich will ihn gerade fragen, wie er heißt und vor allem, wieso er keine Schuhe trägt und mit seinen bloßen Füßen in dem brennend heißen Sand steht, da höre ich plötzlich ein erneutes Rumpeln. Wieder fahre ich herum und starre auf meine Zimmerdecke, die kalt und weiß zurückstarrt. Der strahlend weiße Himmel und der blassrote Sand sind verschwunden, ebenso wie der Junge mit den dunklen Locken.
Schade - es war wirklich nur ein Traum. Ich seufze tief, quäle mich aus meiner warmen Bettdecke und setze mich auf. Mein Zimmer liegt im Halbdunkeln da und obwohl mir noch vor Müdigkeit die Augen zufallen, weiß ich, dass es Zeit für die Schule ist. Lustlos schnappe ich mir eine Jeans und einen dunkelgrünen Pullover und verschwinde ins Badezimmer. Der Boden ist noch warm. Meine Schwester ist also bereits wach und hat die Bodenheizung angemacht. Flüchtig spritze ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht, ziehe Jeans und Pullover an, kämme mir einmal durch die widerspenstigen lockigen Haare, gebe wie jeden Tag nach zwei Sekunden auf, und schlürfe die Treppe hinunter. Von oben höre ich bereits die kreischende Stimme meiner kleinen Schwester. „Christina, nicht in diesem Ton!“, höre ich meine Mutter daraufhin schreien. „Ich rede so, wie ich möchte!“, brüllt meine Schwester zurück. Ich hasse Montage! Zum Glück ist es das letzte Schuljahr, bis meine Schulzeit endgültig vorbei ist und ich in München mein Studium beginnen werde. Stumm quetsche ich mich an den Streithähnen vorbei, gehe in die Küche und hole mir die Packung Cornflakes. Als ich in das Esszimmer zurückkomme, hat sich meine Mutter von meiner Schwester abgewandt. „Guten Morgen“, raune ich ihr zu und setze mich an den Tisch, während meine sechzehnjährige Schwester gegenüber stumm mit verschränkten Armen und zusammengezogenen Augenbrauen vor sich hin schmollt. Einfach Typisch! So läuft das jeden Morgen ab. Nach einem spärlichen Frühstück schnappe ich mir meinen roten Herbstmantel und meine neue Umhängetasche, die ich mir von meinem Taschengeld gegönnt habe, rufe einen kurzen Abschiedsgruß über die Schulter und ziehe die Haustür zu. Ich blicke mich um und sehe die ersten bunten Blätter von den Bäumen fallen.
Rot, orange, kupferfarben und braun - ein Meer voll Farben umgibt mich. Es ist Ende September und bereits richtig herbstlich. Wäre heute nicht Montagmorgen, fände ich den Anblick wahrlich schön. Doch so denke ich nur daran, dass eine ganze Woche Schule vor mir liegt. An der Bushaltestelle hole ich meinen I-Pod aus der Tasche und schalte die Hektik und die aufgeweckten Gespräche um mich herum aus.
Wahllos scrolle ich in meiner Musikliste, bis ich mich schließlich für ein Lied von Coldplay entscheide. In der Zwischenzeit ist auch meine Schwester an der Haltestelle angekommen und reiht sich hinter mir ein. Noch immer hat sie ihren Mund zu einer Schnute gezogen und schmollt. Zum Glück lässt sie mir meine Ruhe. Der alte Schulbus fährt vor und alle drängen sich nach vorne, um einen Sitzplatz zu ergattern. Ich habe Glück und erobere noch einen Sitz am Fenster. Träge döse ich ein und öffne erst meine Augen, als der Bus zum Stillstand kommt.
Am liebsten wäre ich sitzengeblieben und einfach weitergefahren, doch eine Doppelstunde Mathe wartet auf mich. Der Lärm aus dem Klassenzimmer schallt mir bereits im Schulflur entgegen. Der Unterricht hat noch nicht begonnen.
