Читать книгу Der neue Landdoktor Staffel 8 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 9
ОглавлениеSebastian Seefeld, der junge Landdoktor, konnte sich zwar an den munteren Anzeichen erwachenden Lebens freuen, aber sein Gesichtsausdruck blieb an diesem Morgen ernst. Seine Gedanken waren noch bei dem Besuch, zu dem er gegen Mitternacht gerufen worden war. Er hatte am Sterbebett eines älteren Mannes gesessen, und das Gespräch mit dessen Sohn beschäftigte ihn.
Als Sebastian zum Doktorhaus kam, traf er auf seinen Vater Benedikt, der im Garten taufrische Himbeeren für das Frühstück pflückte. Benedikts dichter, silbergrauer Haarschopf leuchtete im Sonnenschein, und das Lächeln in seinem markanten Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Er wusste seine Praxis bei seinem Sohn in den besten Händen und genoss nun nach einem arbeitsreichen Leben seine freie Zeit.
»Guten Morgen, Vater. Hast du gut geschlafen?«, begrüßte Sebastian ihn. Er legte seinem Vater den Arm um die Schultern und drückte ihn kurz an sich.
»Nanu?« Benedikt schaute seinen Sohn leicht überrascht an. »Wofür war das denn?«, fragte er freundlich.
»Ach, nur so«, antwortete Sebastian. »Einfach weil du da bist.«
Die beiden Männer gingen in die Küche hinein, wo Traudel, die gute Seele des Doktorhauses, gerade die frischen Semmeln aus dem Ofen holte. »Ich komme gerade von Familie Berger, Franz ist in den frühen Morgenstunden gestorben«, sagte Sebastian.
»Das ist jetzt ziemlich schnell gegangen«, erwiderte Benedikt ernst.
Der alte Franz Berger war früher sein Patient gewesen, der sich von einem tragischen Unfall im Forst nie wieder ganz erholt hatte.
»Wie geht es Daniel? Der Tod seines Vaters ist ja nicht plötzlich und unvermutet eingetreten, aber es wird den Bub doch hart getroffen haben. Er und sein Vater haben sich immer gut verstanden«, sagte Traudel voller Mitgefühl.
»Daniel hält sich tapfer«, antwortete der junge Landdoktor, »aber seine Trauer ist groß. Ich wünsche ihm, dass sein Bruder Robert so bald wie möglich kommt und ihm zur Seite steht.«
Benedikt und Traudel warfen sich einen vielsagenden Blick zu. »Ich fürchte, das wird nicht einfach werden«, sagte Traudel mit einem leisen Seufzer. »Daniel und Robert sind sich nie so nahe gewesen, wie es unter Brüdern eigentlich üblich ist.«
»Ich habe schon so etwas vermutet«, erwiderte Sebastian mit einem nachdenklichen Stirnrunzeln. »Seitdem ich die Praxis übernommen habe und Franz Berger mein Patient gewesen ist, habe ich den älteren Sohn kein einziges Mal am Krankenbett seines Vaters gesehen.«
»Von Rautende weiß ich, wie sehr Franz das belastet hat. Wenn es nach Robert gegangen wäre, hätte gar kein Kontakt mehr bestanden. Es ist immer Daniel gewesen, der versucht hat, die Verbindung aufrecht zu halten«, erzählte Traudel.
Sie hatte einiges von ihrer Freundin erfahren, die seit Jahrzehnten als Haushälterin bei Familie Berger lebte und arbeitete. Was Traudel fürs Doktorhaus bedeutete, war Rautende auf dem alten Gutshof ›Silberwald‹. Auch sie hatte immer wieder vergeblich versucht, den älteren Sohn Robert zu einem Besuch zu überreden.
»Man kann den Menschen nicht ins Herz schauen. Wer weiß, was Robert Berger aus Bergmoosbach fortgetrieben hat«, sagte Sebastian nachdenklich.
Ehe Traudel oder Benedikt darauf antworten konnten, kam Emilia, die Teenagertochter des jungen Landdoktors, in die Küche gestürmt. »Guten Morgen, Familie, meine Güte, ich bin spät dran, wir schreiben in der ersten Stunde Französisch, sind das frische Himbeeren, superklasse, danke an den Pflücker«, sprudelte sie ohne Punkt und Komma hervor und setzte sich an den schönen, alten Küchentisch.
»Guten Morgen, Spatzl«, antwortete Sebastian lächelnd. »Jetzt hol einmal tief Luft und iss in Ruhe dein Müsli, zum Frühstücken hast du noch genügend Zeit.«
»Du hast ja keine Ahnung, was ich noch vor der Schule erledigen muss«, erwiderte Emilia mit blitzenden Augen.
»Na, dann erkläre es uns doch bitte«, erwiderte ihr Vater geduldig.
Langsam verflüchtigte sich die schwere Stimmung, die durch das ernste Gespräch der Erwachsenen entstanden war, und die Küche des Doktorhauses war wieder von freundlichen Stimmen und Lachen erfüllt.
Ganz anders war die Atmosphäre in der großen Wohnküche vom Gutshof ›Silberwald‹. Der riesige Raum hatte eine dunkle Balkendecke, alte Fliesen auf dem Fußboden und an den Wänden, und neben modernen Küchengeräten gab es die massiven, teils bunt bemalten Möbel eines vergangenen Jahrhunderts. Am blank geschrubbten Küchentisch mit den vielen Kerben und Gebrauchsspuren eines langen Lebens saß Daniel Berger und starrte in den Kaffeebecher, den Rautende vor ihn gestellt hatte.
Daniel war ein gutaussehender Mann Mitte Dreißig mit blonden Haaren und dunkelblauen Augen. Er war groß, breitschultrig und wirkte nicht schwerfällig, obwohl er in der letzten Zeit deutlich an Gewicht zugelegt hatte. Daniel hatte eine angesehene Tischlerei aufgebaut, die sich auf Altbausanierung spezialisierte. Er war ein ruhiger, fleißiger und zuverlässiger Mann, der sich in seiner geringen Freizeit in der Gemeinde engagierte und dort hochangesehen war.
Rautende kannte ihn und seinen zehn Jahre älteren Bruder Robert seit deren Geburt. Genau wie ihre Freundin Traudel im Doktorhaus war sie hier die treue Stütze der Familie und eine zuverlässige Vertraute. Rautende Göpping ging auf die Siebzig zu, und es war unvorstellbar für sie, nicht mehr für die Bergers zu arbeiten.
Heute sah man ihr zum ersten Mal das Alter an. Ihr dichtes, silbergraues Haar, das sie zu einer klassischen Flechtkrone aufgesteckt hatte, wirkte stumpf, ihr sonst so lebhaftes Gesicht war wie leblos und vom Weinen gerötet. Ihre Hände, denen man die jahrzehntelange Hausarbeit ansah, hatte sie auf Daniels gelegt, und so trösteten sich die beiden Menschen wortlos in den ersten, stillen Stunden, die dem Tod folgen.
Endlich strich sich Daniel über die brennenden Augen und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Ich werde jetzt Robert anrufen.«
»Tu das, Bub«, antwortete Rautende leise. »Er wird schon kommen, der Robert, und dir zur Seite stehen.«
Daniel nickte, aber es wirkte nicht sehr überzeugt. Dankbar trank er den heißen, frischen Kaffee und raffte sich dann zu dem Telefonat auf, von dem er wünschte, er müsste es nicht führen.
Robert Berger war ein erfolgreicher Architekt und lebte seit über zwanzig Jahren im Tessin. Lukrative Aufträge führten in oft ins Ausland, und auch jetzt war er in seinem Tessiner Büro nicht zu erreichen. Robert hielt sich in Neuseeland auf.
Daniel konnte auf die Zeitverschiebung keine Rücksicht nehmen. Als er seinen Bruder erreichte, war der gerade auf einer Cocktailparty mit wichtigen Geschäftspartnern.
»Du erwartest von mir, dass ich um die halbe Welt fliege, um mit dir Abläufe zu besprechen, die du sehr gut allein organisieren kannst?«, fragte Robert ungehalten.
Das verschlug Daniel die Sprache. »Es geht nicht darum, dass ich die Beerdigung nicht allein organisieren kann. Es geht darum, dass Papa gestorben ist und ich dich gern daheim haben würde«, brachte er schließlich heraus.
»Papa und du, ihr seid immer sehr gut ohne mich ausgekommen. Ich nehme an, dass du damit auch in Zukunft keine Probleme haben wirst«, erwiderte Robert scharf. »Ist dir überhaupt bewusst, wie lange ich unterwegs sein muss? Das geht nicht, ich kann hier jetzt nicht weg und komme dann, wenn ich es einrichten kann. Du wirst mit der Unterstützung der fabelhaften Bergmoosbacher Dorfgemeinschaft sehr gut ohne mich klarkommen. Entscheide selbst, was zu tun ist, das hast du in den vergangenen Jahren ja auch ohne mich hinbekommen.«
Daniel war zu erschöpft, um sich auf eine weitere sinnlose Auseinandersetzung mit seinem Bruder einzulassen. Er antwortete nur: »Wenn du bei deiner Meinung bleibst, dann machen wir es so. Du hörst dann von mir.«
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte der ältere Bruder und beendete rasch das Telefonat. Das leise »Servus, Robert« am anderen Ende bekam er schon nicht mehr mit. Mit langen, energischen Schritten ging er zu der Abendgesellschaft zurück und suchte seine Freundin, die mit ihm nach Neuseeland geflogen war.
Lilly von Glasbach war eine zarte, auffallend gut aussehende junge Frau, nach der sich viele Männer umdrehten. Ihre langen dunklen Haare trug sie an diesem Abend mit exotischen Blumen aufgesteckt, und ihre dunkelgrünen Augen funkelten mit den echten Smaragdohrringen um die Wette. Sie trug ein kurzes, schulterfreies Abendkleid aus champagnerfarbener Wildseide und sah umwerfend aus. Neben ihrer Schönheit besaß Lilly Humor, Klugheit und Mitgefühl, und sie war eine aufmerksame Zuhörerin.
Gerade ihr Mitgefühl war es, was sie zu dem deutlich älteren Robert hingezogen hatte. Nach außen mochte er oft den kalten Geschäftsmann zeigen, aber aus seinen Erzählungen wusste sie, dass darunter noch etwas anderes lag.
