Читать книгу Die Träume der Libussa - Tereza Vanek - Страница 5
Prolog
ОглавлениеDie Frau saß vor dem Eingang einer Höhle. Er hatte sie bereits von weitem gesehen, denn sobald der Mond hinter den Wolken verschwand, war ihr Lagerfeuer das einzige Licht in der tiefschwarzen Nacht. Sie musste sein Kommen bemerkt haben, hatte sich aber nicht in die Höhle zurückgezogen. Ihr Gesicht war den brennenden Holzscheiten zugewandt.
»Sei gegrüßt«, sagte er in der Sprache der Kelten und sprang vom Pferd. Im Feuerschein sah er die Zeichen auf ihrer Stirn, die mit den Flammen zu tanzen schienen. Sonst bewegte sich nichts an ihr, und seinen Gruß schien sie nicht zu hören. »Ich bin Krok, der Stammesführer der Behaimen.« Trotz der nächtlichen Kühle nahm er seinen Umhang ab. Sie sollte an den Tätowierungen auf seinen Armen erkennen, dass sie Verbündete waren. Wenn er in von Christen besiedelte Gebiete reiste, ließ Krok die Symbole stets bedeckt, um keine Furcht oder Feindseligkeit heraufzubeschwören. Doch hier, am Berg der Göttin, war der rechte Ort, sie mit Stolz zu zeigen. Er setzte sich unaufgefordert ans Feuer. »Ich weiß, es ist Männern untersagt, hierherzukommen.«
Sie hob den Kopf, ein erstes Zeichen, dass sie lebendig war und keine Steinstatue. Ihr Gesicht glich dem eines Wiesels, spitz und forsch. »Warum kommst du dann?«
»Weil es wichtig ist. Wie gesagt, ich bin ...«
»Ich weiß, wer du bist. Gibt dein Rang dir das Recht, die alten Regeln zu brechen?«
»Ich will keine Regeln brechen, sondern bitte dich, sie meinetwegen einmal zu missachten. Höre mich an, denn meine Lage ist ernst, und ich brauche deinen Rat.«
»Hast du keinen anderen Ratgeber, Stammesführer der Behaimen? Gibt es unter euren Leuten keine Weisen?«
»Es gibt niemanden, der mich besser beraten könnte als du. Meine Schwester Scharka ist schon oft zu dir gekommen. Du kannst dich sicher an sie erinnern.«
»Zu mir kommen viele Frauen aus vielen Völkern. Wir verehren alle dieselbe Göttin, ganz gleich, ob wir sie Rigani, Freya oder Mokosch nennen.«
»Meine Schwester war die Fürstin unseres Stammes, der Cechen, außerdem Hohe Priesterin aller Stämme der Behaimen. Das musst du gewusst haben.«
Sie musterte ihn nachsichtig, wie eine gutmütige Mutter ihr vorlautes Kind. »Natürlich wusste ich das, Krok. Und ich weiß auch, dass sie heute Morgen gestorben ist. Bist du aus diesem Grund zu mir gekommen?«
Er war versucht zu fragen, wer ihr von Scharkas unerwartetem Tod erzählt hatte, besann sich dann aber eines Besseren. Die Keltin könnte meinen, er wollte ihre seherischen Fähigkeiten in Frage stellen. Natürlich konnte sie es von einer Frau aus seinem Volk erfahren haben, die an diesem Tag zufällig bei der Seherin gewesen war, doch viele Jahre des Verhandelns mit Stammesoberhäuptern und Königen hatten Krok gelehrt, dass man die Begabung anderer Menschen niemals unnötig anzweifeln sollte.
»Ja, das ist der Grund meines Besuches. Ich brauche deinen Rat.«
Die Keltin zog ihre buschigen Brauen zusammen. Ihr Wieselgesicht betrachtete ihn misstrauisch, aber nicht ohne Neugierde.
