Читать книгу Der neue Landdoktor Staffel 8 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 6

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Ingvar war bei Sonnenaufgang aufgebrochen und schon einige Stunden im Bergmoosbacher Forst unterwegs. Der junge Naturforscher, der im Nachbarort Mainingberg zu Hause war, untersuchte im Rahmen eines Forschungsprogrammes die Pilzvorkommen im Allgäu. Seit zwei Monaten streifte er durch die Wälder der Umgebung und sammelte Pilze, die er auf ihre Beschaffenheit hin untersuchte. Um das Verständnis für den Wald und die sensible Natur zu festigen, filmte er seine Ausflüge mit der Handykamera und stellte die Filme auf seine Internetseite.

Auch an diesem Morgen hatte er bereits einige Pilze gesammelt, essbare und nicht essbare. Er wollte sich gerade auf den Heimweg machen, als er in einer Kurve des Waldweges noch einige besonders schöne Exemplare des Edel-Reizkers entdeckte. Der Pilz mit seinem ockerfarbenen reliefartigen Hut kam eher selten vor. Er stellte den Korb mit den Pilzen am Wegesrand ab, um einige Edel-Reizker seiner Sammlung hinzuzufügen.

Bevor er wieder auf den Weg zurückging, setzte er seinen Rucksack ab, holte sein Handy heraus und filmte auch diese Fundstelle. Wie schon an den beiden Tagen zuvor würde er auch diesen Film und die anderen von diesem Morgen auf seine Internetseite stellen, sobald er zu Hause war.

Als er wieder unter den Bäumen hervortrat, war er in Gedanken schon bei der Auswertung seines Filmmaterials. Erschrocken blieb er stehen, als er plötzlich den Motor eines Lastwagens hörte. Gleich darauf bog der Wagen um die Ecke. Er nahm mit seiner Breite den ganzen Weg ein, und die Holzstämme auf seinem Anhänger schaukelten wild hin und her. Sie waren viel zu hoch gestapelt und hatten kaum Halt. Ingvar trat sofort ein paar Schritte zurück, konnte aber das Unglück nicht mehr verhindern. Einer der Baumstämme auf dem Anhänger hatte sich gelöst, rutschte von der Ladefläche herunter und traf ihn an den Beinen. Er stürzte rückwärts zu Boden. Sein Rucksack, den er gerade wieder hatte aufsetzen wollen, flog in hohem Bogen davon.

Ingvar blieb erst einmal liegen, um sich zu sortieren. Der Stamm lag genau über seinen Hüften, da er aber in einer Vertiefung des Waldbodens gelandet war, lastete nicht das gesamte Gewicht des Stammes auf ihm. Er hörte, wie der Lastwagen bremste und anhielt. Durch den hochgewachsenen Farn konnte er sehen, wie der Fahrer ausstieg.

»Hallo!«, rief er und versuchte sich unter dem Baumstamm hervorzuziehen. »Hallo, hier bin ich!«, machte er erneut auf sich aufmerksam, als ihm klar wurde, dass der Stamm zu schwer war, um ihn allein anzuheben. »Hierher!« Er versuchte, sich mit dem Oberkörper aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. »Hallo!«, rief er so laut er konnte, als der Mann, von dem er nicht mehr als die Beine sah, sich kurz bückte und danach aus seinem Blickfeld verschwand. Was soll das?, dachte er, als der Lastwagen gleich darauf weiterfuhr. Er war sicher, dass der Mann seine Rufe gehört hatte. Warum ließ er ihn hilflos zurück?

Er spannte seine Muskeln an und drückte gegen den Stamm. Es war vergeblich, er bewegte sich nicht. Hilfe konnte er auch nicht rufen. Sein Handy war für ihn außer Reichweite. Es steckte in seinem Rucksack, den er von seiner Position aus nicht einmal sehen konnte. In diesem Moment spürte er einen unangenehmen Druck auf seinen Rippen und Schmerzen in seinem rechten Knöchel.

»Verdammt, was jetzt?«, sagte er laut und holte erst einmal tief Luft, um sich zu beruhigen. Er musste nachdenken. Der Bergmoosbacher Forst gehörte zum größten Teil den Holzers, den Eigentümern des örtlichen Sägewerks. Zur Zeit fanden in der ganzen Gegend Abholzungen statt. Vielleicht waren Forstarbeiter in der Nähe unterwegs. Aber sicher nicht zu Fuß! Wie sollte er auf sich aufmerksam machen, wenn sie mit einem Auto an ihm vorbeifuhren? Oder waren sie gerade schon vorbeigefahren? Nein, sicher nicht. Die Forstarbeiter und die Leute vom Sägewerk hätten das Holz nicht so schlampig auf dem Lastwagen befestigt.

Egal, wer es war, er musste sich irgendwie selbst befreien. Er konnte sich nicht darauf verlassen, dass jemand in den nächsten Stunden genau an dieser Stelle vorbeikam. Weder ein Forstarbeiter noch ein Wanderer oder Spaziergänger. Möglicherweise würde er mehrere Tage auf Hilfe warten müssen. Ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken, als ihm bewusst wurde, dass sie ihn vielleicht erst fanden, wenn es für ihn zu spät war.

Eigentlich hatte er keine Angst im Wald, auch nicht in der Nacht. Aber im Moment war er vollkommen unbeweglich und konnte auf keine Gefahr reagieren. Vorbeiziehende Wildschweinrudel würden ihn als Eindringling in ihr Revier betrachten und ihn nicht gerade liebevoll willkommen heißen. Und ob ein Wolf, der durch die Wälder streifte, ihn nur neugierig beschnuppern würde, das wollte er erst gar nicht herausfinden. Falls ihm niemand zur Hilfe kam, sah es nicht gut für ihn aus.

Wieder versuchte er, sich zu befreien, aber genau wie zuvor, gelang es ihm nicht. Er beschloss, sich einen Moment auszuruhen, bevor er einen weiteren Versuch startete. So schnell würde er nicht aufgeben.

*

Fabia brach an diesem Morgen erst nach einem ausgiebigen Frühstück zu ihrer täglichen Wanderung durch den Bergmoosbacher Forst auf. Sie hatte sich vor einigen Tagen in einer Ferienwohnung auf dem Mittnerhof eingerichtet und startete von dort ihre Erkundungstouren. Es war die Zeit der Pilzsucher, und auch die junge Biologin war auf der Suche nach Pilzen. Im Auftrag der Uni München untersuchte sie heimische Pilze, um deren medizinischen Nutzen zu bestimmen.

Auch der Edel-Reizker, der sich durch eine Vielzahl von Nährstoffen in hoher Konzentration auszeichnete, hatte ihr Interesse geweckt. Sabine Mittner, ihre Vermieterin, hatte ihr eine Stelle im Forst genannt, an der sie den Pilz finden konnte.

Fabia liebte diese Spaziergänge im Wald. Sie fühlte sich inmitten der Natur geborgen. Die Luft war vom Duft der Tannen und Kiefern erfüllt, die Sonne, die durch die Baumwipfel drang, tanzte über die Wege. Vögel zwitscherten und hüpften über schwingende Äste. Als sie auf einer Lichtung ein Rudel Rehe entdeckte, die friedlich ästen, blieb sie stehen.

Sie setzte sich auf einen Felsen am Wegesrand, schob die Ärmel ihres grünweiß geringelten Pullis hoch, den sie zu ihrer grünen Jeans trug, und schaute den Tieren zu. Vielleicht sollte sie das Pilzesammeln auf den nächsten Tag verschieben und einfach nur die Tiere im Wald beobachten. Sie war kürzlich an einem Hochsitz vorbeigekommen, von dort aus würde sie Rotwild, Füchse, Hasen und Wildschweine sehen können und vielleicht sogar einen Wolf. Nach einer Weile beschloss sie, doch nach dem Edel-Reizker Ausschau zu halten. Bis zu dem Waldstück, das Sabine ihr beschrieben hatte, war es nicht mehr weit.

»Hallo!«, hörte sie plötzlich einen Mann rufen.

Sie blieb auf dem Weg stehen, in den sie gerade eingebogen war, und schaute sich um. Galt der Ruf ihr? Auf den ersten Blick war nirgendwo jemand zu sehen.

Sie ging langsam weiter und schaute rechts und links des Weges in den Wald.

»Hallo, ich brauche Hilfe!«, hörte sie den Mann erneut rufen.

»Wo sind Sie?!«, antwortete sie.

»Nach der Kurve in Richtung Mainingberg auf der rechten Seite des Weges hinter dem Farn!«

»Ich bin gleich bei Ihnen!« Auch wenn sie nichts Böses vermutete, nahm sie doch vorsichtshalber ihr Telefon in die Hand, um notfalls schnell Hilfe für sich zu rufen.

Sie lief zu der Stelle, die der Fremde ihr beschrieben hatte, blieb aber zunächst am Wegesrand stehen und schaute über den hoch gewachsenen Farn hinweg.

»Hier!«

»Okay, ich sehe Sie«, sagte sie, als sie den hochgestreckten Arm des Mannes nur wenige Meter vor sich sah. Sie stellte ihren Rucksack ab und lief durch den Farn zu ihm. Das sah nicht gut aus. Ein schwerer Kiefernstamm lag quer über ihm auf der Höhe seiner Hüften, und offensichtlich konnte er sich nicht bewegen.

»Ich bin echt froh, Sie zu sehen. Ich dachte schon, es würde heute niemand mehr hier vorbeikommen.«

»Ich wollte auch zuerst einen anderen Weg nehmen. Aber jetzt bin ich ja hier. Haben Sie Schmerzen?« Sie sah die Erleichterung in seinen dunklen Augen, dass ihn jemand gefunden hatte, und kniete sich neben ihn auf das weiche Moos.

»Mein rechter Knöchel tut weh. Ansonsten spüre ich keine Schmerzen.«

»Das mit Ihrem Knöchel ist gut«, sagte sie und strich die seidigen Strähnen ihres blonden Haares, die sich aus dem Pferdeschwanz gelöst hatten, aus ihrem Gesicht.

»Und warum ist das gut?«, fragte er verwundert.

»Weil Sie so davon ausgehen können, dass Ihre Wirbelsäule nicht verletzt wurde. Sonst würden Sie Ihre Füße nicht spüren.«

»Stimmt, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.«

»Das glaube ich Ihnen gern. Sie hatten ein vorrangigeres Problem zu lösen. Sich aus Ihrer Lage zu befreien, ist wohl erst einmal das Wichtigste. Ich werde mal versuchen, ob ich Ihnen helfen kann.«

»Nein, lassen Sie das lieber, der Stamm ist wirklich schwer. Ich will nicht, dass Sie sich verletzen.«

»Stimmt, das funktioniert nicht«, gab sie ihm recht, als sie versuchte, den Stamm zu bewegen, was ihr aber nicht gelang. »Was ist?«, fragte sie erschrocken, als er plötzlich die Luft anhielt.

»Ich weiß nicht, ich spüre so einen merkwürdigen Druck auf meinen Rippen. Das Gefühl hatte ich vorhin schon einmal, aber jetzt ist es stärker.«

»Halten Sie trotzdem nicht die Luft an, atmen Sie ruhig weiter«, forderte sie ihn auf, während sie die Nummer der Praxis Seefeld in ihrem Handy aufrief. Sabine Mittner hatte sie ihr gegeben, falls sie unterwegs einmal in eine Notlage geraten sollte. »Hallo, mein Name ist Fabia Regner, ich habe einen Verletzten im Wald gefunden«, sagte sie, als sich die Sprechstundenhilfe der Praxis meldete. »Der Mann wurde von einem Baumstamm getroffen und kann nicht richtig atmen. Es ist mir leider nicht möglich, ihn aus seiner Lage zu befreien. Gut, danke. Es kommt gleich Hilfe«, wandte sie sich dem Verletzten wieder zu, nachdem sie das Telefongespräch beendet hatte. »Geht es wieder?«, fragte sie, als sie sah, wie der Mann sich bemühte, wenigstens flach zu atmen.

»Ich kämpfe gegen die aufsteigende Panik in mir«, entgegnete er leise.

»Wie ist das passiert?«, fragte sie ihn, um ihn abzulenken. Ihr war nicht wirklich klar, wie der Stamm, der bereits von allen Ästen befreit war und sicher für den Abtransport zum Sägewerk irgendwo gelegen hatte, auf ihn rollen konnte.

»Das ist eine merkwürdige Geschichte«, sagte er und erzählte ihr, wie er sich vor dem Lastwagen in Sicherheit bringen wollte und was danach passierte.

»Sind Sie sicher, dass der Mann Sie gehört hat?«, hakte Fabia nach, weil es ihr ungeheuerlich erschien, jemanden so hilflos zurückzulassen.

»Was hören Sie?«, fragte er sie und schaute auf den Weg.

»Nur das Gezwitscher der Vögel.«

»Selbst bei laufendem Motor hätte er mich doch hören müssen. Oder?«

»Wie nah war er?«

»Am Weg direkt vor mir.«

»Er wollte Sie nicht hören.«

»Richtig, weil er vermutlich nicht von mir gesehen werden wollte.«

»Vielleicht befürchtet derjenige Ärger, weil er das Holz nicht richtig verstaut hat.«

»Möglich, aber das sollte ich wohl besser die Polizei klären lassen.«

»Ich hoffe, dass sie den Kerl finden.«

»Ja, das hoffe ich auch. Danke für Ihre Hilfe, Fabia«, sagte er.

»Sie kennen meinen Namen?«, wunderte sie sich.

»Das Telefonat eben.«

»Stimmt.« Sie zuckte zusammen, als er ihr in diesem Moment direkt in die Augen schaute. »Verraten Sie mir auch Ihren Namen?«, fragte sie ihn, um diese Nervosität zu überspielen, die sie auf einmal überfiel.

»Ingvar Wering.«

»Machen Sie hier Urlaub, Herr Wering?«

»Nein, ich wohne in Mainingberg. Und bitte, Ingvar genügt«, sagte er.

»Ja, gern, also Ingvar. Ich höre einen Wagen«, machte sie ihn auf das Motorengeräusch aufmerksam und streichelte ihm beruhigend über den Arm, als er wieder ganz flach atmete.

Gleich darauf hielt ein blauer Geländewagen auf dem Weg an und Sebastian Seefeld stieg aus. Fabia hatte im Dorf schon einige Male gesehen, wie sehnsuchtsvoll die Bergmoosbacherinnen dreinblickten, wenn sie von ihrem jungen Arzt schwärmten. Jetzt konnte sie es nachvollziehen. Sebastian Seefeld war groß und schlank, hatte dunkles Haar und eisgraue Augen, und trotz des unwegsamen Geländes bewegte er sich leicht und elegant.

»Er kann nicht richtig atmen«, sagte sie, als er kurz darauf bei ihnen war.

»Waren Sie mit ihm unterwegs?«, wollte Sebastian wissen.

»Nein, ich habe ihn zufällig gefunden. Ich sehe mal nach deinem Rucksack, Ingvar.« Sie erhob sich und trat zur Seite, um Sebastian Platz zu machen.

»Wo genau tut es weh?«, wandte Sebastian sich an Ingvar. Er stellte seine Arzttasche ab und kniete sich neben ihn. »Ich sehe mir das an«, sagte er, als Ingvar auf seine Rippen deutete. »Wie ist das passiert?«

»Der Stamm ist von einem Anhänger heruntergefallen«, sagte Ingvar und erzählte ihm, wie er in diese Lage geraten war.

»Ich denke, Sie haben sich eine Rippenprellung zugezogen. Möglicherweise hat der Stamm sie gestreift.«

»Ja, könnte sein«, sagte Ingvar.

»Ich trage ein Kühlgel auf Ihre Rippen auf, das wird die Schmerzen lindern. Haben Sie noch andere Beschwerden?«

»Mein rechter Knöchel. Bekomme ich keinen Verband für meine Rippen?«, wunderte sich Ingvar, als Sebastian die Tube mit dem Kühlgel in seine Tasche zurücklegte und danach seinen Knöchel untersuchte.

»Nein, das macht man heute nicht mehr. Ein Druckverband begünstigt eine Lungenentzündung. Sie müssen versuchen, möglichst normal zu atmen, um diese Komplikation zu vermeiden. Sollte sich meine Diagnose bestätigen, wird man Ihnen im Krankenhaus ein Schmerzmittel verschreiben. Nehmen Sie es, wenn Sie Schmerzen haben, damit Ihnen das Atmen leichter fällt.«

»Ich werde mich daran halten.«

»Der Knöchel ist vermutlich verstaucht. Er sollte aber auch unbedingt genauer untersucht werden, um weitere Verletzungen auszuschließen«, sagte Sebastian, nachdem er sich Ingvars rechten Fuß angesehen hatte. »Die Feuerwehr wird gleich hier sein, um den Stamm wegzuräumen. Ich rufe einen Krankenwagen, der Sie abholt.« Sebastian erhob sich und entfernte sich ein paar Schritte von Ingvar, um zu telefonieren.

»Nur noch ein paar Minuten, dann ist es überstanden«, versicherte Fabia ihm, die inzwischen seinen Rucksack gefunden hatte. Auch wenn sie jetzt eigentlich hätte gehen können, da Ingvar nicht mehr allein war, blieb sie.

Noch bevor Sebastian sein Telefonat beendet hatte, traf die Feuerwehr mit einem Gerätewagen ein. Die beiden kräftigen Männer in der Uniform der freiwilligen Feuerwehr Bergmoosbach wickelten ein Seil um den Stamm und zogen ihn mit Hilfe der Seilwinde, die in ihrem Auto stand, von Ingvar fort.

»Nein, bleiben Sie liegen«, bat Sebastian, als Ingvar aufstehen wollte.

»Aber ich denke, ich kann aufstehen«, sagte Ingvar, der sah, dass Fabia ebenso erschrocken über Sebastians Aufforderung war, wie er selbst.

»Wir lassen Sie im Krankenhaus lieber erst durchchecken. Ich will sicher gehen, dass wirklich kein Wirbel betroffen ist. Manchmal spürt man es nicht gleich«, klärte Sebastian ihn auf.

»Sie denken an einen Wirbelbruch?«, fragte Ingvar mit bangem Blick.

»Wenn überhaupt, dann wäre er nur angebrochen. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Sie sehen nicht wirklich so aus, als wären Sie ernsthaft verletzt. Aber wozu haben wir all diese Geräte erfunden, die uns bei der Diagnose helfen, wenn wir sie nicht nutzen«, entgegnete Sebastian lächelnd. »Ihr könnt wieder los. Ich bleibe hier, bis der Krankenwagen kommt«, sagte er, als die Feuerwehrleute ihren Wagen wieder schlossen und sich noch einmal zu ihm umdrehten. Die beiden winkten ihm freundlich zu, stiegen in ihr Auto und fuhren davon.

»Können Sie das Fahrzeug beschreiben, das den Unfall verursacht hat?«, wollte Sebastian von Ingvar wissen.

»Ehrlich gesagt, nein. Es ging alles so schnell. Eigentlich habe ich nur etwas großes Dunkles gesehen, das um die Kurve auf mich zukam.«

»Möglicherweise fällt Ihnen noch etwas dazu ein, sobald der Schock sich gelegt hat. Sie wollen doch Anzeige erstatten?«

»Auf jeden Fall.«

»Dann wäre es sicher hilfreich, wenn Sie wenigstens einen kleinen Hinweis für die Polizei hätten.«

»Ich weiß, ich werde mir Mühe geben, mich zu erinnern. Wie lange werde ich im Krankenhaus bleiben müssen?«, fragte Ingvar, als der Krankenwagen in diesem Moment eintraf und auf dem Weg anhielt.

»Falls es bei meinem Befund bleibt, können Sie vielleicht schon heute wieder nach Hause«, sagte Sebastian und winkte den beiden Sanitätern, die mit einer Trage zu ihnen kamen. »Sollten Sie nach Ihrem Aufenthalt im Krankenhaus trotz Schmerzmittel Atemprobleme bekommen oder sich sonst irgendwie unwohl fühlen, suchen Sie unbedingt Ihren Hausarzt auf.«

»Ich habe hier leider keinen Hausarzt. Ich bin erst vor zwei Monaten von Augsburg nach Mainingberg gezogen. Nehmen Sie denn noch neue Patienten?«

»Sie können gern vorbeikommen.«

»Das werde ich dann auch sicher tun.«

Bevor die Sanitäter Ingvar auf die Trage hoben, klärte Sebastian sie über seine vorläufige Diagnose auf und ließ die beiden jungen Männer dann ihre Arbeit machen. »Gute Besserung«, verabschiedete er sich von Ingvar, der sich bei ihm für seine schnelle Hilfe bedankte.

Fabia hob Ingvars Rucksack auf und trug ihn zum Krankenwagen, während Sebastian zu seinem Auto ging. »Hier, meine Telefonnummer, lass mich wissen, was bei der Untersuchung herauskommt«, bat Fabia und drückte Ingvar eine ihrer Visitenkarten in die Hand, bevor die Sanitäter ihn in den Krankenwagen schoben.

»Ich melde mich«, versprach Ingvar und versuchte noch einen Blick aus ihren hellen blauen Augen zu erhaschen.

»Alles klar«, sagte sie und trat von dem Wagen zurück, als die Sanitäter die Tür schlossen.

»Wollen Sie mit mir fahren?«, fragte Sebastian, als Fabia ihren Rucksack aufsetzte und unschlüssig am Wegesrand stehen blieb, nachdem der Krankenwagen losgefahren war.

»Ich wohne auf dem Mittnerhof, da kommen Sie sicher nicht vorbei.« Sie hatte jetzt keine Lust mehr, Pilze zu sammeln oder Tiere zu beobachten.

»Stimmt, da komme ich nicht vorbei, aber ich fahre Sie trotzdem hin. Steigen Sie ein«, forderte er sie mit einem charmanten Lächeln auf.

»Danke.« Sie setzte sich auf den Beifahrersitz, als er ihr die Tür aufhielt. »Sie sind die Biologin aus München, die sich für heimische Pilze interessiert, nehme ich an«, sagte er und setzte sich hinter das Steuer.