Nach allem, was sie von ihm wusste, musste Robert eine schwierige Kindheit gehabt haben, in der ihn der jüngere Bruder ständig zur Konkurrenz herausforderte. Vor allem vom Vater verwöhnt und verzogen, hatte Daniel es verstanden, sich selbst ins rechte Licht zu setzen und den Bruder zu verdrängen. Kein Wunder, dass Robert Bergmoosbach so früh verlassen hatte, um sich ein eigenes Leben aufzubauen.
Als Lilly ihn jetzt durch die Menge der Gäste auf sich zukommen sah, erkannte sie an seinem verschlossenen Gesichtsausdruck, dass sein Telefonat kein angenehmes gewesen war. Sie legte leicht ihre Hand auf den Arm und schaute ihn freundlich an. »War es etwas Wichtiges?«, fragte sie leise.
»Nein«, antwortete Robert kurz. »Nur mein nerviger Bruder. Er wollte Organisatorisches mit mir besprechen.«
»Hat er denn nicht an die Zeitverschiebung gedacht? Er muss doch damit rechnen, dass du jetzt mit anderem beschäftigt bist, es ist später Abend«, sagte Lilly verwundert.
»Das kümmert meinen Bruder nicht«, erwiderte Robert hart. »Wenn Daniel etwas will, dann fragt er nicht, ob es anderen recht ist. Aber lassen wir uns dadurch nicht den Abend verderben, mein Schatz. Komm mit hinüber an die Bar, dort habe ich jemanden gesehen, den ich dir gern vorstellen möchte.« Mit einem charmanten Lächeln legte er Lilly seine Hand um den Ellenbogen und führte sie an die festlich geschmückte Bar.
Im Laufe der Nacht tauchte ungebeten die Erinnerung an das Telefonat wieder auf, aber Robert schob diese Gedanken energisch zur Seite. Es war fast zehn Jahre her, dass er seinen Vater gesehen hatte. Franz Berger war ihm schon lange völlig fremd geworden und hatte in einer anderen Welt gelebt. Er konnte nicht um seinen Vater trauern und hatte nicht das Bedürfnis, zur Beerdigung zu reisen.
Viel mehr beschäftigte Robert der Gedanke, was Lilly von seiner Entscheidung halten würde. Sie hatte ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern und würde sein Verhalten nicht verstehen können. Hätte sie eine solche Nachricht erhalten, sie säße im nächsten Flieger und wenn die Reise drei Tage dauerte. Robert musste sehr genau überlegen, was und wie viel er vom Telefonat mit seinem ungeliebten Bruder erzählen würde.
Gekonnt verdrängte er den Gedanken und konzentrierte sich auf seinen Auftraggeber, einen Schweizer Investor, der viel Geld für den Bau einer Luxusferienanlage in der Nähe von Christchurch ausgeben würde. Zufrieden stellte er wieder einmal fest, dass Lillys Klugheit und ihr Charme eine unwiderstehliche Mischung war, die ihm bei privaten und geschäftlichen Anlässen zugute kam. Das wollte er unter keinen Umständen gefährden.
*
Fast zwanzigtausend Kilometer entfernt in Roberts Heimatdorf hatte niemand den Kopf für lukrative Geschäftsabschlüsse bei edlem Champagner. Im Gutshaus ›Silberwald‹ kamen viele Menschen zusammen, die sich von Franz Berger verabschieden und seinem jüngsten Sohn ihr Beileid ausdrücken wollten. Rautende bekam liebevolle Unterstützung von Traudel und anderen Frauen, die ihr bei der Arbeit halfen. Im Haus herrschte leise Betriebsamkeit, und nach und nach organisierte Daniel alles für den letzten Weg seines Vaters so, wie der es sich gewünscht hatte. An einem schönen Sommertag, als die Sonne den Zenit überschritten hatte, wurde Franz Berger neben seiner geliebten Frau Sybille beigesetzt.
Das halbe Dorf war auf den Beinen, um dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Daniel erlebte den Tag bewegt und getröstet durch die aufrichtige Anteilnahme der Familie, Freunde und Nachbarn. Es war schön, das Leben des Vaters noch einmal so gewürdigt zu sehen. Franz Berger war ein beliebter Mann in der Gemeinde gewesen, selbst dann noch, als ihn ein Unfall bei der Forstwirtschaft ans Haus fesselte. Dieser Arbeitsunfall hatte das Leben des Gutsbesitzers und seines jüngsten Sohnes von Grund auf verändert, und jetzt stand Daniel wieder an einem Wendepunkt.
Rautende hatte die letzten Gäste zur Tür begleitet und trat nun neben Daniel, der erschöpft in der Eingangshalle stand und auf den alten Tisch starrte, auf dem sich eine Fülle an Blumen und Briefen drängte. Sie schob ihren Arm unter den des jungen Mannes und drückte ihn sachte.
»Es ist doch schön, dass alle gekommen sind. Das hilft, gell?«, sagte sie liebevoll.
»Es sind eben nicht alle gekommen«, antwortete Daniel ungewohnt heftig. »Robert ist nicht hier, sondern bei seinem ach, so wichtigen Auftrag am anderen Ende der Welt.«
Rautende lehnte müde den Kopf an seine Schulter und wischte sich mit der Hand über die brennenden Augen. »Du kennst ihn doch, den Robert«, sagte sie leise. »Da ist wohl nichts zu machen.«
»Das werden wir sehen«, knurrte Daniel. Er fühlte sich unendlich müde und erschöpft, aber gleichzeitig auch wütend. So wütend wie er am Beerdigungstag seines Vaters nicht sein wollte, aber er konnte nichts dagegen tun. Er drückte Rautende kurz an sich, dann fragte er: »Kannst du mich beim Aufräumen für eine Viertelstunde entbehren? Ich muss dringend mit Robert sprechen.«
»Natürlich, Bub, nimm dir alle Zeit, die du brauchst«, antwortete sie sofort. Sie ging zu Traudel in die Küche, die dort den Abwasch vorbereitete. Die beiden Freundinnen arbeiteten Hand in Hand und unterhielten sich leise über den Tag, während Daniel ins Büro hinüberging, um seinen Bruder anzurufen.
Robert war eben vom Tennisplatz gekommen und unter die Dusche gegangen, als sein Handy klingelte. Er hatte gleich ein wichtiges Arbeitstreffen und war ärgerlich, weil ihn das Klingeln aus dem sanften Genuss der Regenwasserdusche herausriss.
»Lilly? Drück das Gespräch weg, ich bin jetzt für niemanden zu sprechen!«, rief er ungehalten in das luxuriöse Hotelzimmer hinüber.
Lilly griff nach dem Handy und zögerte, als sie den Namen im Display las. Was wollte Daniel denn schon wieder von seinem Bruder? Die junge Frau hatte mitbekommen, dass Daniel in der vergangenen Woche mehrere Male angerufen hatte. Jedes Mal war Robert hinterher wortkarg und verschlossen gewesen. Sie wusste nicht, worum es ging, aber es schien etwas Wichtiges zu sein, was Robert beschäftigte und bedrückte. Vielleicht wäre es jetzt nicht gut, das Gespräch einfach wegzudrücken?
Kurz entschlossen nahm Lilly das Gespräch entgegen. »Hallo? Hier Lilly von Glasbach am Apparat von Robert Berger«, meldete sie sich.
Für einen Augenblick herrschte überraschtes Schweigen, dann sagte eine angenehme, tiefe Männerstimme: »Hier ist Daniel Berger, ich möchte meinen Bruder sprechen.«
»Das geht im Augenblick nicht, Robert ist nicht zu erreichen«, erwiderte sie zurückhaltend.
»Ach, nein?« Die Männerstimme wurde scharf. »Und womit ist mein Bruder wieder einmal so sehr beschäftigt, dass er nicht einmal zur Beerdigung kommen konnte?«
»Wie bitte? Zu welcher Beerdigung?«, fragte Lilly überrascht.
»Zu der unseres Vaters.« Jetzt kippte die Stimme und klang heiser vor Erschöpfung. »Sagen Sie ihm, der Tag ist vorüber, nun braucht er nicht mehr zu kommen.«
»Was … Ich verstehe nicht«, stammelte Lilly verwirrt, »was haben Sie eben gesagt? Roberts Vater ist heute beerdigt worden?«
Bei diesen Worten lachte der Mann auf, und es klang, als hätte er lieber geweint. »Ja, Roberts und mein Vater«, wiederholte er. »Sagen Sie meinem Bruder einfach, dass alles so gemacht worden ist, wie ich es vorgeschlagen hatte.«
Lilly traute ihren Ohren nicht. Die Nachricht war so schockierend und plötzlich gekommen, dass sie Zeit brauchte, um sie richtig zu verstehen.
»Heißt das, Roberts Vater ist gestorben und bereits beerdigt? Und Sie haben alles allein in die Hand genommen, ohne dass Robert kommen und sich verabschieden konnte?«, fragte sie entsetzt.
»Nein, das verstehen Sie falsch«, antwortete Daniel. »Gleich nachdem Vater eingeschlafen war, habe ich Robert angerufen und gebeten zu kommen. Er sagte, er könne erst dann kommen, wenn es beruflich möglich ist. Ich glaube, bei Ihnen in Neuseeland war es Nacht, und Robert war wegen eines Geschäfts auf einer wichtigen Cocktailparty.«
»Ja, ich erinnere mich«, flüsterte Lilly ungläubig.
»Nun, jetzt hat es sich erledigt. Richten Sie ihm das bitte aus. Leben Sie wohl, Lilly, und viel Glück mit meinem Bruder«, beendete Daniel das Gespräch.
Erschüttert starrte Lilly auf das schweigende Handy in ihrer Hand. In ihrem Kopf rasten die Gedanken wild durcheinander. Richard hatte vom Tod seines Vaters erfahren und war nicht sofort nach Hause geflogen? Er kannte das Datum der Beerdigung und war selbst dann nicht zurückgekehrt? Und er hatte ihr kein einziges Wort davon erzählt …
Was sollte sie davon halten?