„Wie war dein Wochenende? Was hast du so getrieben?“, fragt mich meine beste Freundin Ilona prompt, als ich das Klassenzimmer betrete und mich neben sie in der letzten Reihe auf den Stuhl plumpsen lasse. „Ich habe die letzten Sonnenstrahlen am See genossen“, erwidere ich grinsend und für einen Augenblick kommen mir wieder dieser seltsame Traum in der Wüste und dieser unbekannte, hübsche Mann in den Sinn. „Und wie war dein Wochenende in Bamberg?“ Seit ihr Pate nach Bamberg gezogen ist, besucht sie ihn dort regelmäßig. „Es war echt schön.
Tagsüber war ich in der Stadt und abends auf einer Straßenfete“, beginnt sie zu erzählen. Dann erwartet mich wieder eine spannende Männergeschichte, denn Ilona erzählt ständig von irgendwelchen Jungen, die sie kennengelernt hat. Mit ihren blonden Haaren und den strahlend blauen Augen ist sie die Art Mädchen, denen die Typen reihenweise hinterher schauen. „Da war ein Junge.“, legt sie auch schon los. „Und er hat sich in dich verknallt“, schließe ich die Geschichte gelangweilt und unterdrücke ein Gähnen. „Nein, eben nicht. Er hat mich nicht einmal angeschaut“, seufzt sie mit großen Augen. „Ach das kann doch gar nicht sein!“, antworte ich verwundert. Das kam ja noch nie vor. „Wie sah denn dein Traumprinz aus?“ Groß, blond, gutaussehend - so sehen sie bei ihr alle aus. „Guten Morgen, liebe Klasse“, ertönt die Stimme unserer Lehrerin und unterbricht damit Ilonas Schwärmereien.
Seufzend drehe ich mich nach vorne und hole mein Mathebuch aus der Schultasche. Neben mir sehe ich Ilona ein Stück Papier aus der Tasche holen.
Wahrscheinlich will sie mir nun schriftlich von ihrem Romeo berichten. Ich lasse mein Gesicht auf meine Arme fallen und schließe die Augen, denn die Müdigkeit von heute Morgen kommt mit den ersten Worten unserer Mathelehrerin schlagartig zurück.
Die sechs Unterrichtsstunden vergehen quälend langsam und nachdem wir auch noch eine unerwartete Probe geschrieben haben, bin ich nach dem Schulgong mehr als froh, den Tag überstanden zu haben.
Zuhause lege ich mich ohne Umwege auf das Sofa und schalte den Fernseher an. Es kommt wie immer um diese Uhrzeit nur Blödsinn im Fernseher und so dauert es nicht lange und mir fallen die Augen zu. Als ich aufwache, sehe ich, dass der Fernseher noch immer eingeschaltet ist. Fröhlich hüpft die Gummibärenbande vor meinen Augen durch den Wald. Ich kann mich nicht erinnern, auf einen Kinderkanal geschalten zu haben, doch vielleicht war meine Schwester zwischendurch im Wohnzimmer. Gähnend greife ich hinter mich, um mein Handy zu holen und auf die Uhr zu schauen, doch meine Hand greift ins Leere. Ich taste das Sofa ab, reibe mir mit der anderen Hand über die müden Augen und setze mich schließlich auf. Verwundert blicke ich mich um.
Unser hellbrauner Esstisch, das alte Keyboard, bei dem bereits eine Taste fehlt, und die Bilder, die mich am ersten Schultag und meine Schwester beim Reiten zeigen, sind verschwunden. Stattdessen schaue ich auf einen dunkelbraunen Wohnzimmerschrank mit getönten Glasscheiben, hinter denen geschnitzte Holzfiguren verwahrt sind. Ich sehe einen Vogelkäfig, in dem ein farbenfroher Papagei sitzt und die Gummibärenbande hüpft in einem tollen schwarzen Plasmafernseher, der um einiges größer als unser alter Fernseher ist, weiterhin fröhlich umher. Ich drücke die Augen fest zusammen, zähle bis fünf und öffne sie wieder, doch noch immer schaut mich der Papagei aus seinem Gefängnis fragend an und noch immer ist die vertraute Gegend verschwunden. Mit aller Kraft zwicke ich mir so stark in den Arm, dass ich mir einen Schmerzenslaut unterdrücken muss. Doch es hilft nichts: Unser behagliches Wohnzimmer bleibt verschwunden. Aber das muss doch wieder ein Traum sein? Vielleicht schlafe ich so tief, dass selbst das Zwicken nichts hilft! Achselzuckend beschließe ich erst einmal das Haus zu erkunden. Neben dem Wohnzimmer befindet sich eine geräumige Küche, mit weißen Schränken und grauen Fliesen. Ordentlich ist sämtliches Geschirr abgewaschen und zum Trocknen aufgestellt. Die Obstschale ist gefüllt mit Bananen, Äpfeln und Pfirsichen. Selbst die Geschirrtücher hängen glattgestrichen neben der Tür.