»Stimmt, und woher wissen Sie das?«

»Ich bin mit den Mittners befreundet und manchmal erfahre ich solche Dinge«, antwortete er lächelnd.

*

Sebastians Diagnose wurde durch die Untersuchung im Krankenhaus der Kreisstadt bestätigt. Ingvar hatte einen verstauchten Knöchel und einige Rippenprellungen. Er bekam einen Verband für seinen Knöchel, Kühlgel und Tabletten gegen seine Rippenschmerzen und wurde mit dem Rat, sich in den nächsten Wochen zu schonen, noch am selben Tag wieder entlassen. Obwohl sein Knöchel nur leicht verstaucht war, sollte er ihn einige Tage nicht belasten und er hatte zwei Krücken als Gehhilfe bekommen. Er fuhr mit dem Taxi nach Hause und vermied erst einmal jede Anstrengung. Er kochte sich einen Tee, nahm eine Schmerztablette und legte sich auf das Sofa im Wohnzimmer.

Er hatte die kleine möblierte Zweizimmerwohnung nur für ein Jahr gemietet. So lange lief sein Forschungsauftrag, der von einer großen Umweltorganisation finanziert wurde. Da er nicht wusste, ob es eine Verlängerung geben würde, beließ er es bei der einfachen Möblierung, zumal er im Augenblick keine finanziellen Reserven hatte. Ein Sofa, ein Esstisch, vier Stühle, ein Schreibtisch im Wohnzimmer, ein Doppelbett und ein Schrank im Schlafzimmer, das reichte für ihn. Die Küche war mit weißen Küchenmöbeln praktisch eingerichtet und das Badezimmer mit seinem Korkboden und den mintfarbenen Fliesen war eine kleine Wohlfühloase mit Dusche und Wanne.

Durch ihre Fenster nach Osten und Westen war die Wohnung hell und freundlich, was auch daran lag, dass es keine abgetrennte Diele gab und die Eingangstür gleich ins Wohnzimmer führte. Am besten aber gefiel Ingvar der überdachte Balkon an der Westseite. Dort standen zwei Schaukelstühle umgeben von hoch gewachsenen Grünpflanzen, die er laut Mietvertrag zu pflegen hatte, was er gern tat, weil sie dem Balkon ein südländisches Flair verliehen.

Er schätzte die Überdachung des Balkons, weil sie es ihm erlaubte, auch bei Regenwetter draußen zu sitzen und den Blick auf die Gipfel der Allgäuer Alpen zu genießen. Nach diesem dummen Unfall aber hatte er erst einmal keinen Nerv für die Schönheiten der Natur. Er hoffte, dass die Schmerztabletten helfen würden und dass er ein bisschen schlafen konnte. Vorher aber wollte er noch Fabia anrufen, so wie er es ihr versprochen hatte.

Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie es für ihn ausgegangen wäre, hätte sie ihn nicht gefunden. Er freute sich schon darauf, sie wiederzusehen. Sie war nicht nur freundlich und hilfsbereit, sie war auch bildhübsch. Trotz seiner Schmerzen musste er lächeln, als er sich an ihren Anblick erinnerte, so wie er es in den letzten Stunden schon einige Male getan hatte. Er rief ihre Telefonnummer auf, die er bereits in sein Handy eingetragen hatte.

»Hallo, Fabia, hier ist Ingvar«, sagte er, als sie sich meldete.

»Ingvar, wie geht es dir? Bist du noch im Krankenhaus?«

»Ich bin zu Hause. Sie haben mich mit Schmerzmitteln versorgt, damit wird es schon gehen.«

»Hast du jemanden, der sich um dich kümmert? Ich meine, weil du doch erst so kurz in Mainingberg wohnst.«

»Ich habe nette Nachbarn, zwei ältere Ehepaare, die kann ich in einem Notfall um Hilfe bitten, ansonsten komme ich schon zurecht.«

»Ich bin noch zwei Wochen in Bergmoosbach. Du kannst mich anrufen, falls du Hilfe brauchst.«

»Du musst dich nicht verpflichtet fühlen, mir zu helfen, weil du mich gefunden hast.«

»Ich fühle mich nicht verpflichtet. Ich würde dir freiwillig helfen«, antwortete sie lachend.

»Okay, vielleicht komme ich darauf zurück.«

»Hast du den Kerl schon angezeigt?«, fragte sie.

»Ich habe vom Krankenhaus aus mit der Polizei telefoniert. Sie meinten, sie würden jemanden vorbeischicken. Ich hatte einen Korb mit Pilzen auf dem Weg abgestellt, bevor der Lastwagen kam. Hast du den Korb zufällig gesehen?«

»Nein, mir ist kein Korb aufgefallen. Wenn er auf dem Weg stand, ist dieser rücksichtslose Fahrer vermutlich drüber gefahren, und die Reste deines Korbes liegen irgendwo im Gras.«

»Ja, das könnte durchaus sein. Das wäre auf jeden Fall die bessere Alternative.«

»Was wäre die andere?«

»Dass ihn jemand mitgenommen hat, der sich mit Pilzen nicht auskennt.«

»Hast du auch giftige Pilze gesammelt?«

»Einige Tiger-Ritterlinge.«

»Oh, die sind wirklich äußerst unbekömmlich.«

»Für jemanden, der zu viel davon erwischt oder besonders empfindlich reagiert, kann die Vergiftung tödlich enden.«

»Das kommt glücklicherweise selten vor, außerdem sind die Beschwerden vorher so immens, dass jeder freiwillig einen Arzt aufsucht. Aber warum sammelst du nicht essbare Pilze?«

»Für die Forschung.«

»Echt? Was forschst du?«

»Ich erstelle eine Studie über das Pilzvorkommen im Allgäu.«

»Ich studiere die Inhaltsstoffe und den medizinischen Nutzen der heimischen Pilze.«

»Das klingt, als hätten wir jede Menge Gesprächsstoff.«

»Ja, das denke ich auch«, stimmte Fabia ihm zu. »Aber jetzt erhole dich erst einmal ein bisschen.«

»Ich melde mich bei dir, bis bald«, sagte er und beendete das Telefonat. Er hatte auf jeden Fall vor, Fabia wiederzusehen, um sich noch einmal persönlich bei ihr für ihre Hilfe zu bedanken. »Wer ist das denn?«, murmelte er, als es kurz darauf an seiner Tür läutete.

Es dauerte einen Moment, bis er die richtige Stellung gefunden hatte, um sich mit seinen Schmerzen aufzurichten und aufzustehen. Offensichtlich strapazierte er damit die Geduld seines Besuchers, da er erneut läutete und seinen Finger auf der Klinge liegen ließ.

»Wer ist da?«, fragte Ingvar genervt, nachdem er den Hörer der Sprechanlage abgenommen hatte.

»Polizei, machen Sie bitte auf, wir müssen mit Ihnen reden«, meldete sich ein Mann mit unfreundlicher Stimme.

Ingvar drückte auf den Türöffner, ließ aber die Sicherungskette seiner Tür noch verschlossen, als er die beiden Männer in den grauen Anzügen sah, die die Treppe zu ihm in den zweiten Stock hinaufkamen.

»Kripo Garmisch«, sagte der ältere, ein sportlicher Mittfünfziger mit straff zurückgekämmtem hellem Haar und stechenden hellen Augen. Er hielt ihm einen Ausweis hin, der zumindest auf den ersten Blick echt aussah. »Kommissar Brenner, mein Kollege Schnipper«, stellte er sich und seinen Begleiter vor, der einen Laptop unter den Arm geklemmt hatte.

»Es geht um den Vorfall heute Morgen im Bergmoosbacher Forst«, sagte Herr Schnipper, ein schmächtiger Mann mit schmalem Gesicht und Hornbrille.

»Bitte, kommen Sie herein«, sagte Ingvar und löste die Kette an seiner Tür. Er bat die beiden Zivilbeamten, am Esstisch Platz zu nehmen und setzte sich zu ihnen. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte er höflich.

»Nein, vielen Dank, es dauert nicht lange«, antwortete Herr Schnipper.

»Schildern Sie uns bitte so detailgetreu wie möglich, was vorgefallen ist«, bat Kommissar Brenner.

»Sie müssen sich doch wenigstens an die Farbe des Lastwagens erinnern«, hakte Herr Schnipper nach, nachdem Ingvar ihnen alles erzählt hatte.

»Nein, nicht genau. Ich denke, er war schwarz oder dunkelblau.«

»Hm«, machte Schnipper und tippte auf seinem Laptop herum, der vor ihm auf dem Tisch stand.

»Welches Modell? Irgendeine Idee dazu?«, fragte Kommissar Brenner.

»Nein, tut mir leid, es ging alles so schnell.«

»Der Mann, den sie gesehen haben, was gibt es zu ihm noch zu sagen?«

»Ich habe nur seine Beine gesehen. Er trug Jeans und dunkelbraune Wanderschuhe.«

»Sie haben also zu Forschungszwecken Pilze im Wald gesucht. Wo sind diese Pilze?«

»Ich weiß es nicht. Der Korb stand auf dem Weg, als der Lastwagen kam. Vermutlich wurde er in den Farn, der dort wächst, geschleudert.«

»Wir waren bereits an der Unfallstelle und haben uns dort genau umgesehen. Da war kein Korb mit Pilzen«, sagte Kommissar Brenner, dabei sah er Ingvar durchdringend an.

»Dann hat ihn jemand mitgenommen.«

»Sie sagten doch, dass dort niemand war und dass Sie Glück hatten, dass diese junge Dame vorbeikam, die Sie gefunden hat.«

»Vielleicht ist jemand vorbeigekommen, den wir nicht bemerkt haben.«

»Und der hat Ihre Pilze mitgenommen.«

»Wäre doch möglich.«

»Möglich ist grundsätzlich alles.«

»In dem Korb waren auch giftige Pilze.«

»Welche Pilze?«

»Tiger-Ritterling.«

»Die isst hier niemand. Die Leute kennen die Pilze.«

»Es könnten Touristen gewesen sein, die den Korb mitgenommen haben. Sie könnten die Tiger-Ritterlinge für Erd-Ritterlinge halten, die trotz gewisser Vorbehalte noch gegessen werden.«

»Welche Vorbehalte?«, fragte Schnipper auf einmal ganz interessiert und sah von seinem Laptop auf.

»Laut einer chinesischen Studie kann der Erd-Ritterling eine tödliche Muskelkrankheit auslösen.«

»Wirklich«, murmelte Herr Schnipper.

»Sie sollten eine Warnung herausgeben, falls jemand die Pilze mitgenommen hat«, bat Ingvar die Polizisten.

»Wie stellen Sie sich das vor? Dass wir durch die Dörfer fahren und mit dem Megaphon um die Aufmerksamkeit der Bevölkerung bitten?«

»Wir könnten eine Warnung in die Zeitungen setzen«, schlug Herr Schnipper vor.

»Wenn jemand Pilze aus dem Wald mitnimmt, dann bereitet er sie auch sofort zu. Niemand ist so blöd und hebt sie bis zum nächsten Tag auf, damit sie faul und schimmlig werden«, entgegnete der Kommissar.

»Wir könnten die Ärzte der Gegend und die Krankenhäuser informieren, damit Sie wissen, um welche Vergiftung es sich handelt, sollte sich jemand mit den entsprechenden Symptomen bei ihnen vorstellen.«

»Gut, das können wir tun«, stimmte Kommissar Brenner seinem Kollegen zu. »Wir sind dann hier fertig.«

»Vielen Dank für Ihre Zeit«, sagte Herr Schnipper, klappte seinen Laptop zu und stand gleichzeitig mit Kommissar Brenner auf.

»Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich bei uns«, bat der Kommissar, als Ingvar die beiden zur Tür begleitete.

»Ja, sicher, das werde ich tun«, versicherte Ingvar ihm.

»Gute Besserung«, wünschte ihm Herr Schnipper, als er sah, wie er sich an die Rippen fasste.

»Danke«, sagte Ingvar und schloss die Tür hinter den beiden. Die Wirkung der Schmerztablette, die er vor dem Besuch der Polizisten genommen hatte, ließ schon nach. Offensichtlich musste er doch zwei nehmen, wie sie ihm im Krankenhaus geraten hatten.

Nachdem er eine zweite Tablette genommen hatte, legte er sich wieder auf das Sofa. Er hatte das Gefühl, dass zumindest Kommissar Brenner seiner Schilderung des Vorfalls nicht wirklich glaubte. Egal, es war die Wahrheit, dachte er und schloss die Augen, um endlich ein wenig zu schlafen.

*

»Was denken Sie, Chef?«, fragte Herr Schnipper, als er und Kommissar Brenner noch eine Weile in ihrem Auto saßen und der Kommissar auf den Balkon starrte, der zu Ingvar Werings Wohnung gehörte.

»Ich denke, wir sollten den Mann gründlich überprüfen.«

»Sie haben ihm nicht gesagt, dass wir von der Soko-Holzdiebstahl sind.«

»Du liebe Güte, Schnipper, er muss doch noch nicht wissen, was wir wissen oder welche Spur wir verfolgen. Immer erst einmal harmlos tun und warten, was die andere Seite preisgibt.«

»Alles klar, Chef«, murmelte Herr Schnipper und ließ den Motor der dunklen Limousine an.

*

Am nächsten Morgen fühlte sich Ingvar schon um einiges besser. Die Schmerztabletten ermöglichten es ihm, einigermaßen normal zu atmen, und auch die Schmerzen in seinem Knöchel waren erträglich. Als er mit einer Tasse Kaffee auf dem Balkon saß und an den blauen Himmel schaute, beschloss er, zu Fabia zu fahren, um sich noch einmal bei ihr zu bedanken. Er rief sie kurz an und fragte sie, ob es ihr recht sei, dass er zu ihr auf den Mittnerhof kam.

»Ich würde mich über deinen Besuch freuen. Aber sollst du dich nicht ausruhen?«, fragte sie ihn.

»Ich möchte aber nicht den ganzen Tag auf dem Sofa liegen, das tut mir auch nicht gut.«

»Okay, dann komm her. Hast du schon gefrühstückt?«

»Nur Kaffee getrunken.«

»Gut, dann bist du jetzt zum Frühstück eingeladen«, sagte sie.

»Die Einladung nehme ich gern an.« Gleich nach dem Telefonat mit Fabia bestellte Ingvar ein Taxi. Bevor er sich zum Mittnerhof fahren ließ, machte er noch einen Abstecher zum Blumenladen in Mainingberg.

*

Der Mittnerhof lag umgeben von Wiesen und Weiden ein Stück außerhalb des Dorfes. Das Wohnhaus und die Stallungen waren erst kürzlich renoviert worden. Auch das alte Pflaster im Hof war erneuert worden. Der ausgehöhlte Eichenstamm, der als Auffangbecken für das Wasser diente, das über eine grüne Metallpumpe aus einem unterirdischen Brunnen heraufkam, war ein romantischer Hingucker für die Feriengäste, die auf dem Hof übernachteten.

Ingvar ließ sich vor dem Tor zum Hof absetzen, klemmte den Blumenstrauß für Fabia unter den Arm und humpelte auf seinen Krücken in den Hof.

»Ingvar, hallo.« Fabia kam aus dem umgebauten Teil der Scheune, in dem die beiden Ferienappartements untergebracht waren. Sie trug ein weich fallendes Kleid mit einem blauen Blütenmuster, das ausgesprochen gut zu ihrem hellen Haar passte. »Du hast Schmerzen«, stellte sie fest, als sie sah, dass sich Schweißperlen auf seiner Stirn zeigten.

»Die Rippenprellung und die Krückenakrobatik vertragen sich nicht so gut.« Er versuchte ein Lächeln, während er seine Atmung wieder beruhigte. »Ich wollte mich noch einmal bei dir bedanken«, sagte er und überreichte ihr den Strauß mit den bunten Margeriten und gelben Rosen.

»Danke, der ist wunderschön«, sagte sie und roch an den Blumen. »Schaffst du es noch bis zu meinem Appartement?«

»Das hoffe ich doch.« Ohne den Blumenstrauß ging es auch gleich ein bisschen leichter, weil er seinen Arm nicht mehr so verkrampfte, um den Strauß festzuhalten.

Das Appartement, in das Fabia ihn führte, war mit rustikalen Kiefernholzmöbeln eingerichtet. Neben einem breiten Bett und einem Esstisch mit vier Stühlen gab es auch eine gemütliche Sofaecke. Der Küchenblock im Wohnzimmer war mit allem Notwendigen eingerichtet inklusive Spülmaschine und Mikrowelle. Fabia hatte den Tisch bereits gedeckt. Es gab frisch aufgebackene Brötchen, Marmelade, Honig, mehrere Käsesorten, Kaffee und Orangensaft.

»Du solltest deinen Fuß hochlagern«, sagte sie, nachdem er sich gesetzt hatte. Sie rückte einen Stuhl mit einem Kissen darauf so hin, dass er sein Bein hochlegen konnte. »Ich mache uns noch Rühreier. Du magst doch Rühreier?«

»Ja, sehr gern. Eigentlich hätte ich dich zum Frühstück einladen sollen. Erst rettest du mich, dann kümmerst du dich um mich. Wie soll ich das wieder gut machen?«

»Du musst gar nichts wieder gut machen. Ich freue mich, dass du hier bist. Wir können uns jetzt ausführlich über unser Fachgebiet austauschen«, entgegnete sie lächelnd.

»Die Pilze.«

»Richtig, die Pilze. Ich gehe davon aus, dass wir beide davon überzeugt sind, dass sie wertvoll für die Menschheit sind. Als Nahrungsmittel und als Heilmittel.«

»Als Heilmittel sind sie wohl eher in der traditionellen chinesischen Medizin bekannt.«

»Stimmt, aber inzwischen ist auch bei uns das Interesse geweckt herauszufinden, was wir aus dieser Erfahrung lernen können. In China werden einige Pilze bereits seit 5000 Jahren zur Heilung von Krankheiten eingesetzt.«

»Das ist sicher ein spannendes Forschungsgebiet.«

»O ja, unbedingt«, sagte Fabia, während sie die Rühreier mit Paprika und Schafskäse servierte. »Wie sieht es denn um unseren heimischen Pilzbestand aus?«, fragte sie ihn, als sie sich ihm gegenüber an den Tisch setzte.

»Recht gut«, sagte Ingvar und berichtete über seine Ausflüge der letzten Wochen. Die Fragen, die Fabia ihm dabei stellte, zeigten ihm, dass sie sich wirklich ebenso sehr wie er für dieses Thema interessierte.

»Wir beide ergänzen uns in unserer Arbeit. Es macht wirklich Spaß, mit dir über dieses Thema zu sprechen«, sagte Fabia irgendwann und sah ihn mit einem strahlenden Lächeln an.

»Mir gefällt unser Gespräch auch, sehr sogar.«

»Wenn das so ist, dann könntest du doch heute den ganzen Tag hier verbringen. Wie wäre das? Oder hast du etwas vor?«

»Nein, das nicht, aber…«

»Aber? Du willst nicht bleiben?«

»Doch, schon, ich will dir nur nicht zur Last fallen.«

»Das tust du nicht, sonst hätte ich dich nicht gefragt.«

»Gut, dann bleibe ich.«

»Wunderbar, noch einen Orangensaft?«

»Ja, bitte«, sagte er und betrachtete sie mit einem liebevollen Lächeln. Er war ihr dankbar, dass sie ihn gebeten hatte, zu bleiben. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart sehr wohl und er wusste, dass er Fabia vermissen würde, sobald er sich von ihr verabschieden musste.

*

Nach dem Frühstück waren sie in die Sitzecke gewechselt, damit Ingvar es bequemer hatte und seine Beine hochlegen konnte. Sie hatten über ihre Arbeit gesprochen und dabei festgestellt, dass sie ganz ähnliche Ansichten über die Natur und das Leben an sich hatten. Ingvar zeigte Fabia auch seine Internetseite mit den Filmen, die er von seinen Wanderungen der letzten Wochen aufgenommen und hochgeladen hatte. Sie waren so sehr in ihr Gespräch vertieft, dass sie nicht merkten, wie die Zeit verging.

»Schon vier Uhr«, stellte Fabia verblüfft fest, als es irgendwann an ihrer Tür klopfte und sie auf ihre Uhr schaute.

»Wir haben uns wohl verplaudert«, entgegnete Ingvar lächelnd, der auf dem Sofa so bequem lag, dass er kaum Schmerzen verspürte und seit dem Frühstück keine weitere Tablette nehmen musste.

»Ich sehe mal nach, wer etwas von uns möchte«, sagte Fabia und ging zur Tür. »Hallo, Frau Mittner«, begrüßte sie die junge Frau in der gelben Jeans und dem leuchtendblauen T-Shirt, die gleich darauf vor ihr stand.

»Entschuldigen Sie die Störung, Frau Regner, aber ich möchte Sie und Ihren Besuch zum Grillen einladen. Wir sitzen heute in gemütlicher Runde draußen im Garten. Die meisten Gäste, die zu uns auf den Hof kommen, haben ein bisschen Familienanschluss ganz gern. Falls Sie auch dazu gehören, sind Sie herzlich willkommen.«

»Ich danke Ihnen für die Einladung, wir kommen sehr gern.«

»Wunderbar, wir fangen ein bisschen früher an, damit die Kinder auch noch etwas von dem Abend haben. Wir sind dann so ab sechs auf der Wiese neben dem Haus. Bis nachher«, verabschiedete sich Sabine mit einem freundlichen Lächeln.

»Ja, bis nachher«, sagte Fabia. Sie bewunderte die junge Frau, die vier Kinder hatte, sich um die Ferienwohnungen kümmerte, auf dem Hof mithalf und sich trotzdem noch ein jugendliches Aussehen bewahrt hatte. »Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich die Einladung für uns beide angenommen habe«, wandte sie sich an Ingvar, nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte.