»Wie du weißt, sind die Behaimen den alten Traditionen treu geblieben. Besitz und Stellung im Clan gehen von der Mutter auf die Töchter oder auch auf die Söhne über, wenn es sich um Aufgaben handelt, die Männern zufallen. Der Fürstenclan der Cechen führt unser Volk seit der Zeit des großen Samo, dem es gelang, die Stämme zu einen und uns vom Joch der Awaren zu befreien. Die erste Hohe Priesterin unseres Volkes war bereits eine Fürstin der Cechen, ihr Bruder der Anführer aller Stämme unseres Volkes. Ich selbst bin Stammesführer geworden, weil eine Cechen-Fürstin mich gebar und die fürstlichen Clans der übrigen Stämme meiner Ernennung zustimmten. Es ist meine Aufgabe, mit unseren Freunden und Feinden zu verhandeln, damit mein Volk in Frieden leben kann, oder auch einen Krieg anzuführen, falls dieser notwendig ist. Doch in allen anderen Fragen, die unser Wohl und Wehe betreffen, soll eine Frau die große Göttin auf Erden vertreten und Entscheidungen treffen.«
Er ging davon aus, dass seine Rede der Keltin gefallen würde. Auch unter ihren Leuten hatten Römer und andere Eindringlinge bereits dafür gesorgt, dass Männer begannen, alle Macht für sich zu beanspruchen. Sie selbst besaß nur noch den Einfluss einer Priesterin, der allerdings beträchtlich war, da man ihre Klugheit schätzte.
»Die Zeiten sind nicht einfach«, fuhr Krok nach einer kurzen Pause fort und wollte zu einer längeren Rede ansetzen, doch die Keltin fiel ihm sogleich spöttisch ins Wort:
»Und wann sind sie das jemals gewesen?«
Er ärgerte sich über ihr barsches Verhalten, aber als Gesandter seines Volkes hatte er lernen müssen, sich niemals unbedacht herausfordern zu lassen. »Du hast natürlich recht. Wir hatten schon immer Feinde und waren Gefahren ausgesetzt. Aus unserer Heimat im Osten haben uns schrägäugige Riesen vertrieben, die unsere Dörfer und Siedlungen unter den Hufen ihrer Pferde begruben. Unser Volk musste fortziehen und sich aufteilen. So kamen meine Ahnen mit ihrem Anführer Cech in diese Gegend, wo wir ein neues Zuhause fanden. Seit meine Schwester und ich die Behaimen anführen, bemühen wir uns um Frieden zwischen allen Stämmen, aber auch mit anderen Völkern, so dass wir seit Jahren nicht mehr in den Kampf ziehen mussten. Doch nun droht eine neue Gefahr von den Franken. Es heißt, ihr König plane, sein Reich auszudehnen.«
»Jeder Sieger stößt einmal auf einen Gegner, der ihn besiegt«, meinte die Keltin gleichmütig. Krok begriff sofort, worauf sie anspielte. »Ich weiß, meine Leute haben euer Volk einst von den Bergen in die Niederungen getrieben«, gab er unumwunden zu, denn es hatte wenig Sinn, diesen Umstand zu leugnen. »Wir brauchten selbst Land, um zu leben. Doch es war stets mein Ziel, Frieden mit deinen Leuten zu wahren. Ich habe großen Respekt vor eurem Wissen, das viel älter und tiefer ist als das unsere.«
Diese Schmeichelei zeigte nicht die erhoffte Wirkung. Die Miene der Keltin blieb verschlossen. »Unsere Zeit ist vorbei, Krok«, meinte sie nach einer Weile des Schweigens. »Das weiß ich schon lange. Ihr habt euer Volk nach dieser Gegend benannt, aber ihr wisst wohl nicht einmal, woher dieser Name eigentlich stammt. Die großen Boii, ein keltischer Stamm, hatten einst das Sagen in diesem Land, das ihr jetzt beansprucht. Doch das ist schon lange her. Bereits die Germanen haben uns besiegt, noch bevor ihr gekommen seid. Später werden andere Völker die Gegend beherrschen. Vielleicht das deine, vielleicht die Franken. Was kümmert es mich?«
Krok holte Luft. Nun endlich wusste er, mit welchen Worten er den Gleichmut der Keltin erschüttern konnte: »Wir nahmen euer Land, doch wir ließen euch an anderer Stelle in Frieden leben. Wir raubten euch nicht eure Sitten und euren Glauben. Die Franken werden anders sein. Als Anhänger des Gekreuzigten dulden sie nur ihren einen Gott, dessen Leichnam sie regelmäßig verspeisen. Eine wie dich werden sie töten, wenn sie sich nicht zu ihrem Christus bekehrt.«
Die Keltin spuckte ins Feuer. Krok war sich nicht sicher, ob dieser Ausdruck der Verachtung den Franken galt oder ihm.
