Читать книгу Zusammen träumt sich's schöner - Teresa Nagengast - Страница 4

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KAPITEL 2

Alles was man vergessen hat, schreit im Traum um Hilfe.

Elias Canetti

Ich laufe durch einen Wald. Nein - viel eher durch ein Labyrinth aus Bäumen und Sträuchern. Um mich herum ist es finster. Ich kann gerade einmal zwei bis drei Bäume weit sehen. Ich habe das Gefühl von etwas gejagt zu werden. Eine plötzliche Unruhe und Rastlosigkeit hat sich in mir ausgebreitet. Immer wieder blicke ich mich um, während ich weiter in den Wald hinein hetze. Ich stolpere über Wurzeln und Steine, herunterhängende Äste peitschen mir ins Gesicht, doch ich renne einfach weiter. Mal laufe ich nach links, dann wieder geradeaus oder nach rechts. Vollkommen orientierungslos habe ich mich im Gewirr aus riesigen Bäumen, dornigen Sträuchern und hinterhältigen Wurzeln verirrt und finde keinen Weg aus dem Chaos heraus.

Allmählich steigt Panik in mir auf, schnürt mir die Luft ab und drängt sich durch meinen Hals. „Hilfe, wo bin ich“, höre ich mich kläglich schreien, als wäre ich eine Vierjährige. Der Klang meiner eigenen Stimme schmerzt in meinen Ohren, doch ich rufe weiter: „Holt mich hier raus. Ich weiß nicht weiter!“ Doch der Wald bleibt still. Keine menschliche Stimme dringt zu mir durch. Einzig das zischende Geräusch des rauschenden Windes und die bedrohlich klingenden Laute von zertretenen Ästen und herunterfallenden Tannenzapfen lassen mich im Sekundentakt zusammenzucken. Von Angst und Schrecken gepackt lasse ich mich am Fuße einer großen Eiche auf die Knie fallen, stütze meinen Kopf in den Händen ab und hoffe, dass der Alptraum ein baldiges Ende findet. Gerade als ich die Augen schließe, um die schreckliche Umgebung um mich herum auszuschalten, nehme ich im Augenwinkeln etwas war. Etwas Bekanntes, etwas Mysteriöses, etwas mit tollen braunen Augen und dunklen Locken.

Sofort öffne ich erneut meine Lider, um genauer hinzuschauen, doch die bekannte Gestalt ist verschwunden, ebenso wie der unheilvolle Wald mit seinen heimtückischen Fallen. Ich liege zitternd und schweißgebadet in meinem Bett, die Decke bis zu meinem Kinn hochgezogen. Während sich mein Puls langsam beruhigt, denke ich an den kurzen Augenblick, die Millisekunde, als ich wieder in diese Augen blickte. Der Moment war so schnell vorbei, dass ich mich frage, ob ich diese braunen Augen nicht mit zwei Beeren oder Kastanien verwechselt habe. Doch seit wann können Kastanien so mitfühlend schauen? Oder hat mich der Wald so verängstigt, dass ich halluziniert habe.

Allmählich verschwindet der Wald vor meinen Augen, denn mittlerweile hat mein pochendes Herz sich von dem Albtraum erholt, auch wenn die Kälte, die Angst und die Verzweiflung geblieben sind. Wieso ich sie nicht zurück in die Dunkelheit schicken konnte? Weil diese schlimmen Gefühle echt waren, weil die Dunkelheit sich seit gestern Nachmittag über unser Leben ausgebreitet hat. Wie eine schwarze Wolke hängt sie dort und wehrt jeden Sonnenstrahl ab. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben, die Augen wieder schließen, um vielleicht in einen schöneren Traum zu fliehen. Doch ich weiß, dass das nichts bringt. Also schleppe ich mich die Treppe hinunter. Im Esszimmer ist es mucksmäuschenstill. Meine Schwester ist bereits zum Schulbus verschwunden und meine Mutter ist damit beschäftigt das Geschirr abzuspülen. Ich will ihr gerade sagen, dass ich heute nicht in die Schule gehen werde, auch wenn ich trotz meiner 18 Jahre immer noch eine Entschuldigung meiner Mutter brauchte. Ich erinnere mich noch daran, wie damals eine Petition deswegen geführt wurde, doch schließlich blieb die Regel bestehen, dass bis zum Schulende jeder Schüler eine Abwesenheitsentschuldigung der Eltern mitbringen muss. Meine Mutter kommt mir diesmal jedoch zuvor: „Ich habe bereits bei deinem Lehrer angerufen, dass es dir nicht gut geht.“ Ich gehe zu meiner Mutter, gebe ihr einen Kuss auf die Wange, dann schnappe ich mir meine Jacke und laufe los.