»Ja, es ist mir recht. Ich freue mich darauf, den Abend mit dir zu verbringen.«

»Wir werden aber nicht die ganze Zeit über unsere Arbeit reden können, das würde die anderen langweilen.«

»Uns würde das sicher auch irgendwann langweilen.«

»Wäre schon möglich. Allerdings kann ich mich schon recht lange mit meiner Forschung beschäftigen, wenn es gilt, ein Problem zu lösen.«

»Gibt es denn gerade ein Problem zu lösen?«

»Nein, im Moment bin ich in der Phase des Faktensammelns.«

»In dieser Phase befinde ich mich auch, besser gesagt, befand ich mich. Mir wurde ja eine Zwangspause verordnet.«

»In der du dich mit der Theorie deiner Arbeit beschäftigst.«

»Hin und wieder beschäftige ich mich auch mit anderen Dingen. Ich treffe mich mit Freunden in der Stadt, gehe schwimmen oder im Sommer auch rudern.«

»Geht im Moment alles nicht so gut.«

»Stimmt, das heißt, ich könnte mich ohne schlechtes Gewissen mit einem Computerspiel von meinen Schmerzen ablenken.«

»Welche Spiele interessieren dich?«

»Du kennst dich mit diesen Spielen aus?«

»Ich habe auch welche, für Regentage. Abenteuerspiele sind meine Favoriten.«

»Wie wäre es, wenn du mich morgen besuchst? Dann kannst du dir meine Spiele ansehen.«

»Sind Computerspiele die neue Briefmarkensammlung?«, fragte sie schmunzelnd.

»Vielleicht, aber wie sollte ich in meiner Lage so eine Situation ausnutzen?«

»Stimmt, im Moment bist du nicht sonderlich gefährlich.«

»Bin ich nicht?«

»Nein, Ingvar, bist du nicht«, versicherte sie ihm, und dann mussten sie beide lachen. »Was hältst du davon, wenn ich uns noch einen Kaffee koche, bevor wir zu den Mittners gehen?«

»Ein guter Vorschlag«, sagte er.

Als sie zwei Stunden später die Ferienwohnung verließen und zur Wiese hinüber gingen, wussten sie, dass sie noch weitere gemeinsame Interessen hatten. Sie gingen beide lieber in einem See statt im Schwimmbad schwimmen, zogen das Kino dem Theater vor und waren keine begnadeten Bergsteiger, sondern bevorzugten gemütliche Wandertouren. Fabia war gespannt, auf welche ähnlichen Interessen sie noch stoßen würden, wenn sie sich öfter trafen, was sie beide ganz offensichtlich planten.

Die Mittners hatten sich schon um den großen Tisch auf der Wiese versammelt. Es gab Kartoffelsalat, grünen Salat, Gurken und verschiedene Soßen, auf dem Grill brutzelten die ersten Würstchen und Steaks.

Fabia machte Ingvar zuerst mit Sabine bekannt, die das jüngste Familienmitglied den kleinen Bastian, ein pausbäckiges Baby mit großen blauen Augen und blonden Löckchen, auf dem Schoss hatte. Danach stellte sie ihm Anton Mittner vor, einen kräftigen Mann mit hellem Kraushaar, der Ingvar mit einem festen Händedruck freundlich begrüßte.

»Und wir sind die Mittnerzwillinge. Ich bin Senta, und das ist Benjamin, und wir gehen beide schon in die Schule«, sagte das kleine Mädchen, das neben seinem Bruder am Tisch saß. Beide Kinder hatten weißblondes Haar, helle Augen und trugen rote Latzhosen und weiße T-Shirts.«

»Guck mal, das ist Markus, unser großer Bruder«, stellte Benjamin den hoch aufgeschossenen Jungen vor, der kurz darauf aus dem Haus kam. »Er ist ein Musiker, weißt du, deshalb hat er auch so lange Haare«, erklärte Benjamin und deutete auf den Zopf, zu dem Markus sein weißblondes Haar gebunden hatte.

»Er geht aber auch noch in die Schule, und er passt manchmal auf uns auf, und er hilft auf dem Hof, und er geht jobben«, erzählte Senta.

»Und jetzt ist es genug«, sagte Markus und streichelte seiner kleinen Schwester über das Haar.

»Mama sagt aber, dass sie dich zu wenig lobt, deshalb lobe ich dich jetzt«, verkündete Senta kichernd.

»Das ist auch gut so, Schätzchen, das hat unser Markus verdient. Pia Mechler.« Die ältere Frau im violetten Dirndl stellte die beiden Brotkörbe mit dem aufgeschnittenen Baguette auf den Tisch und reichte Ingvar die Hand.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, euch alle kennenzulernen«, sagte Ingvar.

»Ingvar muss seinen Fuß hochlegen. Kann ich den Hocker nehmen?«, fragte Fabia und deutete auf den Hocker, der an der Hauswand lehnte, nachdem sie und Ingvar am Tischende Platz genommen hatten.

»Kein Problem«, sagte Markus, holte den Hocker und stellte ihn so hin, dass Ingvar seinen Fuß bequem hochlegen konnte.

»Pia ist unsere Adoptivoma«, erzählte Senta fröhlich, als Pia sich neben sie und ihren Bruder setzte.

»Ia, ia!«, rief Bastian und klatschte lachend in die Händchen.

»Pia, nicht Ia, du Knirps«, verbesserte Senta den Kleinen.

»Was bedeutet Adoptivoma?«, fragte Ingvar.

»Ich war einsam ohne Familie, und hier wurde eine Oma gebraucht«, antwortete Pia mit einem glücklichen Lächeln.

»Und jetzt sind wir eine Familie«, sagte Sabine und streichelte Pia liebevoll über die Schulter.

»Ja, jetzt sind wir eine Familie«, erklärte Senta und lehnte sich an Pia an.

»Frau Regner hat gestern erzählt, dass es einen Unfall im Forst gab. Sie sind das Unfallopfer?«, fragte Markus.

»Ich hätte wohl schneller sein müssen, um dem Baumstamm auszuweichen.«

»Um darüber Gewissheit zu haben, müssten Sie Ihre Reaktionszeit und Ihre Laufgeschwindigkeit mit der Fallgeschwindigkeit und dem Fallwinkel des Stammes in Bezug setzen. Möglicherweise hätte er sie auch am Kopf gestreift, wären Sie den Bruchteil einer Sekunde schneller gewesen.«

»Verstehe, du meinst, dass mich meine verzögerte Reaktion möglicherweise vor größerem Schaden bewahrt hat.«

»Richtig, das heißt, Sie haben keinen Grund, die Sache weiter zu hinterfragen. Es hätte weitaus schlimmer kommen können.«

»Das ist wahr«, stimmte Ingvar Markus zu. Ganz schön clever, der junge Mann, dachte er.

»Wann kommt denn eigentlich unser Doktor Seefeld mit unserer Anna und unserer Emilia?«, wollte Senta wissen.

»Ich denke, sie werden in einer halben Stunde hier sein«, sagte Sabine. »Sebastian Seefeld haben Sie beide ja gestern schon kennengelernt, wie ich von Frau Regner gehört habe«, wandte sie sich ihren Gästen zu.

»Seine Diagnose vor Ort hat sich im Krankenhaus in allen Punkten bestätigt«, sagte Ingvar.

»Er ist ziemlich gut«, entgegnete Sabine lächelnd.

»Nein, nicht ziemlich gut, er ist der aller allerbeste Doktor Seefeld der ganzen Welt«, erklärte Senta.

»Ja, ganz genau«, stimmte Benjamin seiner Schwester zu.

Eine halbe Stunde später trafen der allerbeste Doktor Seefeld, Anna und Emilia auf dem Mittnerhof ein. Fabia war die junge Hebamme, eine schöne Frau mit strahlend grünen Augen, gleich sympathisch. Sie und der junge Arzt waren zweifellos ein Paar, genau wie Markus und Emilia, ein bildhübsches Mädchen mit langem rotbraunem Haar und den gleichen hellgrauen Augen wie sein Vater.

»Wie geht es Ihnen, Herr Wering?«, erkundigte sich Sebastian nach Ingvars Befinden.

»Ganz gut, in Gesellschaft lässt sich ohnehin alles besser ertragen.«

»Ablenkung hilft manchmal ebenso gut wie Tabletten. Aber wie gesagt, nicht den Helden spielen. Wenn es wehtut, nehmen Sie etwas«, wiederholte Sebastian seinen Rat.

»Im Moment ist wirklich alles gut«, versichert er ihm.

»Wir kümmern uns um die Würstchen«, sagte Markus und stellte sich mit Emilia an den Grill.

»Guck mal, Mama, Emilia ist genauso angezogen wie wir«, stellte Senta fest.

»Nein, stimmt nicht, ihre Hose ist nur rot, aber ohne Latz«, sagte Benjamin.

»Aber sie hat auch ein weißes T-Shirt an.«

»Ja, genau wie Markus, und wenn er seine schwarze Hose gegen eine rote tauscht, dann sind sie auch Zwillinge, so wie wir.«

»Stimmt nicht, sie sind Verliebte, so wie Doktor Seefeld und Anna.«

»Ihr habt mal wieder alles auf den Punkt gebracht«, sagte Anton und streichelte den Zwillingen über das Haar, während er Ingvar fröhlich zuzwinkerte.

Ingvar bereute es nicht, dass er Fabias Einladung angenommen hatte, den Tag mit ihr zu verbringen. Auch bei den Mittners fühlte er sich willkommen, und das ließ ihn seine unbequeme Lage eine Weile vergessen.

Als es dunkel wurde, zündeten sie die Windlichter an, die auf dem Tisch standen, und die Lichterketten, die in den beiden Kastanien befestigt waren, wurden eingeschaltet.

»Haben Sie eine Nachricht von der Polizei Garmisch bekommen, wegen des verschwundenen Pilzkorbes?«, fragte Ingvar Sebastian nach dem Essen, als die Erwachsenen bei einem Glas Wein zusammen saßen, während Emilia und Markus es übernahmen, die Zwillinge und Bastian ins Bett zu bringen.

»Ja, heute Vormittag habe ich die Nachricht erhalten, dass jemand möglicherweise unwissentlich Tiger-Ritterlinge konsumiert haben könnte. Sie wollen informiert werden, falls jemand mit Vergiftungssymptomen in die Praxis kommt. Woher wissen Sie davon?«, wunderte sich Sebastian.

»Die Polizei war gestern Abend bei mir. Sie haben mich zu dem Unfallhergang befragt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich Pilze zur Katalogisierung gesammelt und den Korb auf dem Weg abgestellt hatte, bevor ich noch einmal in den Wald hineinging. Die Polizei konnte den Korb aber nicht finden, deshalb vermute ich, dass ihn jemand mitgenommen hat.«

»Leute aus der Gegend kennen sich recht gut mit Pilzen aus.«

»Das meinte die Polizei auch, die meisten Pilze im Korb waren auch essbare. Wenn jemand sich aber nicht richtig gut auskennt, dann könnte er die nicht essbaren übersehen.«

»Ja, vielleicht, aber ich denke, mit den Symptomen, die dieser Pilz verursacht, werden die Betroffenen schnell einen Arzt aufsuchen.«

»Es sei denn, sie bringen es nicht mit den Pilzen in Zusammenhang und glauben, sie hätten sich eine Magen-Darm-Grippe gefangen.«

»Vielleicht hat ja jemand nur einen Korb gebraucht und die Pilze weggeschmissen oder der LKW ist über den Korb gefahren und hat ihn mitgeschleift.«

»Das könnte erklären, warum die Polizisten ihn nicht gefunden haben«, stimmte Ingvar Fabia zu, der nur ein halbes Glas Wein trank, weil er nicht sicher war, ob er vielleicht später noch ein Schmerzmittel nehmen musste.

»Warum untersucht eigentlich die Garmischer Polizei diesen Unfall und nicht die Polizisten aus Bergmoosbach?«, wunderte sich Anna.

»Das ist mir auch nicht ganz klar«, sagte Sebastian.

»Möglicherweise haben sie einen Verdacht. Vielleicht suchen sie in der Gegend bereits nach einem rücksichtslosen LKW-Fahrer, und dafür ist unsere Dorfpolizei vermutlich nicht zuständig«, mutmaßte Anton.

»Ja, könnte sein«, gab Sebastian ihm recht.

»Da wir die polizeilichen Kompetenzen nicht wirklich klären können, sollten wir uns anderen Dingen widmen. Wie wäre es mit einer Weincreme als spätes Dessert? Oder ist jemand auf Diät?«, fragte Sabine.

»Bitte, reden wir nicht von Diät, da ist Sebastian im Moment ein ­bisschen empfindlich«, entgegnete Anna lächelnd.

»Ach ja, der Zaubertrank. Gut, dass wir zu den Pilatesvorträgen in der Sporthalle waren, sonst wären wir vielleicht auch auf den Unsinn hereingefallen«, sagte Sabine.

»Ihr? Wo wollt ihr denn abnehmen?«, fragte Anton und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Irgendeine Stelle findet sich immer, mein Schatz«, antwortete Sabine lachend und küsste Anton auf die Wange.

»Geh, das ist Unsinn«, murmelte Anton.

»Was muss ich mir denn unter dem Zaubertrank vorstellen?«, fragte Fabia.

»Das ist eine längere Geschichte«, sagte Anna.

»Darf ich sie hören?«

»Bitte, nur zu, ich werde einfach tief durchatmen, dann halte ich es schon aus«, seufzte Sebastian, als Anna ihn ansah.

»Ich hole das Dessert«, sagte Pia und schaute verlegen zu Boden. Sie musste die Geschichte über den Zaubertrank nicht hören. Sie hatte sie selbst miterlebt.

»Der Zaubertrank sollte ein Wundermittel zum Abnehmen sein«, sagte Anna und dann erzählte sie Fabia und Ingvar von dem Ernährungsberater, den die älteren Landfrauen in Bergmoosbach während des Pilatesseminars der jüngeren Damen zu einem Vortrag eingeladen hatten.

Der Zaubertrank, den fast alle ausprobiert hatten, die sich den Vortrag des Ernährungsberaters angehört hatten, entpuppte sich als Entwässerungstee, der einige Damen ziemlich schwächte und Sebastian zunächst an eine Virusinfektion glauben ließ.

»Ich hab mich auch recht krank gefühlt«, gab Pia zu, als sie mit den Dessertschälchen auf einem Tablett wieder zurückkam.

»Wenn es ums Abnehmen geht, sind wir Frauen eben schon ein wenig leichtgläubig«, sagte Fabia. »Aber solche Wundermittel sind nicht wirklich hilfreich.« Sie hatte schon einige in ihrem Labor getestet, keines war in seiner Zusammensetzung zufriedenstellend.

»Ich glaub, wir hier in Bergmoosbach haben unsere Lektion gelernt. Darf ich Ihnen auch ein Weindessert anbieten, Herr Wering. Ich meine, wegen der Schmerzmittel, die Sie nehmen?«, fragte Pia.

»Schon in Ordnung, das verkraften Sie«, sagte Sebastian, als Ingvar ihn ansah.

»Dann nehme ich gern eines.«

»Wie ist es eigentlich um den Pilzbestand in unserem Wald bestellt? Nimmt er zu oder ab?«, wandte sich Anton an Ingvar, um das Thema Diäten zu beenden, das Pia ganz offensichtlich unangenehm war.

»Er hat eher zugenommen«, sagte Ingvar, und dann sprachen er und Fabia gemeinsam über den Nutzen der Waldpflanzen, während die anderen zuhörten.

»Wenn ich nicht wüsste, dass Sie beide sich erst gestern kennengelernt haben, würde ich denken, dass Sie schon oft gemeinsam über dieses Thema gesprochen haben«, stellte Emilia beeindruckt fest, die schon vor einer ganzen Weile zusammen mit Markus wieder auf die Wiese gekommen war.

»Ich wünschte, unsere Biologielehrer könnten diese Themen auch nur annähernd so spannend erklären«, sagte Markus.

»Vielleicht sollten sie es auch mal gemeinsam versuchen und sich gegenseitig ergänzen, so wie Frau Regner und Herr Wering es tun«, entgegnete Sabine lächelnd.

»Wir werden es vorschlagen«, sagte Emilia.

»O nein, Herr Ei und Frau Dornemann im Doppelpack, das hält doch keiner aus«, stöhnte Markus.

»Gebt Ihnen eine Chance, vielleicht werdet ihr von ihnen überrascht. Falls ihr aber einfach nur mehr über eure heimischen Wälder wissen wollt, dann seht euch Ingvars Internetseite an«, schlug Fabia ihnen vor. »Er hat die Gebiete gefilmt, die er in den letzten Wochen besucht hat.«

»Okay, machen wir. Super Idee, die Filme hochzuladen.« Markus nickte und sah Ingvar anerkennend an.

»Ja, das finde ich auch«, stimmte Fabia dem Jungen zu.

»Die Natur kann jede Unterstützung gebrauchen. Je mehr Menschen sich für ihren Erhalt einsetzen, umso besser für unseren Planeten. Heute werde ich mich allerdings für nichts mehr einsetzen. Ich werde mir nur noch ein Taxi bestellen.« Ingvar gähnte hinter vorgehaltener Hand. Er war auf einmal müde und konnte auch nicht mehr gut sitzen.

»Das mit dem Taxi kann hier um diese Uhrzeit ziemlich lange dauern. Für uns wird es auch Zeit. Wir nehmen Sie mit«, sagte Sebastian.

»Aber ich wohne in Mainingberg.«

»Ich weiß, die fünf Minuten hin und zurück werden wir überstehen.«

»Es ist wirklich kein Problem«, sagte Anna.

»Was hältst du davon, wenn du morgen zu mir zum Frühstück kommst«, schlug Ingvar Fabia vor, als er sich ein paar Minuten später von ihr verabschiedete.

»Ich komme gern. So gegen zehn?«

»Gute Zeit.«

»Ich bringe Brötchen mit.«

»Dann bis morgen«, sagte er. Nachdem er sich bei den Mittners für ihre Gastfreundschaft bedankt hatte, verließ er zusammen mit Sebastian, Anna und Emilia den Hof.

»Ich muss Emilia recht geben, Sie und Herr Wering harmonieren wirklich großartig miteinander«, sagte Sabine, als Fabia der Familie half, den Tisch abzuräumen.

»Es fühlt sich auch so an, als würde ich ihn schon lange kennen.«

»Und das ist ein schönes Gefühl, nicht wahr?«

»Ja, schon«, gab Fabia zu. Sie freute sich schon darauf, Ingvar am nächsten Tag wiederzusehen.

*

Ingvar wachte am nächsten Morgen recht gut erholt auf, machte Kaffee und kochte ein paar Eier. Um seinen Fuß nicht durch Hin- und Herlaufen zu belasten, deckte er den kleinen Tisch in der Küche für das Frühstück. Er stand direkt unter dem Fenster, und man konnte über die Birken hinweg auf die Berge schauen.

Als es um kurz nach zehn an der Tür läutete, legte er die Schürze ab, die er über seinem weißen Hemd und der Jeans getragen hatte. Die Krücken waren ihm in der kleinen Küche lästig, und er humpelte zwischen Tisch und Anrichte auf einem Bein herum. Da er darin aber nicht besonders geschickt war, wollte er seine Kleidung davor bewahren, sie mit Marmelade, Honig oder Butter zu bekleckern.

»Guten Morgen, ich hoffe, du hast gut geschlafen«, sagte Fabia, als sie mit einer Brötchentüte gut gelaunt die Treppe heraufkam. Der lange dunkle Rock und die cremefarbene Bluse mit den zierlichen Knöpfen betonten ihre schlanke Figur.

»Ich habe sogar ausgesprochen gut geschlafen«, antwortete er und lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand neben der Tür, während Fabia die Wohnung betrat.

»Ich habe nach dem schönen Abend gestern auch gut geschlafen. Wo frühstücken wir?«, fragte sie ihn.

»In der Küche, dort war es für mich am einfachsten, den Tisch zu decken.«

»Du hättest auf mich warten können.«

»Dort entlang«, sagte er lächelnd und zeigte auf die geöffnete Tür, die vom Wohnzimmer abging.

»Gemütlich«, stellte Fabia fest und schüttete die Brötchen in das Bastkörbchen, das auf dem Tisch mit der weißen Tischdecke stand.

»Ich glaube, ich kann die Zugspitze sehen«, sagte sie, als sie sich an dem Tisch gegenübersaßen und sie die Tasse mit dem Kaffee in der Hand hielt.

»Es ist die Zugspitze«, antwortete Ingvar, der ihrem Blick folgte.

»Ich war vor einem Jahr mal wieder dort. Die Leute standen Schlange, um auf das Gipfelkreuz hinaufzusteigen. Es geht zu wie in einem Vergnügungspark.«

»Die Sehnsucht, einmal auf dem höchsten Punkt des Landes gewesen zu sein, ist eben groß. Wenn es nach meinen Kollegen und mir ginge, würde niemand mehr solche schützenswerten Gebiete betreten. Abgesehen von uns, und darin liegt eine gewisse Arroganz. Wir würden auch weiterhin die Schönheiten der Natur erleben, während alle anderen sich mit Fotos und Filmen begnügen müssten. Das funktioniert nicht. Die Erde gehört uns schließlich allen.«

»Deshalb dürfen wir sie nicht zerstören. Wir müssen nicht alle auf jeden Berg kraxeln oder mit einer Versorgungskarawane durch die Wüste fahren.«

»Menschen sehnen sich nach Abenteuern.«

»Dann gibt es nur eine Lösung. Wir müssen bald andere Planeten besiedeln. Die können wir dann erst einmal eine Weile nach Herzenslust erforschen.«

»Interessanter Vorschlag.«

»Und auch nicht utopisch. Irgendwann werden wir zu anderen Planeten reisen können.«

»Wir könnten das schon einmal üben. Ich habe ein Computerspiel, das sich mit diesem Thema beschäftigt.«

»Ein Abenteuerspiel?«

»Ja, eines mit einer verblüffend guten Grafik.«

»Dann wissen wir ja, wie wir heute den Tag verbringen.«

»So hatten wir es doch auch geplant.«

»Ja, das hatten wir geplant«, sagte Fabia und lächelte, als er sie in diesem Moment direkt anschaute.