»Wie können diese Franken die große Mutter leugnen? Wissen sie nicht, wer sie geboren hat?«
»Sie verehren die Mutter ihres Gottessohnes. Aber sie haben eine Jungfrau aus ihr gemacht«, erklärte Krok. Er war den Christen auf einmal fast dankbar dafür, denn mit dieser Ungeheuerlichkeit halfen sie ihm, die Priesterin für seine Sache zu gewinnen.
»Ich habe davon gehört«, meinte sie langsam. »Zwar darf ich diesen Ort nicht verlassen, aber manche Frauen gehen meinetwegen einen weiten Weg. Nun gut, jetzt sage mir endlich ohne Umschweife: Warum bist du gekommen?«
»Weil ich die alten Sitten wahren will«, betonte Krok nochmals, doch sie verzog nur ungeduldig das Gesicht.
»Das habe ich bereits begriffen. Worum genau geht es dir?«
»Ich muss eine Nachfolgerin bestimmen, die zukünftige Fürstin der Cechen, die auch Hohe Priesterin aller Behaimen ist. Meine Schwester starb völlig unerwartet. Sie hatte keine Zeit, eine ihrer Töchter für dieses Amt auszuwählen. Aber ich weiß, dass sie mit allen drei Mädchen oft zu dir kam. Vielleicht kannst du mir sagen, für welche Tochter sie sich entschieden hätte?«
Aufmerksam musterte er das spitze Gesicht der Keltin. Sie wirkte nicht überrascht wegen seiner Bitte, aber vermutlich schickte es sich nicht für eine weise Frau, Staunen zu zeigen. Erst nach längerem Nachdenken sagte sie: »Es stimmt, dass deine Schwester gelegentlich hierherkam, um mit mir gemeinsam die Göttin zu ehren. Manchmal sprachen wir auch über die unterschiedlichen Sitten unserer Völker. Sie hatte Respekt vor meinen Leuten. Trotzdem, Krok, kanntest du sie besser als ich. Ihr wart vom selben Blut. Weißt du wirklich nicht, was ihr Wunsch gewesen wäre?«
Krok warf ihr einen ungeduldigen Blick zu. Warum hatten Weise und Seher nur diese Unart, klare Antworten zu verweigern? Auch Dragoweill, der Anführer der Wilzen, klagte oft über die endlos langen widersprüchlichen oder rätselhaften Aussagen seiner Druiden. »Leider hat sie mit mir nie darüber gesprochen«, sagte er höflich. »Deshalb komme ich jetzt zu dir.«
»Aber du kennst sie doch, deine drei Nichten. Warum entscheidest du nicht selbst, Stammesführer der Behaimen?«
Warum beantwortest du nicht einfach meine Frage, Priesterin der Kelten?, dachte Krok ungeduldig, wählte aber seine tatsächlichen Worte mit größerer Vorsicht:
»Dies scheint mir eine Angelegenheit der Frauen zu sein.«
Falls die Keltin diese Aussage löblich fand, so zeigte sie es nicht. »Dann nenne mir die Aufgaben einer Fürstin und Hohen Priesterin. Was soll sie tun, das dir als Stammesführer nicht zusteht?«
»Als Hohe Priesterin vertritt sie die Sonnengöttin Mokosch auf Erden. Deshalb leitet sie die religiösen Feiern und Zeremonien aller Behaimen. Unsere Leute können in Streitfällen zu ihr kommen. Meine Aufgabe als Stammesführer ist es, Verhandlungen mit anderen Völkern zu fuhren. Und ich kann die fürstlichen Clans all unserer Stämme auffordern, mit mir in den Krieg zu ziehen. Doch ohne die Zustimmung der Hohen Priesterin verstößt jeder Kriegszug gegen die Wünsche der Götter.«
Er und seine Schwester Scharka hatten sich jedoch nicht nur diese Aufgaben geteilt. Sie waren die zwei wichtigsten Pfeiler gewesen, die das Herrschaftsgebäude stützten. Absprachen mit anderen behaimischen Stämmen wie den Lukanern, den Lemuzi oder den Kroaten, Verträge mit den Häuptlingen der benachbarten Völker und auch die Fragen des Umgangs mit den verbleibenden keltischen Grüppchen in den Wäldern, all das hatten sie in Übereinkunft entschieden. Die Erinnerung an Scharka stach ihn wie ein Messer. Warum musste ein Mensch so schnell, so unerwartet an einem scheinbar harmlosen Fieber sterben? Es war großenteils Scharka zu verdanken, dass nun Frieden im Umland herrschte. Die Vorstellung, von jetzt an allein für das Wohl seines Volkes verantwortlich zu sein, erschreckte Krok. Seine drei Nichten waren noch heranwachsende Mädchen, die ihre Mutter keinesfalls ersetzen konnten. Angst und Unsicherheit hatten den Stammesführer zu der Priesterin getrieben, doch als Krieger hüllte er sich darüber in Schweigen.