Als die Abspannmusik der Kinderserie ertönt, gehe ich ins Wohnzimmer zurück. Bislang habe ich weder ein Geräusch gehört, noch den Bewohner der Wohnung gesehen.
Doch als ich vor den großen Schrank trete, um mir durch die Glasscheiben die Holzfiguren näher anzuschauen, fühle ich mich plötzlich beobachtet. Bilde ich mir das nur ein oder kann ich aus den Augenwinkeln einen Schatten hinter der Sofaecke erkennen? Langsam drehe ich mich um, bereit einen Vortrag über Hausfriedensbruch zu hören. Doch ich entdecke stattdessen ein kleines Mädchen, nicht älter als 4 oder 5 Jahre, das starr vor Schreck hinter dem Sofa kauert. Hoffentlich fängt sie nicht an zu Weinen.
„Hallo du.“ Vorsichtig gehe ich auf die Knie, um auf Augenhöhe mit dem verschreckten Mädchen zu sein, und versuche möglichst vertrauenswürdig und freundlich zu klingen. „Ich heiße Josephine und wie heißt du?“ Keine Antwort, stattdessen steckt die Kleine ihren Daumen in den Mund. „Ich tue dir nichts“, versuche ich sie zu beruhigen. Das Mädchen schaut mich weiterhin mit unsicherem Blick an. Dann, ganz langsam, lässt sie die Hand sinken und flüstert so leise, dass ich mich näher zu ihr beugen muss, um sie zu verstehen: „Lola.“ „Das ist aber ein schöner Name, Lola“, erwidere ich lächelnd. „Und wo sind deine Eltern?“ Wieder keine Antwort. Da spüre ich auf einmal wie mich jemand an der Schulter rüttelt. Erschrocken fahre ich herum, um mir eine Standpauke der wütenden Mutter anzuhören, doch stattdessen blicke ich in die graublauen Augen meiner eigenen Mutter, die mich wachrüttelt. „Josephine, Telefon für dich“, erklärt sie mir. Ich brauche einige Sekunden, um aus meinem Traum zu erwachen, dann greife ich nach dem Hörer, den meine Mutter mir bereits vor das Gesicht hält. „Ja?“ - Ich erwarte die aufgeregte Stimme von Ilona zu hören - und behalte Recht. Doch anstatt aufgeregt, klingt ihre Stimme vollkommen aufgelöst. Ich kann kein Wort verstehen!
Bestimmt jammert sie wegen dem Typ aus Bamberg, denke ich und verdrehe bereits innerlich die Augen. Als das Weinen jedoch nicht aufhört, wird mir klar, dass etwas weit Schlimmeres passiert sein muss, als nur die Abfuhr eines Jungens - schließlich sind wir keine Teenager mehr.
Nach einiger Zeit höre ich durch ihre Schluchzer hindurch nur einen Satz: „Mein Vater ist tot.“ Sie fängt wieder an zu schluchzen, doch das bekomme ich nicht mehr mit. Um mich herum ist es still geworden und selbst das monotone Brummen des Geschirrspülers, welchen meine Mutter vor einer halben Stunde eingeschaltet hat, ist verstummt. Ich fühle mich wie betäubt. Ich muss träumen, schießt es mir durch den Kopf, so wie ich von dem Mann mit den Rehaugen geträumt habe und von der kleinen Lola, die mich so ängstlich angeschaut hatte. Das konnte unmöglich real sein. Ich versuche mich in den Arm zu zwicken, doch ich kann meinen Arm nicht bewegen. Nicht einmal meine bereits trockenen Augen kann ich schließen. Ich merke auch nicht, wie meine Mutter mir das Telefon aus der Hand nimmt und sich neben mich setzt, die Hand auf meine Schulter legt und mich in die Arme ziehen will. Doch ich merke irgendwann, dass dies kein Traum ist. Allmählich kann ich wieder klarer sehen und zumindest verschwommen Umrisse wahrnehmen. Auch die Stille verschwindet. Ich kann hören, wie draußen ein Auto vorbeifährt und wie eine Katze kläglich miaut. Doch meine Mutter kann ich noch nicht verstehen. Vielleicht will ich sie auch nicht verstehen, weil ihre Worte mir zeigen würden, dass ich nicht träume und dass ich Ilona auch nicht falsch verstanden habe.