Nach dem Frühstück ließ Fabia es sich nicht nehmen, allein den Tisch abzuräumen, während sie Ingvar bat, es sich schon auf dem Sofa bequem zu machen. Das Sitzen auf den Stühlen in der Küche tat ihm nicht gut, das konnte sie sehen. Sie stellte das Geschirr in die Spülmaschine, füllte zwei Gläser mit Sprudelwasser, ging ins Wohnzimmer und setzte sich neben Ingvar aufs Sofa.

Da er den großen Flachbildschirm, der an der Wand gegenüber dem Sofa hing, auch als Computermonitor benutzte, konnte das Abenteuer gleich losgehen. Der Computer war bereits eingeschaltet, und er konnte das Bild mit einer Maus und einem Joystick steuern.

Fabia konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal so viel Spaß gehabt hatte. Sie ließ sich in das Spiel fallen und fühlte sich vollkommen unbeschwert. Die Figuren in dem Spiel wirkten verblüffend lebensecht, obwohl sie nur eine Computeranimation waren. Sie bangte um ihr Schicksal, musste lachen, wenn sie in komische Situationen gerieten, und sie entwickelte gemeinsam mit Ingvar eine Strategie, um das Spiel am Ende erfolgreich abzuschließen.

Am frühen Nachmittag legten sie eine Pause ein, aßen ein Stück von dem Käsekuchen, den Fabia am Morgen von der Bäckerei Höfner mitgebracht hatte. Danach setzten sie ihr Spiel fort und hörten erst auf, als sie am Ziel angelangt waren.

»Es macht wirklich Spaß, mit dir auf dem Sofa zu sitzen und Abenteuer zu bestehen«, sagte Fabia, als Ingvar den Computer ausgeschaltet hatte.

»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben. Mit wem bestehst du denn zu Hause in München deine Abenteuer? Ich meine, die echten draußen in der Wirklichkeit.«

»Willst du mit dieser Frage herausfinden, ob ich einen festen Freund habe?«

»Stimmt, das würde ich gern herausfinden«, gab er lächelnd zu.

»Okay, dann ist hier meine Antwort.« Fabia strich die Haarsträhnen zurück, die ihr in die Stirn gefallen waren, und sah Ingvar an. »Bis vor einem halben Jahr war da jemand, mit dem ich alles teilen wollte, was aber meistens nicht gelang, weil wir nicht die gleichen Interessen hatten. Ich denke, dieser Spruch, Gegensätze ziehen sich an, entbehrt jeder Grundlage. Ich meine, wie soll eine Beziehung funktionieren, wenn jeder etwas anderes darunter versteht?«

»Das ist schwierig.«

»Richtig, es ist schwierig. Als er sich dann in eine andere verliebte, dachte ich zunächst, ich würde höllisch darunter leiden, stattdessen aber fühlte ich mich frei, so als wäre eine große Last von meinen Schultern gefallen. Da wurde mir klar, dass diese Beziehung auf Dauer niemals gut gegangen wäre.«

»Ich hatte bisher noch keine dauerhafte Beziehung. Ich war in den letzten Jahren ständig unterwegs und nie länger als zwei bis drei Monate an einem Ort. Das ist mein erster Forschungsauftrag, der über ein Jahr geht.«

»Wo warst du zuletzt?«

»In der Antarktis. «

»Was hast du untersucht?«

»Die Nahrungsquellen der Pinguine.«

»Und jetzt das Pilzvorkommen in den Alpen?«

»Die Natur ist eben voller Kontraste, und sie ist überall schön. Außerdem ist ein bisschen finanzielle Sicherheit auch beruhigend. Ich habe einige Verpflichtungen zu erfüllen.«

»Hatte eine deiner lockeren Beziehungen Folgen? Ich meine, hast du ein Kind?«

»Nein, habe ich nicht, damit hat es nichts zu tun. Aber wie auch immer, ich bin auch ganz gern mal wieder in wärmeren Gefilden.«

»In der Antarktis wäre dir aber so etwas wie gestern nicht passiert.«

»Mag sein, aber letztendlich hat dieser Zwischenfall doch auch etwas Gutes.«

»Jemand bringt dich in eine ausweglose Lage und lässt dich verletzt zurück. Was ist gut daran?«

»Dass du mich gerettet hast. ­Hätte ich nicht dort im Wald gelegen, wären wir uns vermutlich niemals begegnet. Das wäre doch schade.«

»Ja, wäre es«, stimmte sie ihm zu. »Ich hoffe, das bedeutet aber nicht, dass du den Mann, der dafür verantwortlich ist, ungestraft davonkommen lassen willst.«

»Nein, sicher nicht. Es war nicht seine Absicht, mir etwas Gutes zu tun, aber er hatte bestimmt auch nicht vor, mir etwas anzutun. Ich stand einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Eines habe ich daraus gelernt. Ich werde mein Handy in Zukunft stets bei mir tragen und nicht mehr im Rucksack.«

»Gute Entscheidung. Ich denke, ich sollte jetzt gehen. Du brauchst sicher ein bisschen Ruhe«, sagte Fabia.

»Ich hatte gehofft, du bleibst zum Abendessen.«

»Wird dir das auch nicht zu viel?«

»Nein, es wird mir ganz bestimmt nicht zu viel, wenn du noch bei mir bleibst.«

»Gut, dann bleibe ich. Soll ich uns etwas zu essen machen?«

»Wir können auch Pizza bestellen.«

»Pizza essen und einen Film ansehen?«

»Den über die Pinguinfamilie, die ihren Nachwuchs verliert und schließlich wieder findet?«

»Ja, bitte, ich liebe diesen Film.«

»Dann bestelle ich jetzt die Pizza«, sagte Ingvar und nahm das Telefon in die Hand, das auf dem Tisch vor ihm lag. »Pizza mit Pilzen?«, fragte er lächelnd.

»Was sonst«, antwortete sie schmunzelnd.

*

»Manchmal müssen solche Tage einfach sein. Frei von jeder Verantwortung, einfach nur Spaß haben«, sagte Fabia, als sie sich gegen elf von Ingvar verabschiedete.

»Einen Tag, den wir uns vermutlich beide nicht gegönnt hätten, wäre dieser Baumstamm nicht auf mich gerollt«, entgegnete Ingvar, der sie auf seinen Krücken zur Tür begleitete.

»Schon gut, ich sehe allmählich auch die Vorteile dieses Zwischenfalls«, antwortete sie lächelnd.

»Treffen wir uns morgen wieder?«

»Von mir aus gern. Ich sehe meinen Aufenthalt in Bergmoosbach mehr als Urlaub. Ich bin nicht nur zum Arbeiten hier. Außerdem habe ich durch dich schon einiges über die Pilzvorkommen der Gegend erfahren, was mir bei meiner Arbeit weiterhilft.«

»Wir können auch gern einen gemeinsamen Arbeitstag am Computer einlegen. Ich werde dir alles sagen, was ich weiß.«

»Vielleicht komme ich darauf zurück. Wann wollen wir uns morgen treffen?«

»Ich fahre morgen früh erst in die Praxis Seefeld. Doktor Seefeld will sich meinen Knöchel ansehen. Er meinte, wenn ich Glück habe, kann ich den Fuß ab morgen schon wieder ein wenig belasten und brauche nur noch eine Krücke.«

»Wie kommst du in die Praxis?«

»Mit dem Taxi.«

»Ich kann dich auch hinfahren.«

»Ich soll aber schon so gegen halb neun kommen.«

»Kein Problem, ich stehe gern früh auf. Bis morgen.« Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, lief die erste Treppe hinunter und winkte ihm noch einmal lächelnd zu, bevor sie in den ersten Stock hinunterging.

»Komm gut nach Hause«, sagte er und blieb stehen, bis er die Haustür hörte, die hinter ihr ins Schloss fiel. »Ich glaube, ich habe mich verliebt«, flüsterte er, nachdem er in seine Wohnung gegangen war. Hoffentlich kann ich mich bald wieder normal bewegen, dachte er, als er in diesem Moment den Schmerz auf seinen Rippen spürte. Er beschloss, eine Tablette zu nehmen, und hoffte, durchschlafen zu können. Schließlich wollte er den nächsten Tag wieder mit Fabia verbringen, und da wollte er wach und möglichst schmerzfrei sein.

*

»Wohin geht es denn schon so früh?«, fragte die ältere Dame, die im Erdgeschoss aus dem Fenster schaute, als Ingvar am nächsten Morgen zu Fabia ins Auto stieg.

»Ich habe einen Termin bei Doktor Seefeld, Frau Bader, vielleicht kann ich nachher schon wenigstens auf eine Krücke verzichten«, antwortete er seiner Nachbarin, die immer freundlich zu ihm war und ihm auch angeboten hatte, für ihn einkaufen zu gehen.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück.« Sie schaute auf Fabia, die Ingvar half, sich auf den Beifahrersitz ihres kleinen roten Autos zu setzen. »Sie sind wohl die junge Dame, die unseren Herrn Wering im Wald gefunden hat«, sagte sie.

»Ja, das ist sie, Frau Bader«, antwortete Ingvar für Fabia, die sich schmunzelnd auf den Fahrersitz setzte. »Wir müssen dann los«, sagte er und schloss die Beifahrertür.

»Du stehst unter Beobachtung«, stellte Fabia amüsiert fest.

»Das lässt mich hoffen, dass man mich vielleicht doch noch gefunden hätte, bevor ich im Wald verhungert wäre. Ich gehe davon aus, dass Frau Bader sich spätestens am nächsten Morgen gefragt hätte, ob mir etwas zugestoßen ist. Wir plaudern morgens immer ein bisschen, wenn ich vom Zeitungsladen komme und sie gerade die Zimmer zur Straße hin lüftet.«

»Was sie getan oder nicht getan hätte, wirst du nicht mehr herausfinden.«

»Diese Variante, dass du mich gerettet hast, ist mir auch weitaus lieber«, sagte er, als sie durch den Tunnel fuhren, der Mainingberg mit Bergmoosbach verband.

»Das hoffe ich«, antwortete sie lachend.

*

Das Seefeldhaus mit seinen lindgrünen Fensterläden lag auf einem sanft ansteigenden Hügel am Ortseingang des Dorfes. Eine Treppe führte durch den blühenden Steingarten zum Wintergarten hinauf, einem mit roten Schindeln überdachten Glasbau. Der weiße Kiesweg durch den Hof verband das Wohnhaus mit dem hellen Backsteinbau, in dem die Praxis untergebracht war. Eine prächtige alte Ulme, deren Stamm von einer weißen Holzbank umrahmt wurde, beschattete den Hof mit ihrem Laubdach.

»Ich parke unten auf der Straße und komme dann nach«, sagte Fabia, nachdem sie Ingvar direkt vor dem Eingang der Praxis abgesetzt hatte.

»Du willst wirklich hier mit mir warten?«

»Aber ja, du hast doch einen Termin, da wird es schon nicht so lange dauern. Bis gleich.« Sie stieg in ihr Auto und fuhr die gepflasterte Auffahrt wieder zur Straße hinunter, während Ingvar die Praxis betrat.

»Guten Morgen«, sagte er, als die ältere Sprechstundenhilfe, die in der Eingangsdiele hinter dem weißen Tresen stand, ihren Kopf hob und ihn anschaute.

»Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?«, fragte die rundliche Frau und sah ihn mit ihren freundlichen hellen Augen an.

»Mein Name ist Ingvar Wering, ich habe einen Termin bei Doktor Seefeld.«

»Termin? Seit wann gibt es denn bei euch Termine?«, fragte die stattliche Frau im hellblauen Dirndl, die im Wartezimmer auf dem Stuhl direkt neben der geöffneten Tür saß.

»Denkst du nicht, dass Sebastian weiß, was er tut? Dass es einen Grund dafür gibt, dass er den jungen Mann extra bestellt? Wenn du dich ungerecht behandelt fühlst, Kornhuberin, dann suchst du dir halt einen anderen Arzt«, schlug Gerti Fechner, die langjährige Sprechstundenhilfe, Therese Kornhuber, der ersten Vorsitzenden des Landfrauenvereins, vor.

»Es war nur eine Frage, meine Gute«, murmelte Therese und schaute demonstrativ zur anderen Seite aus dem Fenster.

»Tut mir leid, ich wollte keinen Ärger provozieren«, sagte Ingvar, als er Gerti seine Versicherungskarte über den Tresen reichte und die anderen Patienten im Wartezimmer tuscheln hörte.

»Geh, Ärger, sie hat ein bisschen geblubbert, das ist nicht wirklich ernst gemeint«, erklärte ihm Gerti mit einem freundlichen Lächeln. »Herr Wering, kommen Sie gleich zu mir«, sagte Sebastian, der die Tür seines Sprechzimmers öffnete und sich von einer beeindruckend schönen jungen Frau mit langen blonden Locken verabschiedete.

»Wering? Sie sind der Mann, der im Wald war, als wir bestohlen wurden?« Die Frau blieb vor Ingvar stehen und musterte ihn mit ihren großen blauen Augen.

»Was wurde Ihnen den gestohlen?«, fragte er verwundert.

»Bitte, nicht ganz so naiv. Egal, es ist nicht meine Aufgabe herauszufinden, was Sie wissen.«

»Miri, bitte, lass das«, bat Sebastian die Erbin des Bergmoosbacher Sägewerks.

»Schon gut, ich halte mich zurück«, sagte Miriam und lief weiter den Gang entlang, während Ingvar ins Sprechzimmer ging.

»Schau an, die Miriam, hattest du auch einen Termin?«, meldete sich Therese wieder aus dem Wartezimmer, als sie Miriam sah.

»Sebastian und ich stehen uns eben sehr nah, meine herzallerliebste Therese.«

»Pass auf, dass du nicht ins Stolpern gerätst, wenn du ihm so nahe stehst.«

»Dann wird er mich auffangen«, entgegnete Miriam lächelnd.

»Glaub halt dran.«

»Lass sie, sie ist heut ein bissel schlecht gelaunt«, raunte Gerti Miriam zu, während sie ihr ein Rezept reichte. »Die Salbe dreimal am Tag auftragen und den Verband wieder anlegen.«

»Ja, mache ich, danke. Sehnenscheidenentzündung, damit du nicht rätseln muss«, klärte Miriam Therese auf, die auf den Verband an ihrem Handgelenk starrte. »Schönen Tag noch«, sagte sie und schwebte auf den hohen Pumps, die sie zu ihrem weißen Kostüm trug, aus der Praxis.

»Jetzt geh einmal her zu mir, Therese«, sagte Gerti, als die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins wieder missmutig zu Boden starrte.

»Ja, bittschön, was willst du?«, fragte Therese, als sie aufstand und zum Tresen ging.

»Du bist doch sonst nicht so biestig. Was ist los mit dir?«, fragte Gerti leise.

»Ich hab Magenschmerzen, das macht halt schlechte Laune.«

»Sobald der junge Mann aus dem Sprechzimmer kommt, bist du dran, in Ordnung?«

»Dankschön, Gerti«, sagte Therese und ging wieder ins Wartezimmer.

*

Ingvar saß auf der Untersuchungsliege im Sprechzimmer, während Sebastian seinen Knöchel abtastete.

Er musste erst einmal sacken lassen, was der Arzt ihm gerade erzählt hatte.

»Mir war wirklich nicht bewusst, dass es sich um einen Holzdiebstahl gehandelt hat«, sagte er.

»Ich habe auch gerade zum ersten Mal von diesen Holzdiebstählen gehört, die sich in den letzten Wochen in den Wäldern der Gegend häufen. Der Bergmoosbacher Forst gehört ja zum größten Teil der Familie Holzer, und da es nun auch sie getroffen hat, sind sie verständlicherweise in Sorge, dass das nur der Anfang war. Sie sind offensichtlich der erste Zeuge, der die Diebe gesehen hat.«

»Umso bedauerlicher, dass ich nicht helfen kann.«

»Das lässt sich nicht ändern. Bewegen Sie Ihren Fuß bitte vorsichtig in jede Richtung und sagen Sie mir, wann es wehtut«, bat Sebastian. Da Ingvar kaum noch Schmerzen im Knöchel verspürte, ließ Sebastian ihn behutsam auf den Boden auftreten.

»Es ist nur noch ein bisschen unangenehm, nicht mehr wirklich schmerzhaft«, sagte Ingvar.

»Dann können Sie es mit einer Krücke versuchen. Sollten die Schmerzen aber wieder schlimmer werden, dann verringern Sie die Belastung«, riet ihm Sebastian.

»Das mache ich.«

»Gut, dann legen Sie sich noch einmal hin. Ich möchte nachsehen, was die Rippenprellung macht«, sagte Sebastian.

»Da bin ich noch ein bisschen schmerzempfindlich«, stellte Ingvar fest, als Sebastian ihn behutsam untersuchte.

»Das wird auch noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit Ihrer Atmung klappt es schon wieder recht gut«, sagte Sebastian, nachdem er ihn mit dem Stethoskop abgehört hatte.

»Wenn ich mich nicht allzu viel bewege und ablenke, denke ich gar nicht mehr darüber nach, die Schmerzen sind dann auch erträglich.«

»Frau Regner trägt sicher auch einiges dazu bei, dass Sie sich besser fühlen«, sagte Sebastian lächelnd.

»Ja, das tut sie. Erst dachte ich, sie fühlt sich irgendwie verpflichtet, sich um mich zu kümmern, weil sie mich gerettet hat. Aber das denke ich jetzt nicht mehr.«

»Nein, das denke ich auch nicht, dass das der Grund ist«, stimmte Sebastian ihm zu. »Im Moment kann ich nichts weiter für Sie tun. In vierzehn Tagen sehe ich mir die Prellung noch einmal an. Mit Ihrem Knöchel dürften Sie dann keine Probleme mehr haben.«

»Danke, Doktor Seefeld«, sagte Ingvar und zog sein Hemd wieder an, das er zur Untersuchung ausgezogen hatte.

»Hallo, das geht nicht, bleiben Sie sofort stehen!«, hörte Sebastian Gerti plötzlich draußen im Gang rufen.

Im nächsten Moment flog die Tür auf.

»Was soll das werden?«, fragte er und sah die beiden Männer in den grauen Anzügen, die in der geöffneten Tür stehen blieben, verblüfft an.

»Wir suchen Ingvar Wering. Ist er bei Ihnen?«

»Kommissar Brenner, Herr Schnipper, was ist denn los?«, fragte Ingvar, als er von der Liege aufstand und sah, wer da in der Tür des Sprechzimmers stand. »Das sind die Polizisten, die nach dem Unfall bei mir waren«, klärte Ingvar Sebastian über die beiden ungebetenen Besucher auf.

»Ihre Nachbarin sagte uns, dass wir Sie hier finden. Wir müssen mit Ihnen reden«, erklärte Kommissar Brenner.

»Deshalb fallen Sie hier einfach so ein?«, äußerte Sebastian seinen Unmut über das Verhalten der beiden.

»Wir mussten sicherstellen, dass der Verdächtige nicht entkommt.«

»Was soll ich denn getan haben?«, fragte Ingvar erschrocken.

»Wo können wir reden?«

»Gehen Sie auf die Terrasse drüben am Haus, dort sind Sie ungestört«, sagte Sebastian, der die Polizisten so schnell wie möglich aus der Praxis haben wollte, damit die Gerüchteküche im Wartezimmer nicht überkochte.

»Danke, entschuldigen Sie die Störung, Doktor Seefeld«, sagte Herr Schnipper, während der Kommissar Ingvar am Arm packte und aus dem Zimmer zerren wollte.

»Lassen Sie das, Herr Wering hat eine Knöchelverletzung, er braucht seine Krücke«, mischte sich Sebastian gleich ein.

»Dann nehmen Sie Ihre Krücke«, forderte Kommissar Brenner Ingvar missmutig auf.

»Warte, ich helfe dir«, sagte Fabia, die im Gang auf Ingvar gewartet hatte und nun ins Sprechzimmer kam.

»Und wer sind Sie?«, wollte Kommissar Brenner wissen.

»Fabia Regner.«

»Die Dame, die mit Herrn Wering im Wald war?«

»Wenn Sie es so nennen wollen.«

»Gut, dann kommen Sie gleich mit. Wir haben auch an Sie einige Fragen«, sagte Kommissar Brenner.

»Über den Hof, dann zur Wiese vor dem Haus«, wandte sich Sebastian an Herrn Schnipper.

»Finden wir«, sagte Herr Schnipper und folgte dem Kommissar.

»Traudel, du bekommst gleich Besuch«, kündigte Sebastian per Haustelefon der guten Seele der Seefelds an, die sich um die Familie und den Haushalt kümmerte. »Zwei Zivilbeamte der Polizei, die den jungen Mann verhören wollen, der den Unfall im Wald hatte.«

»Ist recht«, sagte Traudel und legte wieder auf.

Gleich darauf schallte lautes Hundegebell über den Hof. Sebastian öffnete das Fenster und musste in sich hineinlächeln, als Nolan sich vor der Hecke aufbaute, die den Hof von der Wiese vor dem Haus trennte. Der Berner Sennenhund, der gerade noch gemütlich in der Sonne gelegen hatte, hatte die Polizisten als Fremde erkannt, denen er den Zugang zu seinem Grundstück verweigerte.

»Nolan, alles gut«, sagte Traudel, die aus dem Haus kam und dem Hund beruhigend über den Kopf streichelte.

»Sollte er nicht angeleint sein? Immerhin haben Sie hier regen Publikumsverkehr«, äußerte Kommissar Brenner seinen Missmut über den Hund.

»Er tut dem Publikum nichts, er lässt nur keine Fremden auf unser Grundstück, was auch die Aufgabe eines Familienhundes ist«, entgegnete Traudel selbstbewusst.

»Und wer sind Sie?«

»Traudel Bruckner, ich wohne hier. Und wer sind Sie?«

»Kommissar Brenner von der Soko-Holzdiebstahl aus Garmisch«, stellte sich der Kommissar vor und sah die rundliche Frau in dem moosgrünen Dirndl aufmerksam an.