Erfrischt und mit seinen Gedanken schon beim nächsten Meeting, kam Robert ins Zimmer zurück und zog sich um. Plötzlich fielen ihm Lillys tiefes Schweigen und ihr prüfender Blick auf.
»Was ist los? Du schaust mich so seltsam an«, sagte er überrascht.
»Dein Bruder hat angerufen. Ich soll dir ausrichten, dass heute die Beerdigung gewesen ist«, antwortete sie ruhig.
Robert seufzte ungeduldig. Es war nicht gut, dass Lilly es auf diese Weise erfahren hatte, aber das war nun nicht mehr zu ändern. Er setzte sich neben sie und griff nach ihrer Hand, aber sie zog sie zur Seite.
»Ich finde es unglaublich, dass du nicht sofort nach Hause geflogen bist«, sagte sie. »Und auch, dass du mir nichts vom Tod deines Vaters gesagt hast. Wie konntest du das alles deinem Bruder überlassen, ich verstehe das nicht.«
»Natürlich nicht. Du hast ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern und deinen beiden Geschwistern«, antwortete Robert. »Wärest du so aufgewachsen wie ich, so einsam und abgedrängt, dann könntest du es vielleicht eher verstehen. Du hast mit Daniel gesprochen? Dann hat er sicher gesagt, dass alles so getan worden ist, wie er es angeordnet hat.«
»Ja, so ähnlich hat er sich ausgedrückt«, bestätigte Lilly.
»Siehst du? Er wollte mich doch gar nicht dabei haben, ich wäre vollkommen überflüssig gewesen. Daniel weiß sehr genau, was er will. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ihm meine Meinung wichtig gewesen ist!«, sagte er vorwurfsvoll.
Lilly schluckte. »Das muss schlimm für dich sein«, antwortete sie traurig und legte ihre Wange gegen seine. Er war frisch rasiert und roch nach seinem Duftwasser, herb, edel und sehr vertraut. »Ich kann mir kaum vorstellen, wie sehr. Wenn ich nur wüsste, wie ich dir helfen kann.«
»Indem du mir zur Seite stehst«, antwortete Robert rasch, »und mit mir kommst. In einigen Wochen kann ich hier weg und dann will ich nach Bergmoosbach. Du hast noch Semesterferien, wirst du mitkommen?«
»Natürlich will ich das«, antwortete Lilly ernst. »Ich lass dich nicht allein an einen Ort gehen, an dem du nicht gern gesehen bist.«
»Mein lieber Schatz.« Robert küsste sie zärtlich und stand dann rasch auf. Es war Zeit für seinen Termin. »Lass uns neben dem Geschäftlichen die Zeit hier in vollen Zügen genießen. Um Bergmoosbach und die schlechten Erinnerungen können wir uns später kümmern.«
*
Rautende schaute verstohlen zu dem Mann hinüber, der für sie immer noch ›der Bub‹ war. Daniel sah müde aus, und sie konnte ihm anmerken, dass er sich sehr zusammenriss, um im Alltag gut zu funktionieren. Die Beerdigung lag nun einige Wochen zurück, aber noch war nicht der normale Alltag eingekehrt. Daniel wollte nichts im Haus ändern und die Dinge seiner Eltern aussortieren, ohne dass sein Bruder heimgekommen war. Robert sollte genau wie Daniel entscheiden können, was als Erinnerungsstücke an die Familie behalten wurde und was sie weggeben wollten.
Sie wusste, dass Roberts Lieblingsessen früher der klassische Zwiebelrostbraten mit Semmelknödeln gewesen war, und den hatte sie vorbereitet. Falls die junge Frau Vegetarierin war, konnte schnell ein frischer Gemüseauflauf in den Ofen geschoben werden. Zum Nachtisch sollte es Bayerische Creme mit Himbeersauce geben.
Die meisten Lebensmittel stammten vom Gutshof, aber das eine oder andere musste noch im Dorf besorgt werden. Daniel wollte noch Wein mitbringen, einige Gewürze und einige neuerschienen Bücher, die er seiner Familie auf den Nachttisch legen wollte. Er griff nach Rautendes Einkaufszettel und nickte ihr zu.
»Fällt dir noch etwas ein, was du haben möchtest? Ich fahre jetzt los«, sagte er zu ihr und stand langsam vom Küchentisch auf.
»Ich kann auch gern selbst fahren«, antwortete Rautende rasch. »Dann hast du noch ein wenig Zeit für dich, ehe sie kommen.«
Du solltest dich ausruhen, leg dich doch ein halbes Stündchen hin, du hast in der letzten Zeit mehr als genug getan, dachte sie im Stillen.
Daniel gelang ein Lächeln. »Wir erwarten keinen Staatsbesuch, sondern Familie«, antwortete er. »Und du musst mich nicht wie ein rohes Ei behandeln. Ich bin nicht krank, nur etwas müde von den Anstrengungen der letzten Zeit. Es war nicht leicht, den Betrieb in der Tischlerei wie gewohnt am Laufen zu halten. Ich wollte den Auftrag von Lena Bräuer nicht verzögern. Du weißt, dass sie es gerade in dieser Zeit nicht leicht gehabt hat.«
»Bub, es ist ja aller Ehren wert, dass du dich auch noch um Lena mit ihrem Herzenskummer und der Zwillingsschwangerschaft gesorgt hast, aber wann denkst du eigentlich mal an dich?«, sagte Rautende mit einem liebevollen Kopfschütteln.
Daniel lachte leise, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und fuhr vom Hof, um die nötigen Besorgungen zu erledigen. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass Rautende recht hatte. Daniel merkte selbst, dass ihm die Arbeit nicht mehr so leicht wie früher von der Hand ging. Das ärgerte ihn, denn er war erst Mitte Dreißig und viel zu jung, um kürzerzutreten. Er müsste einfach wieder mehr Sport treiben, die Gewichtszunahme der letzten Zeit war nicht gut. Obwohl er nicht mehr aß als sonst, hatte er einige Kilo zugelegt. Wenn erst einmal die letzten Dinge auf ›Silberwald‹ geregelt waren, würde er auch wieder mehr Zeit haben. Und wer weiß, vielleicht ergab sich die Gelegenheit für die eine oder andere Joggingrunde zusammen mit Robert entlang des Sternwolkensees.
Während Daniel in Bergmoosbach die letzten Einkäufe erledigte, nahmen Robert und Lilly am Flughafen den bestellten Mietwagen entgegen. Robert lebte in Lugano im Tessin, und von dort war das Paar nach München geflogen.
Die junge Frau hatte versucht, von Robert mehr über sein Zuhause zu erfahren, aber Robert war wortkarg geblieben. Zu ihrer Verwunderung besaß er keine Erinnerungsstücke an daheim und nur ein einziges Foto, welches das Gutshaus zeigte.
Es war ein eingeschossiges, schön gegliedertes Haus mit einem altmodisch geschwungenen Mansarddach. Hohe Fenster mit grünen Läden unterteilten harmonisch die weiße Fassade, und eine kurze Freitreppe führte hinauf zur dunkelgrünen Haustür. Alle Wohnräume lagen auf einer Ebene, im Souterrain mit den vielen kleinen Fenstern waren die Küche und alle Wirtschaftsräume untergebracht. Die parkähnliche Rasenfläche, auf der das Gebäude stand, war von einer doppelten Reihe hoher, silbrig schimmernder Birken umgeben.
»Heißt das Gutshaus deshalb ›Silberwald‹?«, fragte Lilly interessiert.
»Ja, das war der gefühlsselige Einfall meiner Ur-Großmutter«, antwortete Robert gleichgültig. »Als ihr Mann und sie das Haus bauten, hat es dort ausgedehnte Birkenwälder gegeben, die dann im Laufe der Zeit abgeholzt und landwirtschaftlich genutzt wurden. Der Ring aus Birken, die das Haus umstehen, ist der Rest des Waldes. Ich fand schon immer, man hätte sie fällen sollen. Birken verlieren ständig Reiser, das erfordert viel Gartenpflege.«
»Aber es sieht schön aus«, widersprach Lilly. »Es macht einen schützenden Eindruck, ohne düster oder einengend zu wirken. Mir gefällt es sehr.«
»Warte ab, bis du es tatsächlich siehst und in ihm wohnen musst«, warnte Robert. »Es ist ein altes Gemäuer, das sich schwer heizen lässt und ständig feucht und muffig riecht. Ich glaube nicht, dass sich im Haus viel geändert hat, weder mein Vater noch Daniel sind für Modernisierungen zu haben. Außerdem war Vater immer wieder krank und ist als Arbeitskraft ausgefallen. Und Rautende, unsere Haushälterin, meine Güte, sie müsste jenseits der Siebzig sein und ist immer noch da. Kannst du dir vorstellen, wie es im Haus aussieht, in dem der Geschmack einer alten Frau vorherrscht?«
Lilly warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Robert, hörst du eigentlich, wie arrogant und herzlos das klingt? Was ist nur los mit dir, so kenne ich dich gar nicht«, sagte sie ernst.
Der Mann griff nach ihrer Hand und drückte sie kurz. »Entschuldige, mein Liebling, ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Du hast mich nicht erschreckt, ich bin nur sehr verwundert. Immerhin sprichst du von deinem Zuhause und von einer Frau, die dich seit deiner Geburt kennt und mit für dich gesorgt hat«, entgegnete Lilly.
Robert unterdrückte einen gereizten Seufzer. »Du wirst nie ganz verstehen können, wie ich in Bergmoosbach gelebt habe«, sagte er schroff.
»Ich gebe mir alle Mühe«, antwortete Lilly ruhig. »Ich weiß doch, wie unglücklich du gewesen bist und dass dieser Besuch für dich schwer ist.«
»Ja, ich wünsche mir, dass er so bald wie möglich vorbei ist. Ich werde mit meinem Bruder den Nachlass regeln und dann fliegen wir so bald wie möglich nach Lugano zurück«, erwiderte er.