»Beschreibe mir die drei Mädchen, Krok. Was sind ihre guten Eigenschaften und welche ihrer Eigenarten missfallen dir?«
Krok seufzte erleichtert.
»Kazi«, begann er, »ist die Älteste. Sie beschäftigt sich viel mit der Kräuterkunde und mit der Heilkunst. In dieser Hinsicht vertrauen ihr unsere Leute. Sie trifft sich manchmal mit den weisen Frauen der Kelten und Germanen, ja sogar mit den Druiden, um von ihnen zu lernen.«
Die Priesterin nickte. »Ja, sie ist auch bei mir gewesen. Ein sehr wissbegieriges Mädchen. Aber nun sage mir, Krok, glaubst du, sie wäre eine gute Fürstin und Hohe Priesterin? Immerhin haben die Menschen Vertrauen zu ihr.«
Krok schüttelte entschieden den Kopf. Diese Frage war einfach zu beantworten.
»Kazi lebt in ihrer eigenen Welt. Manchmal treibt sie sich tagelang in den Wäldern herum, um nach Kräutern zu suchen. Anderes beschäftigt sie kaum. Zwar vermag sie die körperlichen Leiden der Menschen zu lindern, aber sonst meidet sie Gespräche. Am liebsten ist sie allein oder unter anderen Heilern, mit denen sie über Salben und Tränke reden kann. Die Fürstin der Cechen muss sich mit allen Belangen unseres Volkes befassen. Außerdem sollte sie gut mit Menschen umgehen können. Kazi ist zu verschlossen.«
»Da stimme ich dir zu, Krok. Und wie ist es mit der nächsten Tochter?«
Krok dachte gern an das große, kräftige Mädchen. Von seinen drei Nichten glich Thetka ihrer verstorbenen Mutter am meisten. Zu wissen, dass es sie gab, war erleichternd wie ein kühler Schluck Wein nach einem schweren Tag.
»Thetka ist ganz anders als Kazi. Sie will an allem teilhaben. Schon als kleines Mädchen bat sie mich, ihr das Bogenschießen beizubringen. Sie ist eine verflucht gute Jägerin geworden. Jedes Mal, wenn ich von einer Reise zurückkehre, fragt sie mich über andere Völker und ihre Sitten aus. Sie versteht es, sich in Auseinandersetzungen zu behaupten. Bei meinen Leuten ist sie sehr angesehen.« Er blickte erwartungsvoll in das Gesicht der Priesterin, doch konnte er darin nicht die erhoffte Begeisterung erkennen.
»Mir ist auch aufgefallen, wie gut Thetka sich durchsetzen kann und wie schnell sie andere Menschen auf sich aufmerksam macht«, bemerkte die Keltin. »Aber sage mir, Krok, wozu nutzt sie diese Fähigkeiten? Um Recht zu schaffen und Streit zu schlichten? Oder geht es ihr nicht eher darum, für ihr eigenes Wohl zu sorgen, manchmal auch auf Kosten anderer?«
Krok fühlte sich, als wäre ein unbekannter Gegner plötzlich von einem Baum gesprungen, um sich auf ihn zu stürzen. Auf einmal ärgerte ihn das Gespräch mit der Priesterin und er fragte sich, warum er eigentlich hergekommen war. »Natürlich ist sie ein wenig rücksichtslos. So sind starke Menschen eben, solange sie jung sind. Verständnis für andere, das kommt erst mit den Jahren.«
»In manchen Fällen. Aber auch bei Thetka?« Die Priesterin schien nicht zu bemerken, dass ihre Frage ihm missfiel. Oder es war ihr gleichgültig. Ihr Gesicht verriet nichts.
»Ich würde es sie lehren«, lenkte er ein, »Thetka braucht die nötigen Weisungen, um auf den richtigen Weg zu kommen, so wie alle jungen Menschen. Ich habe großes Vertrauen in ihre Fähigkeiten.«
Die Priesterin nickte. Sie stocherte mit einem Stab in den glühenden Scheiten herum, da die Flammen zu erlöschen drohten. Kroks Anwesenheit schien sie vergessen zu haben, das Feuer nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
»Warum bist du zu mir gekommen, wenn deine Wahl bereits getroffen ist?«, fragte sie nach einer Zeit des Schweigens, die dem Stammesführer endlos erschien.
