Читать книгу Die Träume der Libussa - Tereza Vanek - Страница 8
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ОглавлениеLibussa verabschiedete sich von Premysl und brach auf. Olga von den Lemuzi befahl der Heilerin selbst, ihr noch einmal den Verband zu wechseln und ein schmerzstillendes Mittel zu verabreichen. Libussa erhielt auch ein paar Beinkleider, die sie unter Ludmillas Kleid anzog. Der Abschied von der Lemuzi-Fürstin fiel kühl aus. Ihre Söhne reichten ihr bereitwillig die Hand, doch in Neklans Augen glaubte Libussa auch einen Funken von Zorn zu erkennen. Als Allerletzte schlich sich Ludmilla herbei. Das Mädchen sah mit seiner schmächtigen Gestalt immer noch aus wie ein Kind. Riesige Augen beherrschten das blasse Gesicht.
»Es ist schade, dass ich keine Gelegenheit hatte, mit dir zu reden«, flüsterte Ludmilla. Libussa fragte sich, ob sie Angst hatte, von ihrer Mutter gehört zu werden, doch dann erinnerte sie sich, dass Ludmilla stets so leise sprach.
»Ich war nur kurz hier. Aber wir sehen uns sicher bald in Chrasten.« Ihr fiel ein, dass sie auch dort selten mit Ludmilla geredet hatte. Nun drückte das Mädchen plötzlich ihre Hand.
»Du sollst wissen, dass mir leidtut, was geschehen ist.«
Wenigstens ein Mitglied der Lemuzi-Familie schien es ehrlich zu meinen. Libussa lächelte Ludmilla dankbar an, als sie sich in den Sattel schwang.
Der Ritt war leichter als erwartet. Das Mittel der Heilerin entfaltete schnell seine Wirkung, verstärkt durch die Freude, die Libussa über ihre Versöhnung mit Premysl empfand. Erstaunt stellte sie fest, dass die Erinnerung an den Schrecken im Wald bald verblasste. Stattdessen durchlebte sie im Geiste nochmals ihre Begegnungen mit Premysl. Ob Kazi, die Heilerin, wusste, welch erstaunliche Heilung das Glücksgefühl bewirken konnte?
Der Gedanke an Kazi holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie musste mit ihrer Mutter sprechen, sobald sich eine Gelegenheit ergab. Die Cechen-Fürstin würde sicher nicht begeistert sein, doch sie betonte stets, wie verkehrt es sei, Frauen nach Art anderer Völker ihrer Freiheit zu berauben. Daher konnte sie ihr eine eigene Wahl des Gefährten kaum verbieten. Thetka würde Witze reißen. »Sagt dir der Geruch von Mist so sehr zu, dass du dich mit einem Bauern darin wälzen musstest?«, hörte sie im Geiste bereits die spöttische Stimme ihrer Schwester. Aber das Glücksgefühl schützte wie ein warmer Umhang im Winter vor allen Gemeinheiten. Kazi und Premysl würde vielleicht ihre gemeinsame Liebe zu Tieren verbinden. Bei ihrem Onkel war Libussa unschlüssig. Krok schätzte aufrechte, ehrliche Menschen, so dass ihm an Premysl nichts missfallen dürfte, doch sein strenger Glaube an die Traditionen würde vielleicht eine Mauer zwischen beiden errichten. Libussa beschloss, den Dingen ihren Lauf zu lassen, denn niemand sollte sie von Premysl trennen.
Als Chrasten, der große, von einem steinernen Schutzwall umgebene Holzbau auf dem Gipfel des nächsten Hügels auftauchte, hingen dunkle Wolken über dem Gebäude, als stünde ein schweres Unwetter bevor. Der Himmel war finster und ließ die hölzernen Türme schwarz wirken. Libussa hielt den Atem an, so beklemmend war ihre Vorahnung von Unheil. Sie hatte Mühe, sich im Sattel zu halten.
»Das«, murmelte sie verunsichert, »kann nicht nur die Angst vor meiner Mutter sein.«
Als sich das Tor öffnete, bemerkte sie, wie die Wächter ihre Gesichter verlegen abwandten. Die Stille im Hof war unheimlich. Wo steckten die Mägde, die hier sonst lachend und schnatternd miteinander die Arbeit verrichteten? Selbst das Fluchen eines Knechts, dem im Hof gerade ein Ferkel entwischt war, hätte sie im Augenblick erleichtert. Doch alle, die dort sonst eifrig Eimer schleppten, Holz hackten oder geschlachtetes Vieh in die Küche trugen, schienen nun bei ihrem Anblick wie versteinert. Warum senkte jeder, den sie traf, den Blick? Nur deshalb, weil sie ein paar Tage ohne Erklärung verschwunden gewesen war? Ihre Verwundungen waren unter dem Kleid verborgen. Als sie das große Gebäude betrat, wo ihre Familie wohnte, begegnete ihr Kveta, die Kindsmagd aller drei Mädchen. Die Alte wich ihrem Blick nicht aus, sondern musterte Libussa mit einem stummen Vorwurf in den Augen.
»Wo bist du so lange gewesen?«
»Ich war fort. Etwas Dringendes, das ich erledigen musste.«
Zwischen Kvetas Brauen erschien eine tiefe Falte. »Du verschwindest einfach so, ohne jemandem etwas zu sagen! Ohne dich zu verabschieden!« Ihre Worte klangen wie ein vernichtendes Urteil. Libussa erfasste ein leichter Schwindel. Kveta war immer eine nachsichtige Erzieherin gewesen.
»Was ist vorgefallen?«, flüsterte sie. »Kazi wusste, wo ich war. Hat sie nichts gesagt?« Kveta seufzte und schwieg einen Moment.
»Deine Mutter, Kind«, sagte sie dann. »Sie bekam plötzlich hohes Fieber. Kazi kümmerte sich um sie und ließ sogar einen Boten zu den Druiden schicken, die sich mit der Heilkunst auskennen. Aber es ging alles so schnell.«
»Es ging sehr schnell«, unterbrach plötzlich eine tiefe, Libussa wohlbekannte Männerstimme. »Unsere Fürstin starb schon nach wenigen Tagen, während ihre jüngste Tochter sich heimlich davongemacht hatte, um in irgendeinem Dorf Bäuerin zu spielen.«
Onkel Krok war in kurzer Zeit deutlich hagerer geworden. Unter seinen Augen, die Libussa zornig anfunkelten, lagen tiefe Schatten. Libussa erfasste ein Schwindel, und der Raum begann sich zu drehen. Noch vor einem Moment, dachte sie verwirrt, war ich glücklich. Jetzt blickte sie in einen Abgrund und wusste, dass sie im Begriff war zu stürzen. Doch noch stand sie still und versteinert da wie die Leute im Hof.
»Lass gut sein, Herr, es ist nicht zu ändern. Beschimpfe das Kind nicht.« Kvetas Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.
»Verlass den Raum, das geht dich nichts an!«, herrschte Krok die alte Frau an. Libussa fühlte Zorn in sich aufsteigen, das einzig starke Gefühl in ihrem Zustand der Benommenheit. Kveta gehorchte ohne Widerspruch, und Libussa fragte sich, ob sie verstehen konnte, dass allein der Kummer Krok so unleidlich werden ließ.
In diesem Moment kam der Schmerz. Ein unsichtbarer Speer durchbohrte ihren Unterleib, so dass sie in die Knie sank. Plötzlich spürte sie jeden Kratzer an ihrem Körper, als bestünde er nur aus blutenden Wunden. Erst als sie sich mit der Hand übers Gesicht fuhr, bemerkte sie die Tränen auf ihren Wangen.
»Komm jetzt mit, Libussa.« Die Stimme ihres Onkels war etwas sanfter geworden, aber sie wusste, dass er ihr nicht so schnell verzeihen würde. »Du sollst noch von deiner Mutter Abschied nehmen, zusammen mit deinen Schwestern. Morgen treffen die Clans der anderen Stämme zur Beisetzung ein. Und ich muss noch wichtige Dinge mit euch besprechen.«
Sie ließ sich von ihm in das Schlafgemach ihrer Mutter führen, wo ihre Schwestern bereits saßen. Vor der Türe wartete noch weitere Verwandtschaft, Tanten, Nichten und Neffen, doch Krok bat sie, sich noch zu gedulden. Selbst seine Bitten klangen wie Befehle.
Thetka schluchzte laut vor sich hin. Sie gab sich sonst stets Mühe, als stark zu gelten, und durch ihr Geschick beim Jagen hatte sie Eindruck auf so manchen Krieger gemacht. Aber Unglück vermochte sie nicht ohne Wehklagen zu ertragen, als protestierte sie so gegen die Götter, die ihr so etwas antaten. Kazis Gesicht war sehr bleich unter dem pechschwarzen Haar. Sie starrte stumm auf den leblosen Körper vor ihr und umklammerte den riesigen Hund an ihrer Seite. Libussa staunte, dass Onkel Krok die Gegenwart von Tieren bei der Totenwache erlaubte. Manchmal konnte er verständnisvoller sein, als man ihm zutraute. Kazi schmiegte sich stets an ihre drei Gefährten, wenn das Leben ihr übel mitspielte. »Der Trupp der Elenden«, meinte Thetka dann immer spöttisch, doch jetzt war ihr nicht nach Scherzen zumute.
Keinem Menschen war Kazi je so nah gewesen wie ihren Tieren. Nur einmal hatte Libussa den Mut gefunden, ihre Schwester nach dem Grund dafür zu fragen. Kazi hatte sie staunend angesehen, als verstünde sie nicht, warum Libussa etwas so Offensichtliches erklärt haben wollte.
»Tiere sind nicht so anstrengend wie Menschen.«
Nun blickte Kazi schweigend auf den toten Leib ihrer Mutter, bei der ihre Heilkünste versagt hatten.
»Hast du ihnen gesagt, wo ich war?«, fragte Libussa.
Kazi nickte kurz.
»Ich musste es tun, in dieser Lage. Aber ich hatte den Namen des Dorfes vergessen, sonst hätte man nach dir geschickt.«
Sie war nicht hier gewesen, als ihre Mutter starb. Tränen schnürten Libussa die Kehle zu, denn das ganze Ausmaß der leidvollen Ereignisse sickerte allmählich in ihr Bewusstsein. Sie zwang sich, ihre Augen auf jene starre, bleiche Gestalt auf der Bettstatt zu richten, die einmal die Fürstin der Cechen und Hohe Priesterin aller Behaimen gewesen war. Vor vielen Jahren hatte Libussa ein Kätzchen aufgezogen, doch eines Morgens lag es tot im Hof. Nicht einmal Kazi fand eine Erklärung, als sie den kleinen Körper untersuchte. Libussa war erstaunt gewesen, wie wenig Trauer sie angesichts des Tierleichnams empfand. Dieses leblose Etwas war nicht mehr ihr Kätzchen. Auch ihre Mutter wirkte fremd in ihrer Totenblässe. Libussa senkte schnell wieder den Blick, um sie nicht als wächserne Statue in Erinnerung zu behalten. Es konnte nicht sein, dass jene Frau, die noch vor einigen Tagen ungeduldig auf ihrem Schemel gesessen und energisch mit ihrer uneinsichtigen jüngsten Tochter gesprochen hatte, einfach aus der Welt verschwunden war! Libussa spürte tiefe Sehnsucht in sich, aber das war kein neues Gefühl. Ihr Leben lang hatte sie die Liebe ihrer Mutter vermisst, doch nun war jede weitere Hoffnung darauf vergeblich. Libussa wusste, dass nur Thetka der Cechen-Fürstin wirklich nahe gewesen war. Sie selbst hatte sich stets unwürdig, unvollkommen gefühlt, da es ihr nicht gelang, den Ansprüchen ihrer Mutter zu genügen. Zuneigung und Wärme waren von Kveta gekommen, Umarmungen, Trost und das tägliche Essen. Der Tod ihrer Mutter erschütterte sie, ließ aber nur ein Gefühl der Leere zurück.