Lilly schüttelte leicht den Kopf. »Hast du vergessen, dass meine Semesterferien nicht endlos sind? Ich muss bald wieder in Berlin sein, das Studium wartet auf mich, und außerdem will ich auch noch zu meiner Patenfamilie an den Tegernsee.«
Er lachte. »Da siehst du, wie sehr du mich begeisterst. Ich habe tatsächlich nicht an deine eigenen Pläne gedacht, meine spätere Frau Kollegin.«
»Das solltest du aber«, antwortete sie, »denn diese Pläne sehen auch vor, dass ich dich sehr bald wieder in Lugano besuchen werde.« Lilly beugte sich zu ihm hinüber und drückte einen Kuss auf seine Wange.
»Du wirst es doppelt genießen, nachdem du Gast im spießigen Bergmoosbach gewesen bist«, prophezeite Robert mit einem schiefen Grinsen.
Lilly schaute über die sattgrüne, hügelige Landschaft mit dem beeindruckenden Alpenpanorama im Hintergrund und antwortete: »Das glaube ich kaum.« Allmählich begannen sie die abfälligen Bemerkungen über seine Heimat zu stören, aber Lilly schob Roberts Unfreundlichkeit auf seine Anspannung wegen des bevorstehenden Wiedersehens mit dem schwierigen Bruder. Sie beschloss, sich davon nicht weiter irritieren zu lassen, lehnte sich entspannt zurück und genoss die Fahrt durch die wunderschöne, sommerliche Landschaft.
Keine halbe Stunde später hatten sie Bergmoosbach erreicht, das sich geschützt in einem Tal am Sternwolkensee erstreckte. Sie fuhren am äußeren Ortsrand entlang und dann zum Gutshof ›Silberwald‹ hinauf, das inmitten von Wiesen und Feldern auf einer sanften Anhöhe lag. Eine mit Kies bestreute Auffahrt führte zwischen den schimmernden Birken entlang und endete vor der kurzen Freitreppe.
Zwei wunderschöne Collies kündigten den Besuch mit lautem Bellen an und nahmen dann wachsam am Fuß der Freitreppe Platz. »Das war auch so etwas Typisches für meine Jugend. Daniel hat Lassie im Fernsehen gesehen und wollte prompt einen Collie haben. Noch im selben Jahr wurde so ein Köter angeschafft«, sagte Robert. Zwischen seinen Augenbrauen war eine steile Falte erschienen, und er starrte die Tiere finster an.
»Magst du keine Hunde?«, fragte Lilly überrascht.
»Darum geht es nicht«, knurrte Robert. »Es geht darum, dass Klein-Daniel nur einmal etwas sagen musste und er bekam das, was er haben wollte.«
»Robert, lass gut sein, das ist vorbei«, ermahnte Lilly ihn sanft. Sie stieg aus dem Wagen und näherte sich respektvoll den beiden Hunden, welche den Eingang bewachten. »Guten Tag, ihr Schönen«, sagte sie freundlich und streckte langsam ihre Hand aus, damit die Tiere Kontakt aufnehmen konnten, wenn sie es wollten. Das taten die beiden Hunde so freundlich-zurückhaltend, wie es ihrem Wesen entsprach, aber sie zeigten deutlich, dass sie die Besucherin willkommen hießen.
Und das war der erste Eindruck, den Daniel von Lilly hatte: eine wunderhübsche junge Frau im zartfarbigen Sommerkleid, die sich leise mit seinen Hunden unterhielt. Ihr langes dunkles Haar fiel offen über Schultern und Rücken, und ihre Augen schimmerten grün wie Waldseen, auf denen Sonnenstrahlen tanzten. Sie war nicht nur hübsch und anziehend, sondern sie strahlte außerdem Lebensfreude und eine Wärme aus, die Daniel mitten ins Herz trafen.
Jetzt trat sein Bruder neben die junge Frau, legte den Arm um ihre Schultern und zog sie wie unbeabsichtigt näher an sich heran. »Wie ich sehe, hat sich hier nichts verändert«, sagte er und wies mit dem Kinn auf die beiden Collies.
Daniel holte tief Luft. »Grüß Gott, Robert. Ich freue mich, dass du hier bist, willkommen zu Hause«, sagte er freundlich und reichte seinem Bruder die Hand.
»Mein Zuhause ist in Lugano«, stellte Robert klar. Er erwiderte Daniels Händedruck und ließ einen prüfenden Blick über seinen jüngeren Bruder wandern. Mit einer gewissen Genugtuung registrierte er, dass Daniel nicht so strahlend und kraftvoll aussah, wie er ihn in Erinnerung hatte. »Ich hoffe, wir können die Zeit hier gut nutzen, damit alles Nötige schnell geregelt ist«, sagte er forsch.
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Daniel ernst. Er musste sich zusammennehmen, um seine Enttäuschung zu verbergen. Sicherlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ihn sein Bruder liebevoll umarmen würde, aber ganz so kalt und geschäftsmäßig wie eben hatte er sich das Wiedersehen nicht vorgestellt.
»Und das hier ist Lilly von Glasbach«, stellte Robert mit sichtbarem Stolz die junge Frau vor.
»Herzlich willkommen, Lilly. Ich freue mich, dich kennenzulernen«, sagte Daniel warmherzig und streckte ihr seine Hand entgegen.
Lillys Gesicht, das sich eben noch so freundlich den Collies zugewandt hatte, war jetzt glatt und ausdruckslos. »Guten Tag, Daniel«, antwortete sie kühl. Sie würde ihrem Gastgeber gegenüber nicht unhöflich sein, aber sie musste ihn ja nicht mögen.
»Mei, ist das schön, dich wieder einmal hier zu haben, Großer!«, rief eine Frauenstimme von der geöffneten Haustür. Mit raschen Schritten lief Rautende die Stufen hinunter, schlang ganz einfach die Arme um Robert und drückte ihn herzhaft.
Der Mann war zu überrascht von dem herzlichen Empfang, um ihn abzuwehren. Er ließ ihn über sich ergehen, ohne die Umarmung zu erwidern. »Hallo, Rautende«, sagte er nur und stellte dann die beiden Frauen einander vor.
Die lebenskluge Haushälterin ließ sich von Roberts frostigem Auftreten nicht abschrecken. »Es ist schön, dass Sie hier sind, Lilly, genießen Sie den Besuch bei uns in ›Silberwald‹. Ich habe für Sie und Robert sein altes Zimmer hergerichtet; ich denke, ihr fühlt euch dort wohl«, sagte sie herzlich.
Sofort runzelte Robert unwillig die Stirn. Sein altes Zimmer, das er als ganz junger Mann hinter sich gelassen hatte – das fehlte gerade noch! »Haben wir kein anderes Gästezimmer?«, fragte er unwillig.
»Freilich«, antwortete Rautende unbekümmert, »aber ihr seid keine Gäste, ihr seid Familie.«
Ehe ihr Freund darauf einsteigen konnte, griff Lilly rasch nach ihrer Reisetasche und sagte: »Komm, lass uns unser Gepäck hineinbringen. Es ist heiß hier in der Sonne, und ich würde gern ins Kühle gehen.«
»Davon hast du hier mehr als genug«, murmelte Robert und hob seinen eigenen Koffer aus dem Auto. Er warf einen raschen Blick auf die Fassade des großen Hauses und stellte überrascht fest, wie gepflegt sie aussah. Der weiße Anstrich konnte nur wenige Jahre alt sein, die Fenster waren neu und fügten sich perfekt in das alte Umfeld ein. Neben der zweiflügeligen Haustür, die einladend geöffnet war, standen zwei große, kobaltblaue Pflanzkübel mit weißen Hortensien.
»Wer ist denn für diese Deko verantwortlich?«, fragte er. »Soviel Stil hatte ich hier nicht erwartet.«
Daniel schaute ihn seltsam an. »Das sind Mamas Pflanztöpfe, und sie stehen seit vierzehn Jahren neben der Haustür. Erinnerst du dich nicht daran?«
Nein, das tat Robert nicht. Er zuckte gleichgültig die Achseln und trat in die Eingangshalle mit dem klassischen, schwarz-weißen Fliesenboden. Hier war es angenehm kühl, aber keineswegs feucht und muffig. Das Sonnenlicht ließ die Holzfußböden der angrenzenden Zimmer aufleuchten.
Überrascht musste Robert zugeben, dass der erste Eindruck, den er vom Haus hatte, ganz anders als erwartet war. Alles wirkte geschmackvoll und wohnlich, das Haus war im Laufe der Zeit sehr gekonnt renoviert worden. Robert als Architekt konnte den Wert der geleisteten Arbeit gut einschätzen und er erkannte, wie sehr ihm dieses Anwesen nützen würde. In seinem Kopf erwachten ganz neue Gedanken.
Nachdem das Paar sein Gepäck ins Zimmer gebracht und sich eingerichtet hatte, erwartete Rautende sie im Garten, wo im Schatten eines alten Walnussbaums einige Erfrischungen vorbereitet waren.
»Habt ihr Lust zu einem Rundgang?«, fragte Daniel. »Ich habe mir heute frei genommen, und wir könnten uns zusammen alles ansehen. Es hat sich einiges verändert, seitdem du zum letzten Mal hier gewesen bist.«
»Das sehe ich«, antwortete Robert. »Wie ist es dazu gekommen? Hier war man doch sonst nicht so offen für Veränderungen und Neuerungen.«
»Alles zu seiner Zeit«, erwiderte Daniel ruhig. Er hatte beschlossen, sich von Robert nicht aus der Fassung bringen zu lassen. »Papas Krankheit und der Aufbau der Firma haben Kraft und Zeit in Anspruch genommen. Wir wollten ›Silberwald‹ in seiner ursprünglichen Form erhalten, nicht nur hier und dort einige halbherzige Modernisierungen durchführen.«
Robert runzelte irritiert die Stirn. »Welche Firma meinst du?«
»Unsere Tischlerei«, antwortete Daniel mit ehrlichem Stolz in der Stimme.
»Den Zwei-Mann-Betrieb?«, winkte Robert geringschätzig ab.
Rautende schnappte empört nach Luft und wollte widersprechen, aber Lilly kam ihr zuvor. »Ich glaube kaum, dass ein Zwei-Mann-Betrieb die Glaskuppel über dem Festsaal in der Burgruine hätte bauen können«, sagte sie ruhig.
Unwillkürlich schoss Daniel das Blut in die Wangen. Berechnung und Bau dieser Glaskuppel waren ein Meisterwerk gewesen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Lilly dieses Projekt kannte. »Woher weißt du von den Arbeiten an der gläsernen Kuppel über der Burg?«, fragte er interessiert.