Diesmal klingele ich etwas entschlossener an der Tür. Ilona lässt mich rein, flüstert mir zu, dass ich leise sein soll, weil ihre Mutter und ihr Bruder endlich eingeschlafen sind. Dann gehen wir in ihr Zimmer.

Ilona hat sich weder umgezogen, noch gewaschen. Noch immer sind ihre Augen von Mascara verschmiert und ihre Decke liegt zerknautscht auf ihrem Bett.

„Wie geht es deiner Mutter?“, frage ich vorsichtig. Brüchig antwortet sie mir: „Sie versteht es auch nicht. Sie ist sauer auf ihn, weil er uns allein gelassen hat. Und das bin ich auch! Wie konnte er nur?!“

Wütend blitzt sie mich an. Der Zorn lässt ihre Augen wie kaltes Eis leuchten. „Und jetzt findet am Samstag die Beerdigung statt. Ich kann das nicht! Jeder wird mich danach in der Schule mitleidig anschauen, mich fragen wies mir geht und extra nett zu mir sein! Wie ich das hasse!“ „Ich bin doch da!“, antworte ich nur. Den restlichen Vormittag schalten wir die Glotze an, die Gedanken aus und lassen uns von Zeichentrickfilmen ablenken. Beinahe fühlt es sich so an, als wären wir wieder zwei unschuldige Sechsjährige, die sogar noch daran glaubten, Pippi Langstrumpf wäre echt. Als ich Hunger bekomme bestelle ich zwei Pizzen und zwinge Ilona eine halbe Pizza zu essen, was ein großer Fortschritt ist, da sie gestern keinen Happen heruntergebracht hat.

Ich schaffe es sogar fast, sie zum Lächeln zu bringen, als ich ihr erzähle, dass meine Schwester letzte Woche im Bus eingeschlafen ist und an der Endhaltestelle, die zwei Stationen hinter unserem Haus liegt, wieder aufgewacht ist. Sie hatte mich ganz aufgewühlt angerufen, ob ich sie nicht abholen könnte.

Erst als es zu Dämmern beginnt, verabschiede ich mich mit einer festen Umarmung von Ilona und gehe nach Hause. Ich habe Angst vor der Schule am nächsten Tag und der Beerdigung am Samstag.

Ich fühle mich kein bisschen, wie eine bereits volljährige junge Frau, die im nächsten Jahr Philosophie studieren möchte, sondern eher wie ein verschrecktes ängstliches Mädchen.

Mir wird bewusst, dass ich bisher nur auf der Beerdigung meiner Oma war und damals war ich erst neun Jahre alt. Das Einzige was ich davon noch weiß, ist, dass man schwarze Kleidung trägt, doch wie genau so etwas abläuft, wie man sich verhalten muss, das ist mir unklar.

Vielleicht sollte ich einmal meine Mutter fragen, doch nicht heute. Heute will ich nur noch einschlafen, um nicht an die nächsten Tage denken zu müssen.

Als ich am nächsten Morgen im Klassenzimmer ankomme und mich auf meinen Platz hocke, kommen einige meiner Freunde vorbei, klopfen mir auf die Schulter und fragen, wie es Ilona geht. Doch ich schüttele nur den Kopf und sage zu ihnen: „Wie soll es ihr schon gehen?“ Dann ziehe ich mich in mein Schneckenhaus zurück und lasse den Unterricht über mich ergehen. Meine Mitschüler lassen mich in Ruhe und ich frage mich, wie sie wohl auf Ilona reagieren, wenn sie am Montag wieder in die Schule kommt.