Dann erwachte ihr Pflichtgefühl. Sie wusste, was ihre Aufgabe bei der Totenwache war. Mit Gedanken an ihre gemeinsame Zeit auf Erden sollte sie ihrer Mutter den Weg ins Totenreich zu Veles, dem Gott der Unterwelt, erleichtern und sie mit der Aussicht auf ein späteres Wiedersehen trösten. Dies, so sagte man, mache den Abschied auch für die Lebenden leichter. Später, wenn die ganze Verwandtschaft versammelt war, würde der Klagegesang beginnen, und am nächsten Tage würde man den Leichnam in Gegenwart der Fürstenclans aller Stämme verbrennen.
Libussa erinnerte sich an eine große, stattliche Frau. Narben an ihren Armen zeugten davon, dass sie bewaffnete Zweikämpfe nicht scheute, und einige Male war sie gemeinsam mit den Kriegern losgeritten, um feindliche Angriffe abzuwehren. »Als ich ein junges Mädchen war und die Rolle meiner Mutter einnehmen sollte«, hörte Libussa im Geiste die energische Stimme der Verstorbenen, »da dachten einige unserer Männer, es sei an der Zeit, aus ihrer Fürstin nur noch eine Hohe Priesterin zu machen, als netten Anblick bei rituellen Festen. Regieren und Kämpfen, das trauten sie einer Frau nicht zu. Ich habe es ihnen gezeigt, Kind. Sie mussten lernen, mich ernst zu nehmen.« Der Kampf um Anerkennung hatte sie hart gemacht, laut und aufbrausend, wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen lief.
»Aber Mutter, eine Hohe Priesterin ist mehr als nur ein schöner Anblick. Sie öffnet das Tor zur Welt der Geister und Götter. Auf diese Weise kann sie für das Wohl ihres Volkes sorgen, ohne kämpfen und töten zu müssen.«
Stirnrunzeln und ein verständnisloser Blick waren die einzige Reaktion gewesen. Libussa und ihre Mutter redeten aneinander vorbei, als stammten sie aus verschiedenen Völkern. Trotz ihrer regelmäßigen Auftritte bei den Opferstätten konnte die Fürstin Scharka sich für den Dienst an den Göttern kaum begeistern. Ihr Blick galt allein dieser Welt.
»Eines sollst du wissen, Kind, diese Geschichte über den großen Samo, der unsere Leute vom Joch der Awaren befreite, war nicht so, wie manche Männer sie gern erzählen. Samo war Franke und kam als Händler zu uns. Er sah, wie die schrägäugigen Dämonen uns versklavten, obwohl wir bereits vor ihnen geflohen waren. Sie verfolgten uns weiter. Da meinte er, die Zeit sei reif für einen Aufstand. Es gelang ihm, die verschiedenen Stämme zu vereinigen, das ist richtig. Vor allem die Fürstinnen unterstützten ihn darin, denn sie erkannten, dass die Götter diesen Fremden geschickt hatten, um uns zu retten. Daher vollzogen sie die heilige Hochzeit mit ihm, so dass sein Blut sich mit dem unseren vermischen konnte. So gewann er das Vertrauen unserer Krieger. Wir stammen selbst von einer Tochter Samos ab, heißt es, und deshalb konnte der Stamm der Cechen der mächtigste werden. Jetzt soll irgendein fränkischer Schreiber verbreitet haben, der große Samo hätte zwölf unserer Frauen geheiratet und eine Menge Söhne gezeugt! Das klingt, als hätte er sich eine Viehherde zugelegt. Es ist wirklich eine gefährliche Sache, diese seltsame Schreiberei. Einige Männer kratzen Worte nieder, und auf einmal haben diese eine größere Bedeutung als alles, was man sich seit Jahrhunderten erzählt. Vergiss niemals, wie es wirklich war!«
Libussa nickte und versprach, der Aufforderung zu folgen. Sie wagte nicht, genauer nach dieser mysteriösen Kunst des Schreibens zu fragen, um ihre Mutter nicht zornig zu machen. Aber lange hatte sie herumgerätselt, wie man wohl Worte durch Kratzen ausdrücken konnte.
Nun fragte sie sich, warum ihre Mutter solche Dinge mit ihr besprochen hatte und nicht mit Thetka, die ihr viel näherstand. Vielleicht hatte sie es nicht für nötig befunden, ihre Lieblingstochter zu belehren.
»Ich muss mit euch reden.« Onkel Kroks Stimme zerriss die andächtige Stille. »Ich weiß, es kommt vielleicht ungelegen, aber die Zeit drängt.«
Sie folgten ihm in den Nebenraum. Libussa gab sich große Mühe, nicht zu hinken. Die Wirkung des Schmerzmittels war vorbei und ihr Bein brannte wie Feuer. Es schien ihr jetzt aber nicht angebracht, von ihren Verwundungen zu berichten.
Thetkas Schluchzen verstummte, denn sie fürchtete die Ungeduld ihres Onkels. Alle drei ließen sich auf einer Holzbank nieder.
»Eure Mutter ist tot und wir brauchen eine Nachfolgerin. Wie ihr wisst, fällt mir die Pflicht zu, sie auszuwählen. Morgen schon, noch vor der Bestattung, werde ich vor dem Volk meine Wahl der Hohen Priesterin verkünden und Boten zu den fürstlichen Clans der anderen Stämme schicken. In dieser Rolle ist unsere Fürstin sehr wichtig für alle Behaimen, denn ihre Person schafft Zusammenhalt. Es wäre unklug, lange mit der Ernennung zu warten. Nun, ich habe überlegt und mich beraten lassen. letzt ist meine Entscheidung gefallen.«
Libussa lehnte sich erleichtert zurück. Nur das also war es! Sie wusste, welchen Namen der Onkel jetzt nennen würde, und fragte sich nur, ob Thetka nicht eine unerträglich herrschsüchtige Fürstin sein würde. Für die Rolle der Hohen Priesterin konnte sie sicher ebenso wenig Begeisterung aufbringen wie ihre Mutter.
Kurz darauf stand sie wie eine Schlafwandlerin inmitten ihrer zahllosen Verwandtschaft und hörte die Klagelieder kaum. Zum zweiten Mal an diesem Tag war das Leben ihren Erwartungen entglitten, und sie drückte sich ihre Nägel in die Handflächen, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte.
»Es tut mir leid, Thetka. Ich wollte das nicht«, flüsterte sie ihrer Schwester zu, die immer noch stumm vor Zorn neben ihr stand. Kazis Gesicht hingegen hatte sich entspannt, sie war sichtlich froh, von der unerwünschten Verantwortung verschont zu bleiben.
»Libussa!«, hatte Onkel Krok gesagt. Laut und deutlich, so dass sie sich nicht einreden konnte, ihn falsch verstanden zu haben. Dann berichtete er von seinem Besuch bei der keltischen Priesterin, die ihn beraten hatte. Und dass er mit seiner Wahl dem Wunsch der großen Göttin folgte. Mokosch, die Mutter Moranas, hatte bestimmt, dass Libussa zur Nachfolgerin der verstorbenen Hohen Priesterin wurde, zur Nachfolgerin jener Frau, in deren Augen sie stets unvollkommen gewesen war.
»Ich glaube nicht, dass dies der Wunsch unserer Mutter gewesen wäre, Onkel«, sagte Libussa verwirrt und nahm Thetkas energisches Nicken zur Kenntnis.
Krok räusperte sich und schwieg eine Weile. Libussa ahnte, dass er ihrer Meinung war, doch beschlossen hatte, sich Wünschen zu fügen, die er nicht verstand.
»Eure Mutter«, sagte er schließlich, »erfüllte ihre Aufgabe so gut, wie sie konnte. Sie hatte Stärken, aber wohl auch Schwächen. Es ist der Wille der Götter, dass ihre Nachfolgerin von einer anderen Art sein soll. Auch wenn wir es nicht begreifen, müssen wir alle uns fügen.«
Thetka schnaubte und fuhr herum. »Diesen Unsinn verstehe ich nicht!«, rief sie und wollte aus dem Raum eilen. »Libussa ist der Liebling dieser Keltin und wurde deshalb bevorzugt, das ist alles!«
»Bleib!«, donnerte die Stimme des Stammesführers. »Wir alle müssen uns fügen. Auch du. Es ist unrecht und anmaßend von dir, einer weisen Frau Voreingenommenheit zu unterstellen. Nimm die göttliche Entscheidung an. Das ist deine Pflicht.«
Thetka gehorchte, auch wenn ihr Gesicht sich vor Widerwillen verzog. Sie schien angespannt wie ein Raubtier, das auf die Gelegenheit zum Angriff wartet.
»Morgen werde ich also die Wahl verkünden«, fuhr Krok fort. »Wenn deine Mutter bestattet wird, musst du bereits die Rolle der Hohen Priesterin einnehmen, Libussa. Die Schamanen werden dich die Gebetssprüche lehren. Die restlichen Aufgaben erkläre ich dir anschließend selbst.«
Der Rest des Tages zog an Libussa vorbei, ohne irgendwelche Eindrücke zu hinterlassen. Ihr war, als hätte ein starkes Fieber sie befallen, so dass sie von Alpträumen geplagt wurde. Abends brachte Kazi ihr unaufgefordert einen Becher Wermutwein. »Das wirst du brauchen, um zu schlafen, Schwester«, meinte sie mit ihrer üblichen gleichmütigen Miene.
Libussa nahm dankbar an. »Kazi«, begann sie dann, denn der Drang, sich in ihrer Verlorenheit jemandem mitzuteilen, wurde übermächtig. »Warum hat sie mir das angetan?«
»Du meinst die Priesterin der Kelten?«
Libussa nickte. »Sie kannte mich. Sie wusste, dass es mein Wunsch war, bei ihr leben zu können. Ich sollte von ihr als Seherin ausgebildet werden.«
»Eben weil sie dich kannte, hat sie so entschieden«, erklärte Kazi, ohne zu zögern. »Einer Priesterin ist der Wunsch eines einzelnen Menschen weniger wichtig als der Wille der Götter. Ehrlich gesagt, ich bin erleichtert, nicht Thetka an deiner Stelle zu sehen. Sie ist jetzt schon schwer zu ertragen«, fügte sie lächelnd hinzu, um Libussa aufzuheitern.
»Aber was ist mit ...?« Libussa verstummte. Es schien ihr selbstsüchtig, die Schwester beim Tod ihrer Mutter mit solchen Belangen zu belästigen. Aber Kazi begriff.