Sie schaute ihn kühl an. »Ich studiere Architektur und habe darüber eine Semesterarbeit geschrieben.«
»Davon weiß ich ja gar nichts«, ging Robert eifersüchtig dazwischen.
Lilly lächelte ihn an. »Es war, bevor wir uns kennenlernten«, antwortete sie beschwichtigend, »und bis vor Kurzem habe ich nicht gewusst, dass dieser Fensterbauer dein Bruder ist.«
»Mei, worüber redet ihr zwei denn miteinander?«, wunderte sich Rautende. »Du bist Architekt, Robert, und wirst von der Leistung deines Bruders erfahren haben. Bist du denn gar nicht stolz auf das, was Daniel erschaffen hat?«
»Meine berufliche Aufmerksamkeit liegt bei vielem«, erwiderte Robert von oben herab. »Das, was in Bergmoosbach gebaut wird, ist dabei nicht von großem Interesse.«
»Aber der Daniel ist doch …«, rief Rautende empört, wurde aber von dem jüngeren Bruder unterbrochen.
»Ist schon in Ordnung, Rautende«, glättete Daniel die Wogen. Er wollte nicht schon am Ankunftstag eine Auseinandersetzung haben. »Deine geeiste Limonade und die Brezel waren köstlich wie immer, vielen Dank. Wollen wir dann jetzt unseren Rundgang machen?«
»Ja, gern; nach dem Sitzen im Flieger und im Auto mag ich mich jetzt bewegen«, antwortete Lilly und stand sofort auf. Sie schob ihre Hand in die von Robert. »Kommen deine Hunde auch mit?«
»Was denkst denn du? Daniel ist doch nichts ohne seine Lassie«, sagte Robert spöttisch.
»Du hast einen der Collies tatsächlich Lassie genannt?«, fragte Lilly erstaunt.
»Nein«, antwortete Daniel ruhig. »Mein erster Collie hieß Bonnie und diese beiden hier sind Athos und Alamea.«
Beim vertrauten Klang ihrer Namen stellten sich die beiden klugen Hunde neben ihren Herrn und warteten auf sein Kommando. Daniel brauchte nur leicht den Kopf zu bewegen, und die Collies liefen in die Richtung, die er angezeigt hatte.
»Du hast sie sehr gut erzogen«, sagte Lilly, wider Willen beeindruckt.
»Wir können uns aufeinander verlassen«, antwortete Daniel schlicht. »Kommt, beginnen wir unseren Rundgang im Garten.«
Während sie durch das üppige Grün gingen, spürte Lilly, wie einiges ihrer inneren Anspannung von ihr abfiel. Der unbekannte Bruder war weit weniger unangenehm und fordernd, als Robert ihn beschrieben hatte. Im Gegenteil, aus seinem Verhalten sprach kein Besitzerstolz, sondern vielmehr eine tiefe Liebe zum ›Silberwald‹, die ihr den Mann unmerklich sympathisch machte.
Auch Robert erkannte, dass er sich von etlichem ein falsches Bild gemacht hatte. Weder war das Gutshaus heruntergekommen, noch das dazugehörige Land vernachlässigt.
›Silberwald‹ war immer ein landschaftlicher Betrieb gewesen, mit dem Ausbau der Tischlerei hatte erst Daniel begonnen. Jetzt waren die umliegenden Ländereien, die Ställe und Scheunen verpachtet, vom Gutshof wurden nur noch die Gärten und eine große Streuobstwiese bewirtschaftet. Daniels kleine Tischlerei hatte sich zu einem großen, gut gehenden Betrieb entwickelt, der sich an einer anderen Stelle des Dorfes befand.
»Ich habe mich auf Altbausanierung spezialisiert und baue Fenster, Türen und Treppen nach alten Mustern oder restauriere sie, aber ich bin auch Möbeltischler«, erklärte Daniel. »In unserem ehemaligen Pferdestall ist die Werkstatt für den Möbelbau und Restaurierungen untergebracht.«
Robert und seine Freundin schauten sich sehr aufmerksam um. »Ihr habt früher auch Pferde gehabt? Reitest du gern?«, fragte Lilly interessiert und lugte zur Sattelkammer hinüber, die immer noch nach Leder und Pflegemitteln roch.
»Ja, sehr«, antwortete Daniel mit einem kleinen Seufzer. »Aber dafür hat mir in den letzten Jahren einfach die Zeit gefehlt, und für einen Ausritt am Sonntag wollte ich kein Pferd auf der Weide oder im Stall warten lassen. Die Pferde sind an einen Nachbarn verkauft worden und haben jetzt ein schönes Leben auf dem Gestüt Brunnenhof bei Familie von Raven. Wenn ich es einrichten kann, fahre ich zum Reiten hinüber, aber leider geschieht das viel zu selten.«
»Das sieht man, du hast ganz schön zugelegt, kleiner Bruder«, sagte Robert spöttisch. Er war stolz auf seine sportliche Figur, für die er eine Menge Zeit im Fitnessraum verbrachte. »Dir täten mehr Bewegung und etwas weniger von Rautendes Hausmannskost gut.«
Bei dieser taktlosen Bemerkung runzelte Lilly leicht die Stirn und versetzte Robert einen diskreten Rippenstoß, aber Daniel schien die lieblosen Worte überhört zu haben. Mit ruhiger Stimme berichtete er weiter von den Arbeiten, die vorgenommen worden waren. Er zeigte seinem Bruder das, was einmal ihr gemeinsames Zuhause gewesen war, und die ganze Zeit brannte sein Herz.
Es brannte vor Zorn, weil Robert mit keinem Wort nach den letzten Tages ihres Vaters oder der Beerdigung fragte; weil er nicht daran dachte, auf den Friedhof zu gehen; weil er ›Silberwald‹ nur mit abschätzenden Augen betrachtete wie ein kritischer Käufer; weil es ihm völlig gleichgültig schien, was die vergangenen zehn Jahre für seinen jüngeren Bruder bedeutet hatten.
Und es brannte vor Schmerz, weil Daniel nun endgültig wusste, dass er allein zurückgeblieben war und Robert mit ihm nicht einmal die Erinnerungen teilen würde.
Je weiter sie gingen, je mehr Daniel von seinem Leben hier zeigte, desto stiller wurde er. Es strengte ihn mehr an als die Jahre, in denen er seine Zeit zwischen Arbeit und der Pflege seines Vaters hatte einteilen müssen. Das war ihm immer ganz natürlich vorgekommen, trotz der Belastung. Aber nun, an der Seite dieses fremden Bruders, spürte er eine lähmende Müdigkeit und Leere. Entgegen aller Vernunft hatte er sich auf Roberts Besuch gefreut, aber kaum war er drei Tage hier, wünschte sich Daniel die Abreise herbei. Außer Geschäftlichem und Organisatorischem hatten sich die beiden Brüder nichts zu sagen, und Lillys Anwesenheit machte die Situation nicht einfacher.
Lilly war Daniel gegenüber nicht mehr so kühl wie am ersten Tag, aber sie blieb weiter zurückhaltend, wenn sie mit ihm sprach. Anders als Robert zeigte sie aber ein tief empfundenes Interesse an ›Silberwald‹ und dessen Geschichte. Zu Rautende hatte sie ein herzliches Verhältnis entwickelt, und die ältere Frau erzählte vieles aus der Kindheit und Jugend der beiden Brüder, von deren Eltern und Großeltern und aus dem Leben in Bergmoosbach. Lilly hörte begeistert zu, stellte kluge Fragen und verbrachte viele Stunden in der Bibliothek des Hauses, in der die Papiere der Familie, alte Dokumente, Gemälde und Fotografien aufbewahrt wurden.
»Du hast mir gar nicht erzählt, dass deine Mutter eine Künstlerin gewesen ist«, sagte sie eines Nachmittags, als sie zusammen in der Bibliothek saßen. Lilly blätterte behutsam durch eine Mappe, die ungerahmte Arbeiten von Sybille Berger enthielt.
Robert saß an dem alten Schreibtisch und sortierte wichtige Unterlagen, die für den Termin beim Notar gebraucht wurden. Er schaute kaum auf, denn ihn beschäftigte immer noch die Tatsache, dass offensichtlich kein Testament vorhanden war. »Hm, was? Ja, sie konnte ganz gut malen und zeichnen«, murmelte Robert zerstreut.
»Ganz gut trifft es wohl kaum, sie war sehr talentiert«, erwiderte Lilly. »Schau dir doch nur einmal diese Bilder an, die durch Kalligraphie entstanden sind, das sind Kunstwerke.«
»Verstehst du etwas von Kalligraphie?«, fragte Robert.
»Die Frau meines Patenonkels arbeitet siet Langem mit Kalligraphie und hat sich als Künstlerin einen Namen gemacht. Ich habe ihr Können immer bewundert und finde es wunderschön«, antwortete Lilly nachdrücklich.
»Mag ja sein, dass es Kunst ist, aber ich habe sie nie verstanden«, erwiderte Robert achselzuckend. »Es ist doch nur eine komplizierte Art der Schönschrift. Warum sollte man sich eine derartige Mühe machen, wenn man etwas schreiben will? Die Buchstaben sind so verschnörkelt und verfremdet, dass sich die Texte kaum noch lesen lassen.«
Lilly musste lachen. »Genau das ist die Kunst, alter Brummbär«, sagte sie und legte die Mappe in den Schrank zurück. Sie gab Robert einen flüchtigen Kuss auf die Wange und ging zur geöffneten Terrassentür. »Ich glaube, ich lasse dich jetzt besser allein, damit du beim Sichten der Papiere deine Ruhe hast.«
Robert brummte etwas Zustimmendes und nahm sich den nächsten Ordner vor. Er war gereizt. Irgendwo musste doch ein Testament sein, schließlich stellte das Anwesen ›Silberwald‹ einen beträchtlichen Wert da.
Bisher war Robert davon ausgegangen, dass Grund und Boden verkauft wurden und das Geld zu gleichen Teilen an die beiden Brüder ging. Er war davon ausgegangen, ›Silberwald‹ in heruntergekommenen Zustand vorzufinden. Robert wollte hier und da etwas verschönern lassen, um dann beim Verkauf den größeren Geldanteil einstreichen zu können.