Nach sechs endlos langen Stunden klingelt endlich die Schulglocke. Wochenende - drauf hatte ich mich am Anfang der Woche so sehr gefreut, und jetzt fühle ich in mir nur Angst, vor dem nächsten Tag. Während um mich herum die anderen Schüler lärmend und lachend ihre Sachen zusammenpacken, sich über Wochenendpläne unterhalten oder bereits nach Hause eilen, sitze ich immer noch an meinem Platz und starre vor mich her. Als nur noch die Lehrerin an ihrem Pult steht, schnappe ich mir schnell meine Tasche und flitze nach draußen. Auf ein Vier-Augen-Gespräch mit Frau Winter kann ich wirklich verzichten.

Der restliche Tag vergeht quälend langsam. Es ist, als hätte sich ein Schleier über meine Augen gelegt. Ich esse zwar, doch ich schmecke nichts, ich schaue fern, doch nehme die Sendung nicht wahr. Der einzige Moment, in dem ich klar denken kann, ist, als ich mir eine schwarze Hose und eine schwarze Bluse für den morgigen Tag herauslege.

Dann versinkt alles wieder in ein undurchsichtiges Grau.

Am nächsten Morgen wache ich früh auf, es ist noch stockdunkel. Ich versuche noch einmal einzuschlafen, doch es gelingt mir nicht.

Stattdessen wälze ich mich unruhig hin und her. Als allmählich die ersten Sonnenstrahlen durch die Rollläden scheinen, bin ich heilfroh, endlich aufstehen zu können. Ich öffne die Jalousie. Der Anblick raubt mir den Atem. Seit Tagen hat die Sonne nicht so strahlend geschienen. Nur vereinzelt schweben kleine Schäfchenwolken über dem hellblauen, klaren Horizont. Der Boden ist bereits bedeckt von roten, braunen, grünen und gelben Blättern. Ich frage mich, wie die Bäume immer noch solch tolles Blätterkleid tragen können, wo doch die Hälfte bereits am Boden liegt.

Wie grotesk die Welt doch sein kann: Da stirbt der Vater meiner besten Freundin und gerade jetzt strahlt die Sonne. Pessimisten würden sagen, wie grausam die Erde doch ist; wie sie höhnisch an so einem dunklen Tag mit Sonnenstrahlen lacht. Optimisten würden erwidern, wie toll der Himmel strahlt, um eine freie Seele freudig zu empfangen.

Ich war immer eine Person, die den Tod nicht als Ende ansah, sondern als ein neues Kapitel, doch ich frage mich, wie Ilona nun in die Zukunft blickt. Ob sie ihren Glauben an das Gute in der Welt verloren hat?

Seufzend schlüpfe ich aus meinem Schlafshirt und in die schwarze Tracht und versuche meine Haare zu einem straffen Pferdeschwanz zu binden, was mir nicht ganz gelingt, da sich meine Haare störrisch herauslocken. Dann gehe ich in die Küche und zwinge mich eine Schüssel Müsli zu essen. Meine Mutter und meine Schwester begleiten mich auf die Beerdigung, immerhin kannten auch sie Ilonas Vater sehr gut. Beide sind bereits angezogen - ebenso schwarz wie ich - und blicken genauso appetitlos auf ihre Schüsseln, die noch immer fast voll sind.

Schweigend geben wir auf und stellen die Schüsseln in die Spüle, dann machen wir uns zu dritt auf den Weg. Der Friedhof und die Kirche liegen nicht besonders weit entfernt. Etwa zehn Minuten Fußmarsch, also kein Grund, das Auto aus der Garage zu fahren. „Der Spaziergang wird uns gut tun“, meint meine Mutter.

Ich frage mich, wie andere Leute, Klassenkameraden und vor allem viele Freundinnen meiner Schwester immer nur in schwarzen Klamotten, mit schwarzen Eyeliner und schwarzen Fingernägeln herumlaufen können. Ich fühle mich unwohl in den tristen schwarzen Klamotten. Noch eine Kurve, dann sind wir da. Die Kirche erstreckt sich vor uns. Majestätisch, wie eine alte Adelsdame, steht sie dort und blickt auf uns hinab. Vor der Kirche haben sich bereits einige Menschen versammelt, ein schwarzer Haufen, der sich von der weißen Fassade der Kirche abhebt.

Meine Beine fühlen sich auf einmal schwammig an und meine Hände beginnen zu zittern.