»Mit deinem Bauern, nicht wahr? Nun, er wird es erfahren. Vielleicht kommt er von selbst hierher. Und falls er das nicht wagt, dann kannst du nach ihm schicken lassen.«
Libussa schloss erschöpft die Augen. Sie wollte Kazi jetzt nicht von Olgas Drohung erzählen, denn der Wein begann bereits zu wirken, und ihre Augen wurden schwer. Morgen würde sie überlegen, ob sie jetzt mächtig genug war, um Olga nicht mehr fürchten zu müssen. Einen Angriff gegen die Lemuzi-Fürstin konnte sie ohne Kroks Zustimmung nicht beginnen, und diese würde sie wegen eines einzigen Bauernjungen niemals bekommen. Und würde ein Mann, der keine Fürsten mochte, überhaupt an der Seite der höchsten Fürstin seines Volkes leben wollen? Dankbar für den Wermutwein flüchtete sie in das Dunkel des Schlafes.
In ihr Festgewand gehüllt und kunstvoll frisiert lag Fürstin Scharka einige Tage später auf einem großen Holzgerüst inmitten der versammelten Gäste. Die fürstlichen Clans aller Stämme waren mit ihrem Gefolge gekommen. Im Hintergrund standen Knechte, Mägde und Bauern aus dem Umland, die von ihrer Herrin Abschied nehmen wollten.
Schamanen mit bunt bemalten Gesichtern traten vor, um Tänze aufzuführen und Gebete zu sprechen. Sie waren die männliche Gefolgschaft der Hohen Priesterin, Söhne des Volkes, die von ihr selbst ausgewählt wurden. Gewöhnlich lebten sie in ihren Dörfern, doch zu gegebenem Anlass wurden sie gerufen, um an religiösen Zeremonien teilzunehmen. Allen voran schritt der Älteste unter ihnen, Bohumil, der ein enger Vertrauter von Libussas Mutter gewesen war. Er begann den Sprechgesang, in dem Veles, der Gott der Unterwelt, aufgefordert wurde, die Seele der Verstorbenen in Ehren zu empfangen, wie es ihrem Rang gebührte. Die anderen Schamanen stimmten allmählich ein, und Libussa spürte wieder ein starkes Pochen an ihren Schläfen. Bei Kroks endlosen Reden über ihre neue Rolle, die Traditionen der Behaimen und die heiligen Pflichten, die eine Hohe Priesterin zu erfüllen hatte, war es ihr manchmal schwergefallen, sich wach zu halten. Sie musste lange Gebetssprüche auswendig lernen und wissen, wann und wie sie sich an den Gesängen der Schamanen zu beteiligen hatte. Danach folgte die Geschichte der Heldentaten Samos im Kampf gegen die Awaren. Sie sollte auch die Namen all ihrer Vorgängerinnen aufzählen können. Manchmal ahnte Libussa, wie hilfreich diese geheimnisvolle Kunst des Schreibens sein musste, denn sie entlastete das menschliche Gedächtnis. Oft plagten Kopfschmerzen sie derart, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Nachts band sie sich ein feuchtes, mit Kräutern belegtes Tuch um den Kopf, das Kazi ihr brachte. Die Wunde an ihrem rechten Bein war immer noch nicht verheilt. Kazi hatte ihr eine Salbe aus Johanniskraut gegeben und zur Ruhe geraten, doch angesichts der Umstände hatte sie wenig Gelegenheit dazu gehabt.
Als die Schamanen geendet hatten, ging Libussa auf das Gerüst zu. Den ganzen Vormittag hatte es gedauert, sie für diese Feier herzurichten. Ihr Haar war zu einer Krone aus Zöpfen geflochten und so stramm gezogen, dass die Kopfschmerzen sich dadurch noch verstärkten. Schwere Silberohrringe klirrten bei jedem ihrer Schritte und sie spürte das Gewicht der Ketten an ihrem Hals. Als sie vor dem Holzgerüst stand, hob Libussa die beiden Herrschaftsinsignien in die Höhe: den verzierten Bronzestab, der sie zur Fürstin der Cechen machte, und dazu das Zeichen der Hohen Priesterin, eine Tonscheibe, die schon seit uralten Zeiten im Besitz der Cechen war. Die Scheibe zeigte einen Kreis mit eingeschriebenem Kreuz, das Symbol der großen Sonnengöttin Mokosch.
»Gehe ein ins Reich der Ahnen, Tochter der Göttin und Nachfahrin Samos«, murmelte sie und legte den Bronzestab langsam zu Boden. Mit der freien Hand nahm sie eine brennende Fackel, die Bohumil ihr reichte, und warf sie auf das mit Stroh unterlegte Gerüst. Flammen schössen empor und erhitzten ihr Gesicht. Nochmals hielt sie die Tonscheibe der Sonne entgegen, und lauter Gesang hüllte sie ein, während sie das letzte Gebet sprach, das Bohumil sie gelehrt hatte.
Ein Leichnam musste verbrennen, damit der Verstorbene, befreit von seiner irdischen Hülle, ins Totenreich eingehen konnte. Dann sammelte man die Asche in einer Urne, um sie bei den Ahnen beizusetzen. Libussa hatte oft über die Sitten der Christen gestaunt, die ihre Toten in der Erde eingruben wie Hunde einen Knochen.
Sie kehrte zu den Gästen zurück. Nacheinander traten die fürstlichen Familien vor, um sie als Hohe Priesterin und Nachfolgerin Scharkas anzuerkennen. Radka, seit dem Tod ihrer Mutter die neue Lukaner-Fürstin, zusammen mit ihrem Bruder Lecho, Slavonik von den Kroaten mit seiner Mutter und Schwester, Hostivit vom Zlicani-Clan und schließlich Olga von den Lemuzi mit ihren beiden Söhnen und Ludmilla. Wenigstens war der Nordmann nicht dabei, denn seine Nähe hätte sie schwer ertragen können.
Olga senkte der Tradition gemäß den Kopf. »Sei gesegnet, Tochter der Göttin«, murmelte sie. Als sie Libussa wieder ansah, lächelte sie, doch ihr Blick war frostig. Die Erinnerung an das letzte Gespräch in Zabrusany stieg in Libussa auf, und ihr Magen verkrampfte sich. Doch dann wurde ihr klar, dass sie kein hilfloses junges Mädchen mehr war. Ihre neue Stellung verlieh ihr nicht nur Pflichten, sondern auch Macht.
»Ich werde dich bekriegen, wenn Premysl oder seiner Familie ein Leid geschieht«, hörte sie sich flüstern und erschrak über ihre eigenen Worte. Olgas Gesicht erstarrte zu einer hässlichen zornigen Maske, bevor sie wortlos weiterging.
Anschließend zogen alle Versammelten zur Opferstelle. Dort musste Libussa vor der Säule mit den Bildnissen der drei großen Götter Perun, Veles und Mokosch den Opfertieren die Kehle durchschneiden. Obwohl es ihr immer verhasst gewesen war zu töten, erfüllte sie diese Aufgabe ohne Zögern. Die geopferten Schweine und Lämmer, Geschenke an die Götter, erwartete im Totenreich ewiges Leben.
Die Feier wurde im großen Saal von Chrasten fortgesetzt. Nun saß Libussa am Kopfende, so wie einst ihre Mutter, und war vielen neugierigen Blicken ausgesetzt. Slavonik starrte sie unverwandt an und hob mehrfach seinen Krug zu ihren Ehren. Sie nahm mit Besorgnis Thetkas steinerne Miene zur Kenntnis. Die Schwester hatte in den letzten Tagen kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Nun dachte sie wohl, dass Libussa ihr auch noch Slavonik wegnehmen wollte. Um deutlich zu machen, dass dies nicht ihre Absicht war, warf Libussa dem Kroaten-Sohn einen kühlen Blick zu, was ihn aber kaum beeindruckte. Vermutlich ahnte er, dass Onkel Krok einer Verbindung zwischen dem ältesten Sohn des Kroaten-Clans und der neuen Hohen Priesterin sicher nicht abgeneigt wäre.
Sie rief sich in Erinnerung, dass niemand sie zu einer solchen Hochzeit zwingen konnte, und nahm einen weiteren Schluck Wein in der Hoffnung, so den Kopfschmerz zu betäuben. Beim Anblick der Speisen auf dem Tisch zog ihr Magen sich zusammen, und es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten, so sehr zwang die Erschöpfung sie nieder. Vielleicht konnte sie die nächsten Tage allein in ihrer Kammer bleiben und weben. Das hatte ihr immer Freude bereitet, eine der vielen Eigenarten, die ihre Mutter nicht verstehen konnte. Sie wollte ein Gewand für Premysls Mutter vorbereiten, zur Begrüßung, wenn er mit ihr hierherkam. Falls er überhaupt noch kommen wollte, jetzt, da eine Fürstin aus ihr geworden war.
Sie schloss die Augen und versuchte, sich auf die wohltuenden Melodien der Flötenspieler zu konzentrieren. Die Erleichterung war nur von kurzer Dauer, denn bald legte Krok seine Hand auf ihren Arm. »Kümmere dich um die Gäste! Dein Benehmen ist unschicklich. Von nun an wirst du immer im Mittelpunkt stehen und musst dich entsprechend verhalten.«
Je mehr sie den Schlaf herbeisehnte, desto hartnäckiger mied er sie, wie ein wildes Tier, das sich nicht fangen ließ. Libussa streckte sich auf ihrer Bettstatt aus, froh, endlich der lauten Feier entkommen zu sein und in der Stille ihrer Kammer zu liegen.
Wenn Premysl jetzt bei ihr sein könnte, würde der Druck der letzten Tage schnell von ihr abfallen. Wieder begannen die üblichen Gedanken, sich in ihrem Kopf zu drehen wie die Kreisel, mit denen sie als Kind gespielt hatte. Gelang es ihm nicht, das Gebiet der Lemuzi unbemerkt zu verlassen, weil Staditz noch immer von Olgas Kriegern bewacht wurde? Oder wollte er nicht die Verbindung mit einer Fürstin, wie sie befürchtete? Unruhig wälzte sie sich auf den Rücken. Das Warten war unerträglich geworden. Sie konnte Boten zu ihm schicken, um ihm mitzuteilen, dass er immer noch willkommen war. Doch Olgas Krieger würden das vermutlich mitbekommen. Wäre Premysl dann in Gefahr? Verwirrt setzte sie sich auf und rieb ihre pochenden Schläfen. Bisher hatten meist ihr Fühlen und die Stimme der Göttin in ihrem Inneren ihr Handeln bestimmt, doch langsam ahnte sie, in ihrer Rolle als Fürstin würde sie auch lernen müssen, auf die klare, kalte Vernunft zu hören, die in Premysls Denken vorherrschte.
Olga wollte sicher keine Fehde herausfordern, denn alle anderen Stämme würden auf der Seite der Cechen stehen. Auch Libussa konnte ohne Kroks Zustimmung keinen Kampf gegen die Lemuzi beginnen, und Olga wusste das. Doch der Übergriff von Olgas Kriegern auf Libussa neulich im Wald wäre womöglich ein ausreichender Grund für den Stammesführer, seine Zustimmung zu geben, sobald er davon erfuhr.
Plötzlich fuhr Libussa auf und musste sich beherrschen, um nicht aufzuschreien. Wie dumm sie sich Olga gegenüber verhalten hatte, und das bereits zum zweiten Mal! Ein junges, einfältiges Mädchen, das drohte, weil es zornig war. Doch auch Olga hatte Angst, daher ihre geheuchelte Freundlichkeit.