Er hatte weder damit gerechnet, das Anwesen so gut saniert vorzufinden, noch dass die Schreinerei seines Bruders ein so großer, angesehener Betrieb geworden war. Robert wollte ›Silberwald‹ für sich haben als Prestigeobjekt, mit dem er bei seinen Schick-Micki-Kunden Eindruck schinden konnte. Seinem Bruder würde er eine gewisse Abfindung zahlen, Gutshof und Tischlerei übernehmen und Daniel als Angestellten einsetzen. Um diesen Plan durchzusetzen, war es wichtig zu wissen, was sein Vater im Testament bestimmt hatte. Er musste sich rechtzeitig eine gute Taktik überlegen und mit seinen eigenen Anwälten besprechen, um die eigenen Vorstellungen durchzusetzen.
Was sein Bruder davon hielt, interessierte Robert nicht. In seinen Augen war Daniel selbst schuld, wenn er jetzt von den Absichten seines Bruders überrascht wurde. Gleich am ersten Abend hatte Robert über die Nachlassregelung sprechen wollen, aber Daniel hatte das abgelehnt. Er hatte gesagt, dass es vorschnell und gefühllos sei, sofort über das Erbe zu sprechen. Robert solle erst in Ruhe in seiner Heimat ankommen, den Friedhof besuchen und trauern, ehe die geschäftlichen Dinge geregelt wurden.
»Du bist genauso unerträglich wie immer«, hatte Robert erwidert und ohne ein weiteres Wort das Zimmer verlassen.
Heute würden sie sich mit dem Familienanwalt Korbinian Wamsler treffen und über den Nachlass sprechen. Robert würde schon dafür sorgen, dass alles nach seinen eigenen Vorstellungen lief.
*
Daniel kam aus der Werkstatt zurück, wo er an der passenden Eingangstür für einen Kunden gearbeitet hatte, der seinem Haus das alte Aussehen wiedergeben wollte. Er war mit dem Rad gefahren und musste zu seinem Ärger bemerken, dass ihn die Strecke bergauf nach ›Silberwald‹ deutlich anstrengte. Es konnte doch nicht sein, dass ihm nach einem halben Arbeitstag die Kraft für den ansteigenden Weg fehlte? Roberts spöttische Worte über seine Gewichtzunahme klangen in seinen Ohren wider, und er trat verbissen in die Pedale. Erschöpft, verschwitzt und mit rotem Gesicht fuhr er langsam über die Einfahrt hinüber in den Wirtschaftshof, wo ihn seine beiden Hunde begeistert begrüßten. Daniel spritzte sich unter der alten Pumpe frisches Wasser ins Gesicht und ließ sich für ein paar Minuten auf eine Bank fallen, die im Schatten einer Linde stand. Er legte den Kopf in den Nacken und schloss kurz die Augen. Im Duft der blühenden Linde und dem eifrigen Bienengesumm zwischen den Blüten konnte er sich entspannen. Als er leichte Schritte auf dem Kies hörte, schlug er die Augen auf und setzte sich aufrecht hin.
»Entschuldige, ich wollte dich nicht stören«, sagte Lilly. Sie wirkte leicht verlegen, denn sie hatte den Mann offensichtlich beim Ausruhen überrascht.
»Du störst überhaupt nicht«, antwortete Daniel rasch. »Ich brauchte nur einen Augenblick Pause zwischen Werkstatt und dem Termin mit unserem Anwalt. Bitte, möchtest du dich nicht zu mir setzen?«
Lillys Lächeln war warm und freundlich. »Gern«, erwiderte sie. »Ich finde den Lindenduft herrlich, und das Summen der Bienen ist so beruhigend. Ich kann mir kaum ein schöneres Sommergeräusch vorstellen.«
Daniel schaute sie mit klopfendem Herzen an. Lilly trug gelbe Shorts und ein fließendes, limonengrünes Top, das wunderbar zu ihrer sanft gebräunten Haut passte. Ihre Haare hatte sie locker aufgesteckt, und sie war barfuß mit kirschrot lackierten Nägeln. Lilly sah aus wie der blühende, farbenfrohe Sommer selbst und sie duftete auch so, nach Blumen, warmen Gras und sonnenwarmer Haut.
Daniel konnte nicht anders, er musste ihr einfach zulächeln. »Du schaust aus, als hättest du einen schönen Urlaubstag gehabt«, sagte er freundlich.
»O ja«, antwortete Lilly mit leuchtenden Augen. »Ich bin die ganze Zeit durch die Wiesen und Felder gestreift, habe einen Abstecher in eure Bibliothek gemacht und bin dann im Rosengarten gewesen. Rautende hat mir davon erzählt, wie deine Mutter ihn angelegt und gepflegt hat. Er ist entzückend mit seinen niedrigen Buchsbaumhecken und den vielen verschiedenen Rosensorten. Ich hatte ja keine Ahnung, wie schön es hier ist! Ich kann gut verstehen, dass du ›Silberwald‹ sehr liebst.«
»Tue ich das?«, fragte Daniel.
»Natürlich.« Jetzt funkelten Lillys grüne Augen vor Vergnügen. »Du verrätst es, wenn du dich hier bewegst oder wenn du über ›Silberwald‹ sprichst. Dein Herz schlägt hier, gell?«
»Das tut es«, antwortete Daniel bedächtig. »Aber ich musste erst fortgehen, um das zu erkennen.«
»Wo bist du denn gewesen und was hast du getan, als du nicht in Bergmoosbach warst?«, erkundigte sich Lilly mit ehrlichem Interesse.
Daniel schaute sie von der Seite an. Offenbar hatte Robert gar nichts von ihm und seinem Zuhause erzählt. »Nach dem Abitur bin ich für ein Jahr bei guten Freunden in Kanada gewesen. Als ich zurückkam, wurde meine Mutter sehr krank und starb. Sie hatte eine besonders schwere und hartnäckige Form der Grippe, die den Herzmuskel angegriffen hat.«
»Das tut mir sehr leid. Es muss hart für dich gewesen sein, nach Hause zu kommen und dann den Menschen zu verlieren, der ganz viel für dieses Zuhause bedeutet hat«, sagte Lilly ernst.
Daniel schwieg tief bewegt. Mit wenigen Worten hatte Lilly genau das zum Ausdruck gebracht, was so unfassbar für ihn gewesen war. »Ich glaube, damals bin ich erwachsen geworden«, erwiderte er leise.
Plötzlich lag Lillys Hand auf seinem Arm und sie lag da so, als gehöre sie ganz einfach dort hin. »Und wie ist es dann weitergegangen?«, fragte sie. »Bist du allmählich in die Bewirtschaftung des Guts und das Tischlerhandwerk hineingewachsen?«
Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, zunächst bin ich nach Hamburg gegangen und habe mein Architekturstudium begonnen.«
»Oh! Ich habe gar nicht gewusst, dass du auch Architektur studiert hast«, rief Lilly überrascht. Dann huschte ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht. »Jetzt verstehe ich auch die Sache mit der Glaskuppel besser. Ein Fensterbauer, und mag er noch so gut sein, hätte das wahrscheinlich in der Form nicht hinbekommen. Dazu gehört viel Wissen über Statik, und es müssen Berechnungen gemacht werden, die über reines Handwerkswissen hinausgehen.«
»Ja, das hat in der Tat weitergeholfen«, erzählte Daniel weiter. »Aber mein Studium konnte ich nicht beenden. Vater hatte den schweren Unfall, von dem er sich nie wieder völlig erholt hat. Ich konnte ihn nicht allein mit Rautende zu Hause lassen. Es war einfach zu viel Arbeit, das Gut zu bewirtschaften und die kleine Tischlerei zu führen. Ich habe das Studium abgebrochen und bin nach ›Silberwald‹ zurückgekehrt, dieses Mal für immer.«
Lilly schwieg eine Weile, schließlich sagte sie vorsichtig: »Das klingt nicht verbittert, sondern so, als ob du ganz im Reinen mit dir bist. Hast du deine Entscheidung nie bereut?«
»Vielleicht am Anfang«, antwortete Daniel ganz ehrlich. »Vater hat mich niemals gedrängt, nach Hause zu kommen; im Gegenteil: er wollte, dass ich das Studium beende. Ich wollte ihn nicht allein mit der ganzen Verantwortung lassen und bin geblieben, nachdem klar war, dass …« Er zögerte.
»… dass Robert nicht kommen würde«, beendete Lilly ernst seinen Satz.
Daniel nickte schweigend.
Auch Lilly schwieg. Sie dachte an das, was Robert von seinem Elternhaus erzählt hatte. In ihren Augen waren seine Reaktionen bisher verständlich gewesen, aber nun begann sie insgeheim zu zweifeln. War Roberts Sichtweise tatsächlich die einzig richtige? Daniels Wesen kam ihr längst nicht so unangenehm vor, wie sein Bruder es geschildert hatte. Sie war verwirrt und nicht mehr so sicher, was sie von der Situation halten sollte.
»Es wird Zeit für mich. Vor dem Gespräch mit Herrn Wamsler will ich mich noch umziehen«, sagte Daniel mit einem müden Seufzer und wies auf den blauen Overall, den er in der Werkstatt trug.
»Ich werde zu Rautende gehen und sehen, ob ich ihr helfen kann. Vorhin sagte sie, dass sie Brote backen will.« Lilly sprang von der Bank auf und schenkte Daniel einen letzten Blick, ehe sie leichtfüßig hinüber in die Küche lief. »Alles Gute für das Gespräch mit dem Anwalt, Daniel. Ich wünsche dir, dass es ohne Auseinandersetzung abläuft.«
»Das wünsche ich mir auch«, murmelte Daniel leise. Er ging unter die Dusche, zog sich um und kam dann in die Bibliothek, in der Robert ruhelos auf und ab ging.
»Wo bleibt nur dieser Provinzanwalt, er sollte um fünfzehn Uhr hier sein«, sagte er gereizt.
»Dann hat er ja noch zehn Minuten Zeit«, antwortete Daniel ruhig.