»Soko-Holzdiebstahl, das ist interessant«, stellte Therese Kornhuber fest, die unbemerkt von Sebastian ins Sprechzimmer gekommen war und sich neben ihm aus dem Fenster lehnte.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Kornhuber?«, fragte Sebastian und drängte sie sanft zur Seite, damit er das Fenster schließen konnte.

*

Die Terrasse vor der Küche war mit dunkelgrauen Natursteinen gepflastert und von bunt blühenden Blumenbeeten und duftendem Sommerflieder umgeben. Die beiden Beamten saßen mit Ingvar und Fabia an dem runden Tisch. Herr Schnipper hatte seinen Laptop aufgeklappt, um sich Notizen zu machen.

»Warum bin ich verdächtig?«, fragte Ingvar, als Kommissar Brenner ihn eine Weile schweigend musterte.

»Wir gehen davon aus, dass Sie mit den Holzdieben zusammen arbeiten, die seit Wochen ihr Unwesen im Allgäu treiben«, sagte der Kommissar.

»Wie bitte kommen Sie darauf?« Ingvar konnte nicht fassen, was der Mann ihm da unterstellte.

»Wir haben uns Ihre Internetseite angesehen und konnten feststellen, dass Sie sich stets kurz vor einem der erfolgreichen Diebstähle in dem entsprechenden Gebiet aufgehalten haben.«

»Zufall.«

»Wir hatten bisher insgesamt 23 Diebstähle, und Sie waren stets zwei Tage zuvor an jedem dieser Orte. Das ist kein Zufall, Herr Wering.«

»Ich habe aber nichts mit diesen Diebstählen zu tun«, verteidigte sich Ingvar.

»Für frisch geschlagenes Holz werden zur Zeit ordentliche Preise bezahlt. Und Sie können Geld gerade dringend gebrauchen. Habe ich recht?«

»Wie kommen Sie darauf?« Ingvar spürte, wie seine Hände feucht wurden. Irgendetwas Furchtbares braute sich gerade um ihn herum zusammen.

»Wir haben Ihre Konten überprüft. Dazu sind wir bei einem begründeten Verdacht berechtigt. Ihre beiden Girokonten sind überzogen und Sie haben Ihre Sparverträge ­gekündigt. Sie stehen finanziell schwer unter Druck, junger Mann«, behauptete Kommissar Brenner und beobachtete Ingvar.

»Die Konten sind bald wieder ausgeglichen. Ich habe einen langfristigen Forschungsauftrag angenommen.«

»Das behaupten Sie. Es ist doch offensichtlich, dass Sie große Ausgaben haben. Haben Sie Ihr Geld verspielt? Leisten Sie sich Luxusreisen oder dicke Autos? Sie haben den größten Teil des Geldes bar abgehoben, was bedeutet, dass Sie darauf bedacht waren, dass niemand den Geldfluss verfolgen kann.«

»Das ist eine Unterstellung. Sie wissen gar nichts.«

»Dann klären Sie mich auf.«

»Nein, das werde ich nicht tun.«

»Verstehe. Verdächtiger verweigert die Auskunft, haben Sie das, Schnipper?«

»Ja, Chef«, sagte Herr Schnipper und schob seine Brille wieder hoch, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war.

»Werden Sie mich jetzt verhaften?«, fragte Ingvar und sah Kommissar Brenner an.

»Noch nicht, aber bei dieser Beweiskette wird es nicht mehr lange dauern, bis wir Sie der Mittäterschaft überführen.«

»Und Sie haben den Verdächtigen nach dem sogenannten Unfall gefunden?«, wandte sich der Kommissar an Fabia.

»Was heißt sogenannter Unfall? Er wurde von einem Baumstamm getroffen, und der Unfallverursacher hat ihn einfach zurückgelassen. Er hätte dort draußen sein Leben verlieren können.« Fabia hatte das Gefühl, Ingvar verteidigen zu müssen.

»Halten Sie sich bitte an die Fakten, Frau Regner. Haben Sie den Unfall gesehen? Haben Sie den Mann gesehen, der den Verdächtigen zurückgelassen hat?«, hakte Kommissar Brenner nach.

»Nein, das habe ich nicht. Ich habe Herrn Werings Hilferufe gehört. Der Baumstamm lag auf ihm, er konnte sich nicht selbst befreien und mir ist es auch nicht gelungen. Ich habe dann Doktor Seefeld angerufen.«

»Warum nicht die Feuerwehr, um den Mann zu befreien?«

»Weil Herr Wering plötzlich keine Luft bekam und dringend medizinische Hilfe brauchte.«

»Wenn Sie davon ausgehen, dass ich mit diesen Dieben zusammenarbeite, warum hätten sie mich dann dort zurücklassen sollen?«, wollte Ingvar von Kommissar Brenner wissen.

»Vielleicht waren Sie zu anspruchsvoll in Bezug auf Ihre Beteiligung, und sie wollten Ihnen eine Lehre erteilen. Solche Dinge passieren ständig.«

»Ich sagen Ihnen noch einmal, ich habe mit diesen Diebstählen nichts zu tun.«

»Nun gut, dann lassen wir das alles erst einmal so stehen. Wir melden uns wieder. Seien Sie versichert, wir werden herausfinden, wie tief Sie in diesem Sumpf stecken«, wandte der Kommissar sich an Ingvar.

»Auf Wiedersehen, entschuldigen Sie die Störung«, sagte Herr Schnipper, klappte seinen Laptop zu und folgte dem Kommissar.

»Schnipper, Sie machen mich noch wahnsinnig. Wieso entschuldigen Sie sich bei den Leuten? Das war keine Störung, das war ein notwendiges Verhör«, herrschte Kommissar Brenner seinen Assistenten an, als sie in ihr Auto stiegen, das sie im Hof geparkt hatten.

»Ja, schon, aber trotzdem kann man sich doch höflich verabschieden.«

»Sie verwechseln Höflichkeit mit Freundlichkeit. Wir sind nicht freundlich, wir sind bestimmt.«

»Ja, Chef«, sagte Herr Schnipper und schloss die Beifahrertür.

»Die sind von der Kripo in Garmisch, von der Soko-Holzdiebstahl. Die haben den jungen Mann gesucht, der den Unfall im Bergmoosbacher Forst hatte«, erzählte Therese Kornhuber, die mit Gunhild Blissing, der Kassenwartin des Landfrauenvereins, auf der Bank unter der Ulme saß.

»Geh, dann denken sie wohl, er hat was damit zu tun?«, fragte Gunhild.

»So wie sie ihn angegangen sind, ist das wohl so«, mutmaßte Therese.

»Ob die im Dorf schon wissen, dass sie einen Verdächtigen haben, der mit dem Holzdiebstahl in unserem Forst was zu tun hat?«

»Finden wir es heraus. Ich muss eh in die Apotheke, ein Medikament gegen meine Gastritis holen.«

»Ich muss auch in die Apotheke, eine Salbe für meinen Herzallerliebsten holen. Er leidet mal wieder an Rückenschmerzen«, sagte Gunhild.

»Also dann, hören wir uns um. Vielleicht weiß noch jemand was, was dazu beiträgt, den Mann schneller zu überführen.«

»Gehen wir.« Gunhild hakte sich bei Therese unter und dann marschierten sie mit wehenden Dirndlröcken zur Straße hinunter.

*

»Ich habe einen Tee gemacht, der wird uns alle ein bissel beruhigen«, sagte Traudel, die zusammen mit Nolan in der Küche gewartet hatte, bis die Beamten aus Garmisch wieder gegangen waren. Sie stellte eine Kanne Tee, drei Tassen und einen Teller mit Keksen auf den Tisch.

»Wuff«, machte Nolan, hockte sich neben Ingvars Stuhl und sah ihn mit seinen dunklen Knopfaugen an.

»Er spürt, wenn jemand Trost braucht«, sagte Traudel.

»Danke für dein Mitgefühl.« Ingvar streichelte über den wuscheligen Kopf des Hundes, was ihn tatsächlich gleich ein wenig beruhigte.

»Schon merkwürdig, dass die Holzdiebe immer dort aufgetaucht sind, wo du gerade warst«, sagte Fabia nachdenklich und trank einen Schluck von dem nach Lavendel duftenden Tee.

»Denkst du auch, ich hätte etwas damit zu tun?«, fragte Ingvar und hielt Fabias Blick fest.

»Nein, natürlich nicht. Aber ich muss dem Kommissar recht geben, ein Zufall ist das nicht. Deshalb muss es eine Verbindung geben.«

»Warum haben Sie ihm nicht gesagt, was Sie mit Ihrem Geld gemacht haben?«, fragte Traudel.

»Weil es ihn nichts angeht. Meine Eltern haben bei einem Anlagegeschäft den falschen Leuten vertraut. Ich habe ihnen das Geld gegeben, damit sie ihr Haus nicht verlieren. Sie wollten es erst nicht, deshalb habe ich es abgehoben und ihnen einfach in die Hand gedrückt.«

»Wenn der Kommissar dich nicht in Ruhe lässt, solltest du ihm davon erzählen, und deine Eltern sollten es bestätigen.«

»Ich hoffe, soweit kommt es nicht. Meine Eltern haben sich gerade wieder ein bisschen gefangen. Ich will nicht, dass sie sich jetzt um mich Sorgen machen müssen. Es ist doch verrückt. Ich werde im Wald fast erschlagen, und statt denjenigen zu suchen, der dafür verantwortlich ist, stehe ich unter Verdacht?« Ingvar schüttelte fassungslos den Kopf und schloss für einen Moment die Augen.

»Es wird sich alles aufklären, Ingvar. Sie haben keinen Beweis dafür, dass du mit den Dieben gemeinsame Sache machst«, machte Fabia ihm Mut.

»Ich wäre nicht der erste, der unschuldig ins Gefängnis wandert.«

»So weit sind wir noch lange nicht.«

»Im Moment scheine ich aber der einzige Verdächtige zu sein, und deshalb wird Kommissar Brenner mich erst einmal nicht loslassen.«

»Doch, das wird er, weil du nichts getan hast. Wir fahren jetzt zu dir und überlegen uns, wie wir diesen Kommissar von deiner Unschuld überzeugen«, sagte Fabia.

»Einverstanden, ich würde mich auch gern einen Moment hinlegen. Ich glaube, ich habe eben ziemlich verkrampft dagesessen. Ich wurde bisher noch nie eines Verbrechens beschuldigt. Das Ganze macht mir schon ein bisschen Angst.« Ingvar versuchte, seinen Rücken zu entspannen, damit der unangenehme Druck auf seinen Rippen nachließ. »Vielen Dank für den Tee, Frau Bruckner«, verabschiedete er sich kurz darauf von Traudel.

»Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Wir werden uns alle ein bisschen umhören. Vielleicht weiß ja doch jemand etwas, was den Herrn Kommissar auf die richtige Spur führt«, sagte Traudel.

»Das wäre schön, aber im Moment fühle ich mich in die Ecke gedrängt«, entgegnete Ingvar.

»Glauben Sie mir, irgendjemand erfährt immer etwas. Hier im Tal kennen sich die Leute. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass diese Diebe auf Dauer davonkommen«, versicherte ihm Traudel.

»Wuff«, machte Nolan und reckte seinen Kopf in die Höhe.

»Also gut, wenn auch er davon ausgeht, dass die Wahrheit herauskommt, dann will ich das auch tun«, sagte Ingvar.

Während Traudel ihn in den Hof begleitete und ihm noch ein wenig Trost zusprach, holte Fabia ihr Auto, damit Ingvar nicht auf seiner Krücke den abschüssigen Weg zur Straße hinunterlaufen musste.

»Alles wird gut«, sagte Traudel und winkte den beiden noch eine Weile nach.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte Sebastian, der auf dem Weg zu einem Hausbesuch aus der Praxis kam.

»Erschreckend, wie schnell jemand unter Verdacht geraten kann. Ein paar Dinge, die ein Außenstehender sich nicht erklären kann, und schon scheint alles zu passen«, seufzte sie.

»Ein guter Ermittler sollte herausfinden, ob etwas nur so scheint oder der Wahrheit entspricht. Hoffen wir, dass Kommissar Brenner ein guter Ermittler ist«, entgegnete Sebastian.

»Wie lange wirst du weg sein?«

»Ich weiß nicht, ich habe mehrere Hausbesuche. In der Praxis ist aber heute ohnehin nicht so viel los. Vater wird das bis zum Mittagessen locker schaffen.«

»Pass auf dich auf, Sebastian«, sagte Traudel.

»Das mache ich doch immer«, versicherte ihr Sebastian und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er in seinen Wagen stieg.

*

»Was ist denn hier los?« Ingvar konnte nicht fassen, was er sah, als sie in die Straße einbogen, in der er wohnte.

Vor seiner Haustür stand ein Übertragungswagen des regionalen Fernsehsenders, und einige Reporter mit Mikrophonen in der Hand drängten sich vor der Haustür. Frau Bader und ihr Mann standen am Fenster und gaben den Reportern offensichtlich bereitwillig Auskunft.

»Ich denke, sie sind wegen dir hier. Wir sollten umkehren«, schlug Fabia vor, als sich die Reporter in ihre Richtung umdrehten.

»Ja, bitte, bloß weg hier«, bat Ingvar und duckte sich, als Fabia anhielt, wendete und wieder nach Bergmoosbach zurückfuhr.

»Er sitzt in dem Auto, meinen Sie?«, fragte eine aufgeregte Reporterin und hielt Frau Bader ihr Mikrophon vor das Kinn.

»In dem Auto hat ihn heute Morgen eine hübsche junge Frau abgeholt. Sie kümmert sich wohl nach seinem Unfall um ihn. Herr Wering ist ein ganz ein netter Mann, wissen Sie. Deshalb wollen Sie wohl auch alle wissen, was ihm zugestoßen ist.«

»Ja, genau, deshalb sind wir hier«, versicherte ihr die Reporterin. »Wie heißt denn die junge Frau und wo wohnt sie?«, fragte sie gleich nach.

»Das tut mir sehr leid, das weiß ich nicht«, bedauerte Frau Bader.

»Ich denke, das reicht, meine Liebe. Die wollen uns nur aushorchen.« Herr Bader, ein kleiner Mann mit Kugelbauch, der in einer Cordhose mit Hosenträgern steckte, zog seine Frau vom Fenster weg und schloss es.

»Hat jemand das Nummernschild von dem Wagen gerade eben erkannt?!«, rief die Reporterin, die mit Frau Bader gesprochen hatte, in die Menge. Sie erntete nur Achselzucken. Wie es aussah, hatte niemand auf das Kennzeichen geachtet.

*

»Was ist passiert? Sie sehen beide so aus, als hätten Sie gerade etwas Unangenehmes erlebt«, stellte Sabine Mittner fest, die mit Bastian auf dem Arm im Hof stand, als Fabia und Ingvar aus dem Auto stiegen.

»Wir hatten einen aufregenden Vormittag«, sagte Fabia.

»Wollen Sie darüber reden?«

»Ja, unbedingt, weil sich die Sache vermutlich ausweitet und Sie die Wahrheit kennen sollten, bevor die Gerüchte die Runde machen. Oder bist du anderer Meinung?«, wandte sich Fabia an Ingvar.

»Nein, ich bin auch dafür, dass Frau Mittner wissen sollte, was sich um mich herum zusammenbraut.

»Setzen wir uns«, sagte Sabine.

Sie gingen zu dem Tisch auf der Wiese. Sabine setzte Bastian in den Sandkasten, gab ihm ein Fläschchen mit Bananensaft und holte für sich und ihre Gäste drei Gläser Orangensaft aus der Küche.

»Zwei Polizeibeamte aus Garmisch sind vorhin in der Praxis Seefeld aufgetaucht und haben Ingvar beschuldigt, mit den Holzdieben, die seit einigen Wochen in der Gegend die Waldbesitzer bestehlen, gemeinsame Sache zu machen«, sagte Fabia.

»Und in ihren Augen gibt es schwerwiegende Hinweise, die das bestätigen«, gestand ihr Ingvar und erzählte ihr von der Überprüfung seiner Konten und seiner Internetseite.

»Und jetzt stehen bereits die Reporter vor seiner Tür«, fügte Fabia schließlich noch hinzu.

»Dann sollten Sie erst einmal hier bleiben. Wenn Sie etwas richtigstellen möchten, Herr Wering, dann spreche ich mit dem Bergmoosbacher Tagblatt, dass sie jemanden herschicken. Unsere Zeitung lässt sich zwar auch ungern eine aufregende Neuigkeit entgehen, aber sie beteiligen sich eigentlich nicht an wilden Spekulationen«, versicherte sie Ingvar.

»Vielleicht komme ich darauf zurück. Ich will aber erst einmal abwarten, ob die Zeitungen überhaupt etwas schreiben. Mit ein wenig Glück verlieren sie das Interesse, weil etwas anderes passiert, was ihre Aufmerksamkeit erfordert.« Er wollte nicht mit einer eigenen Darstellung noch mehr Interesse für diesen Fall wecken.

»Sollten Sie es sich anders überlegen, sagen Sie mir Bescheid.«

»Danke, Frau Mittner. Ich hoffe, Sie glauben mir, dass ich nichts mit diesen Leuten zu tun habe.«

»Ich verlasse mich in solchen Dingen am liebsten auf mein Gefühl, und das sagt mir, dass Sie zu Unrecht verdächtigt werden.«

»Davon bin ich auch überzeugt. Ich würde es aber trotzdem für das Beste halten, wenn Ingvar sich erst einmal im Hintergrund hält, bis sich die Lage beruhigt hat«, sagte Fabia.

»Ich kann Ihnen unser zweites Appartement zur Verfügung stellen. Es ist erst in der kommenden Woche wieder vermietet«, wandte sich Sabine an Ingvar.

»Ich danke Ihnen, aber vielleicht beruhigt sich die Lage bis heute Abend, und ich kann nach Hause.«

»Dann machen wir es doch so. Sobald es dunkel ist, fahren wir zu dir und sehen nach, was dort los ist. Sollte das Haus noch belagert werden, kommst du mit zu mir und übernachtest auf dem Schlafsofa. Morgen sehen wir dann weiter. Das wäre doch für Sie in Ordnung, Frau Mittner?«, wollte Fabia von Sabine wissen.

»Aber ja, natürlich. Machen Sie es so.«

»Saft haben!«, rief Bastian und schwenkte mit der einen Hand sein Fläschchen, während er mit der anderen an seinem blauen Hütchen zerrte, das unter dem Kinn zugebunden war und ihn offensichtlich störte.

»Entschuldigen Sie mich kurz, ich muss erst einmal etwas Wichtiges erledigen«, sagte Sabine lächelnd, als sie Bastian aus dem Sandkasten hob und an seiner Windel roch.

»Schon in Ordnung, wir gehen zu mir. Ingvar sollte sich ein bisschen hinlegen«, erklärte Fabia, als sie sah, dass Ingvar nicht so richtig wusste, wie er sich hinsetzen sollte, um seine Rippen zu entlasten.

»Alles klar, wenn Sie etwas brauchen, melden Sie sich«, entgegnete Sabine und ging mit Bastian ins Haus.

»Ich habe auch ein paar PC-Spiele dabei. Wir können meinen Computer an den Flachbildschirm in meinem Appartement anschließen. Das Bild ist zwar nicht so groß wie bei dir, aber Spaß könnten wir auch haben«, sagte Fabia.

»Ich bin dabei«, antwortete Ingvar lächelnd.

*

Sie blieben den ganzen Tag in Fabias Appartement, um nicht Gefahr zu laufen, dass doch noch jemand herausfand, wo Ingvar sich aufhielt. Der Postbote, Spaziergänger, Leute aus dem Dorf, die auf einen kurzen Plausch vorbeikamen, Freunde von Markus. Tagsüber war auf dem Mittnerhof immer etwas los.

Zum Mittagessen machten sie sich belegte Sandwiches, und am Nachmittag brachte Sabine ihnen zwei Stück Marmorkuchen und erzählte ihnen von den Gerüchten, die sie von Gunhild Blissing gehört hatte, die auf einen kurzen Besuch auf dem Hof war.

»Offensichtlich hält man Sie inzwischen für den Kopf der Bande«, sagte Sabine. »Einige Zeitungen haben bereits in ihren Online-Ausgaben dieses Märchen verbreitet.«

»Stimmt«, stellte Fabia gleich darauf fest, als sie Ingvars Name in eine Suchmaschine eingab und gleich mehrere Artikel mit der Überschrift ›Der Naturforscher und seine Diebesbande‹, auftauchten.

»Du solltest dir das mit dem Bergmoosbacher Tagblatt doch überlegen«, schlug Fabia vor.

»Ich werde das morgen entscheiden. Vielleicht bin ich morgen schon das Oberhaupt der Holzmafia oder so etwas in der Richtung. Dem kann ich dann auch gleich widersprechen. Obwohl das wahrscheinlich niemand hören will. Der Naturforscher als Holzdieb ist einfach viel zu spannend.«

»Aber es ist nicht wahr.«

»Wen interessiert das schon«, seufzte Ingvar und lehnte sich in dem Sofa zurück.

»Uns«, antworteten Sabine und Fabia gleichzeitig.

»Wir sind auch interessiert!«, riefen Senta und Benjamin, die auf dem Hof Fangen spielten und das Gespräch durch die offen stehende Tür mitangehört hatten.

»Na also, du stehst ganz und gar nicht allein da«, versicherte ihm Fabia, die neben ihm saß, und streichelte ihm tröstend über den Rücken.

»Warten wir ab, wie es ausgeht.«

»Es wird gut ausgehen«, sagte Fabia, was Sabine bestätigte, bevor sie die beiden wieder allein ließ.

Als es dunkel war, fuhren Fabia und Ingvar nach Mainingberg. Auf den ersten Blick sah alles ruhig aus. Erst als sie vor Ingvars Haus anhielten und Ingvar aus dem Auto stieg, flogen plötzlich die Türen mehrerer geparkter Autos auf und Reporter mit gezückten Mikrophonen stiegen aus.