Wieder hatte Krok das Gefühl, unerwartet angegriffen zu werden. Diesmal aber erkannte er die Ursache seines Zorns. Die Priesterin hatte ihn besser durchschaut als er sich selbst. »Ich wollte deinen Segen als Dienerin der Göttin. Ich weiß, wenn du meine Wahl gutheißt, dann hätte meine Schwester dies auch getan«, antwortete er ehrlich. Die Priesterin schien das zu würdigen, denn diesmal ließ sie ihn nicht warten, bevor sie antwortete. »Ich heiße deine Wahl nicht gut, Krok. Du bevorzugst Thetka, weil sie dir gleicht, weil es ihr darum geht, zu erringen und zu behalten. Willst du, dass der Stammesführer und die Hohe Priesterin des Volkes der Behaimen sich gleichen? Dass sie von derselben Art sind? Dann wähle Thetka, und du hast trotz allem meinen Segen.«
Krok musterte die Keltin staunend. Ihr Vorwurf hatte so sicher ins Ziel getroffen wie der Pfeil eines geübten Schützen. »Natürlich soll die Hohe Priesterin anders sein als der Stammesführer. Sie ist die Tochter der Göttin, zuständig für Eintracht in unserem Volk und für sein Wohlergehen. Aber wir waren uns doch einig, dass Kazi trotz ihrer Heilkünste gänzlich ungeeignet ist. Thetka denkt in vielen Dingen selbstsüchtig und will im Mittelpunkt stehen, doch mit dem richtigen Einfluss ...«
»Gibt es nicht noch eine dritte Tochter?«
Diesmal zögerte Krok lange mit seiner Antwort. Die Frage der Priesterin ließ ihn an deren Fähigkeiten als weiser Frau zweifeln.
»Libussa ist noch ein Kind«, meinte er schließlich.
»Kinder werden erwachsen, Krok. Du hast selbst gesagt, junge Menschen brauchen Zeit, um den richtigen Weg zu finden. Außerdem ist aus Libussa längst eine junge Frau geworden. Sie hat an eurem letzten Fest zu Ehren der Göttin teilgenommen.«
»Ja, und seitdem reitet sie ständig fort, um sich mit irgendeinem jungen Mann zu treffen, wie ich vor kurzem erfahren habe. Einem Bauernjungen! Selbst als ihre Mutter starb, war sie bei ihm.«
»Sie ahnte nichts davon, wie nah ihre Mutter dem Tode war, Krok. Als Libussa aufbrach, gab es noch keine Anzeichen einer Krankheit. Oft kann sie Ereignisse voraussehen, aber zurzeit ist sie, nun ja, mit anderem beschäftigt.« Die Priesterin lächelte nachsichtig, als hätte sie Verständnis für das Mädchen. Eine seltsame Haltung bei einer Frau, die ihr Leben der Göttin geweiht hatte, fand Krok.
»Libussa rennt jeder Laune hinterher, von ihren Wünschen und Sehnsüchten getrieben. Was für eine Fürstin und Hohe Priester in wäre sie?«
»Hattest du nicht auch einmal deine Sehnsüchte, Krok?«
Er senkte den Blick und fragte sich, ob die Priesterin von Aislinn, der hübschen Keltin, wusste. Oder von den vielen anderen, die es vor ihr in seinem Leben gegeben hatte. Auch Scharka, seine Schwester, war in diesen Dingen nicht zurückhaltend gewesen. Kazi hatte die dunklen Haare ihres keltischen Vaters geerbt. Danach war ein behaimischer Krieger zu ihr gekommen, und Thetka wurde geboren. Wer Libussa gezeugt hatte, wusste Krok nicht genau. Es stand einem Mann der Behaimen nicht zu, sich in die Belange seiner Schwestern und Nichten einzumischen, wenn es um die Auswahl von Liebhabern ging. »Sie rennt diesem Mann hinterher, obwohl die guten Sitten erfordern, dass er sich zu ihr begibt«, erklärte er trotzdem empört.