Die Glocken ertönen. Laut und klar klirren sie in meinen Ohren. Wir atmen tief durch und begeben uns zusammen mit den anderen Bekannten in die Kirche.

Wir ergattern einen Platz ziemlich weit hinten, doch wenn ich mich anstrenge und durch die Reihen hindurch linse, kann ich eine Haarsträhne und den Rücken von Ilona erkennen.

Ich frage mich, ob sie bereits weint oder ob sie versucht stark zu sein und ihre Tränen unterdrückt.

Ich würde gerne bei ihr sein, doch links von ihr sitzt ihre Mutter, in sich versunken und mit krummen Rücken, und rechts von ihr, ihr zwei Jahre jüngerer Bruder.

Dann beginnt der Gottesdienst. Der Pfarrer liest aus der Bibel vor, erzählt etwas von Hoffnung und vom ewigen Leben. Er erzählt von Ilonas Vater, welch herzensguter Mensch er war, wie sehr er seine Familie geliebt hat und wie gern er mit seinem Mountain-Bike die Gegend erkundet hat.

Nach dem Abschiedslied geht es zum Grab hinaus. Ich sehe, wie Ilonas Mutter und ihr Bruder, sowie Verwandte den braunen Holzsarg begleiten, der zu der letzten Ruhestätte hinausgetragen wird. Ilona läuft mit gesenktem Kopf neben ihrer Mutter auf den Friedhof.

Ich bin froh, dass sie sich gegen einen offenen Sarg entschieden haben, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Anblick ertragen hätte und weiß genau, dass Ilona zusammengebrochen wäre.

Der Sarg wird in die Erde hinabgelassen. Dann ist es an der Zeit der Angehörigen, sich zu verabschieden. Ich sehe, wie Ilonas Mutter nach vorne tritt, eine Hand voll Erde nimmt, hineinschmeißt und dann sagt: „Wir begleiten ihn gemeinsam, um ihm nachzublicken, wenn er vorausgeht in eine neue Welt, in seine ewige Heimat.“ Brüchig und krächzend klingt ihre Stimme. Dann treten Ilona und ihr Bruder Tim an das Grab, nehmen ebenfalls eine Hand voll Erde und werfen sie hinein. Ich bilde mir ein, ganz leise die Worte „Tschüss, Papa“ zu hören, doch es könnte auch das Rauschen des Windes gewesen sein.

Nach und nach gehen auch die anderen Leute an das Grab und werfen eine Hand voll Erde hinein. Wie Roboter kommen sie mir vor, die alle dieselbe Handbewegung machen und denselben Gesichtsausdruck haben. Auch wir laufen mit traurigen, teils verweinten, Gesichtern nach vorne, greifen monoton in die Schale und lassen die Erdbrocken nach unten rieseln. „Leb wohl“, flüstere ich innerlich und denke daran, wie Ilonas Vater uns früher oft mit zum Baden genommen hat.

Nachdem sich auch die letzte Person verabschiedet hat, macht sich die Mehrzahl auf den Weg zum Leichenschmaus. Häppchen, Kuchen, Pizzabrötchen, Muffins: Jeder hat etwas vorbeigebracht, um sein Beileid auszudrücken. Wie bei einem Fest ist ein Buffet aufgebaut. Ich fühle mich, als wäre ich im falschen Film. Es kommt mir verrückt vor, nach solch einer Trauerfeier aufzutischen, als wäre man auf einer Party. Natürlich weiß ich, dass dieses Leidmahl dazu dient, den Verstorbenen in positiven Gedanken zu behalten, sich Anekdoten aus der Jugend zu erzählen und sich im vollen Rahmen zu verabschieden, sowie sein Leid zu teilen. Und dennoch frage ich mich, ob ich wohl in der Lage wäre, solch ein Abschiedsessen zu geben und die Beileidsprüche zu ertragen, während sich um mich herum die ganzen bekannten Leute freudig unterhalten. Ich persönlich habe keinen Appetit und so sehe ich mich im Erdgeschoss um, suche Ilona, um zu sehen wie es ihr geht. Doch von ihr fehlt jede Spur. Ich laufe nach oben. Vielleicht hat sie sich ja in ihrem Zimmer zurückgezogen.