»Das wird nichts«, sagte Ingvar und stieg schnell wieder zu Fabia ins Auto. »Fahren wir, bevor sie noch auf die Idee kommen, uns zu folgen.«

»Sie haben sich wirklich an dir festgebissen«, stellte Fabia fest, während sie das Auto wendete und in die nächste Seitenstraße einbog, um den Reportern, die auch in ihre Autos sprangen, zu entkommen.

»Naturforschung ist positiv besetzt, Holzdiebstahl negativ, beides in einer Person zu vereinigen, bedeutet, dass etwas Unerwartetes passiert ist. Jetzt wollen alle wissen, warum ich etwas getan habe, was niemand von mir erwartet hat.«

»Zu dumm für sie, dass dieses Konstrukt wie eine Seifenblase zerplatzen wird.«

»Hoffentlich, und bitte recht bald. Bieg dort in den Feldweg ein«, bat Ingvar, als Fabia in die nächste Seitenstraße abbiegen wollte, um auf Umwegen nach Bergmoosbach zurück zu fahren.

»Kennst du dich dort aus?«

»Der Weg führt direkt zum Mittnerhof. Als ich hierher gezogen bin, habe ich neben meinen Wanderungen auch einige Fahrradtouren unternommen.«

»Das war eine gute Entscheidung«, sagte Fabia, als ihr klar wurde, dass der hochstehende Weizen auf den Feldern ihnen genügend Schutz bot, um von ihren Verfolgern nicht gesehen zu werden.

Zehn Minuten später waren sie wieder auf dem Mittnerhof.

Da die Kinder um diese Zeit schon schliefen, schlossen sie leise die Autotüren und gingen in Fabias Appartement.

Sie machten sich überbackene Toasts zum Abendessen und sahen sich einen Film an. Danach bezog Fabia Ingvars Bett mit der Bettwäsche, die Sabine am Nachmittag schon gebracht hatte.

»Im Bad liegen eingepackte neue Zahnbürsten. Nimm dir eine. Morgen Abend können wir einen weiteren Versuch starten, ob du dir wenigstens ein paar Sachen aus deiner Wohnung holen kannst.«

»Danke für alles, Fabia.«

»Alles gut, ich husche noch mal kurz ins Bad und gehe dann schlafen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«

»Ich wünsche dir auch eine gute Nacht.« Hoffentlich sieht der Tag morgen besser aus als der heute, dachte er und wunderte sich erneut, wie schnell jemand durch falsche Annahmen unter Verdacht geraten konnte.

*

Ingvar wurde am nächsten Morgen vom Läuten seines Telefons geweckt. Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, wo er war. Noch verschlafen angelte er nach dem Handy, das auf dem Sofatisch lag. Auf dem Display leuchtete die Nummer des Umweltunternehmens auf, das seine aktuelle Forschung finanzierte.

»Wering«, meldete er sich.

»Hallo, Herr Wering, Schindel hier«, hörte er den Mann sagen, der für seine Arbeit zuständig war.

»Was kann ich für Sie tun, Herr Schindel?«

»Nun, es ist so. Wissen Sie, also wir haben da etwas gehört«, druckste Herr Schindel herum, weil er ganz offensichtlich keine guten Nachrichten zu verkünden hatte. »Wir glauben natürlich nicht, dass Sie etwas mit diesen Holzdiebstählen zu tun haben.«

»Was ich auch nicht habe.«

»Ja, natürlich nicht. Und doch hat die Sache so ein gewisses Geschmäckle, wissen Sie. Wie die Zeitungen schreiben, waren Sie ja tatsächlich an jedem Tatort, das steht nun erst einmal im Raum.«

»Sie denken also doch, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe.«

»Nein, nicht doch, ganz und gar nicht. Dummerweise hat die Presse aber herausgefunden, dass Sie von uns bezahlt werden. Wir können es uns nicht leisten, in Verbindung mit so einer Sache gebracht zu werden. Wir leben von Spenden, und die würden natürlich sofort versiegen, sollte nur der Hauch des Verdachtes an uns hängenbleiben, dass wir uns mit den falschen Leuten abgeben.«

»Sie wollen die Zusammenarbeit mit mir beenden?«

»So leid es mir persönlich tut, aber wir haben keine Wahl.«

»Dann ist es eben so«, sagte Ingvar und beendete das Gespräch. Ihm war klar, dass jedes weitere Wort vergeblich gewesen wäre. Er würde Herrn Schindel nicht umstimmen. Solange die Polizei ihn verdächtigte, war er für das Unternehmen nicht mehr tragbar.

Ein paar Minuten später schob Fabia vorsichtig die Tür auf, um nachzusehen, ob er schon wach war und sie das Frühstück machen ­konnte.

»Was ist los?«, fragte sie erschrocken, als er mit der Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen auf dem Sofa saß und ins Leere starrte.

»Mir wurde gerade gekündigt, weil ich den Namen meiner Auftraggeber beschmutze«, sagte er, ohne sie anzusehen.

»Sind die verrückt? Warum tun sie so etwas?«

»Weil sie nicht anders können.«

»Ingvar, das tut mir so leid«, sagte sie und setzte sich zu ihm.

»Jetzt wird das, was dieser Kommissar angenommen hat, Wirklichkeit. Ich gerate tatsächlich in finanzielle Schwierigkeiten, weil ich erst einmal keine Einnahmen haben werde.«

»Du findest einen neuen Auftrag.«

»Wohl kaum, solange dieser Verdacht nicht ausgeräumt ist. Das war es mit mir. Selbst wenn Sie mich nicht verurteilen, solange sie die wahren Schuldigen nicht finden, wird niemand mehr mit mir arbeiten wollen.«

»Es wird sich aufklären, Ingvar«, sagte sie leise, als sie die Verzweiflung in seinen Augen sah. »Weißt du was, wir ziehen uns an und machen einen Ausflug.«

»Nicht mal dazu tauge ich im Moment«, sagte er und schaute auf die Krücke, die auf dem Boden neben dem Sofa lag.

»Ein Ausflug bedeutet nicht, dass wir wandern gehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ein Problem draußen unter freiem Himmel meistens an Gewicht verliert. So wie ein Goldfisch, der in einem Glas eingesperrt ist, viel Raum einnimmt und relativ groß wirkt, entlässt man ihn aber in einen See, wird er zu einer Winzigkeit im Universum.«

»Mein Problem wird sich aber nicht auflösen. Es sei denn, ich beschließe, wie ein Goldfisch im See zu leben.«

»Im Sommer wäre das durchaus möglich.«

»Im Winter wandere ich in den Süden.«

»Diese Lebensweise könnte dir interessante Sichtweisen auf die Natur eröffnen.«

»Möglich, vielleicht begegnet mir sogar eine Meerjungfrau, die mich für unschuldig hält.«

»Du brauchst keine Meerjungfrau, ich halte dich auch für unschuldig.«

»Du hast also keine Bedenken, dich mit mir zu zeigen?«

»Nein, die habe ich nicht. Und deshalb gehen wir jetzt auch nach draußen. Ich habe neulich ein wirklich hübsches Plätzchen entdeckt.«

»Also gut, machen wir einen Ausflug«, erklärte sich Ingvar einverstanden.

Eine halbe Stunde später stiegen sie mit den Sandwiches, die Fabia belegt hatte, und einer Thermoskanne Kaffee in ihr Auto und verließen den Mittnerhof. Zuerst fuhren sie durch Bergmoosbach, vorbei an dem historischen Marktplatz mit seinem glänzendem Kopfsteinpflaster und den hübsch restaurierten Häusern mit ihren Lüftlmalereien. Danach verließen sie das Dorf, fuhren ein Stück die Landstraße in Richtung München, bis Fabia in einen Weg einbog, der einen Berg hinaufführte. Nach einigen Serpentinen hatten sie den Wald hinter sich gelassen und gelangten an ein Hochplateau mit einem kleinen See.

»Wir sind da«, sagte sie und stellte den Wagen ab.

»Und jetzt? Doch eine Wanderung?«, fragte Ingvar.

»Aber nein, wir setzen uns an den See, lassen unsere Füße ins Wasser hängen und vergessen alles, was uns Sorgen macht.«

»Hast du vor, mich mit Autosuggestion zu beruhigen?«

»Wenn du es zulässt, könnte ich das tun.«

»Mal sehen, ob ich es schaffe, mich darauf einzulassen.« Das Misstrauen seiner Auftraggeber hatte ihn tief verletzt, und er war Fabia dankbar, dass sie sich so viel Mühe gab, ihn aufzumuntern. Er fragte sich, wie lange sie wohl noch zu ihm halten würde, wenn sich die Sache nicht restlos aufklärte.

Es dauerte eine Weile, bis er es auf seine Krücke gestützt ans Ufer des Gebirgssees geschafft hatte. Als er sich dann neben Fabia ans Ufer setzte, genau wie sie seine Schuhe auszog und die nackten Füße in das türkisfarbene Wasser hängte, empfand er es als Erfolgserlebnis, den Weg geschafft zu haben.

»Lass die trüben Gedanken einfach los«, sagte sie. »Du kannst deine Probleme im Moment nicht lösen, du musst dich nicht mit ihnen beschäftigen. Hier oben können sie dir nichts anhaben.«

Sie hatte recht, hier oben waren seine Probleme weit fort. Es war das gleiche Gefühl, das er empfand, wenn er in einem Flugzeug saß und es nach dem Start immer höher stieg. Die Sorgen blieben einfach auf dem Boden zurück. Die Berggipfel, die Hochwiese mit dem See, der strahlend blaue Himmel und die Bäume, die ihnen den Blick ins Tal an dieser Stelle versperrten, das war genau der richtige Ort, um sich eine Weile zu entspannen.

»Wieso tust du das alles für mich?«, fragte er Fabia und wandte sich ihr zu.

»Weil es sich richtig anfühlt.«

»Tust du es aus Mitleid?«

»Du brauchst kein Mitleid.«

»Nein?«

»Nein, du brauchst im Moment nur ein wenig Trost.«

»Dann tröste mich«, sagte er und sah in ihre Augen.

»Jetzt machst du mich verlegen«, entgegnete sie leise.

»Das war nicht meine Absicht.«

»Wie geht es weiter?«, fragte sie, als er seinen Arm um ihre Schultern legte.

»Leider habe ich keine Ahnung, wo ich in ein paar Wochen sein werde, was mit mir passieren wird, aber in diesem Moment möchte ich das, was ich für dich empfinde, einfach zulassen«, sagte er und dann küsste er sie.

»Du hast recht, lass uns den Augenblick leben, Ingvar. Es gibt nur uns und den Himmel über uns«, sagte sie, als sie sich wieder voneinander lösten. Sie schaute auf die Wasseroberfläche, betrachtete ihre Spiegelbilder umrahmt vom Blau des Himmels.

»Ich wünsche mir noch viele Augenblicke wie diese mit dir. Eine Ewigkeit voller Augenblicke.«

»Das wünsche ich mir auch«, antwortete sie und lehnte sich an seine Brust.

In diesem Moment fühlte sie sich unendlich geborgen und vollkommen glücklich.

*

Als sie am späten Nachmittag auf den Mittnerhof zurückkamen, war Miriam da. Sie und Sabine saßen bei einem Glas Orangensaft am Tisch auf der Wiese.

Miriam hatte Bastian auf dem Schoss, der mit den bunten Bausteinen spielte, die vor ihm auf dem Tisch lagen.

»Auf Sie habe ich gewartet«, wandte sich Miriam an Ingvar, als er aus dem Auto stieg. Sie stand auf, setzte Bastian auf Sabines Schoss, strich den Rock ihres brombeerfarbenen kurzärmligen Kleides glatt und ging auf ihn zu. »Wem haben Sie und Ihre Mittäter das Holz verkauft, das sie in unseren Wäldern gestohlen haben?«, wollte sie wissen.

»Miriam, was soll das? Du hast gesagt, du wolltest ihn nur fragen, ob er etwas gesehen hat, was dir einen Hinweis auf die Täter geben könnte«, wunderte sich Sabine über Miriams direkten Angriff auf Ingvar.

»Tut mir leid, Sabine, da habe ich mich möglicherweise missverständlich ausgedrückt. Also, was ist?«, fragte sie Ingvar erneut.

»Ich habe mit diesen Diebstählen nichts zu tun«, antwortete er so ruhig, wie es ihm möglich war.

»Ich habe etwas anderes gehört. Die Polizei hat Sie gestern verhört, noch während Sie in der Praxis Seefeld waren. Das bedeutet, es besteht ein dringender Tatverdacht gegen Sie.«

»Ich kann nur wiederholen, dass ich nichts mit diesen Dieben zu tun habe.«

»Ist Ihnen klar, dass Sie die Konsequenzen dieser Tat ganz allein tragen, falls Sie Ihre Mittäter nicht benennen?«

»Wie es aussieht, werde ich die Konsequenzen tragen, obwohl ich nichts mit diesen Diebstählen zu tun habe.«

»Sie sind echt stur.«

»Soll ich meine Beteiligung an den Diebstählen zugeben, nur damit Sie zufrieden sind?«

»Es würde auch Ihnen helfen. Ein Geständnis wirkt sich meistens strafmildernd aus.«

»Komm, wir gehen rein«, sagte Fabia, als sie das Flackern in Ingvars Augen sah.

»Flucht ist kein geeignetes Mittel«, erklärte Miriam.

»Er muss sich auch nicht von Ihnen für etwas beschuldigen lassen, was er nicht getan hat«, erwiderte Fabia.

»Sind Sie jetzt auch seine Anwältin?«

»Nein, aber ich weiß, dass er nichts mit der Sache zu tun hat.«

»Woher? Weil sie ihn gefunden haben?«

»Unter anderem.«

»Vielleicht gehören Sie aber auch zu dieser Bande. Vielleicht wurden Sie dort abgestellt, um sich nach dem Unfall um ihn zu kümmern.«

»Jetzt ist es aber wirklich gut, Miriam. Weder Frau Regner noch Herr Wering haben etwas mit dem Verschwinden des Holzes zu tun.«

»Du solltest wirklich aufpassen, wen du hier wohnen lässt, Sabine«, entgegnete Miriam mit besorgter Miene.

»Und du solltest dich aus der Polizeiarbeit heraushalten.«

»Es geht um den Besitz meiner Familie.«

»Das Sägewerk Holzer wird überleben, selbst wenn die Holzdiebe aktuell nicht gefunden werden. Ich denke nicht, dass sie jetzt noch weitermachen. Dazu haben sie inzwischen zu viel Aufmerksamkeit erregt.«

»Jetzt bist du also Expertin für die Polizeiarbeit.«

»Nein, bin ich nicht. Ich denke nur logisch.«

»Mii, Mii, komm!«, rief Bastian. Sabine hatte ihn inzwischen wieder in den Sandkasten gesetzt.

»Na, gut, du kleiner Friedensrichter, beenden wir das hier«, sagte Miriam. Sie machte auf dem Absatz kehrt, ließ Ingvar und Fabia stehen und setzte sich auf das Kissen, das auf dem Rand des Sandkastens lag.

»Sand einmache«, bat Bastian und reichte ihr ein herzförmiges Sandkastenförmchen.

»Tut mir echt leid, dass sie so auf Sie losgegangen ist. Sie hat mir versichert, dass sie Sie nur etwas fragen wollte.«

»Das werde ich in nächster Zeit sicher öfter erleben. Ich werde mich daran gewöhnen müssen«, entgegnete Ingvar achselzuckend und folgte Fabia, die bereits in ihr Appartement gegangen war.

»Vergiss, was sie gesagt hat. Sie ist persönlich betroffen, das erklärt ihre überzogene Reaktion«, versuchte Fabia ihn zu beruhigen.

»Ich weiß, aber das macht es nicht angenehmer für mich.«

»Warte kurz, das Gespräch muss ich annehmen«, sagte Fabia, als ihr Telefon läutete und sie die Nummer des Laborleiters, für den sie an der Universität arbeitete, auf dem Display sah. »Hallo, Ludwig«, meldete sie sich freundlich. »Ja, stimmt. Was heißt das?«, fragte sie, während sie im Zimmer auf- und ablief. »Nein, das ist Unsinn. Das wirst du doch nicht wirklich glauben«, entrüstete sie sich.

Ingvar wusste zwar nicht, über was die beiden sprachen, aber Fabias Mimik verriet ihm, dass es etwas Unangenehmes war. Er ging zum Fenster, stützte sich mit den Händen auf dem Fensterbrett ab und schaute auf die Berge. »Was ist los?«, fragte er, nachdem Fabia ihr Gespräch beendet hatte und sich neben ihn stellte.

»Einer dieser Reporter vor deinem Haus hat ein Foto von uns beiden veröffentlicht.«

»Wo?«

»Hier, das hat mir mein Chef geschickt.« Sie reichte ihm ihr Handy mit dem Zeitungsartikel, den ihr Ludwig geschickt hatte.

»Biologin der Universität eine Komplizin der Holzdiebe?«, stand dort als Überschrift.

»Jetzt habe ich dich auch noch mit in die Sache hineingezogen«, sagte Ingvar und gab ihr das Telefon zurück.

»Du hast gar nichts getan. Das haben andere getan«, widersprach ihm Fabia.

»Das ändert nichts daran, dass du durch mich da hineingeraten bist. Was hat dein Chef dazu gesagt?«

»Er glaubt es natürlich nicht.«

»Fürchtet er nicht um den Ruf der Uni?«

»Nein, er meinte, sie hätten ständig mit irgendwelchen Gerüchten zu kämpfen. Er vertraut auf die Arbeit der Polizei.«

»Du hast also keinen Ärger?«, vergewisserte er sich.

»Nein, es ist alles gut. Er meinte, ich sollte mich gar nicht dazu äußern. Sobald die Sache aufgeklärt ist, wird er eine Gegendarstellung von der Zeitung verlangen und einen Bonusbericht über unsere aktuelle Forschung.«

»Dann hat dir das Ganze noch nicht geschadet.«

»Ich denke nicht.«

»Dann sollten wir unbedingt vermeiden, dass es dir irgendwann schadet. Ich werde jetzt gehen.«

»Das heißt?«

»Dass du mir aus dem Weg gehen solltest, solange die Polizei mich verdächtigt.«

»Aber ich bin von deiner Unschuld überzeugt.«

»Wir hatten unseren Augenblick, Fabia. Ich werde nicht zulassen, dass auch du noch deine Arbeit verlierst. Das würde ich mir nicht verzeihen.« Er zückte sein Handy, bestellte sich ein Taxi zum Mittnerhof und hängte die Tasche, die er für einen mehrtägigen Aufenthalt gepackt hatte, über seine Schulter.

»Du musst nicht gehen, Ingvar. Ich halte das aus, wir können das gemeinsam durchstehen.«

»Ja, ich weiß, dass du es im Moment noch so meinst. Aber wenn die Polizei auf ihrem Verdacht beharrt, dann wird dir das Zusammensein mit mir bald schaden. Ich danke dir für alles.« Er nahm sie zärtlich in seine Arme, hielt sie einen Moment lang fest und ließ sie dann wieder los.

»Ich halte es für keine gute Idee, wenn du jetzt einfach gehst.«

»Es muss aber sein.«

»Was heißt das? Dass wir uns nicht wiedersehen?«

»Erst einmal nicht. Pass auf dich auf, Fabia. Ich werde draußen auf das Taxi warten«, sagte er und ließ sie allein.

»Ja, bitte?«, meldete sie sich, als ihr Telefon erneut läutete.

»Schnipper hier, Frau Regner. Ist Ihnen noch etwas eingefallen, was uns in unserem Fall weiterhelfen könnte?«, fragte Kommissar Brenners Assistent.

»Mir fällt dazu nur ein, dass Sie Ihre Zeit darauf verschwenden, den Falschen zu verfolgen.«

»Ja, möglich, deshalb rufe ich ja an. Wenn Sie irgendeinen Hinweis für mich hätten, der in eine andere Richtung führt, dann wäre das hilfreich.«

»Wenn ich etwas wüsste, hätte ich es Ihnen doch längst gesagt.«

»Sie wissen von dem Zeitungsbericht, der Sie zu seiner Komplizin macht?«

»Ich habe ihn gelesen. Stehe ich jetzt auch bei Ihnen unter Verdacht?«

»Ich lege mich nicht fest, solange Zweifel bestehen.«

»Könnte es sein, dass Sie im Gegensatz zu Ihrem Boss nicht davon überzeugt sind, dass Herr Wering zu den Holzdieben gehört?«

»Noch sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen. Vielen Dank, Frau Wering«, sagte Herr Schnipper und legte auf.

»Ingvar«, flüsterte Fabia, als sie aus dem geöffneten Fenster schaute und sah, wie Ingvar in das Taxi stieg, das bereits auf den Hof gefahren war.

»Was ist passiert?«, fragte Sabine, die am Brunnen stand, Wasser in Bastians Sandeimerchen füllte und die Tränen in Fabias Augen sah.

»Er glaubt, dass er mir schadet. Ich konnte es ihm nicht ausreden.«

»Falls Sie reden möchten, ich bin da.«

»Vielleicht komme ich später darauf zurück, danke, Frau Mittner, aber jetzt muss ich ein bisschen allein sein.« Sie schloss das Fenster, setzte sich auf das Sofa, auf dem Ingvar in der Nacht zuvor geschlafen hatte, und schloss die Augen. Irgendetwas musste es doch geben, was sie tun konnten, um Ingvar zu helfen.

*

»Ziemlich viel los hier«, stellte der Taxifahrer fest, als er vor dem Haus anhielt, in dem Ingvar wohnte. Noch immer lauerten einige Reporter dort auf seine Rückkehr. Sie lehnten an ihren Autos und beobachteten den Hauseingang.

»Ich werde ihre Erwartungen nicht erfüllen«, sagte Ingvar. Er bezahlte den Taxifahrer, stieg aus und ging zur Haustür, ohne nach rechts und links zu schauen.

»Herr Wering, wer sind Ihre Komplizen? Sind Sie der Kopf der Bande?«, hörte er die Reporter fragen, die ihm folgten.

Er antwortete nicht und ignorierte die Mikrophone, die sie ihm vor das Gesicht hielten. Er schloss die Haustür auf, hielt seine Verfolger mit der Krücke auf Abstand und warf die Tür hinter sich zu. Vorsichtig, um seinen verletzten Fuß nicht zu stark zu belasten, stieg er die Treppen nach oben.