Ich spüre, wie sie den Druck ihrer Hand auf meiner Schulter verstärkt, vermutlich um mir Trost zu schenken. Doch für mich fühlt es sich an, als wolle sie mich erdrücken, als würde mir die Luft ausgehen und als würde ich in den Boden gedrückt.
Ich merke, dass ich endlich auch meinen Körper wieder unter Kontrolle habe, zumindest genug, um taumelnd aufzuspringen und aus dem Haus zu rennen. Fast wäre ich über eine Stufe gestolpert und hingefallen, doch ich kann mich gerade noch auffangen. Ich laufe einfach los, ohne eine Ahnung davon zu haben, wo ich hinlaufe. Ich laufe, solange, bis meine Lunge schmerzt und es in meinen Seiten zu stechen beginnt. Dann erst halte ich an, stütze mich auf meine Knie und atme tief ein. Wie ein Fisch, der auf dem Trockenen schwimmt, ziehe ich die Luft in unregelmäßigen kurzen Stößen ein. Als sich mein Körper von der Anstrengung beruhigt hat, merke ich, dass auch mein Kopf durch die frische Luft klarer geworden ist. Eine Freundin meiner Mutter, die auch in der Siedlung wohnt, blickt mich überrascht an. Es kommt selten vor, dass ich so aufgewühlt durch die Straßen renne - eigentlich kommt es so gut wie nie vor. Ich nicke ihr kurz zu, bevor ich mit schnellem Schritt weiterlaufe. Ich muss zu Ilona! Als hätte mein Unterbewusstsein es gewusst, bemerke ich, dass ich automatisch in die richtige Richtung gerannt bin. Wenn ich meine Augen zusammenkneifen und ganz angestrengt in die Ferne sehen würde, könnte ich sogar schon ihr Haus erkennen. Doch daran verschwende ich heute keinen Gedanken. Ich sammle meine Kraft und mache mich mit schnellen Schritten auf den Weg. Mit jedem Meter, den ich näher komme, verlangsame ich mein Tempo, bis ich schließlich zwei Häuser vor meinem Ziel zum Stehen komme.
Was soll ich ihr sagen? Wie soll ich sie trösten, wo ich selbst völlig neben der Spur stehe? Wie kann ich ihr zeigen, dass ich sie verstehe, wenn ich nicht einmal die Bedeutung ihrer Worte verstehen kann? Tausend Fragen schießen durch meinen Kopf, doch keine einzige Antwort ist dabei. Ich packe meinen Mut zusammen und klingele. Ein Kloß steckt mir im Hals und ich hoffe, nicht schon beim Anblick meiner Freundin weinen zu müssen. Ganz langsam öffnet sich die Tür. Durch den Spalt kann ich strähnige blonde Haare und ein verquollenes, in Wasser schwimmendes, blaues Auge erkennen. Ich versuche etwas zu sagen, wenigstens ihren Namen zu nennen, doch meine Stimme ist wie weggeblasen. Nicht einmal ein Krächzen bekomme ich heraus.