Doch auch das liegt wie ausgestorben da. Um sicher zu gehen, schaue ich sogar unter ihrem Bett und in ihrem Schrank nach, klappere zum Schluss den Dachboden ab, doch meine Freundin bleibt verschollen.

Leichte Panik steigt in mir hoch. Ich zähle langsam von zehn hinab, um einen klaren Kopf zu behalten und denke angestrengt nach. Wo könnte sie sein? Wo würde ich hingehen?

Zum Skaterplatz, wo wir früher öfter waren? In den Wald? Immerhin liebt sie die Natur. Da fällt es mir ein. Natürlich! Zu den verlassenen Eisenbahnschienen. Dort hatten wir uns immer getroffen, wenn einer von uns traurig war.

Ich springe auf, renne die Treppen hinunter und dabei fast einen alten Mann um, dann sprinte ich aus dem Haus. Fünf Minuten ist die Bahnstrecke von der Siedlung entfernt. Naja, Bahnstrecke ist übertrieben, denn immerhin fährt auf den Gleisen schon seit Jahren kein richtiger Zug mehr.

Keuchend erreiche ich die rostigen Gleise. Ich hatte vergessen, wie friedlich dieser Ort ist. Wie ruhig und verlassen die Schienen sich einen Weg durch den Wald bahnen. Vor allem an einem so schönen sonnigen Herbsttag funkelt das rostige Metall wie Kupfer. Seit Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, denn immerhin waren wir keine Kinder mehr und damit beschäftigt gewesen auf Partys oder Shoppen zu gehen.

Ich laufe die letzten Schritte gemächlich zu den Gleisen und blicke mich um. Noch immer keine Spur von Ilona.

Doch ich lasse mich nicht verunsichern. Zielstrebig wende ich mich nach rechts und laufe auf den Schienen Richtung Wald. Ich bin mir sicher, dass auch Ilona den Weg eingeschlagen hat.

Und tatsächlich. Keine fünfhundert Meter entfernt sehe ich sie am Boden auf den Gleisen sitzen.

„Ich habe dich schon überall gesucht.“ Sie blickt nicht auf, flüstert nur: „Ich konnte nicht in dem Haus bleiben. Mein Bruder hat sich in sein Zimmer eingesperrt und will einfach nicht mehr rauskommen. Meine Mutter versucht stark zu sein und ich, ich komme mir vor wie eine fünfjährige, weil ich es einfach nicht aushalte, in dem Haus zu bleiben.“ „Ich weiß.“ Vorsichtig setze ich mich neben sie auf die Schiene. Trotz der schrecklichen Umstände, stiehlt sich der Ansatz eines Lächelns auf mein Gesicht. Wenn ich acht Jahre zurückdenke: Zwei kleine Mädchen, eine mit langen blonden Zöpfen, die andere mit wilden dunklen Locken, hocken genau an diesem Platz und malen sich ihr Leben in den buntesten Farben aus. „Weißt du noch, früher als wir mit unseren zehn Jahren hier saßen, haben wir ausgemacht, dass wir unbedingt ins Weltall fliegen und dass wir wie in dem Buch „Fliegender Stern“ einmal mit Indianern auf Büffeljagd gehen wollen!“, schwelge ich in der Erinnerung und schaffe es damit tatsächlich Ilona ein leichtes Lächeln abzuringen. Wir hatten uns vorgenommen, einen Prinzen zu heiraten und zusammen mit unseren Traummännern in einem Schloss zu wohnen. Ich wollte in meiner Freizeit professionell Volleyball spielen und sie wollte reiten gehen. Wie gern wäre ich wieder jung, mit der kindlichen Fantasie, die einen Flügel verleihen konnte.

Ilonas Lachanfall hat sich mittlerweile in Hysterie umgewandelt, Tränen laufen ihr über das Gesicht und das Lachen wird von Schluchzern begleitet.

„Wie soll ich nur mit den anderen umgehen?“, spricht sie ihre Verzweiflung aus. „Denk doch nicht an die anderen. Die können dir mal sowas von am A*** vorbei gehen!“, rate ich ihr.

Doch so war sie. Und um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, ob ich mich in der Situation nicht dasselbe gefragt hätte. Ich denke in dieser Situation ist es fast egal, wie erwachsen man sich schon fühlt, denn man bleibt immer das Kind.