In seiner Wohnung schloss er alle Fensterläden und stellte die Klingel und die Telefone ab. Danach ging er ins Schlafzimmer und legte sich auf sein Bett. Er wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Er wollte einfach nur eine Weile seine Ruhe haben. Dass nun auch Fabia von diesem Verdacht betroffen war, tat ihm unendlich leid.

*

»Geht es Ihnen besser?«, fragte Sabine, als Fabia gegen Abend aus ihrem Appartement kam und zu ihrem Auto ging.

»Ich dachte, ich spreche noch mal mit Doktor Seefeld. Er war auch an der Unfallstelle. Vielleicht ist ihm etwas aufgefallen, was Ingvar weiterhelfen könnte. Ich habe gerade mit Frau Bruckner gesprochen. Sie meinte, ich soll einfach vorbeikommen. Hat Frau Holzer sich denn inzwischen ein bisschen beruhigt?«

»In der halben Stunde, die sie vorhin noch hier war, hat sie das Thema Holzdiebstahl nicht mehr erwähnt. Sie hat nicht einmal reagiert, als Herr Wering den Hof verlassen hat.«

»Ich wünschte, sie würde ihn nicht einfach vorverurteilen.«

»Was das betrifft, da könnte Sebastian auf jeden Fall etwas tun. Er könnte Miriams Verfolgungseifer bremsen. Da er Ingvar auch für unschuldig hält, wird ihm das sicher gelingen.«

»Frau Holzer hat auf mich nicht den Eindruck gemacht, als würde sie sich von jemandem etwas sagen lassen.«

»Das ist auch recht schwer, aber Sebastian und Miriam haben eine ganz spezielle Beziehung. Wenn es jemandem gelingt, sie zu beeinflussen, dann ihm.«

»Sie meinen, ich sollte ihn darauf ansprechen?«

»Erzählen Sie ihm einfach, wie sie Ingvar angegangen ist, dann wird er reagieren.«

»Gut, das mache ich, danke für den Rat.«

»Sehr gern«, sagte Sabine.

»Bis dann, Fabia!«, riefen Senta und Benjamin, die Bastian in einem Leiterwagen durch den Hof zogen.

»Bis dann!«, antwortete Fabia und winkte den Kindern.

Traudel hatte Sebastian Fabias Besuch angekündigt. Er erwartete sie auf der Terrasse. Traudel brachte ihnen beiden einen Cappuccino und ließ sie wieder allein.

»Ich mache mir Sorgen um Ingvar. Er glaubt, dass er schuld daran sei, dass nun auch Gerüchte über mich kursieren. Und vorhin war Frau Holzer auf dem Mittnerhof und hat ihm deutlich erklärt, dass sie ihn für einen der Täter hält«, sagte Fabia und erzählte Sebastian, was inzwischen alles passiert war. »Ich dachte, vielleicht ist Ihnen etwas an der Unfallstelle aufgefallen, was irgendwie weiterhelfen könnte.«

»Ich habe schon einige Male darüber nachgedacht, aber leider ist mir nichts aufgefallen«, bedauerte Sebastian, dass er ihr nicht helfen konnte. »Aber ich werde mit Miriam Holzer sprechen. Sie sollte sich ein bisschen zurückhalten.«

»Frau Mittner meinte vorhin schon, dass Sie das sicher tun würden, wenn Sie von ihrem Angriff hören.«

»Sabine kennt mich eben recht gut«, antwortete Sebastian lächelnd.

»Hallo, zusammen«, sagte Emilia, die mit Nolan von einem Spaziergang zurückkam und über die Wiese vor dem Haus von der Straße heraufkam. »Wo ist denn Herr Wering?«, fragte sie und schaute Fabia an.

»Er will im Moment niemanden sehen.«

»Warum nicht?«

»Weil er meint, dass er mir schadet. Es gibt jetzt auch Gerüchte, dass ich zu der Bande gehöre, und Frau Holzer ist ihn heute auf dem Mittnerhof ziemlich hart angegangen«, klärte Fabia das Mädchen auf.

»Dann sollten wir doch gleich mit ihr darüber reden. Sie steht unten auf der Straße und quatscht mit Anna«, sagte Emilia. »Ich sag ihr, dass du sie sprechen willst, Papa«, erklärte Emilia. Ehe Sebastian etwas erwidern konnte, sauste sie den Hang hinunter und verschwand hinter den Bäumen, die ihnen den Blick auf einen Teil der Straße versperrten.

»Sie kommt gleich wieder«, beruhigte Sebastian Nolan, der Emilia aufgeregt nachschaute, sich aber nicht entschließen konnte, ihr zu folgen.

Mit einem tiefen »Wuff« legte er sich neben Sebastians Stuhl auf den Boden, behielt aber die Straße im Blick.

»Ich wollte nicht Ihre ganze Familie mit meinen Sorgen beschäftigen«, sagte Fabia.

»Es ist in Ordnung, dass Sie hergekommen sind. Emilia ist ohnehin der Meinung, dass die Seefelds mit einem Helfersyndrom, wie sie es nennt, auf die Welt kommen und dass wir deshalb nur glücklich sind, wenn wir anderen Menschen helfen dürfen.«

»Ist es wirklich so?«

»Ja, irgendwie schon«, antwortete Sebastian schmunzelnd.

Gleich darauf kam Emilia über die Wiese zurück zur Terrasse, und Anna schob begleitet von Miriam ihr pinkfarbenes Fahrrad den Weg zum Hof hinauf.

»Emilia meinte, du willst mit mir sprechen«, sagte Miriam, als sie und Anna kurz darauf die Terrasse betraten.

»Setz dich, Miri«, bat er sie.

»Ich sehe mal nach Traudel«, sagte Anna.

»Hast du heute noch Hausbesuche?«, fragte Sebastian.

»Nein, ich werde mich heute nicht mehr aus diesem Haus fortbewegen«, antwortete sie lächelnd und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie in die Küche zu Traudel ging.

Sie würde gern mit Anna tauschen, dachte Fabia, als Miriam zu Boden schaute, so als wollte sie nicht sehen, wie nahe Anna und Sebastian sich standen.

»Du solltest dich mit deinen Anschuldigungen zurückhalten, Miri. Ich bin absolut nicht der Meinung, dass Herr Wering zu den Holzdieben gehört«, sagte Sebastian, als Miriam wieder aufschaute.

»Was macht dich so sicher?«, fragte sie und setzte sich auf den Stuhl neben ihn.

»Ich traue es ihm nicht zu. Davon abgesehen, jemanden ohne Beweise einfach zu beschuldigen, das geht gar nicht, Miri.«

»Es gibt Beweise. Die Filme auf seiner Internetseite.«

»Zeigen sie, wie er das Holz stiehlt?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Dann sind es keine Beweise.«

»Aber diese Filme machen ihn verdächtig. Ich war gerade in Mainingberg bei einem Kunden und bin an dem Haus vorbeigekommen, wo Herr Wering wohnt. Dort halten sich noch immer einige Reporter auf. Das heißt, sie wittern eine Story.«

»Die aber nichts mit der Wahrheit zu tun haben muss.«

»Vielleicht wissen sie aber mehr als wir. Ich will, dass die Sache endlich aufgeklärt wird. Ich habe vor, morgen mit Harald zu den betroffenen Sägewerken zu fahren. Da die Polizei die Sache offensichtlich nicht in den Griff bekommt, müssen wir uns zusammenschließen und überlegen, wie wir uns gegen die Holzdiebe schützen können.«

»Wie soll das aussehen?«, fragte Sebastian.

»Das weiß ich noch nicht. Ich werde erst einmal nur mit allen reden.«

»Wäre es dir möglich, während dieser Gespräche auf weitere Anschuldigungen gegen Ingvar Wering zu verzichten?«

»Du und Anna, ihr seid euch mal wieder einig. Sie hält ihn auch für unschuldig, wie sie mir gerade versichert hat. Genauso wie die junge Dame, die dir gerade einen Besuch abstattet«, sagte Miriam und streifte Fabia mit einem kurzen Blick, »was nur allzu verständlich ist, da sie ihn durch die rosarote Brille ansieht.«

»Ich denke, Frau Regners Blick auf Herrn Wering ist trotzdem klarer als dein Tunnelblick auf einen möglichen Täter. Warte einfach ab, bis es echte Beweise gibt, auf die kannst du dann entsprechend reagieren.«

»Meinetwegen«, lenkte Miriam ein, als Sebastian sie ansah.

»Markus kommt nachher vorbei. Wir wollen uns die Filme auf Ingvars Seite noch mal ganz genau ansehen. Vielleicht finden wir etwas, was bisher übersehen wurde«, sagte Emilia, die im Schneidersitz auf dem Boden saß und Nolan streichelte.

»Ich denke, diese Mühe ist vergebens. Die Polizei hat Experten für diese Art der Beweissuche«, sagte Miriam.

»Auch Experten entdecken nicht alles. Manchmal ist es erfolgsversprechender, einfach ganz unbedarft an eine Sache heranzugehen.«

»Da muss ich ihr recht geben«, stimmte Sebastian seiner Tochter zu.

»Du gibst ihr doch immer recht.«

»Das stimmt leider nicht, Miri«, antwortete Emilia mit einem tiefen Seufzer.

Auf jeden Fall hat Sabine Mittner damit recht, dass Miriam und Sebastian ein besonderes Verhältnis verbindet, dachte Fabia. Als Anna kurz darauf auf die Terrasse kam und Miriam ihr sofort den Platz neben Sebastian frei machte, war ihr aber sofort klar, dass Miriam wusste, dass ihr besonderes Verhältnis zu dem jungen Arzt Grenzen hatte.

»Ich mache mich dann wieder auf den Weg«, sagte Miriam und zog ihren Autoschlüssel aus der Tasche ihrer weißen Jeans.

»Sagst du uns Bescheid, was morgen bei deiner Rundreise herauskommt?«, wollte Sebastian wissen.

»Ja, sicher, das mache ich. Bis morgen, einen schönen Abend noch«, verabschiedete sie sich und ging die Treppe durch den Steingarten hinunter zur Straße.

»Bleiben Sie doch zum Abendessen bei uns«, bat Traudel, als sie auf die Terrasse kam und Fabia sich verabschieden wollte.

»Ich überlege gerade, ob ich zu Ingvar fahren sollte, um zu versuchen, ihn aufzuheitern.«

»Geben Sie ihm ein wenig Zeit, über alles nachzudenken.«

»Aber ich möchte, dass er weiß, dass ich zu ihm halte und dass ich keine Angst davor habe, was andere Leute deshalb über mich denken.«

»Das weiß er, da bin ich mir sicher. Er wird sich wieder fangen«, versicherte ihr Traudel.

»Das wünsche ich ihm von ganzem Herzen.«

»Wenn Sie für ihn da sein wollen, dann brauchen Sie Zuversicht. Wenn Sie hier bei uns bleiben, werden Sie nicht die ganze Zeit grübeln, und das wird Ihnen gut tun«, sagte Anna.

»Gut, ich bleibe«, erklärte sich Fabia einverstanden.

Während Emilia und Anna Traudel halfen, den Tisch draußen auf der Terrasse zu decken, dachten Fabia und Sebastian erneut darüber nach, ob ihnen etwas zu Ingvars Entlastung einfiel, aber da war nichts.

Da sich Fabia entschlossen hatte, zum Abendessen bei den Seefelds zu bleiben, lernte sie nun auch Benedikt Seefeld, Sebastians Vater, kennen. Der attraktive ältere Mann hatte den Nachmittag auf dem Golfplatz verbracht und für ein Turnier trainiert, wie sie aus dem Gespräch heraushörte, das er mit seinem Sohn führte.

»Er ist ein echter Champion. Die Konkurrenz fürchtet ihn«, sagte Sebastian und wandte sich Fabia zu, um sie in das Gespräch miteinzubeziehen.

»Ich hoffe nicht, dass sie mich wirklich fürchten, sonst will irgendwann niemand mehr gegen mich spielen«, entgegnete Benedikt lächelnd.«

»Die Konkurrenten werden Ihnen mit Sicherheit nicht ausgehen. Es gibt immer Menschen, die die Herausforderung suchen«, sagte Fabia.

»Die wissen wollen, was möglich ist, und sich nicht mit einer Annahme abfinden. Ist es nicht so?«, fragte Sebastian und sah Fabia an.

»Doch, genauso ist es«, stimmte sie ihm zu, weil sie genau wusste, was er damit meinte. Es war genau das, was sie jetzt hören wollte, weil es ihr Hoffnung machte, dass alles wieder gut wurde.

Zum Abendessen gab es gebratene Knödel mit Rühreiern und Salat. So wie Traudel dieses einfache Essen zubereitete, schmeckte es ebenso köstlich wie der Brombeerkuchen, den es zum Dessert gab.

Nach dem Essen kam Markus. Er und Emilia zogen sich auf ihr Zimmer zurück, und Fabia ließ sich zu einer Partie Schafkopf überreden. Die erste Runde spielte sie noch aus Höflichkeit mit, bei der zweiten hatte sie schon richtig Spaß und ließ sich von der Spielfreude der anderen anstecken.

Als sie sich gegen elf von ihren Gastgebern verabschiedete, hatte sie das Gefühl, wieder klarer denken zu können. Sie hatte Markus angeboten, ihn mit zum Mittnerhof zu nehmen, damit er in der Nacht nicht mit dem Fahrrad unterwegs sein musste. Aber er wollte bei den Seefelds im Gästezimmer übernachten, so wie er es an den Wochenenden hin und wieder tat.

»Markus schläft wirklich im Gästezimmer?«, fragte Fabia leise, als Traudel sie zu ihrem Auto begleitete.

»Vermutlich wird er wieder im Schlafsack auf dem Boden in Emilias Zimmer übernachten, und Nolan wird sich dort auch noch ein Plätzchen suchen. Aber wissen Sie, wir vertrauen Emilia und Markus, und sie vertrauen uns«, antwortete Traudel lächelnd.

»Ich denke, das ist eine hervorragende Ausgangslage. Vertrauen gegen Vertrauen«, sagte Fabia und stieg in ihr Auto. Sie hoffte, dass es Ingvar genauso sah. Sie vertraute ihm, er konnte ihr vertrauen.

*

Miriam und Harald Baumann brachen am nächsten Morgen gleich nach dem Frühstück zu ihrer Rundreise durch das Tal auf. Harald, ein sportlicher junger Mann mit auffällig rotem Haar, war Miriams Assistent im Sägewerk und spielte auch in ihrem privaten Leben eine große Rolle. Wie groß diese Rolle wirklich war, das wusste er selbst nicht so genau. Da er Miriam aber leidenschaftlich liebte und er auch so manche Nacht bei ihr verbringen durfte, hinterfragte er sein Verhältnis zu ihr nicht weiter.

Genau wie Miriam legte auch er viel Wert auf elegante Kleidung. Sie trug an diesem Morgen ein knielanges schwarzweißes Leinenkleid und schwarze Pumps und er einen dunkelgrauen Anzug mit silbergrauem Hemd. Er wusste, dass es ein Vertrauensbeweis war, dass sie ihm das Steuer ihres Sportwagens überließ. Dass sie während der Fahrt ganz entspannt auf dem Beifahrersitz saß, empfand er als zusätzliche Auszeichnung. Sie fühlte sich sicher bei ihm.

Miriam hatte ihren Besuch überall telefonisch angekündigt, und so wurden sie in den Sägewerken und den Forstverwaltungen, die von den Holzdiebstählen betroffen waren, freundlich empfangen. Alle waren genau wie sie der Meinung, dass sie gemeinsam etwas unternehmen mussten, um diesen Dieben das Handwerk zu legen. Wie sie das anstellen wollten, darüber waren sie sich noch nicht einig.

Einige schlugen vor, batteriebetriebene Kameras im Wald aufzuhängen oder einen Wachdienst für die Zufahrtswege der einzelnen Forste zu engagieren. Am meisten überzeugte der Vorschlag, die Bäume gleich nach der Fällung an einen zentralen bewachten Ort zu bringen. Letztendlich müssten das Fällen der Bäume und der Transport nur exakt miteinander abgestimmt werden.

Miriam bedauerte, dass auch die anderen Betroffenen keinerlei Hinweise auf die Täter hatten. Sie hatten bisher nicht einmal gewusst, dass das Holz mit einem dunklen Lastwagen abgeholt wurde. Bevor sie und Harald sich am späten Nachmittag auf den Nachhauseweg machten, beschlossen sie, dem Sägewerk Kubner noch einen Besuch abzustatten. Es lag außerhalb des Tales, und von dort hatte es bisher noch keine Anzeige wegen Holzdiebstahl gegeben. Möglicherweise hatten die Diebe aber vor, ihren Einzugsbereich auszudehnen, und die Leute, die es betreffen konnte, bekamen die Chance, sich vorzubereiten, wenn sie gewarnt wurden.

»Willst du nicht vorher kurz anrufen, ob heute überhaupt jemand da ist?«, fragte Harald auf dem Weg zu ihrem letzten Besuch.

»Es kostet uns nur eine Viertelstunde. Wenn niemand da ist, dann rufe ich sie am Montag an und frage sie, ob sie Interesse daran haben, uns zu helfen, weitere Diebstähle zu verhindern.«

»Denkst du wirklich, diese Leute werden es noch einmal riskieren, in unsere Wälder einzudringen? Sie wissen doch, dass nach ihnen gefahndet wird.«

»Deshalb glaube ich, dass sie sich ein neues Gebiet suchen.«

»Aber doch nicht so nah an ihrem ersten. Das wäre leichtsinnig.«

»Mag sein, aber die meisten Diebe halten sich für schlau und denken, dass sie die Polizei überlisten können.«

»Da ist etwas dran«, stimmte Harald ihr zu.

Das Sägewerk Kubner lag außerhalb eines Dorfes am Ende einer Sackgasse. Bis zur nächsten Autobahnauffahrt waren es nur ein paar Meter.

»Fahr auf den Hof, das Tor steht offen«, sagte Miriam, als Harald auf der Straße vor dem Sägewerk anhielt.

»Alles klar.« Im Schritttempo lenkte er den gelben Sportwagen auf das von einer Mauer umgebene Grundstück.

»Was ist denn hier los?« Miriam konnte nicht glauben, welcher Anblick sich ihnen gleich darauf bot.

Auf dem Hof herrschte Chaos. Frisch angelieferte Baumstämme, bereits in Hälften geteilte Stämme, für den Möbelbau zugeschnittene Latten, Holzreste für den Gebrauch als Brennholz, Planen, Werkzeuge und Nägel, alles lag in einem wilden Durcheinander einfach auf dem Hof herum. Inmitten des Durcheinanders standen zwei Gabelstapler, so, als hätten sie das ganze Chaos angerichtet.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, wunderte sich auch Harald, nachdem er den Sportwagen gleich nach dem Durchqueren der Einfahrt angehalten hatte.

»Hier sieht es aus, als wären alle mitten in der Arbeit davongelaufen und hätten einfach alles fallen lassen«, mutmaßte Miriam. »Komm, wir sehen uns mal ein bisschen um.«

»Ich weiß nicht, wir können doch nicht einfach auf einem fremden Grundstück herumlaufen«, gab sich Harald zögerlich.

»Das Tor steht offen, das bedeutet, dass jemand hier ist und Kundschaft erwünscht ist. Wenn kein Publikumsverkehr erwünscht wäre, dann hätten sie das Tor geschlossen.«

»Ja, schon, so ist es, wenn der Betrieb normal läuft, aber hier stimmt etwas nicht.«

»Richtig, deshalb sehen wir nach, was los ist.«

»Wir sollten an einen Wachhund denken.«

»Der wäre bereits aufgetaucht, meinst du nicht? Und überhaupt, seit wann hast du Angst vor Hunden?«

»Habe ich nicht, ich will nur darauf vorbereitet sein, falls irgendwo einer lauert.«

»Der zum Beispiel?«, fragte Miriam lachend, als sie aus dem Auto gestiegen waren und ein kleiner weißer Hund aus der Halle mit den Sägemaschinen kam und sie neugierig beschnupperte.

»Ich denke, er ist noch in der Ausbildung und wird froh sein, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Alles klar, mein Freund«, sagte Harald und beugte sich zu dem Hund hinunter, um ihn zu streicheln.

»Hier sieht es auch nicht besser aus«, stellte Miriam fest, als sie gleich darauf die Halle betraten.

Auf den Laufbändern vor den Sägen lagen Baumstämme, die geschnitten werden sollten, und in den Sägen steckte Holz fest, so als hätte sie jemand ganz plötzlich abgeschaltet.

»Was ist hier nur passiert?«, fragte sich Miriam laut, während sie und Harald sich umsahen, ob sie irgendwo jemanden entdeckten, der ihnen diese Frage beantworten konnte.

»Ich glaube, da ist jemand«, flüsterte Harald und bewegte seinen Kopf in Richtung des zweistöckigen Wohnhauses, das gegenüber der Halle stand. Er hatte gesehen, wie sich die Gardine vor einem der Fenster im Erdgeschoss bewegt hatte.

»Dann sollten wir herausfinden, wer uns beobachtet«, erklärte Miriam.

»Denkst du nicht, das wäre leichtsinnig? Ich meine, wir haben keine Ahnung, was hier los ist. Vielleicht ist jemand durchgedreht und wollte, warum auch immer, das Sägewerk zerstören.«

»Oder es wurde von Außerirdischen besetzt. Das ist alles möglich.«

»Miriam, nimm die Sache ernst. Ich werde nicht zulassen, dass du dich in Gefahr begibst«, sagte Harald und packte sie sanft am Arm, um ihr zu zeigen, dass er entschlossen war zu handeln, sollte sie nicht auf ihn hören.

»Warte, die Tür geht auf«, flüsterte sie.

»Ja, ich sehe es«, antwortete er leise und lächelte in sich hinein, als Miriam sich in diesem Moment schutzsuchend an ihn lehnte. »Ich glaube, wir haben nichts zu befürchten«, stellte er erleichtert fest, als der kleine weiße Hund aus der Halle herausschoss und freudig bellend zur Tür des Hauses rannte.