Seufzend stand Libussa auf und streifte sich erneut ihr Festgewand über. Olga war dafür bekannt, dass sie gern lang und ausgelassen feierte. Vermutlich hatte sie sich noch nicht in die Gästekammer zurückgezogen. Morgen, wenn alle fürstlichen Familien aufbrachen, gäbe es kaum mehr Gelegenheit, allein mit ihr zu reden. Heute Nacht war für Libussa die letzte Gelegenheit, das Unheil, das sie angerichtet hatte, ein wenig zu mildern. Die Erkenntnis, wie wichtig das war, verlieh ihr neue Lebenskraft. Sie verbarg ihr zerzaustes Haar unter dem Kopfputz und machte sich auf den Weg in den Festsaal.
Die meisten der Gäste hatten sich bereits zurückgezogen. Mägde mit erschöpften Gesichtern räumten die Tafel ab. Libussa fragte Dana nach der Lemuzi-Fürstin und erfuhr, dass Olga in den Hof hinausgegangen war.
»Der große, fremde Krieger wollte mit ihr reden«, fügte Dana stirnrunzelnd hinzu. Die Abneigung gegen den Nordmann war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Es kostete Libussa Überwindung, in den dunklen Hof hinauszugehen, wo Tyr sich aufhalten musste. Die Anwesenheit ihres Onkels und seiner Krieger beruhigte sie zwar, doch tief in ihr war die Ahnung von etwas Dunklem, Bedrohlichem. Mit bloßen Füßen schlich sie so leise wie möglich über die feuchte Erde.
»Jetzt ist das zwitschernde Vögelchen also Fürstin geworden!« Tyrs Stimme war deutlich zu hören, denn der Hof schien bis auf die zwei Gestalten wie ausgestorben. Selbst die Wachen mussten angetrunken eingenickt sein. Auch wenn ihre Erziehung es verbot, konnte Libussa nicht umhin, weiter zu lauschen.
»Ich bin nun schon einige Jahre in eurem Land und habe mir diese Sitte der Weiberherrschaft angesehen«, fuhr Tyr fort. »Ich gebe zu, einige von euch Fürstinnen machen sich gar nicht schlecht. Du zum Beispiel, Herrin, weißt, worauf es ankommt und wie du deinen Kopf durchsetzt. Fürstin Scharka verstand es, wie ein richtiger Mann zu kämpfen. Aber jetzt haben sie ein Täubchen gewählt, das über einen Schwärm von Raben herrschen soll.«
»Raben leben nicht in Schwärmen, Tyr«, erwiderte Olga, »und vielleicht unterschätzt du Libussa auch ein wenig. Denke daran, wie sie euch neulich im Wald zugesetzt hat.«
»Hör zu, Herrin«, fuhr Tyr fort, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Ich könnte deinen Stamm zum größten und mächtigsten in diesem Land machen. Meine Männer sind hervorragende Kämpfer und stehen hinter mir. Viele eurer Sitten hier erscheinen mir weltfremd. Bisher wart ihr geschützt hinter euren Bergen, doch bald ist es damit vorbei, glaub mir. Alle Reiche in der Nachbarschaft dehnen sich immer mehr aus. Ihr könnt überrannt werden wie Hasen von einer Horde wilder Stiere oder stark genug sein, selbst zu Stieren zu werden. Und mit meiner Hilfe macht der Stamm der Lemuzi den Anfang. Dann kannst du langsam die anderen unterwerfen.«
»Ich habe nicht die Absicht, irgendeine Fehde mit einem anderen Stamm zu beginnen. Wir leben nicht schlecht mit unseren Sitten und brauchen keine Einmischung von Fremden«, meinte Olga kühl.
»Warum haben deine Söhne mich dann geholt? Weil ich hier nicht gebraucht werde? Ich weiß, du warst nicht glücklich über die Wahl dieses Mädchens, und ich verstehe dich sehr gut. Die Kleine hat den Kopf voller schöner Träume. Sie wird versuchen, dir Vorschriften zu machen, wie du deine Bauern behandeln sollst. Dir mit ihrem Onkel und seinen Kriegern drohen. Krok ist ein guter Kämpfer, doch auch er versteht nicht, dass es in dieser Welt vor allem auf Macht und Reichtum ankommt. Ich könnte deinen Clan zur königlichen Familie aller Behaimen machen. Würde es dir nicht gefallen, die erste Frau in diesem Land zu sein, Fürstin Olga?«
»Was erwartest du als Gegenleistung, Tyr?«, fragte die Lemuzi-Fürstin ohne langes Zögern.
»Gib mir deine Tochter.«
Fassungslos dachte Libussa an die zarte, ängstliche Ludmilla und fröstelte. Sollte Olga jetzt zustimmen, dann müsste sie auf der Stelle zu ihrem Onkel laufen, damit das Mädchen Hilfe bekam. Doch was würde dann mit Premysl geschehen, wenn sie die Lemuzi-Fürstin gegen sich aufbrachte? Mit tiefer Erleichterung hörte sie Olgas zornige Antwort: »Jetzt ist es genug, Tyr! Ich weiß, was du willst. Ludmilla, der nach unseren Sitten meine Nachfolge zusteht. Ich werfe dir mein Kind nicht zum Fraß vor nur wegen ein paar schöner Versprechungen.«
»Wie du meinst, Herrin«, erwiderte der Nordmann gelassen. »Aber ich rate dir, noch mal über mein Angebot nachzudenken.«
Dann entfernte er sich langsam zu dem Gebäude, in dem die Krieger schliefen.
»Ich habe nicht um deine Ratschläge gebeten, Tyr! Ich weiß selbst, was ich tue«, rief Olga ihm wütend hinterher, was Libussa endgültig beruhigte. Wer den Zorn der Lemuzi-Fürstin geweckt hatte, konnte keine Unterstützung mehr von ihr erwarten. Olga zog sich ihren Umhang enger um die Schultern und sah noch eine Weile den Sternenhimmel an. Libussa erkannte, dass ihre Gelegenheit gekommen war.
»Olga!«
Die Lemuzi-Fürstin fuhr herum. Erstaunen malte sich auf ihrem Gesicht, gefolgt von einem kurzen Moment des Widerwillens, bevor wieder das unnatürliche Lächeln ihre Lippen verzerrte. »Wir dachten, du hättest dich schon schlafen gelegt, Tochter der Göttin«, meinte sie spöttisch.
Libussa holte Luft. Nun würde sie tatsächlich zwitschern müssen wie ein Vögelchen. »Das wollte ich. Aber unser Zwist bedrückt mich. Nun, da ich Fürstin der Cechen bin, möchte ich Frieden mit dir schließen. Lass uns das Vergangene vergessen. Wie du damals in Zabrusany sagtest, verstehe ich wenig vom Herrschen. Ich werde es lernen müssen und wünsche mir deshalb, dass wir beide Freundschaft schließen. Meine Mutter schätzte dich, Olga. Und ich weiß, dass sie eine kluge Frau war.«
Olgas Gesicht entspannte sich ein wenig. »Natürlich war sie das, Libussa. Und auch du wirst es eines Tages sein.«
Sie kam einen Schritt näher. »Viele angesehene Krieger umschwärmen dich jetzt, Mädchen. Da hast du diesen Bauern aus Staditz doch sicher schon vergessen, nicht wahr?«
Libussa hörte den neugierig bohrenden Unterton. Ihr Unbehagen nahm zu. Niemals hatte sie sich vorstellen können, eines Tages derart heucheln zu müssen.
»Nun, ich weiß, dass ich nicht mein Leben mit ihm verbringen werde«, begann sie. Olga sollte besser nicht erfahren, wie wichtig ihr Premysl war, denn das hätte ihr ein Gefühl grenzenloser Macht über die neue Hohe Priesterin geben können. »Aber manchmal denke ich noch an ihn. Es wäre nicht schlecht, ihn eine Weile hier in Chrasten zu haben. Ich meine, bis ich mich für einen dauerhaften Gefährten entschieden habe.«
Olga nickte verständnisvoll.
»Natürlich. Der Bauer ist ein hübscher Junge. Und wenn wir uns gut verstehen und du mir keine Schwierigkeiten machst, dann kann er zu dir kommen. Ich möchte nur nicht, dass du selbst Leute losschickst, die sich in meinen Ländereien herumtreiben. Das wäre, wie soll ich sagen, allzu viel Einmischung, verstehst du? Ich werde dem Jungen sagen, dass du auf ihn wartest und er jederzeit gehen kann. Vertraue mir, dann weiß ich, dass ich auch dir trauen kann.«
Libussa nickte widerwillig. Olga streckte ihre Arme aus und sie zwang sich, die Nähe des runden Körpers der Lemuzi-Fürstin hinzunehmen.
Als sie sich wieder auf ihrer Bettstatt ausgestreckt hatte, legte der Schlaf sich befreiend auf ihre müden Augenlider. Premysl würde kommen. Nach ihrer Versöhnung mit Olga gab es keinen Grund mehr, warum die Lemuzi-Krieger ihn zurückhalten sollten. Er mochte zornig werden, dass Olga selbst ihn auf die Reise schickte, aber das konnte Libussa nach seiner Ankunft mit ihm klären. Es war alles nur eine Frage der Zeit. Erst ihr Traum in jener Nacht bereitete dieser Erleichterung ein jähes Ende. Sie hörte, wie Premysl ihren Namen rief, und sah einen großen dunklen Vogel über das Gebiet der Lemuzi kreisen. Seine Flügel warfen riesige Schatten, als könne kein Sonnenstrahl mehr bis zur Erde dringen.
Libussa zog ihr Schiffchen durch die herabhängenden, mit Gewichten befestigten Fäden. Sie hatte das Garn nach dem Spinnen mit Kvetas Hilfe gefärbt, um ein Muster aus verschiedenen Streifen herstellen zu können. Es sollte ein warmer Umhang für den bereits angebrochenen Winter werden, den sie Premysl zur Begrüßung überreichen wollte. Vier Wochen waren seit ihrer Übereinkunft mit Olga vergangen. Es lag der erste Schnee und Premysl war noch nicht hier. Libussa hatte Krok von ihrem Abenteuer erzählt, um ihn auf die Ankunft des jungen Bauern vorzubereiten, doch entsprechend ihrer Übereinkunft mit der Lemuzi-Fürstin verschwieg sie den Übergriff von Olgas Kriegern. Aber warum hielt Olga sich nicht an ihr Versprechen und ließ wenigstens Premysl ziehen, auch wenn sie vielleicht den Rest seiner Familie zurückbehalten wollte, um Libussa weiter unter Kontrolle zu haben? Ein solches Verhalten hätte der Gerissenheit der Lemuzi-Fürstin entsprochen. Nachts grübelte Libussa lange, bis sie im Schlaf weitere Alpträume plagten. Sie erwog, heimlich einen Boten nach Staditz zu schicken, verwarf den Gedanken aber wieder. Vielleicht wollte Premysl nicht kommen. Dies schien die einfachste Erklärung, und sie wollte nicht um seine Liebe flehen. Bei dem nächsten Korochun-Fest zur Feier der Wiedergeburt von Jarilo fand sie vielleicht Gelegenheit, mit Olga zu reden, obwohl ihr dies widerstrebte. Krok war wieder zu einer seiner Reisen aufgebrochen, und zumindest fand sie endlich Zeit zum Weben. Diese Arbeit verschaffte ihr etwas Beruhigung.