»Warum bist du so streng mit ihr? Libussa weiß genau, was sie tut, und wenn sie andere Wege nimmt als die üblichen, so hat sie ihre Gründe dafür. Sie kommt zu mir, wenn sie befürchtet, etwas Unangemessenes zu tun. Der Dienst an den Göttern ist ihr sehr wichtig. Glaube mir, Krok, das Mädchen handelt nicht unüberlegt. Kannst du mir sagen, warum du nicht bereit warst, sie in Erwägung zu ziehen?«
»Libussa folgt in allem ihrem Herzen, auch wenn sie dabei gegen unsere Bräuche verstößt. Sie ist gutgläubig und vertrauensselig. Streit ist ihr verhasst, denn sie versucht stets, Verständnis für den Gegner aufzubringen, und träumt von Frieden durch beidseitige Einsicht. Versteh mich nicht falsch, hohe Frau. Das Mädchen ist ein liebenswerter Mensch, und kaum jemand redet schlecht von ihr. Aber sie sieht der Wirklichkeit nicht ins Gesicht.« Er fand, dass er sich sehr treffend und unvoreingenommen ausgedrückt hatte.
Die Priesterin hielt ihren Blick auf die lodernden Flammen gerichtet. Ihm schien, als begännen die Zeichen auf ihrer Stirn wieder zu tanzen. »Libussa ist, was du nicht bist. Ihr Männer habt eure Götter des Krieges und des Donners und der Schlacht. Wir Frauen verehren die Muttergöttin, die das Leben schenkt. Sie ist es, die aus Libussa spricht, Krok. Weder Kazi noch Thetka hören ihre Stimme so klar wie das jüngste Mädchen. Dir mag Libussa leicht zu beeindrucken und gutgläubig vorkommen. Aber gib ihr Zeit, dann wird sie vom Leben lernen. Ich weiß, dass keine andere deiner Nichten der großen Göttin so nahesteht wie das jüngste Kind deiner Schwester. Mehr habe ich dir nicht zu sagen. Nun geh und tu, was dir richtig erscheint.«
Krok suchte nach Worten, um der weisen Frau zu widersprechen, doch die Priesterin beachtete ihn nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen, und sie murmelte leise unverständliche Worte. Er beobachtete, wie sich ihr Oberkörper dabei vor- und zurückwiegte, als habe eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen.
Er stieg wieder auf sein Pferd und murmelte Worte des Abschieds, auf die er keine Antwort erhielt. Dann galoppierte er eilig los. Der nächtliche Wald war die Wohnstatt von Geistern und Dämonen, vor denen selbst ein tapferer Krieger Respekt hatte.
»Libussa«, murmelte er auf dem Weg nach Chrasten, wo sein Clan sich niedergelassen hatte. »Nun, wenn sie meint, dann eben Libussa. Es steht mir nicht an, die Wahl der Göttin in Zweifel zu ziehen.« Was er natürlich trotzdem tat.
Als der Reiter nicht mehr zu sehen war, löschte die Keltin das Feuer. Die letzte Darbietung hatte ihren Zweck erfüllt. Es tat ihr leid, dass sie Krok so unfreundlich verabschiedet hatte, aber Männer hatten nicht das Recht, an diesen Ort zu kommen. Sie wollte nicht, dass er bis zum Morgengrauen blieb und von den ersten Frauen gesehen wurde, die sie aufsuchten.
Er ist kein schlechter Kerl, der Stammesführer der Behaimen, dachte sie, als sie sich zum Schlafen in ihre Höhle zurückzog. Ich glaube, er wird dem Willen der Göttin folgen, auch wenn er ihn nicht versteht.
An Libussa wollte sie im Augenblick nicht denken. Sollte das Mädchen je von diesem Gespräch erfahren – wie zornig und enttäuscht wäre sie von ihrer engsten Vertrauten, die nur zu gut wusste, welches Leben sie sich in Wahrheit wünschte! »Jenen, die nicht nach Macht streben, soll sie zufallen«, murmelte die Keltin, während sie sich auf ihre Felle legte und die warme Wolldecke über sich ausbreitete. Hättest du mir nicht von deinen Träumen und Ahnungen erzählt, Mädchen, dachte sie kurz vor dem Einschlafen, dann hätte ich ihn Thetka wählen lassen, denn so übel ist sie nicht. Doch mir scheint, du hast eine besondere Aufgabe in der Welt, Libussa. Du musst den Weg gehen, der dir bestimmt ist, auch wenn er dir nicht gefällt. Den meisten von uns gefällt er nicht immer.