Stumm sitzen wir da, nur umgeben von den leicht im Wind schaukelnden Bäumen, die langsam ihre Blätter verlieren, ohne Wörter zu wechseln und die Idylle zu zerstören.

Ganz allmählich überträgt sich diese Ruhe auf uns. Die Schluchzer meiner Freundin werden leiser, bis sie schließlich ganz verstummen.

Noch immer scheint die Sonne strahlend auf uns hinab, doch allmählich kühlt die Temperatur drastisch ab.

Ich spüre, wie Ilona zu zittern beginnt, schließlich trägt sie nur ein schwarzes schlichtes Kleid, mit einer schwarzen Strumpfhose und einem schwarzen Bolero.

Auch ich merke, wie der Wind mir unter meine Bluse bläst und mir eine leichte Gänsehaut beschert.

„Lass uns gehen, deine Mama macht sich bestimmt schon Sorgen“, sage ich leise und stehe auf.

Langsam laufen wir den Weg zurück, weg von der Ruhe und zurück in die Realität.

Mittlerweile sind alle Gäste nach Hause gegangen. Auch meine Mutter und meine Schwester sind längst nicht mehr dort.

„Soll ich mit reingehen?“ Ilona schüttelt den Kopf. Ich warte noch, bis sie die Tür aufschließt und nach ihrer Mutter und ihrem Bruder schaut und selbst dann bleibe ich noch ein paar Minuten vor dem Haus stehen, lasse den Tag in meinem Kopf durchlaufen und komme zu dem Entschluss, dass er trotz all dem Grauen und Trübsal nicht komplett schrecklich gewesen war Denn jetzt, nach dieser Beerdigung, war dieser Abschnitt beendet und irgendwann, in Wochen oder Monaten, würde es langsam wieder bergauf gehen. Dann würde Ilona wieder lachen können, ohne danach in Schluchzen auszubrechen.

Mit dieser Hoffnung gehe ich nach Hause, putze mir nicht einmal mehr die Zähne, sondern lege mich angezogen ins Bett und schließe die Augen. Ich bin hundemüde.

Ich sitze im Zug. Es ist bereits dunkel. Ich schaue aus dem Fenster und sehe zu, wie die Lichter der Laternen an mir vorbeiziehen, wie schemenhafte Sträucher von grauen Häusern abgelöst werden. In der Nacht ist alles gleich. Keine Farben und kein lebhaftes Treiben, doch dafür auch keine Unterschiede in Hautfarben, in hübsch und hässlich und richtig und falsch. Ich liebe die Nacht, wenn die Welt geräuschlos ist und man nur das eigene Klopfen des Herzens hören kann. Seelenruhig sitze ich in diesem Zug, ohne eine Ahnung zu haben, wohin er mich bringt.

Das Zugabteil ist komplett ausgestorben.

Ich fühle mich so frei, dass ich am liebsten laut aufgelacht hätte. Ich beschränke mich auf ein breites Lächeln.

Irgendwann wird der Zug langsamer und kommt schließlich zum Stillstand. Ich überlege kurz ob ich hier aussteigen soll? Nein, da bleibe ich lieber in dem wohlig warmen Zug sitzen.

Ich will gerade wieder meine Beine ausstrecken und aus dem Fenster schauen, als ich höre, wie sich die Tür öffnet. Ich fahre herum, um den ungewünschten Ruhestörer zu sehen, und zucke überrascht zurück.

In der Eingangstür steht er. Der unverschämt hübsche Mann mit den Rehaugen und den langen Wimpern.

Wieso taucht er schon wieder in meinem Traum auf? Und vor allem, wieso bringt er mich so durcheinander?

Ich starre ihn an. Auch er ist stehen geblieben und schaut mir ins Gesicht. Keiner wagt es, sich zu bewegen. Ich frage mich, ob er wohl echt ist, ob er irgendwo auf dieser Welt lebt oder tatsächlich nur eine Traumfigur von mir ist.

Ganz langsam kommt er auf mich zu. Ich betrachte ihn genauer: Er trägt ein blaues Jeanshemd über einem schlichten weißen T-Shirt. Dazu eine beige Hose und Turnschuhe. Meiner Schätzung nach müsste er gute 1.90 Meter groß sein. Seine Haare sind leicht gelockt und verstrubbelt, widerspenstig fallen sie ihm ins Gesicht, ohne jedoch seine schönen großen Augen zu verdecken. Endlich steht er vor mir und öffnet den Mund.