Nachmittags sprachen nun regelmäßig Leute vor, die ihren Rat und ihr Urteil suchten. Das Schlichten von Streit in Familien und die Regelung von Erbschaften waren die ersten ihrer neuen Aufgaben, an denen sie Gefallen fand. Libussa hörte gerne zu, ließ verschiedene Meinungen auf sich wirken und verbrachte oftmals erst noch den nächsten Morgen an ihrem Webstuhl, bevor sie eine Entscheidung fällte. Die Zahl der Menschen, die sie aufsuchten, stieg ständig. Vor einigen Tagen war die Fürstin der Leitmeritzer bei ihr gewesen, um sich über die Aufsässigkeit ihrer Tochter Irina zu beklagen. Seit ihrer engen Verbindung mit Lecho von den Lukanern verweigere das Mädchen ihr den Gehorsam und hetze die Bediensteten gegen sie auf, klagte die alte Frau und wünschte, dass Irina zurechtgewiesen wurde. Libussa wollte allein mit dem Mädchen sprechen. Es dauerte jedoch sehr lange, bis die unsichere, verschlossene Irina sich ihr öffnete.
»Es ist wegen meiner Zofe Milena«, murmelte sie schließlich, nachdem Libussa ihr Wein eingeschenkt und eine Weile mit ihr darüber geplaudert hatte, wie anstrengend Mütter sein konnten. »Sie hat sich nicht gut benommen in letzter Zeit, vernachlässigte ihre Arbeit und war häufig abwesend. Meine Mutter wurde deshalb zornig und drohte, sie zu verprügeln. Das gefiel mir nicht, denn ich mag Milena. Ich sprach mit Lecho darüber, denn wir ... also seit dem Kupala-Fest treffen wir uns manchmal heimlich. Er schlug vor, dass ich mit Milena reden sollte, denn er mag es auch nicht, wenn man Bedienstete schlägt. So erfuhr ich, dass Milenas Mutter gestorben war und sie nun als älteste Tochter den Hof übernehmen wollte, aber meine Mutter will sie nicht gehen lassen.«
Libussa runzelte die Stirn. Es war Milenas Recht, zu ihrer Familie heimzukehren, wenn sie das wünschte. Ohne Zögern sprach sie diese Gedanken aus.
»Eben das sagt Lecho auch!«, rief das Mädchen erfreut. »Aber meine Mutter ist anderer Meinung. Sie sagt, die Zeiten hätten sich geändert, und ist wütend, weil ich Milena unterstütze. Sie will mir sogar weitere Treffen mit Lecho verbieten.«
Libussas anschließendes Gespräch mit der Leitmeritzer-Fürstin verlief weniger angenehm. Obwohl sie bemüht war, auf möglichst freundliche, aber unmissverständliche Weise klarzumachen, dass entsprechend der alten Sitten ihres Volkes das Recht auf Irinas und Milenas Seite lag, hatte sie nach der raschen Abreise der alten Frau das Gefühl, auch diese Fürstin sei nun ihre heimliche Feindin geworden.
»Du bist geduldiger und verständnisvoller als deine Mutter«, erklärte Kveta anschließend, als ahne sie, dass Libussa Ermutigung brauchte. »Fürstin Scharka hätte dasselbe Urteil gefällt wie du. Aber vermutlich wäre es ihr nie gelungen, die schüchterne Irina zum Reden zu bringen, und so hätte sie die Wahrheit nie erfahren.« Ob Kveta wusste, welche Freude sie Libussa mit diesen Worten machte? Niemals wäre ihr in den Sinn gekommen, sie könnte in irgendeiner Weise ihrer angesehenen Mutter das Wasser reichen. Doch es musste einen Grund geben, warum so viele Leute zu ihr kamen. Sich mit den Sorgen anderer Menschen zu befassen war eine willkommene Ablenkung von ihren eigenen.
Ihr Besuch bei der keltischen Priesterin vor einigen Tagen hatte ihr kaum Erleichterung verschafft, obgleich sich Libussa freute, den vertrauten Ort wiederzusehen. Das Plätschern der Quelle, wo die alte Keltin ihre Weissagungen machte, schien ihr lieblicher als alle Melodien der Flötenspieler auf Chrasten. Sie ließ sich neben der Priesterin am Eingang der Höhle nieder und erinnerte sich an ihren Wunsch, dort ihr Leben verbringen zu können.
»Warum hast du meinem Onkel geraten, mich zur Nachfolgerin meiner Mutter zu machen? Du wolltest mich lehren, der großen Göttin zu dienen und in den Tiefen der heiligen Quelle zu lesen. Das war mein Wunsch und meine Bestimmung«, sprach sie aus, was sie schon lange quälte. Das spitze Gesicht der Keltin verriet keine Gefühlsregung. Vorwürfe prallten an der Priesterin ab. Es war, als werfe man kleine Kieselsteine gegen eine Felsmauer.
»Ich erfüllte den Wunsch der Göttin, Kind«, kam es gleichmütig zurück.
»Aber wie kann die Göttin etwas wünschen, das völlig unsinnig ist? Ich bin nicht so stark, wie meine Mutter es war. Thetka wäre die richtige Wahl gewesen. Sie versteht es, sich durchzusetzen. Mir ist, als würde ich nur Menschen gegen mich aufbringen, indem ich tue, was mir richtig scheint.«
Die Priesterin lächelte, was Libussa noch mehr erzürnte.
»Siehst du, Kind, eben das ist wohl der Wille der Göttin. Du bringst dein Volk dazu, nach ihren Lehren zu leben. Thetka wäre es nur um die eigenen Wünsche gegangen. Doch wir müssen uns alle einem höheren Willen beugen. Auch du.«
Libussa hob abwehrend die Hände.
»Und ist es denn der göttliche Wille, uns Menschen unglücklich zu machen? Wollen sie uns zwingen, auf alles zu verzichten, das uns im Leben wichtig ist?«, hörte sie sich rufen und erschrak. Niemals zuvor hatte sie es gewagt, ihre Stimme gegen die weise Frau zu erheben. Doch die Keltin wurde nicht zornig. Plötzlich erinnerte sie Libussa an ein Orakel. Sie war undurchschaubar wie die Tiefen der Quelle, in die sie regelmäßig blickte. Nichts an ihr schien menschlich.
»Den Dienst an der Göttin erfüllst du auch als Hohe Priesterin deines Volkes. Worauf also musst du verzichten, Libussa?«, wollte die Priesterin nun wissen. Libussa seufzte. Die Frage schien ihr überflüssig, denn sie hatte der Keltin bereits von Premysl erzählt.
»Es ist dieser junge Bauer«, erklärte sie trotzdem. »Ich hatte eine Abmachung mit ihm getroffen. Er sollte zu mir kommen, doch dann wurde ich zur Hohen Priesterin ernannt. Jetzt warte ich auf ihn. Ich habe alles getan, um seine Ankunft zu ermöglichen. Aber er ist bis jetzt nicht in Chrasten erschienen.«
Die Priesterin lächelte nachsichtig. »Die Jugend vermag nicht zu warten«, lautete ihr Rat. »Sie lebt noch nicht lange in dieser Welt und deshalb erscheint ihr jeder Tag wie eine Ewigkeit. Aber man kann sein Schicksal nicht erzwingen, nur manchmal in eine Richtung lenken. Dazu braucht es Geduld. Warte auf den Augenblick, da die Göttin dir einen Weg zeigt.«
Früher hätte Libussa solche Worte als weise empfunden, doch jetzt drängte es sie nach genaueren Aussagen, die ihr einen Grund zur Hoffnung geben konnten.
»Aber was ist, wenn mein Warten vergeblich ist? Soll ich den Rest meines Lebens so zubringen?«
Die Keltin senkte den Blick, als habe Libussas Schmerz sie zum ersten Mal wirklich berührt.
»Als ich ein junges Mädchen war, in meinem Dorf in den Wäldern«, begann sie leise, »da gab es auch einen jungen Mann, dem ich zugetan war. Doch die Weisen meines Volkes wählten mich zur Priesterin. Ich hoffte lange, mein Geliebter würde eines Tages zu diesem Berg kommen, um nach mir zu sehen. Er tat es nicht. Später erfuhr ich, dass er sich eine andere Gefährtin gewählt hatte. Wir können versuchen, unser Schicksal zu lenken, Libussa. Doch am Ende müssen wir uns den Wünschen der Götter fügen und in ihnen unser Glück finden.«
»Das kann ich nicht!«, rief Libussa empört und lief aufgebracht fort. Zwei Tage später kam sie zurück, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen. Die Priesterin schien Verständnis und Mitgefühl zu empfinden, doch das war kein wirklicher Trost. Libussa stellte sich danach weiter ihren Aufgaben, ganz wie die Keltin ihr geraten hatte. Doch sie fühlte sich wie der abgestorbene Ast eines Baumes. Als Teil eines Ganzen, in dem aber kein Leben mehr war.
Nun ging es um den Fall einer toten Bäuerin, deren Tochter rechtmäßig das Erbe beanspruchte, um gemeinsam mit ihren Brüdern den Hof zu bewirtschaften. Der letzte Gefährte der Mutter wollte ihr Erbrecht anfechten und sprach von neuen Sitten, die ihn zum Herrn im Hause machten. Niemand nahm den Mann wirklich ernst, denn er galt als Faulpelz und trank zu viel Met, doch würde man ihn jetzt vor die Tür setzen, bedeutete das seinen sicheren Tod. Es lag bereits der erste Schnee. Libussa suchte nach einer Möglichkeit, ihn mit den Kindern seiner verstorbenen Gefährtin zu versöhnen, damit er auf seine alten Tage ein Auskommen hatte. Vielleicht konnte er eine eigene Hütte in der Nähe beziehen, doch schien er kaum in der Lage, sich selbst zu versorgen. Es war aber die einzige Möglichkeit. Die Tochter und auch alle Söhne hatten sich entschieden gegen seine weitere Gegenwart in ihrem Heim ausgesprochen. Libussa überlegte, ob Not den Mann nicht einsichtiger machen würde, damit er schließlich bereit war, sich in sein Schicksal zu fügen und jene Hilfe anzunehmen, die man ihm bot.
Während sie darüber nachdachte, fädelte sie braune Wolle ein, um einen neuen Streifen für Premysls Umhang zu beginnen. Den Gedanken, dass er diesen Umhang womöglich niemals in Empfang nehmen würde, verdrängte sie bewusst, denn er hätte sie bei der Ausübung ihrer Pflichten als Fürstin behindert.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Grübeleien. Kveta betrat zögernd den Raum. Sie atmete schnell und sah aus, als sei ihr ein Geist begegnet. »Herrin, du hast Besuch. Es ist dringend.«
Es schmerzte Libussa, von jener Frau, die ihr eine Mutter gewesen war, nun als Herrin bezeichnet zu werden, aber Kveta bestand auf der angemessenen Anrede.
»Wer ist es?« Leise keimte Hoffnung in ihr auf.
»Neklan von den Lemuzi«, erklärte eine ungewöhnlich blasse Kveta und führte Olgas Sohn in den Raum. Bei seinem Anblick glitt der Faden aus Libussas Händen.
Neklans Tunika war blutbefleckt. Sein rechter Arm baumelte hilflos, als habe er jede Beherrschung über ihn verloren. Mühsam schleppte er sich herein und sank auf die Bank, die Kveta ihm hinschob.
»Wir brauchen Hilfe, Libussa.«
Jede Selbstsicherheit war aus seiner Stimme verschwunden. Er klang wie ein verlorenes Kind. Libussa fühlte, dass eine unklare Ahnung sich bestätigte.
»Was ist geschehen?« Sie sah, wie Kveta unaufgefordert einen Krug Wasser brachte, den Neklan sogleich leerte.
»Meine Mutter ist tot«, murmelte er dann und starrte auf den Boden.