»Wer sind Sie?«, fragte die grauhaarige Frau in dem dunklen Trachtenkostüm, die gleich darauf aus dem Haus kam.

»Wir kommen vom Sägewerk Holzer aus Bergmoosbach. Mein Name ist Miriam Holzer, das ist mein Assistent Harald Baumann. Wir wollten Sie fragen, ob Sie schon von unseren Problemen mit den Holzdieben gehört haben, die seit einigen Wochen in unserem Tal unterwegs sind.

»Mei, ich weiß nicht«, seufzte die Frau. »Sepperl, mein Schätzchen«, sagte sie, bückte sich und nahm den Hund auf ihre Arme, der sich zufrieden an sie kuschelte.

»Würden Sie uns sagen, wer Sie sind«, bat Miriam die Frau.

»Ich bin Resi Kubner.«

»Dann gehört Ihrer Familie das Sägewerk?«

»Schon seit drei Generationen.«

»Was ist hier passiert?«, wollte Harald wissen.

»Mei, es war furchtbar«, sagte Frau Kubner.

Sie ließ Sepperl wieder auf den Boden zurück und setzte sich auf die grüne Holzbank, die neben der Tür stand.

»Wollen Sie es uns erzählen?«, fragte Miriam und setzte sich neben Resi Kubner, während Harald stehen blieb und das Gelände im Auge behielt.

So ganz traute er dem Frieden offensichtlich nicht.

»Wissen Sie, es ist so, mein Sohn hat das Sägewerk nach dem Tod von meinem Mann vor drei Jahren übernommen. Erst lief es auch recht gut, aber dann hat er sich mit einem Hauskauf übernommen und wohl auch ein bissel spekuliert, und dann ging’s bergab. Vor ein paar Monaten musste er dann die meisten Leute entlassen.«

»Das tut mir leid«, sagte Miriam. Sie konnte erahnen, was es bedeutete, ein Unternehmen zu verlieren, das die eigene Familie aufgebaut hatte.

»Ich dacht auch schon, es ist alles zu Ende, aber dann kam dieser Mann, der sich meinem Sohn als Geschäftsführer angeboten hat. Er meinte, dass er das Sägewerk retten könnt, wenn er nur ihn und die Leute, die er gleich mitbringt, anstellen würd. Er hat dann einen Vertrag mit Gewinnbeteiligung mit ihm ausgehandelt, und dann ging es recht schnell wieder bergauf. Ich mein, er ist mir nicht sympathisch dieser Mann, aber er hat uns geholfen. Das muss ich anerkennen.«

»Wo finden wir denn Ihren Geschäftsführer oder Ihren Sohn?«, wollte Harald wissen.

»Im Moment sind alle krank, die gesamte Belegschaft, außer mir. Das ist es doch, was so furchtbar ist«, seufzte Resi.

»Eine Viruserkrankung?«, fragte Miriam.

»Das dachten wir zunächst, weil allen ungefähr zur selben Zeit schrecklich übel wurde. Es ging ihnen allen so schlecht, dass sie einfach alles fallen ließen und nach Hause gingen. Alle Maschinen liefen noch. Ich hab in meiner Not dann den Strom abgestellt, weil ich mich mit den Maschinen doch nicht so gut auskenn. Es war ein ganz ein furchtbarer Nachmittag.«

»Sie sind die einzige, die nicht von dieser Krankheit betroffen ist?«, fragte Miriam, die ein Stück von Resi zurückgewichen war.

»Ich war an dem Tag zum Einkaufen in der Stadt. Ich bin so gegen vier zurück gewesen, kurz danach ging es los.«

»Wissen Sie denn inzwischen, was diese Übelkeit ausgelöst hat?«, fragte Harald.

»Es war eine Pilzvergiftung. Die Männer, die am Vormittag eine neue Holzlieferung gebracht hatten, hatten Pilze gesammelt, und einer von ihnen hat für die Belegschaft gekocht.«

»Dann waren die Pilze nicht in Ordnung?«, hakte Miriam nach.

»Die meisten schon, aber sie haben leider die giftigen Tiger-Ritterlinge, die sich unter den Pilzen befanden, für essbare Erd-Ritterlinge gehalten.«

»Tiger-Ritterlinge?«

Miriam tauschte einen schnellen Blick mit Harald. Anna hatte ihr von dem verschwundenen Korb mit Pilzen erzählt und auch die Tiger-Ritterlinge erwähnt, die Ingvar Wering gesammelt hatte.

»Die Leut, die der neue Geschäftsführer mitgebracht hat, stammen halt nicht aus der Gegend. Sie kennen sich mit Pilzen offenbar nicht aus. Wär ich nur hier gewesen, dann hätt ich’s sicher verhindern können. Glücklicherweise sind aber inzwischen wieder alle Betroffenen auf dem Weg der Besserung«, sagte Resi Kubner.

»Wann genau haben sich die Leute denn mit den Pilzen vergiftet?«, fragte Harald.

»Vor fünf Tagen.«

»Wo ist das Holz, das an diesem Tag geliefert wurde?«

»Ich denk, es liegt noch hinter der Halle.«

»Ich sehe nach«, sagte Harald, als Miriam seinen Blick auffing. Sie wussten beide, dass sie den Standort der Holzdiebe gefunden hatten. Falls das Holz aus Bergmoosbach noch nicht verarbeitet war, würde Harald es an der Nummer ihres Forstes, mit dem das Holz gekennzeichnet war, erkennen.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Resi, als Harald davoneilte.

»Vor genau fünf Tagen wurde in unserem Forst Holz gestohlen, dabei wurde ein Wanderer verletzt und der Korb mit den Pilzen, die er gesammelt hatte, verschwand.«

»Der Wanderer muss froh sein, dass sein Korb verschwunden ist. Wenn er die Pilze allein gegessen hätte, dann hätte er das nicht überlebt.«

»Der Mann ist Naturforscher, er wollte die Pilze untersuchen, nicht essen. Haben Sie denn überhaupt verstanden, was ich Ihnen gerade sagen will?«, fragte Miriam, als Resi sie mit starren Augen ansah. Sie war auf einmal ganz blass und ihre Hände zitterten. Ganz offensichtlich hatte sie einen Schock.

»Miriam, das Holz…«

»Nicht jetzt«, bat Miriam, als Harald zurückkam. »Frau Kubner, geht es wieder?«, fragte sie, als Resi tief Luft holte.

»Wir stehlen kein Holz«, sagte Resi.

»Es wird sich alles aufklären, Frau Kubner. Wo finde ich die Telefonnummer Ihres Hausarztes?« Miriam wollte Resi in diesem Zustand nicht allein lassen.

»Warte.« Harald lief zur Halle hinüber und schaute auf der Innenseite der großen Schiebetür nach. Genau wie im Sägewerk Holzer hing auch dort eine Tafel mit den Notrufnummern. Ohne zu zögern, wählte er die Nummer von Doktor Messler, dem Hausarzt der Kubners. Er schilderte ihm den Zustand von Frau Kubner, und der Arzt versprach, in ein paar Minuten da zu sein. »Es ist unser Holz«, raunte er Miriam zu, als er wieder zu ihr und Frau Kubner zurückkam.

»Mein Sohn ist kein Dieb«, flüsterte Frau Kubner.

»Nein, sicher nicht«, stimmte Miriam ihr zu. Möglicherweise hatte Frau Kubner sogar recht, vielleicht wusste ihr Sohn nichts von den Machenschaften seines Geschäftsführers. Sie wollte sie auf keinen Fall noch mehr aufregen und bestätigte sie in der Annahme, ihr Sohn habe mit den Diebstählen nichts zu tun.

Fünf Minuten später traf Doktor Messler, ein freundlicher Mann um die sechzig, auf dem Hof der Kubners ein. Miriam schilderte ihm kurz, warum sie hier waren und dass sie und Harald es bedauerten, Frau Kubner in Aufregung versetzt zu haben. Was die Pilzvergiftung der Angestellten betraf, erfuhren sie von Doktor Messler, dass die Polizei ihn nicht über eine mögliche Pilzvergiftung mit Tiger-Ritterlingen informiert hatte. Da er sich aber mit Pilzen auskannte, hatte er die Symptome schnell einordnen können.

Doktor Messler gab Frau Kubner eine Spritze, um ihren Kreislauf zu stabilisieren, und rief danach ihre Schwester an, die kommen wollte, um sich um sie zu kümmern. »Ich nehme an, Sie werden der Polizei Ihren Verdacht mitteilen«, wandte er sich im Flüsterton an Miriam, nachdem sie und Harald sich von Frau Kubner verabschiedet hatten.

»So leid es uns für Frau Kubner tut, die Sache muss aufgeklärt werden, Doktor Messler«, antwortete sie ebenso leise und nickte ihm noch einmal zu, bevor sie mit Harald zu ihrem Wagen ging.

»Ist Ingvar Wering jetzt entlastet?«, fragte Harald, als er sich wieder hinter das Steuer des Sportwagens setzte.

»Das muss die Polizei klären. Noch lässt sich nicht ausschließen, dass er als Informant für die Holzdiebe tätig war.«

»Das ist richtig, also dann, ruf die Leute von der Soko-Holzdiebstahl an, und teile ihnen mit, was wir herausgefunden haben. Da Doktor Messler nichts von diesen Pilzen wusste, liegt es tatsächlich nahe, dass sie die Fahndung nach den Holzdieben erst einmal auf die betroffenen Gebiete beschränkt haben.«

»Ganz offensichtlich ist das so«, sagte Miriam und zückte ihr Handy.

*

»Papa, wir haben etwas Interessantes gefunden.« Emilia kam mit ihrem Laptop auf die Terrasse und stellte ihn Sebastian, der es sich in einem Liegestuhl bequem gemacht hatte und in der Zeitung las, auf den Schoß.

»Wir wissen jetzt, wieso Ingvar in Verdacht geraten ist, mit den Dieben gemeinsame Sache zu machen«, sagte Markus, der nach Emilia auf die Terrasse kam.

»Richtig, sieh dir mal einen der Filme aus den Wäldern an, die er auf seine Seite gestellt hat. Egal welchen, du musst einfach nur genau hinsehen«, bat Emilia ihren Vater.

»Mache ich«, sagte Sebastian und klickte den Film aus dem Bergmoosbacher Forst an.

»Und?«, fragte Emilia gespannt, die ihren Vater beobachtete.

»Ich weiß nicht, ich sehe Moos, Pilze und Gräser.«

»Und?«

»Waldwege.«

»Weiter Papa, du hast es gleich.«

»Das frisch geschlagene Holz am Wegesrand.«

»Stimmt, und weißt du was, auf jedem von Ingvars Filmen ist frisch geschlagenes Holz zu sehen, was nicht verwunderlich ist, da er seinen Weg in den Wald hinein filmt und zwangsläufig an dem Holz vorbeikommt, das zur Abholung bereit liegt.«

»Die Holzdiebe haben vermutlich irgendwann seine Seite entdeckt und einfach nachgesehen, wo gerade Holz gelagert wird«, sagte Markus.

»Insofern war Ingvar schon ihr Informant, allerdings unwissentlich und unabsichtlich«, fügte Emilia hinzu.

»Das klingt nach einer logischen Erklärung. Ich werde mit den Leuten von der Soko-Holzdiebstahl sprechen, ob ihnen das bereits aufgefallen ist.«

»Ja, bitte, Papa, am besten gleich, damit wir Fabia und Ingvar die gute Nachricht überbringen können.«

»Ich telefoniere vom Festnetz aus«, sagte Sebastian. Er reichte Emilia den Laptop, stand auf und ging ins Haus.

»Hoffentlich nehmen sie es nicht als Beweis, dass er tatsächlich ihr Informant ist. Wer ihm eine Verwicklung in die Diebstähle unterstellen will, wird es so sehen«, zeigte sich Markus ein wenig skeptisch. »Solange die wahren Täter nicht gefasst werden und zugeben, dass sie diese Internetseite für ihre Zwecke genutzt haben, wird es schwer für Ingvar sein, seine Unschuld zu beweisen.«

»Was ist Papa?«, fragte Emilia, als Sebastian ein paar Minuten später wieder zu ihnen kam.

»Die Polizei hat einen Hinweis auf die Täter bekommen. Genaueres wollten sie mir nicht sagen, aber Herr Schnipper, mit dem ich gesprochen habe, hat durchblicken lassen, dass die Sache kurz vor der Aufklärung steht. Und die Filme auf der Internetseite werden sie sich nach eurem Hinweis noch einmal genau ansehen.«

»Das sollten wir wenigstens schon mal Fabia erzählen. Wir fahren zu dir, Markus«, sagte Emilia.

»Wenn es später wird, dann rufst du mich an. Du fährst nicht in der Dunkelheit mit dem Fahrrad durch das Moor«, bat Sebastian seine Tochter.

»Das lassen Sabine und Anton doch ohnehin nicht zu. Mach dir keine Sorgen, Papa«, sagte Emilia und küsste Sebastian auf die Wange.

»Ich passe auf sie auf«, versicherte ihm Markus, bevor er Emilia folgte.

»Ich weiß«, sagte Sebastian und klopfte dem Jungen freundschaftlich auf die Schulter.

*

Fabia saß mit Bastian im Sandkasten, während Sabine Wäsche von der Leine nahm. Sie schaute auf, als Emilia und Markus auf ihren Rädern in den Hof fuhren.

»Es gibt gute Neuigkeiten!«, rief Emilia.

»Dann lass sie mich hören, damit ich wieder Hoffnung bekomme«, bat Fabia.

Emilia und Markus setzten sich zu ihr an den Sandkasten, was Bastian so gut gefiel, dass er vor lauter Freude darüber lachend in die Händchen klatschte. Auch Senta und Benjamin, die mit ihren Rädchen im Hof herumfuhren, kamen angeradelt und setzten sich dazu, weil auch sie gespannt auf die Neuigkeiten waren.

»Markus und ich haben etwas entdeckt, und Papa hat mit der Polizei telefoniert«, sagte Emilia und erzählte Fabia, was sie inzwischen herausgefunden hatten.

»Ich fahre gleich zu Ingvar«, erklärte Fabia entschlossen, nachdem sie alles gehört hatte. »Vielleicht hat die Polizei sich ja schon bei ihm gemeldet.« Endlich geht es vorwärts, dachte sie. Sie stand auf, klopfte sich den Sand von der Jeans und glättete das rote T-Shirt mit den Flügelärmeln.

»Hoffentlich muntern ihn die Neuigkeiten auf«, sagte Sabine.

»Davon gehe ich einfach aus«, antwortete Fabia zuversichtlich.

Als sie zehn Minuten später an Ingvars Haustür läutete, schaute sie sich nach allen Richtungen vorsichtig um. Reporter waren nicht mehr zu sehen, offensichtlich hatten sie es aufgegeben, Ingvar zu verfolgen.

»Hallo?«, hörte sie ihn durch die Sprechanlage sagen, als sie noch einmal auf die Klingel gedrückt hatte.

»Bitte, Ingvar, mach auf, es gibt Neuigkeiten.«

Sie hörte, wie es in der Sprechanlage knackte, gleich darauf surrte der Türöffner.

»Du riskierst deinen Ruf, wenn man dich bei mir sieht«, sagte er, als sie die Treppe heraufkam und er in der geöffneten Tür auf sie wartete.

»Das ist mir egal, außerdem bin ich davon überzeugt, dass dein Ruf bald wieder hergestellt ist«, entgegnete sie. »Ich habe dich vermisst.« Sie blieb vor ihm stehen und fing seinen Blick auf.

»Ich habe dich auch vermisst«, gab er zu.

»Dann darf ich reinkommen?«

»Bitte«, sagte er und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen.

»Das geht ja schon wieder ganz gut«, stellte sie fest, als sie sah, dass er bereits ganz ohne Krücken laufen konnte.

»Zum Joggen reicht es noch nicht, aber es wird langsam«, sagte er. »Überhaupt geht es mir ein wenig besser, seitdem die Reporter mich nicht mehr belagern.« Nachdem die Baders ihm am Morgen gesagt hatten, dass die Reporter alle gegangen waren, weil er sich nicht sehen ließ, hatte er die Fensterläden wieder geöffnet, und die Sonne, die in die Wohnung strömte, hatte ihn ein wenig zuversichtlicher gestimmt. »Ich habe mir gerade Tee gemacht. Möchtest du eine Tasse?«

»Gern.«

»Dann komm, setzen wir uns in die Küche«, bat er sie.

»Es gibt Neuigkeiten, die werden dafür sorgen, dass es dir gleich noch besser geht«, sagte sie, als sie an dem kleinen Tisch vor dem Küchenfenster saßen, und sie erzählte ihm von Emilias und Markus` Entdeckung und dass die Polizei eine Spur hatte.

»Aber das spricht mich noch nicht frei. Die Filme könnte ich als Hinweis für die Diebe veröffentlicht haben.«

»Das war auch Markus‘ Einwand.«

»Weil sie es genauso interpretieren werden.«

»Solange es keine weitere Verbindung zwischen dir und den Dieben gibt, wird das nicht reichen, um dich anzuklagen.«

»Aber der Verdacht bleibt«, sagte er und schaute auf die Berge. »Warte kurz«, bat er sie, als sein Telefon läutete. »Ja, Herr Schnipper«, sagte er, als sich Kommissar Brenners Assistent meldete. »Das heißt, ich bin entlastet?«, hörte Fabia ihn sagen, nachdem er dem Polizisten eine Weile zugehört hatte. »Danke, Herr Schnipper.«

»Was ist?«, fragte Fabia, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

»Sie haben die Diebe. Sie sind nach einer Pilzvergiftung derart angeschlagen, dass sie alles zugegeben haben. Auch dass sie nur zufällig auf meine Seite gestoßen sind und sich meine Filme einfach zunutze gemacht haben.«

»Das heißt, es ist vorbei?«

»Ja, es ist vorbei«, sagte er und nahm sie in seine Arme. »Die Diebe konnten nur so schnell gefunden werden, weil Miriam Holzer die entscheidenden Hinweise geliefert hat. Zusammen mit Emilias und Markus‘ Überlegungen ergab das ein überzeugendes Bild. Ich denke, ich werde meine Retter heute alle in den Biergarten einladen.«

»Eine gute Idee, dann wird sich auch im Dorf die Nachricht, dass du nichts mit den Diebstählen zu tun hast, schnell verbreiten. Wen willst du einladen?«, fragte Fabia.

*

Der Biergarten der Brauerei Schwartz war wie jeden Abend gut besucht. Die Tische und Bänke standen im Hof des roten Backsteingebäudes direkt neben dem Bach, in dem sich schon so mancher nach einem langen Abend abgekühlt hatte. Die alten Laternen, die schon vor hundert Jahren den Hof beleuchteten, verbreiteten noch immer ihr warmes gemütliches Licht. Die Kellnerinnen in ihren dunkelroten Dirndln hatten an den vollbeladenen Tabletts und Maßkrügen schwer zu tragen, was sie aber nicht davon abhielt, mit den Gästen zu scherzen.

Ingvar hatte einen der langen Tische im hinteren Teil des Biergartens für seine Gäste reservieren lassen. Sebastian und Anna, Emilia und Markus, Traudel und Benedikt, Miriam und Harald. Auch Sabine und Anton waren gekommen. Seitdem sie Pia hatten, konnten die beiden sich hin und wieder einen freien Abend gönnen.

Nachdem Miriam sich in aller Form bei Ingvar und Fabia für ihren ungerechtfertigten Verdacht entschuldigt hatte, erzählten sie und Harald, wie sie den Dieben auf die Spur gekommen waren.

»Ihr beide könntet Papa, Anna und mir mit eurem Spürsinn glatt Konkurrenz machen«, sagte Emilia, nachdem sie alles gehört hatte. Schließlich hatten sie auch schon so einige Dinge aufgeklärt.

»Und was ist mit meinem Spürsinn?«, fragte Markus.

»Der ist auch großartig«, antwortete Emilia und küsste ihn auf die Wange.

»Sollte ich mal wieder in irgendwelchen Schwierigkeiten stecken, melde ich mich«, sagte Ingvar, und dann stießen sie alle mit einem Glas Honigbier auf das von ihm ersehnte Happy End an.

»Die wahren Schuldigen sind wohl gefasst«, murmelte Therese Kornhuber, die mit ihrem Mann am Nachbartisch saß.

»Wuff«, machte Nolan, der seine Familie in den Biergarten begleitet hatte.

»Da haben Sie die Antwort, Frau Kornhuber«, sagte Emilia und streichelte Nolan über den wuscheligen Kopf.

*

Zwei Tage später war im Bergmoosbacher Tagblatt zu lesen, dass der Geschäftsführer des Sägewerks Kubner das gestohlene Holz über eine Scheinfirma abgerechnet hatte, und das Geld zusätzlich zu seiner Gewinnbeteiligung eingesteckt hatte.

Herr Kubner selbst hatte von diesen Machenschaften nichts gewusst, musste sich aber gefallen lassen, dass man ihn für naiv hielt. Trotzdem erklärte sich seine Hausbank bereit, ihm mit einem Kredit wieder auf die Beine zu helfen, nachdem Resi Kubner erklärt hatte, dass sie von nun an die Mitarbeiter aussuchen würde. Da das Tagblatt Ingvar nicht vorverurteilt hatte, bekam es als einzige Zeitung der Gegend ein Exklusivinterview von ihm, in dem er schilderte, was ihm zugestoßen war.

Fabia blieb noch zwei Wochen in Bergmoosbach und traf sich jeden Tag mit Ingvar. Als Ingvar das Angebot eines Pharmaunternehmens erhielt, das Pilzvorkommen in den skandinavischen Wäldern zu erforschen, wollte er wissen, ob er sich diesen Forschungsauftrag mit einer Biologin teilen könnte. Als das Unternehmen einwilligte, schlug er Fabia vor, ihn zu begleiten. Sie willigte ein.

Der neue Landdoktor Staffel 8 – Arztroman

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