Wenig später erschien Korbinian Wamsler, der seit vielen Jahren Freund der Familie und ihr Anwalt war. Er hatte Daniel während der Krankheit des Vaters nicht nur in rechtlichen Dingen zur Seite gestanden und auch er hoffte, dass diese Nachlassregelung ohne brüderliche Auseinandersetzung möglich war. Dass es nicht leicht werden würde, zeichnete sich schnell ab.
»Ich möchte, dass Lilly bei diesem Gespräch mit dabei ist.« Robert ergriff als erster das Wort. »Für mich gehört sie mit zur Familie.«
»Wenn Lilly damit einverstanden ist, habe ich nichts dagegen«, erwiderte Daniel.
Die junge Frau war überrascht von dem Vorschlag, aber weil Robert drängte, kam sie mit hinüber in die Bibliothek. Schweigend hörte sie den Ausführungen des Anwalts zu.
»Ich verstehe nicht, dass Vater kein Testament aufgesetzt hat, das ist verantwortungslos«, sagte Robert ärgerlich.
»Du weißt, dass Papa es nicht mehr konnte«, erwiderte Daniel beherrscht. »Nach seinem Schlaganfall konnte er weder sprechen noch den rechten Arm bewegen. Niemand hatte damit rechnen können, dass zu seiner Beeinträchtigung durch den Unfall auch noch der Schlaganfall kommt. Aber ist es denn so wichtig, dass wir etwas Schriftliches haben? In der Zeit, als es Papa noch relativ gut ging, hat er mit mir über den Nachlass gesprochen.«
Robert machte ein abfälliges Geräusch. »Selbstverständlich nur mit dir«, sagte er spöttisch.
»Du bist mehrere Male dringend gebeten worden zu kommen, erinnerst du dich?« Allmählich merkte man auch Daniel seinen Ärger an. »Es war im letzten Sommer, als Papa wiederholt bei dir angerufen hat, aber du bist wie immer sehr beschäftigt gewesen.«
»Mir gegenüber hat Franz auch gesagt, dass er mit seinen Söhnen über die Verteilung des Erbes sprechen will«, sagte Korbinian Wamsler ruhig. »Konnte er das denn noch mit dir tun, Daniel?«
Der Mann nickte ernst. »Ja, das hat Papa zwei Wochen vor dem Schlaganfall getan. Er sagte, dass das Erbe im Sinne der Familie weitergegeben werden solle. Die Ländereien können weiter verpachtet oder verkauft werden, das soll Robert entscheiden, dem das Land zufällt. Mir sollen das Gutshaus und die Tischlerei gehören, die ich aufgebaut habe.«
»Das klingt nach einer guten und gerechten Lösung«, sagte der Anwalt erleichtert.
»Das finde ich überhaupt nicht«, entgegnete Robert prompt. »Wie kommt Vater darauf, Daniel das Gut zu vermachen? Es hat einen großen Wert und ich bin nicht gefragt worden, ob ich es gern hätte.«
»Gutshaus und Grundbesitzt haben dengleichen Geldwert«, erwiderte Daniel ruhig.
»Wenn es wenigstens Bauland wäre«, regte Robert sich auf. »Ist es aber nicht, und so, wie ich die Lage hier kenne, wird es das auch niemals werden.«
Daniel versuchte, auch weiterhin ruhig zu bleiben. »Hast du vergessen, dass es aus Mutters Familie noch zwei Häuser in guter Lage in München gibt? Sie sind sehr gut vermietet mit einer Apotheke, zwei Arztpraxen und ganz oben einer Penthauswohnung in dem einen, das andere ist ein Mehrfamilienhaus. Der heutige Wert dieser Immobilien übersteigt sogar den Gesamtwert von ›Silberwald‹. Ich bestehe nicht darauf, dass es gegengerechnet wird, du kannst es allein übernehmen.«
»Und nun glaubst du, du bist sehr großzügig, nicht wahr?« Robert schaute seinen Bruder herausfordernd an. »Das Gut ist länger in der Familie als Mutters Haus, und ich bin der erstgeborene Sohn. Du hältst doch so viel von Tradition, mein Lieber. Dann müsste dir klar sein, dass nach Fug und Recht ›Silberwald‹ mir gehört.«
Immer noch versuchte Daniel, ruhig zu bleiben. »Du weißt, dass es dieses alte Recht nicht mehr gibt, aber das ist hier gar nicht der Punkt. Robert, du bist gleich nach dem Abitur von ›Silberwald‹ ausgezogen und seitdem selten und nur kurz wieder hier gewesen. Immer wieder hast du betont, dass sich dein Leben ganz woanders abspielt und dass dir weder ›Silberwald‹ noch Bergmoosbach wichtig sind. Für mich ist es meine Heimat, die mir sehr viel bedeutet. Unser Vater hat gemeint, dass dir mit dem Kapital mehr gedient ist, während mir das Zuhause sehr viel bedeutet.«
»Das habt ihr ja fantastisch über meinen Kopf hinweg entschieden«, entgegnete Robert scharf.
»Das haben nicht wir so entschieden, sondern Papa allein«, antwortete Daniel und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er konnte es kaum fassen, dass sich sein Bruder ungerecht behandelt fühlte.
»Und ich habe andere Pläne«, erwiderte Robert nachdrücklich. »Das Gutshaus passt zu meinem Beruf, ich werde umziehen, hier leben und meine internationalen Geschäfte von hier aus tätigen. ›Silberwald‹ ist ein repräsentativer Blickfang auf meiner Website, genau die richtige Visitenkarte. Dass es die Tischlerei gibt, ist auch sehr passend, du hast einen guten Namen. Ich biete dir einen Vertrag als leitender Angestellter an.«
Daniel war sprachlos, und Korbinian Wamsler räusperte sich drohend. Lilly saß wie vor den Kopf geschlagen auf ihrem Stuhl. War Roberts Gefühlskälte tatsächlich noch als Folge seiner harten Kinderzeit zu erklären?
»Ich denke nicht, dass sich deine Vorstellungen so einfach durchsetzen lassen, Robert«, sagte der Anwalt nachdrücklich. »Abgesehen von der juristischen Seite ist dein Vorschlag Daniel gegenüber sehr ungerecht. Ich habe kein Wort von dir gehört, wie du dir die finanzielle Aufteilung zwischen euch denkst.«
»Das wird von meinen Anwälten ausgearbeitet«, erwiderte Robert kühl.
»Nein, damit bin ich ganz und gar nicht einverstanden!«, stellte Daniel klar. »Du hast dich nie um deine Heimat gekümmert und plötzlich willst du sie besitzen, weil sie der perfekte Werbeträger für dich als Architekt ist? Und ich soll als Angestellter für dich und deine Kunden arbeiten, die viel Geld, aber wenig Sinn für alte Schönheit haben? Schlag dir das aus dem Kopf, das kommt überhaupt nicht infrage!«
Lilly wäre am liebsten im Erdboden versunken. Sie fand Roberts Vorstellung unmöglich, herzlos und konnte kaum glauben, was sie gehört hatte. Aber als sie seinen Blick suchte und den harten Ausdruck in seinen braunen Augen sah, erkannte sie, dass jedes Wort bitterernst gemeint war.
Der erfahrene Anwalt schob seine Papiere zusammen und erhob sich. »Für heute kommen wir nicht weiter. Ihr solltet in Ruhe über die Angelegenheit sprechen, und wir treffen uns in ein paar Tagen zu einem neuen Gespräch«, sagte er.
Daniel nickte erschöpft, während Robert nur kurz mit den Schultern zuckte.
Korbinian Wamsler schaute die beiden ungleichen Brüder eindringlich an. »Ich nehme das, was Daniel von seinem Vater gesagt hat, durchaus ernst«, sagte er. »Vielleicht hat er noch mit einer anderen Person seines Vertrauens gesprochen, die seinen letzten Willen bezeugen kann.«
»Damit gibt es noch immer nichts Schriftliches«, konterte Robert sofort.
»Das stimmt«, musste der Anwalt zugeben. »Trotzdem ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen.«
Daniel begleitete den älteren Mann zur Haustür, wo ihm Korbinian väterlich die Hand auf die Schulter legte. »Ihr werdet das friedlich regeln können«, sagte er freundlich.
»Das hoffe ich sehr«, antwortete Daniel, und er hörte selbst, wie skeptisch er klang.
Als er in die Bibliothek zurückkehrte, hatte er das ungute Gefühl, in eine Auseinandersetzung zwischen seinem Bruder und Lilly geraten zu sein. Es war tatsächlich so, dass Lilly ihre Gefühle nicht für sich behalten wollte. Sie musste Robert ihr Befremden und ihren Ärger über sein Verhalten zeigen.
»Da siehst du, was du mit deinem Märchen von Vaters letztem Willen angerichtet hast«, warf Robert ihm prompt vor, »Lilly und ich streiten, und wir streiten sonst nie.«
Daniel konnte nur den Kopf schütteln. »Für heute reicht es mir. Ich bin ehrlich erschüttert über deinen sogenannten Geschäftssinn, Robert«, sagte er bitter. »Lass uns morgen weiterreden, jetzt fehlt mir dazu ganz einfach die Kraft, ich hatte einen anstrengenden Tag.«
»Ach?«, erwiderte Robert spöttisch. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du nicht einmal den vollen Tag gearbeitet. Kannst du dir das als Selbstständiger überhaupt leisten? Du solltest froh sein, bei mir als Angestellter zu arbeiten, dann musst du keine Verantwortung tragen und kannst dich bei Bedarf krankschreiben lassen.«
Daniel war zwar erschöpft, aber auch sehr zornig. Wie konnte sein Bruder es wagen, sich so abfällig zu äußern und dazu noch in Lillys Gegenwart? »Robert, überspann den Bogen nicht!«, sagte er warnend, dann wandte er sich ab und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.
»Er konnte noch nie ein offenes Wort vertragen«, murmelte Robert höhnisch und wollte Lilly den Arm um die Schultern legen, aber sie entzog sich ihm.