Libussa erinnerte sich an das runde, lebhafte Gesicht Olgas von den Lemuzi. Eine Nadel stach in ihr Herz, denn früher einmal war sie dieser Frau sehr zugetan gewesen.
»So plötzlich? Sie war doch vollkommen gesund, als ihr das letzte Mal hier wart.«
»Es ... es war ...«, Neklans Stimme brach.
»Was war? Neklan, jetzt rede bitte!«, drängte Libussa. Der große Vogel aus ihren Träumen. Die Finsternis über dem Land der Lemuzi. Sie begann zu frieren. Was konnte der klugen, gerissenen Olga widerfahren sein?
»Bist du in einen Kampf geraten, Neklan?«, fragte sie, verzweifelt um innere Ruhe bemüht, als ihr Gast weiterhin schweigend auf den Boden starrte. »Kazi sollte sich deinen Arm ansehen.«
Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch. »Kazi kümmert sich bereits um meinen Bruder, der schlimmer dran ist als ich«, fuhr er mit zitternder Stimme fort. »Libussa, es ist etwas Ungeheures geschehen. Ich glaube, Tyr hat unsere Mutter getötet. Die Bediensteten fanden sie eines Morgens leblos im Bett. Ihr Kopf war so seltsam verdreht, als hätte jemand ihr das Genick gebrochen. Dann erschien Tyr plötzlich im Hof und zerrte eine wimmernde Ludmilla hinter sich her. Die meisten unserer Krieger waren um ihn versammelt. Er meinte, unsere Mutter habe ihm ihre Tochter zur Gefährtin gegeben. Deshalb sei er jetzt der Herr über Zabrusany. Wir konnten nicht mit unserer Schwester sprechen, denn die Krieger schirmten sie ab. Tyr genoss schon lange großes Ansehen unter ihnen, weil er im Zweikampf unbesiegbar ist. Unsere eigenen Männer stellten sich gegen uns, als wir zu den Waffen griffen. Sie sagten, mit Tyr als Herrscher hätten wir alle Aussicht auf Macht und Reichtum. Vojtan und ich wurden zu Gefangenen, da wir nicht die angemessene Begeisterung zeigten. Nur die Knechte und Mägde wirkten bedrückt.«
Libussas Gedanken drehten sich wild in ihrem Kopf. Ihr war schwindelig. »Ludmilla kann doch unmöglich einverstanden gewesen sein, Tyrs Gefährtin zu werden«, murmelte sie verwirrt. Wieder spürte sie den eisernen Griff des Nordmannes an ihrer Taille und der Geruch von Schweiß und Met ließ sie würgen. Sie begriff, wie dumm ihre Frage war. Ludmilla, die sich vor jedem bellenden Hund fürchtete, war jetzt in der Gewalt dieses Riesen.
»Wie seid ihr, Vojtan und du, entkommen?«
Neklan seufzte. »Ein paar Tage nach Tyrs Machtergreifung war Ludmilla plötzlich verschwunden. Tyr ließ jeden Winkel in Zabrusany durchsuchen. Dann den Wald und die Dörfer in der Umgebung. Er fand sie nicht. Dadurch wurde er immer wütender. Er ging auf Vojtan und mich los, um die Wahrheit aus uns herauszuprügeln. Aber wir hatten beide keine Ahnung, wo Ludmilla ist. Erst als Vojtan bewusstlos am Boden lag, glaubte er uns und jagte uns davon wie Hunde. Wir sollten die Neuigkeit, dass er nun Herrscher über Zabrusany sei, überall verbreiten, meinte er. Ludmilla erklärte er für tot. Ich habe eine Botschaft von ihm für dich, Libussa. Er will, dass du ihn als neuen Fürsten der Lemuzi anerkennst. Weigerst du dich, gibt es Krieg.«
Libussa schüttelte ungläubig den Kopf.
»Natürlich erkenne ich ihn nicht an. Hör zu, Neklan. Ich muss eine Nachricht an meinen Onkel Krok schicken. Er ist im Land der Polanen. Es wird vielleicht ein paar Wochen dauern. Inzwischen versammeln wir die anderen Stämme. Alle zusammen werden wir mit diesem Tyr schon fertig. Und vielleicht lebt Ludmilla ja noch. Sie könnte geflohen sein.«
Der hoffnungslose Ausdruck auf Neklans Gesicht war zermürbend.
»Tyr hat sehr gute Krieger, Libussa. Seine Nordmänner und unsere, die zu ihm übergelaufen sind. Angeblich gibt es auch Verbündete. Er sagt, er hätte schon vorher heimlich Boten zu den Mähren geschickt und um ihre Unterstützung gebeten. Dafür versprach er ihnen Loyalität. Und was meine Schwester betrifft, ich glaube nicht, dass sie entkommen konnte. Vielleicht hat Tyr sie versehentlich im Zorn erschlagen, was er natürlich nicht zugeben will.«
Libussa versuchte, sich auf ihre Atmung zu konzentrieren, wie die keltische Priesterin es sie gelehrt hatte. Nur wer Ruhe fand, konnte eine kluge Entscheidung treffen. Aber ein neuer Gedanke schlich sich in ihren Kopf und zerstörte jede Hoffnung auf Ausgeglichenheit.
»Neklan, dieser Bauer, mit dem du mich im Wald gesehen hast. Er gilt bei euch als Aufwiegler, nicht wahr? Ist ihm irgendetwas geschehen?«
Ihr Atem setzte aus, als sie auf eine Antwort wartete. Einen Augenblick lang stand wieder Olgas selbstgefälliger Sohn vor ihr, dessen Blick sie ein unreifes Dummchen nannte. Aber seine Lage machte es ihm unmöglich, dies auszusprechen.
»Ich hatte andere Sorgen, als mich um das Schicksal irgendwelcher Bauern zu kümmern. Tyr hat ihre Hütten durchsuchen lassen. Einige wurden dabei zerstört. Aber ich glaube nicht, dass es Tote gab. Abgesehen von Ludmilla. Und meiner Mutter.« Neklan rieb sich die Augen, ein erfolgloser Versuch, Tränen zu verbergen.
Libussa war klar, dass sie dies so gut wie möglich übersehen musste. Krieger weinten nicht. Sie holte Luft und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Ludmillas Verschwinden hatte Tyrs Pläne durcheinandergebracht. Würden die Mähren ihn noch unterstützen? Nun schickte er Olgas Söhne zu ihr, um eine Anerkennung als Fürst der Lemuzi zu erbitten. Das war sein Friedensangebot, denn in diesem Fall gäbe es keinen Anlass zum Kampf. Doch sie konnte es niemals annehmen. Dadurch würde sie die Sitten ihres Volkes verraten.
Libussa ballte ihre Hände zu Fäusten und ging aus dem Raum. Die Unsicherheit, ob sie das Richtige tat, folgte ihr wie der eigene Schatten, doch sie hatte keine Zeit für endloses Grübeln. Wenn sie nun versagte, dann war ihre Wahl zur Fürstin und Hohen Priesterin tatsächlich ein Irrtum gewesen.
Sogleich schickte sie Boten los und in den nächsten Tagen trafen die ersten Vertreter der fürstlichen Clans ein. Zum ersten Mal war Libussa froh über den Anblick Slavoniks von den Kroaten mit seiner stattlichen Kriegerschar. Jene Siegesgewissheit, die er ausstrahlte, schien auf einmal beruhigend. Radka von den Lukanern kam mit ihrem Bruder Lecho und seinen schwer bewaffneten Männern. Der Fürst der Zlicani, die Leitmeritzer und auch die anderen Stämme, alle hatten Unterstützung gesandt. Als Libussa sich ihrer Stellung gemäß am Kopfende der Tafel niederließ, meinte sie im ersten Moment, vor den Versammelten vollkommen fehl am Platz zu sein, doch die Dringlichkeit der Lage erlaubte keine solchen Bedenken. Es war wichtig, dass sie ihr Amt mit Selbstverständlichkeit ausübte, damit ihr Volk sich nicht verloren fühlte. Sie hob den Bronzestab der Fürstin, um das Gespräch zu beginnen. Neklan trat auf ihre Weisung hin vor die Gäste und wiederholte seinen Bericht über Tyrs Machtergreifung. Noch bevor sie selbst etwas sagen konnte, riefen die Stimmen schon wild durcheinander. Slavonik riet zum schnellen Angriff, während Lecho vorschlug, erst einmal einen klaren Plan auszuarbeiten.
»Vielleicht müssen wir Zabrusany belagern. Das könnte dauern. Wir brauchen Vorräte, um den Winter zu überstehen.«
»Es gibt genug Bauerndörfer im Umland«, meinte Slavonik mit einer abfälligen Handbewegung. »Dort können wir uns das Nötige holen, um unsere Mägen zu füllen.«
Libussa wünschte sich, er hätte geschwiegen. Warum musste er sie jetzt daran erinnern, dass bei jedem Krieg die Bauern am meisten litten?
»Vielleicht helfen uns auch die Germanen«, kam es von Radka, die keine Schwierigkeiten hatte, sich unter den Männern Gehör zu verschaffen.
»Die Krieger der Germanen sind schon lange fortgezogen. Nur noch ein paar Bauern leben hier.«
»Auch Bauern können Sicheln schwingen, Slavonik. Pass gut auf, dass sie dir damit nicht eines Tages deinen eingebildeten Schädel spalten.«
Grölendes Lachen ertönte im Saal. Radka verstand, mit Kriegern zu reden.
Libussa blickte sehnsüchtig auf Kroks leeren Platz an ihrer Seite. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit raubeinigen Kriegern. Trotzdem musste sie sich jetzt irgendwie Gehör verschaffen.
»Ich finde, wir sollten die Germanen benachrichtigen«, begann sie so entschieden wie möglich. »Vielleicht auch die Kelten in den Wäldern. Sie sind gute Bogenschützen. Wir müssen ihnen nur klarmachen, dass ein Mann wie Tyr für alle eine Gefahr bedeutet.« Sie schämte sich für den zaghaften Klang ihrer eigenen Stimme. Hatte überhaupt jemand gehört, was sie gesagt hatte? Das Murmeln im Saal war jedenfalls nicht verstummt, während sie sprach.
»Kennst du nicht diese keltische Priesterin, Libussa?«, kam es dennoch von Radka. »Wenn du ihr die Lage schilderst, kann sie sicher ihre eigenen Leute in unserem Sinne beeinflussen.«
Libussa versprach, schon am nächsten Morgen zu der Priesterin zu gehen. Aller Groll, den sie gegen die alte Vertraute hegte, war verschwunden. Die Aussicht auf den Besuch verschaffte ihr ein Gefühl von Erleichterung inmitten all des Geschreis dieser Horden kriegerischer Männer. Hilfesuchend blickte sie zu Thetka, die eine solche Situation sicher besser gemeistert hätte. Doch immer noch trennte eine Mauer eisigen Schweigens sie von der stolzen, enttäuschten Schwester.