Ein paar Sekunden stehe ich hilflos vor der halb geöffneten Tür, dann überwinde ich mich, stoße die Tür weiter auf und umarme Ilona. Steif wie ein Stock und gleichzeitig so zerbrechlich wie Glas lässt sie sich von mir festhalten. Ihre Schultern zucken, ich spüre wie einzelne Tränen auf meinen Hals fallen. Ich kann nicht sagen, wie lange wir in dieser Position verharren, es könnten nur Sekunden oder Minuten, aber auch eine ganze Stunde gewesen sein. Wir lösen uns erst voneinander, als Ilona ein Taschentuch aus ihrer Hose holt, um durch die verstopfte Nase wieder Luft zu bekommen. „Wollen wir nach oben gehen?“, frage ich sie zögernd. Sie nickt nur leicht mit dem Kopf, schlurft langsam die Treppenstufen hoch und schmeißt sich dann auf ihr Bett. Dort bleibt sie liegen, wie ein neugeborenes Baby, die Knie bis zum Kinn hochgezogen. Unsicher setze ich mich zu ihr und lege ihr, ähnlich wie meine Mutter zuvor bei mir, die Hand auf die Schulter. Noch immer zucken ihre Schultern leicht, doch die Tränen sind versiegt. Vermutlich hat sie bereits alle vergossen, sodass einfach keine Tränenflüssigkeit mehr übrig ist. So sitzen wir in ihrem Zimmer, ohne ein Wort zu sagen. In ihrem Zimmer, in dem wir bereits die meiste Zeit unserer Teenie-Jahre verbracht hatten und in der es nie still war, herrscht heute angsterfülltes Schweigen. Da wird mir bewusst, dass sich alles in dem Haus geändert hat, dass es hier nie wieder so unbeschwert werden wird, wie es mal war. Nie wieder! Ich merke, wie sich meine Augen mit Wasser füllen, fast schmerzhaft, weil sie durch das leere Starren nahezu ausgetrocknet sind. Ich versuche meine Tränen so gut wie möglich zu verbergen und herunterzuschlucken, um meiner Freundin als starke Schulter zu dienen.
Da höre ich plötzlich ganz leise, kaum vernehmbar, ihre Stimme: „Wieso? Wieso hat er das getan?“ Kein Schluchzer ist mehr zu hören, keine Tränen und kein Zucken der Schultern. Nur diese Frage. Die Frage, die mir selbst durch den Kopf schwirrt und auf die wohl niemand eine Antwort haben wird. „Ich weiß es nicht“, hauche ich.
„Ich mein, ich dachte, wir wären glücklich. Wir waren doch eine Familie.“ „Ich weiß es nicht“, wiederhole ich mich unbeholfen. „Wie soll ich denn jetzt im nächsten Jahr mit dir nach München ziehen und meine Mutter und meinen Bruder alleine lassen?“
„Ich weiß es nicht.“
Dann herrscht wieder Stille. Wie kann es möglich sein, dass gestern noch alles in Ordnung war?
Wie ist es möglich, dass vor ein paar Stunden Ilonas einziges Problem war, ob sie sich vielleicht einen Pony schneiden lassen sollte? „Ich muss nach meiner Mama schauen“, reißt mich Ilona aus den Gedanken. Ich nicke nur, drücke sie noch einmal fest an mich, raune ihr ins Ohr, dass ich für sie da bin und sie mich anrufen soll und gehe zurück auf die Straße.
Die frische Luft kommt mir im Vergleich zu der erdrückenden Atmosphäre in dem Haus wie eine Befreiung vor. Sie lässt meine noch nassen Tränen an die Wangen trocknen und weht all diese unbeantworteten, schrecklichen Fragen aus meinem Kopf. Ich sehe ein paar Häuser weiter die alte Frau Winter ihre Katzen füttern und die Straße hinunter hängt Frau Riedel gerade noch die Wäsche von der Leine, bevor die Abendfeuchtigkeit kommt. Für sie ist der Tag ein Tag wie jeder andere. Nichts außergewöhnliches, doch für Ilona ist es das Ende ihres bisherigen, bekannten Lebens. Ich weiß nicht wie, aber ich weiß es: Es wird weitergehen. Es muss weitergehen. Und ich werde ihr dabei helfen! Keine Träumereien mehr, nehme ich mir vor und laufe nach Hause. Es ist kühl geworden, die Sonne ist bereits halb untergegangen und ich habe nur eine dünne Jacke an.
Ich kuschele mich in meine Bettdecke und lasse irgendeine dumme Sendung laufen, auf die ich mich sowieso nicht konzentrieren kann. Es ist bereits lange nach Mitternacht, bis mir die Augen schließlich doch zufallen.