Und dann ist es vorbei. Über mir sehe ich meine kahle Zimmerdecke, die kalt und emotionslos auf mich hinab stiert. Mein Wecker durchdringt die Stille, schrill und laut dröhnt er in meinen Ohren.

Ich will zurück, jammere ich innerlich, zurück in diesen Traum und weg von hier. Verbittert schlage ich mit der flachen Hand auf meinen Wecker, um ihn zum Schweigen zu bringen und frage mich, wie seine Stimme wohl geklungen hätte.

Es ist Montag, Zeit wieder in die Schule zu gehen. Ich frage mich, wie ich den Sonntag denn verbracht habe. Vage kommt mir ein Nachmittag in meinem Zimmer in den Sinn, halbwach und filmeschauend. Doch sicher bin ich mir nicht mehr. Es könnte auch sein, dass ich ihn komplett verschlafen habe.

Mit schweren Beinen quäle ich mich aus dem Bett, schnappe mir irgendeine Hose und ein T-Shirt und schlurfe ins Bad.

Anziehen, frühstücken, Zähne putzen - wie eine Schlafwandlerin bewege ich mich durch das Haus, auf die Straße, zum Bus und in die Schule. Meine Gedanken sind in dem Traum geblieben, fahren weiter und weiter mit dem Zug, ohne auszusteigen, ohne anzuhalten, ohne Sorgen!

Da entdecke ich Ilona an der Straße stehen. Blass und übernächtigt steht sie an der Seite ihres Bruders, unschlüssig, ob sie das Schulgebäude betreten sollen oder nicht.

Ich laufe zu den beiden hin, hänge mich unter und ziehe sie mit. Ich weiß zwar nicht, ob das die richtige Methode ist, aber ich halte mich an das Motto: Augen zu und durch!

Die beiden lassen es geschehen, stolpern neben mir her, sichtbar froh, sich an jemanden festhalten zu können. Im Vorraum klopft Ilona ihrem Bruder auf die Schulter, spricht ihm kurz Mut zu, und sieht zu, wie er steif die Treppe hinaufsteigt. „Er wird es schon schaffen“, muntere ich sie auf. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich überhaupt gehört hat, aber sie wendet ihren Blick ab, beißt die Zähne zusammen und betritt mit mir unser eigenes Klassenzimmer. Ich weiß nicht, was sie oder ich erwartet haben, aber keine unserer Vorstellung wird bestätigt.

Eigentlich wird gar nichts bestätigt, denn unsere Mitschüler nehmen keine Notiz von uns, einzig ein paar scheue Blicke flitzen ab und an zu uns hinüber. Unsere anderen Freunde kommen herbei, drücken kurz Ilonas Schulter oder umarmen sie eine Sekunde länger wie üblich, doch dann beginnen sie wieder ihre üblichen Gespräche aufzunehmen, fragen uns, ob wir die Hausaufgaben gemacht und verstanden haben und jammern über die Doppelstunde Mathe. Einzig die Erlebnisse vom Wochenende lassen sie aus. Ich blicke zu Ilona, lächele ihr zu. Dankbar lässt sie sich auf ihren Platz sinken, antwortet hier und da auf eine Frage und hält sich größtenteils aus den Gesprächen raus.

Das lief doch ganz gut!

Die Lehrerin kommt, bittet um Ruhe und beginnt den Unterricht. Ab und zu schaue ich zu Ilona, um mich zu versichern, dass es ihr gut geht.

Doch sie hat sich in den Unterricht vertieft und versucht ihr Bestes, um sich von den Gedanken abzulenken. Ich bin stolz auf meine Freundin, wie mutig sie versucht nach vorne zu blicken. Dann reiße ich mich selbst zusammen und folge den Kritzeleien an der Tafel. Nach der Schule warte ich mit Ilona auf ihren Bruder, gespannt wie sein Tag ausgesehen hat.

Wir warten, fünf Minuten, zehn Minuten, doch von Tim fehlt jede Spur. Nur noch vereinzelt sehen wir lachende Schüler zum Bus sprinten. Ilona stampft unruhig mit den Füßen auf den Boden und murmelt vor sich her: Wo bleibt er nur? Wann kommt er endlich?