Erst spät in der Nacht wurde die Versammlung aufgelöst und die Gäste verteilten sich in den Räumlichkeiten von Chrasten. Man hatte beschlossen, noch einige Tage zu warten, ob sich weitere Verbündete finden würden, und in der Zwischenzeit an jener Strategie zu arbeiten, die Lecho bei Angriffen besonders wichtig schien. Libussa war froh über die Gegenwart des Lukaner-Sohnes. Er trat nicht so siegesgewiss auf wie Slavonik. Bevor man einen Angriff begann, meinte er, sollten Verbündete gefunden und auf friedliche Weise Vorräte gesammelt werden, denn hungernde zornige Bauern konnten einem Heer in den Rücken fallen. Anschließend musste genau geplant werden, von welcher Stelle aus die Krieger losschlagen sollten. Gab es eine Möglichkeit, den Feind zu überrumpeln? Verstärkung, Deckung, Hinterhalt, all diese Worte warf der Lukaner-Sohn in den Raum. Libussa begann zu ahnen, dass die ihr bisher verhasste Kriegsführung weitaus mehr erforderte als nur Körperkraft und Kampfgeschick. Lecho besaß einen scharfen Verstand und zudem noch Verantwortungsgefühl für die Schwachen und Wehrlosen dieser Welt. Darin erinnerte er sie an Krok.
Als sie sich erschöpft auf ihre Bettstatt legte, dankte sie den Göttern, dass sie ihr mit Lecho einen besonnenen Krieger gesandt hatten. Der erlösende Schlaf kam schnell, doch Träume von Schlachtengetümmel, Feuer und Blut machten ihn zur Qual. Ein Rütteln an ihrem Arm zwang sie, die Augen zu öffnen, und der Anblick von Kazis Gesicht war wohltuend wie der Duft frischer Kräuter. Die brennende Fackel in der Hand ihrer Schwester erhellte den Raum.
»Du musst aufstehen, Libussa! Es ist wichtig.«
Libussa erhob sich stöhnend. Der Kopfschmerz hatte wieder eingesetzt und ihr war, als schlüge jemand Nägel in ihre Schläfen.
»Was ist denn los?«
»Du hast wichtigen Besuch, scheint mir.«
Warum lächelte Kazi, wenn die Lage des Volkes so schwierig war? Libussa fühlte Ärger in sich aufsteigen. Ihre älteste Schwester hatte bisher kein Wort über die Ereignisse verloren. Außer der Heilkunst und ihren Tieren schien ihr alles gleichgültig.
»Sind neue Krieger eingetroffen? Man soll Strohmatten und Decken im großen Saal für sie ausbreiten. Wir haben kaum noch Platz. Sie können etwas essen und sich dann hinlegen. Ich begrüße sie morgen.«
Libussa wollte sich umdrehen, um weiterzuschlafen. Doch Kazi blieb hartnäckig.
»Keine Krieger. Jemand anderer, der dich dringend sprechen will.«
Seufzend wickelte Libussa sich in ihre Wolldecke und zog Stiefel an. Die Nächte waren frostig.
»Ich wollte meinen Meister Zahnlos suchen«, erzählte Kazi mit ungewöhnlicher Redseligkeit auf dem Weg zum Hof. »Ich hatte Angst, er wäre aus der Festung geflüchtet. Du weißt schon, all diese lauten Männer mit ihren Waffen, das mag er nicht. Aber er soll die Nächte nicht im Wald verbringen, denn wer weiß, was er dort wieder anstellt. Also ging ich zum Tor hinaus, um ihn zu rufen, doch jemand anderer hatte ihn vor mir gefunden. Warum hast du mir nie erzählt, wie gut dein Bauer mit Tieren umgehen kann?«
Libussas Ärger, dass die Schwester auch in einer derart schwierigen Lage nichts als ihren Kater im Kopf hatte, verflog augenblicklich.
»Premysl ist hier?«
»Ja genau, so hieß er. Ich hatte den Namen vergessen. Jetzt beeil dich, denn er wollte mir nicht in die Festung folgen, obwohl es so kalt draußen ist. Hoffentlich hat er den Kater festgehalten, wie er mir versprochen hat.«
Der Kater lag schnurrend in Premysl Armen. Kazi nahm ihn sogleich wieder hoch und entfernte sich ein paar Schritte. Libussa sah Premysls unsicheren Blick, doch sie stürmte ihm trotzdem entgegen. Es war nicht der Moment für lange Erklärungen. Erleichtert fühlte sie den kräftigen Druck seiner Umarmung. Der Schmerz in ihrem Kopf war verschwunden und sie fragte sich, wie ein so anstrengender Tag sich plötzlich in den glücklichsten ihres Lebens verwandeln konnte. Erst nach einer Weile merkte sie, dass Premysl vor Kälte zitterte. Lachend nahm sie seine Hand und wollte ihn durch das Tor der Festung fuhren, doch er zögerte.
»Komm herein. Warum bist du hier draußen geblieben? Wir gehen in meine Kammer. Ich wärme dich schon auf.«
Er wies auf ein Bündel, das in der Nähe bei einem Baumstamm lag.
»Ich bin nicht allein gekommen, Libussa. Sie ist völlig erschöpft und durchfroren. Ihr müsst euch gleich um sie kümmern.«
Das Bündel erwachte zum Leben. Eine feine Hand schob sich durch den Stoff. Sie konnte nicht Premysls Mutter gehören, denn dazu war sie nicht kräftig genug. Vermutlich hatte er seine Schwester mitgebracht.
Premysl half dem Bündel vorsichtig auf die Beine. Im Licht von Kazis Fackel erkannte Libussa das schmale, blasse Mädchengesicht. Einen Lidschlag lang war sie enttäuscht, dass nicht Premysls Schwester Magda vor ihr stand, die sie gern wiedergesehen und in Sicherheit gewusst hätte. Später schämte sie sich wegen dieser selbstsüchtigen Empfindung, denn für ihr Volk war das Erscheinen einer lebenden Ludmilla von den Lemuzi weitaus wichtiger.
Zu viert gingen sie in den Hof. Kazi hatte den Kater wieder Premysl überreicht, um sich Ludmillas anzunehmen. Nur wenn Menschen krank oder verletzt waren, konnte sie ihnen mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Tieren. Libussa legte ihren Arm um Premysls Schulter, so dass er auch die Hälfte ihrer Decke bekam.
»Wie hast du Ludmilla gerettet?«, murmelte sie fassungslos und gab den Wächtern gleich den Befehl, die Anführer der Krieger aller Stämme, vor allem aber die Lemuzi-Söhne zu wecken. Man solle sich auf der Stelle wieder im großen Saal versammeln, erklärte sie. Die Mägde mussten ebenfalls aufstehen, denn eine heiße Brühe war nötig. Auf einmal schien es eine leichte, erfreuliche Aufgabe, Entscheidungen zu treffen. Sie empfand auch keinerlei Erschöpfung mehr.
»Ich habe sie gar nicht gerettet«, beantwortete Premysl ihre Frage. »Sie hat sich selbst gerettet, indem sie aus dem Fenster ihrer Kammer sprang, wo Tyr sie gefangen hielt. Wahrscheinlich suchte sie nach einem Weg, um Tyrs nächstem Besuch auf ihrer Bettstatt zu entgehen, und danach landete sie verletzt im Hof von Zabrusany. Es war mitten in der Nacht. Nur die Wächter merkten es, aber sie weckten Tyr nicht. Stattdessen öffneten sie das Tor einen Spaltbreit, damit Ludmilla hinauskriechen konnte. Sie schaffte es gerade noch bis in den Wald. Dort wäre sie wahrscheinlich gestorben oder bald von Tyr gefunden worden, aber eine keltische Kräutersammlerin entdeckte sie in der Morgendämmerung. Die Kelten kümmerten sich um Ludmilla, bis ihnen Tyrs Suchtrupps auffielen. Einige von ihnen kennen mich und brachten Ludmilla zu mir, denn es schien ihnen gefährlich, ein gejagtes Mädchen weiter bei sich zu verbergen.«
Als das Tor sich hinter ihnen geschlossen hatte, ließ er den Kater laufen. Libussa drängte sich statt des Tieres in seine Arme.
»Ihr könnt euch beide erst einmal aufwärmen«, sagte sie. »Aber dann musst du deine Geschichte gleich allen Kriegern erzählen. Die Lage ist jetzt völlig anders. Anschließend sollte ich dich wohl erst einmal eine Weile schlafen lassen, auch wenn es mir schwerfallen wird.« Sie schmiegte sich mit ihrem Körper an den seinen und stellte mit Befremden fest, dass er erstarrte.
»Libussa«, meinte er leise. »Ich kann nicht bleiben. Ich muss noch heute Nacht wieder zurück. Es war fast unmöglich, mich und Ludmilla aus dem Gebiet der Lemuzi zu schmuggeln, denn alle Dörfer werden bewacht. Ein fahrender Händler half uns schließlich. Er versteckte uns auf seinem Karren. Aber Tyr lässt immer noch regelmäßig die Gegend absuchen. Wenn jemand merkt, dass ich verschwunden bin, wird er seine Wut an meiner Mutter und Schwester auslassen, für die auf dem Karren kein Platz mehr war. Wir Bauern gelten jetzt als sein Eigentum und können nicht ungestraft das Weite suchen.«
Sie stand wie versteinert. Das Gefühl von Leichtigkeit und Freude war verflogen.
»Es tut mir leid. Manche Dinge lassen sich nicht ändern.«
Seine Hände strichen über ihr Haar. Sie trat einen Schritt zurück, denn sie hatte das Gefühl, wie ein kleines Kind getröstet zu werden. Nachdem sie all die Zeit gewartet hatte, war er gekommen, um sich gleich wieder zu verabschieden. Vielleicht war das alles eine Ausrede. Er wollte nicht in Chrasten bleiben. Ludmilla hierher zu bringen hielt er für seine Pflicht, doch jetzt drängte es ihn, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, bevor sie Erklärungen verlangen konnte. Libussas Mutter hatte oft gesagt, dass Männer nicht gern viele Worte bei Trennungen verloren.
Sie kämpfte mühsam die Tränen der Enttäuschung nieder.
»Nun gut, dann musst du wieder gehen. Iss wenigstens eine Brühe und wärme dich auf. Wir geben dir ein Pferd, damit du schneller nach Hause kommst. Lass es laufen, bevor du Staditz erreichst, damit Tyrs Männer es nicht sehen. Es wird hoffentlich von allein zurückfinden.«
Sie war stolz auf den ruhigen Klang ihrer Stimme, die sich nur ein wenig heiser anhörte.
»Kazi hat mir erzählt, dass du Krieger versammelt hast«, meinte Premysl mit gesenktem Blick. »Du willst vermutlich gegen Tyr vorgehen. Ich habe eine Idee, wie es dir am besten gelingen könnte, aber mir bleibt nicht viel Zeit für lange Gespräche.«
Die erneute Ankündigung seines baldigen Aufbruchs schmerzte wie eine Ohrfeige. Er konnte es wohl kaum erwarten, wieder aus Chrasten zu verschwinden.
»In diesem Fall«, erklärte sie eisig, »redest du besser sogleich vor allen Kriegern im großen Saal.«
Dann ging sie schweigend vor ihm her. Eine leise Stimme in ihrem Inneren flüsterte, dass sie sich wie ein trotziges Kind benahm, doch sie klammerte sich an ihren Zorn. Er war leichter zu ertragen als der Abschiedsschmerz.
Die wichtigsten Gäste hatten sich bereits versammelt. Ein schlecht gelaunter Slavonik saß mit schläfrig verquollenen Augen an der Seite Hostivits, des Zlicani-Fürsten. Radka überreichte ihrem Bruder Lecho eine Schale mit der Brühe, während Neklan dem erschöpft neben ihm ruhenden Vojtan etwas ins Ohr flüsterte. Auch Thetka war gekommen. Trotz ihres zornigen Schweigens wollte sie wohl keine wichtigen Neuigkeiten versäumen.