Auch mich packt die Unruhe und ich beginne wie so oft auf meiner Lippe herum zu kauen. Er müsste doch schon längst aus haben. Nach gut zwanzig Minuten hält Ilona es nicht mehr aus. Mit entschlossenem und zugleich ängstlichem Schritt geht sie ins Schulgebäude zurück. Ich zögere eine Sekunde, unentschlossen ob ich mit hineingehen soll oder ob das Familiensache ist und entscheide mich, dass Ilona das alleine schafft. „Ruf mich an“, schreie ich ihr noch hinterher, dann mache ich mich allein auf den Weg zum Bus. Natürlich ist der reguläre Schulbus schon längst abgefahren und so bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten. Wieder ärgere ich mich darüber, dass wir nur ein Auto haben, sonst müsste ich nicht immer mit dem stickigen Schulbus fahren. Um nicht tatenlos herumstehen zu müssen, beschließe ich, zur nächsten Bushaltestation zu laufen. Ob Tim etwas zugestoßen ist? Ob er von seinen Mitschülern zur Verzweiflung gebracht wurde? Oder hat er sich ins Klo eingesperrt?

Tausend Möglichkeiten schwirren mir durch den Kopf und ich komme zu keinem vernünftigen Ergebnis.

Schritt für Schritt setze ich monoton einen Fuß vor den anderen und versuche mich auf den Rhythmus meines Ganges zu konzentrieren.

1,2..1,2..1,2.

Als ich nach einiger Zeit dann doch den Blick von meinen braunen Converse-Schuhen hebe, habe ich die Orientierung verloren. Die grauen, tristen Häuser und die lauten Straßen sind verschwunden. Ob ich schon wieder träume? Ich sehe vor mir eine Wiese, übersät mit Blumen in allen bedenklichen Farben. Da sind kleine lilafarbene Blumen, große gelbe Sonnenblumen, blaugrüne, mit Stacheln, dazwischen kleine weiße Gänseblümchen. Ein Meer voll Farben erstreckt sich vor mir. Ich denke an das Kinderbuch „Frederik“, in dem die kleine Maus Farben für schwere Zeiten sammelt und beschließe für Ilonas Familie auch Farben zu sammeln. Nicht in Form eines Blumenstraußes, sondern in Behilflichkeit, Beistand und Unternehmungen. Doch eine Blume will ich trotzdem mitnehmen. Eine klitzekleine, rosabraune Blume mit spitzen Blättern. Eine einzige Blume, inmitten eines Blumenparadieses. Allein und unterdrückt von den großen, stärkeren Nachbarblumen versucht sie sich einen Weg aus den Gräsern zu bahnen. Vorsichtig befreie ich sie aus der Erde und gebe mir Mühe, auch die Wurzeln unbeschadet herauszuziehen.

Ich halte sie wie ein neugeborenes Kind in den Händen. Normalerweise habe ich alles andere als einen grünen Daumen oder Interesse an den aus meinen Augen leblosen Wesen, doch diese zarte Blume erwärmt seltsamerweise mein Herz.

Vielleicht sollte ich für Tim und Ilona auch eine pflücken. Ich verwerfe den Gedanken wieder, weil ich sicher bin, dass die beiden für lange Zeit keine Blumen mehr sehen möchten. Immerhin ist das Grab übersät davon.

Langsam schlendere ich durch die Blumenwiese, lasse meine Finger sachte über die Blüten streichen und frage mich, wieso mein Traum mich ausgerechnet an diesen Ort führt. Um mich an die Schönheit der Welt zu erinnern oder um Kraft zu tanken? Nachdenklich sehe ich einem Schmetterling zu, wie er andächtig die Flügel öffnet und sich elegant in die Luft erhebt. Wie er höher und höher hinaufsteigt, bis er nur noch als kleiner schwarzer Punkt zu erkennen ist. Ja - schön ist dieser Ort hier auf alle Fälle, denke ich mir und lasse mich behutsam in das Blumenmeer sinken. Dort bleibe ich liegen, die Augen halb geschlossen, die Arme ausgestreckt inmitten des Blumenmeers.

Zusammen träumt sich's schöner

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