Libussa nahm erneut ihren Platz am Kopfende der Tafel ein.
»Soeben ist jemand aus dem Gebiet der Lemuzi eingetroffen«, verkündete sie so laut wie möglich. »Er hat Ludmilla mitgebracht. Sie lebt und wird gerade von meiner Schwester versorgt. Im Moment braucht sie Ruhe, aber in ein paar Tagen wird sie sicher in der Lage sein, hier zu erscheinen.«
Sie richtete ihren Blick auf die fassungslosen Gesichter der Lemuzi-Brüder. Nur Vojtan wirkte wirklich erfreut.
»Wo ist sie? Wann können wir sie sehen?«, rief er.
»Sobald ich die Versammlung aufgelöst habe. Zuerst gibt es wichtige Dinge zu besprechen.«
Libussa stellte erstaunt fest, dass Premysls Gegenwart es ihr leichter machte, entschieden aufzutreten.
»Dies ist Premysl aus Staditz, einem Dorf auf dem Gebiet der Lemuzi. Ihm haben wir Ludmillas Rettung zu verdanken. Und nun möchte er uns etwas sagen.« Sie gab Premysl ein Zeichen und ließ ihn vor die versammelten Krieger und Mitglieder der Fürstenclans treten. Erst jetzt bemerkte sie, wie stark seine sackartige Kleidung aus grobem braunen Leinen sich von den bunt gefärbten, mit silbernen Fibeln versehenen Tunikas der meisten Anwesenden unterschied. Trotz der Kälte steckten seine Füße in Bastschuhen, die mit Tüchern umwickelt waren. Auf seinen Armen wurde das Fehlen jener Tätowierungen, die einen Krieger von Rang und Namen auszeichneten, jedem sehr deutlich bewusst.
Ein Bauer! Sie las dieses Wort in jedem Blick. Lecho und einige andere Krieger schienen einfach nur überrascht. Slavonik grinste abfällig. »Sieh an, ein alter Bekannter!«, kam es spöttisch von den Lemuzi-Brüdern.
Premysl holte entschlossen Luft. Sie sah, wie er die Hände zu Fäusten ballte. »Ich komme aus dem Gebiet, das nun von Tyr beherrscht wird«, begann er. »Ich habe Ludmilla hergebracht. Sie hat es geschafft zu entkommen.«
Libussa schien, dass er bei diesen Worten Vojtan und Neklan in die Augen blickte.
»Ich weiß, dass ihr plant, gegen Tyr vorzugehen. Das ist vollkommen richtig, denn Tyr wird sicher versuchen, auch andere Stämme zu unterwerfen. Er strebt nach grenzenloser Macht und muss aufgehalten werden.«
»Na, das ist ja ein kluges Bürschchen, dieser Bauer!«, unterbrach Slavonik plötzlich. »Wir sollten stolz sein, dass er unser Tun für richtig hält.«
Libussa hörte mit Erschrecken einige Lacher, doch Radkas laute Stimme fuhr dazwischen: »Jetzt lasst ihn doch ausreden, ihr Wichtigtuer!«
Das Lachen verstummte.
»Ich habe einen Vorschlag, wie ihr Tyr stürzen könntet, ohne dass ihr gegen ihn kämpft.«
Erstaunte, misstrauische Blicke richteten sich auf Premysl.
»Sollen wir stattdessen Schweine und Ochsen in die Schlacht schicken?«, kam es aus den hinteren Reihen und der Saal füllte sich wieder mit grölendem Gelächter. Libussa sprang auf und hob den Stab der Fürstin.
»Es ist mein Wunsch, dass ihr diesen Mann anhört!« Ihre Stimme war weitaus schwächer als Radkas, aber allmählich kehrte wieder Ruhe ein.
»Tyr hat sich in kurzer Zeit sehr viele Feinde gemacht«, fuhr Premysl nun fort. »Er gewann die Krieger der Lemuzi für sich, indem er ihnen Versprechungen machte, von denen er bisher aber kaum eine gehalten hat. Man fürchtet ihn, doch er ist auch verhasst. Deshalb gaben die Wächter in Zabrusany Ludmilla eine Gelegenheit zur Flucht. Die Bauern werden sich gegen ihn stellen, sobald sie die geringste Hoffnung auf einen Sieg haben, ebenso wie die Kelten in den Wäldern, von denen er nun auch Tributzahlungen verlangen will. Das ist ein Bruch mit den alten Sitten, den nicht einmal die Lemuzi wagten.«
Er legte eine kurze Pause ein. Nun musterten alle Anwesenden ihn aufmerksam.
»Du willst uns vorschlagen, dass wir weitere Verbündete suchen, nicht wahr?«, meinte schließlich Lecho von den Lukanern. »Wir hatten das bereits in Erwägung gezogen.«
»Nein«, erklärte Premysl. »Ich wollte nur klarmachen, dass Tyr mit keiner Unterstützung rechnen kann, sobald er ohne seine Männer dasteht. Und die könntet ihr abwerben. Die Krieger der Lemuzi werden mit Freuden in den Dienst ihrer alten Herren zurückkehren, wenn man ihnen Straffreiheit verspricht. Tyr behandelt sie wie Hunde. Und was jene Nordmänner betrifft, die damals mit ihm kamen, so sind sie abgebrühte Kämpfer, die ihr Geschick dem Meistbietenden zur Verfügung stellen. Sie kennen keine Loyalität, und ich hatte schon lange das Gefühl, dass viele von ihnen Tyr heimlich verabscheuen. Bietet ihnen mehr Entlohnung und ein besseres Leben. Dann kämpfen sie für euch. Ihr könnt Tyr heimlich stürzen, genau wie er es mit den Lemuzi tat.«
Libussa rieb sich verwirrt die pochenden Schläfen. Konnte es wirklich so einfach sein, wie er meinte?
»Eine solche Vorgehensweise ist hinterhältig und eines Kriegers unwürdig«, kam es plötzlich von Slavonik. »So etwas kann nur dem Schädel eines Bauern entspringen.«
Zustimmendes Gemurmel erklang im Saal. Libussa zuckte zusammen, als Premysl mit der Hand auf den Tisch schlug.
»Ist es denn ehrenhaft, einen Kampf zu fuhren, der vermieden werden könnte? Das Leben unschuldiger Menschen zu opfern? Tyr ist auf einen möglichen Angriff vorbereitet. Er lässt bereits Vorräte nach Zabrusany schaffen, damit er sich dort im Notfall verschanzen kann. Ihr kennt die Mauern der Festung. Dort kann er Monate ausharren. Wollt ihr warten, bis ihm die Mähren vielleicht zu Hilfe eilen?«
Das Murmeln wurde lauter. Zahllose Stimmen hallten durch den Saal, verwirrt, empört oder streitlustig.
»Der Plan klingt überzeugend. Es wäre einen Versuch wert«, unterbrach Lecho all diese Redner. »Tyr wartet auf eine Nachricht, ob er anerkannt wird oder ob es zu einem Kampf kommt. Wir werden einen Boten schicken, der zum Schein verhandelt, sich in Wahrheit aber umhört und heimlich Kontakt mit Tyrs Kriegern aufnimmt. Das ist allerdings keine ungefährliche Aufgabe. Wir sollten morgen genauer darüber reden. Jetzt brauchen wir alle etwas Schlaf.«
Erleichtert wollte Libussa die Versammlung auflösen. Sie sehnte sich danach, kurz mit Premysl zu reden, bevor er wieder nach Staditz zurückmusste. Ihr war klar geworden, dass sie ihm Dank schuldete. Doch Neklans Stimme riss sie plötzlich aus ihren Überlegungen: »Soweit ist es also schon gekommen, dass Bauern unsere Kriegsführung und die Verhandlungen übernehmen. Fürsten wie wir machen sich zum Gespött dieser Welt!«
Libussa fuhr herum. Der Zorn erfasste sie wie ein heftiges Fieber und sie sprach, ohne ihre Worte lange abzuwägen. »Es reicht, Neklan! Du bist schuld an dieser misslichen Lage. Du hast einen Mann in unser Land gebracht, der keine Gebote der Ehre kennt und vor niemandem Achtung hat. Nur, damit er dir durch seine Kraft bei der Erfüllung deiner Wünsche hilft. Aber du konntest ihn nicht unter Kontrolle halten. Deshalb ist jetzt deine Mutter tot und deine Schwester geschändet. Dann bist du wie ein verwundeter Hund bei mir angekrochen gekommen. Premysl nahm große Gefahren auf sich, um Ludmilla in Sicherheit zu bringen. Anstatt ihm Dank zu zeigen, beleidigst du ihn, obwohl von dir noch kein einziger brauchbarer Vorschlag gekommen ist. Alles, was du kannst, ist jammern und schimpfen. Das macht wirklich einen eindrucksvollen Krieger aus dir.«
Nach diesen Worten überkam sie tiefe Erleichterung. Sie bemerkte die Stille im Saal. Auf einmal war ihre Stimme bis in den letzten Winkel des Raumes gedrungen. Radka musterte sie mit einem Lächeln auf den Lippen. »Na, siehst du, es ist gar nicht so schwer, sich bei den Kerlen Gehör zu verschaffen«, sagten ihre spöttisch blitzenden Augen.
Verwirrt strich Libussa sich das Haar aus der Stirn. Hatte sie tatsächlich so gebrüllt wie ihre Mutter, wenn sie wütend war?
»Nun, wie ich schon sagte«, unterbrach wieder einmal der vernünftige Lecho das fassungslose Schweigen. »Wir sollten vielleicht den Rest der Nacht schlafen und morgen entscheiden, wen wir als Gesandten zu Tyr schicken.«
Thetka erhob sich zu ihrer vollen Größe.
»Das ist nicht nötig! Ich werde gehen«, sprach sie ihre ersten Worte seit Wochen.
»Das ist keine Aufgabe für eine Frau!«, erklärte Slavonik entschieden.
»Ach, tatsächlich? Glaubst du, dass Tyrs Krieger an dir mehr Gefallen finden werden?«
Das laute Lachen im Saal trieb eine freudige Röte auf ihre Wangen. Thetka gelang es mit Leichtigkeit, eine Menschenmenge für sich zu gewinnen.
»Dann lass mich mit dir gehen«, rief Libussa. Sie gab sich alle Mühe, ihren Blick all das sagen zu lassen, was sie dachte: Bitte schließe Frieden mit mir, Schwester.
Thetka musterte sie skeptisch. »Du bist Fürstin und Hohe Priesterin. Du darfst dich einer solchen Gefahr nicht aussetzen«, meinte sie nur.
Libussa spürte, wie Premysls Finger kurz ihr Handgelenk streiften.
»Deine Schwester hat recht. Für Tyr wärest du ein gefundenes Fressen. Eine noch bessere Partie als Ludmilla.«
»Vielleicht sollten wir alle erst einmal schlafen«, wiederholte der übermüdete Lecho. Libussa hob noch einmal den Stab der Fürstin.
»Wenn meine Schwester als unsere Gesandte zu Tyr gehen will, so stimme ich dem zu. Morgen besprechen wir die Einzelheiten. Die Versammlung ist nun beendet. Ich danke euch für euer Kommen.«
Sie wandte sich zum Gehen und überlegte, welches Pferd sie Premysl geben sollte. Als sie Neklans Blick wie ein Schwert in ihrem Rücken fühlte, wandte sie sich kurz um und erschrak vor dem Hass, der in seinen Augen brannte.