»Das hat mit offenen Worten nichts zu tun, es war hämisch und gemein, und es gefällt mir ganz und gar nicht«, antwortete sie kühl. »Es ist doch offensichtlich, dass dein Bruder gesundheitliche Probleme hat. Vielleicht haben ihn die Belastungen der letzten Jahre ausgelaugt und erschöpft? Du solltest ihm lieber endlich deine Hilfe anbieten, anstatt ihn so verächtlich zu behandeln. Mit dieser verletzenden Art will ich nichts zu tun haben. Wenn du dich beruhigt hast und wie ein vernünftiger Mensch mit mir reden willst, weißt du, wo du mich findest. Ich bin bei Rautende in der Küche.« Sie ging hinaus.
Robert war von ihren Worten überrascht und in seiner Eitelkeit verletzt. »Weißt du eigentlich, wie oberlehrerhaft du dich anhörst?«, rief er hinter ihr her, aber das hörte Lilly nicht mehr. Die junge Frau saß inzwischen in der gemütlichen, großen Küche am Tisch, auf dem Rautende die rohen Brotlaibe ausgebreitet hatte, und bestrich sie mit Salzwasser, damit sich eine krosse Kruste bildete.
Die ältere Frau bemerkte Lillys verschlossenen Gesichtsausdruck und fragte vorsichtig: »Das Gespräch mit dem Anwalt ist nicht gut gelaufen, gell?«
»Nein«, antwortete Lilly aufrichtig, »es wurde sehr unschön.«
Rautende ahnte sofort, was passiert war. Mit einem leisen Seufzer sagte sie: »Ja, unser Großer macht es sich und seinen Mitmenschen nicht leicht.«
Lilly versuchte loyal zu bleiben. »Kann man das nicht gut verstehen? Er ist zehn Jahre lang das einzige Kind gewesen und dann kam Daniel dazu. Auf einmal drehte sich alles um den kleinen Sonnenschein, und Robert musste um Beachtung kämpfen. Es wundert mich nicht, dass das bis heute noch Auswirkungen hat.«
Rautende schüttelte den Kopf. »Das klingt einleuchtend, aber ganz so ist es nicht gewesen. Robert war von Anfang ein unzufriedenes Kind, das ständig im Mittelpunkt stehen und seinen Willen bekommen wollte. Wenn er sich beim Frühstück die Farbe seines Bechers aussuchen durfte und wunschgemäß den blauen bekam, wollte er nach zwei Schlucken doch lieber den roten haben. Von solchen Kleinigkeiten gab es im Laufe des Tages eine Menge, das darfst du mir glauben. Robert ist schon als kleines Kind schwer zufriedenzustellen gewesen, er war egoistisch und dadurch nicht sehr beliebt bei den anderen Kindern. Leider scheint sich bei ihm im Laufe des Erwachsenwerdens nicht viel geändert zu haben.«
»So habe ich das noch nicht gesehen«, erwiderte Lilly nachdenklich. »Bisher dachte ich, er sei oft ungerecht behandelt und von seinem kleinen Bruder verdrängt worden.«
Rautende wiegte skeptisch ihren Kopf. »Das habe ich anders in Erinnerung«, sagte sie.
Lilly schwieg und machte sich ans Häuten der Pfirsiche, aus denen die Frauen köstliche Marmelade kochen wollten. Während ihre Hände bei der Arbeit waren, kreisten ihre Gedanken um Robert. Nicht zum ersten Mal hatte sie an ihrem Freund Verhaltensweisen bemerkt, die ihr nicht gefielen. Noch hatte es deshalb keine Auseinandersetzung gegeben, denn welcher Mensch ist schon perfekt? Aber jetzt stellte sich Lilly die Frage, was sie tatsächlich mit Robert verband und ob sie unter diesen Umständen weiter mit ihm zusammen sein wollte.
Robert war wütend und enttäuscht vom Ausgang des Gesprächs, vor allem aber wegen Lillys Reaktion. Wie konnte sie nur zu diesem Weichei Daniel halten? Robert war es bisher nicht gewohnt, dass seine jeweilige Freundin ihm widersprach, aber Lilly war anders. Sie war selbstbewusst, klug und gebildet, und er erhoffte sich durch den Kontakt mit ihrer Familie und dem Freundeskreis neue berufliche Möglichkeiten. Dass sie eigene Ansichten hatte und die klar äußerte, hatte ihm bisher gefallen, aber ihre heutige Kritik passte ihm ganz und gar nicht. Sollte sie sich doch bei Rautende in der Küche verschanzen, im Augenblick hatte er von ›Silberwald‹ die Nase voll und brauchte Abwechslung. Er fand, dass im spießigen Bergmoosbach höchstens das moderne Hotel Steg-Haus am Sternwolkensee zu ihm passte, dort würde er seinen Ärger an der Bar hinunter spülen. Ohne sich von jemandem zu verabschieden, machte er sich auf den Weg hinunter in den Ort.
Daniel hatte sich im Büro mit der Buchführung beschäftigt und Rautendes freundliche Bitte abgelehnt, zum Abendessen zu kommen. Er hatte keinen Hunger. Nachdem er noch lange am Schreibtisch gesessen und sich mit der Verwaltung von ›Silberwald‹ befasst hatte, schloss er endlich die Ordner und löschte das Licht.
Er reckte und dehnte sich, um seinen verspannten Nacken zu lockern und ging durch das stille Haus, das er so sehr liebte. Langsam ging er in den hinteren Garten hinaus, der an die Streuobstwiese grenzte. Hier hatte Daniel auf einer kleinen Anhöhe seinen Lieblingsplatz, eine alte Holzbank, die halb verborgen unter dem blühenden Jasmin stand. Er liebte es, dort zu sitzen und die Dämmerung heraufziehen zu sehen. Die jagenden Schwalben kamen zur Ruhe, allmählich verstummten die Vogelstimmen, und geschützt im feinen Bodennebel traten die ersten Rehe aus dem Waldrand hervor. Daniel freute sich auf die Ruhe und Abgeschiedenheit dieses Ortes, aber als er näher kam, sah er, dass er nicht allein war. Lilly saß dort, hatte die Beine auf die Bank gezogen und mit ihren Armen umfasst. Das Kinn hatte sie auf die Knie gelegt und schaute gedankenverloren über die Wiese. Als sie ihn bemerkte, hob sie ruckartig den Kopf und starrte ihn an.
Daniel blieb stehen. »Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er leise. »Du siehst aus wie jemand, der nicht gestört werden möchte.«
»Aber du störst doch überhaupt nicht«, antwortete Lilly sofort und rückte auf der kleinen Bank ein Stückchen zur Seite. »Komm, setz dich zu mir, es ist so wunderschön hier oben. Würde ich hier leben, wäre das mein Lieblingsplatz.«
»Es ist tatsächlich mein Lieblingsplatz«, erwiderte Daniel lächelnd und setzte sich neben sie.
Lilly wandte den Kopf und schaute ihn mit einem Blick an, den er nicht deuten konnte. »Das passt«, sagte sie schließlich.
»Wie meinst du das?«, fragte Daniel verunsichert.
»Du hast Sinn für Schönheit, und du liebst dein Zuhause«, erwiderte sie schlicht, »deshalb passt es.«
Daniel spürte ein Gefühl der Wärme in sich aufsteigen. Es fühlte sich gut an, verstanden zu werden. »Danke«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass du heute die Auseinandersetzung mit anhören musstest, das war bestimmt nicht schön für dich.«
»Für dich muss es noch viel schlimmer gewesen sein«, antwortete sie.
»Ich hoffe, wir kommen zu einer friedlichen Einigung«, erwiderte er unbehaglich. »Aber jetzt lass uns bitte von etwas anderem reden. Ich möchte dir deinen Aufenthalt in ›Silberwald‹ nicht verderben.«
»Das kannst du nicht, dazu ist es hier viel zu schön«, sagte Lilly spontan. Sie zog wieder die Beine auf die Bank und umschlang sie entspannt mit ihren Armen. »Erzählst du mir etwas von deinem Zuhause? Ich weiß noch so wenig darüber, und es interessiert mich sehr.«
Daniels Herz flog ihr bei diesen Worten zu. »Meine Urgroßeltern haben ›Silberwald‹ aufgebaut, und seitdem ist es in Familienbesitz. Bis vor einigen Jahren ist es ein landwirtschaftlicher Betrieb gewesen, der von der Familie betrieben wurde. Als sich nach Vaters Unfall herausstellte, dass wir so nicht mehr ertragreich weitermachen konnten, wurde die Landwirtschaft verpachtet, und ich habe mich um den Aufbau der Tischlerei gekümmert.«
»Was ist deinem Vater denn geschehen?«, erkundigte sich Lilly vorsichtig. Sie wollte Daniel nicht zu nahe treten, aber von Robert hatte sie so gut wie nichts über den Zustand seines Vaters erfahren.«
»Nach dem Tod unserer Mutter hatte Vater sich verändert. Er war sehr viel stiller geworden und schien oft mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein«, begann Daniel langsam zu erzählen. »Er wurde nicht unzuverlässig oder gleichgültig, aber manchmal wirkte er abgelenkt. Das wird auch der Grund für seinen Unfall im Wald gewesen sein. Es wurde Holz gemacht, und ein fallender Baum hat ihn gestreift. Papa wurde im Genick getroffen. Zum Glück war es keine lebensgefährliche Verletzung und er war nicht gelähmt, aber er hatte immer wieder Ausfallerscheinungen. Bei einer Punktion des Rückenmarks kam es zu einer schweren Infektion, Papa hat wochenlang auf der Intensivstation gelegen. Danach war klar, dass er sich nicht mehr wie vorher um ›Silberwald‹ kümmern konnte, und ich habe die Verantwortung übernommen.«
Und was hat Robert in der Zeit getan?, dachte Lilly erbittert. Ihre Zuneigung zu Daniel wuchs, als sie sich vorstellte, wie er in den vergangenen zehn Jahren gelebt hatte.
»Papa ging es nicht durchgehend schlecht; er hatte auch gute Zeiten, in denen er mit draußen sein und sich um das eine oder andere selbst kümmern konnte. Das hat Papa geliebt. Leider kam dann der Schlaganfall, der ihn halbseitig gelähmt und auch sein Sprachzentrum getroffen hat. Seitdem war Papa ein Pflegefall.«
»Und Robert hat euch nicht geholfen?«, fragte Lilly ungläubig.
»Er ist zweimal zu Besuch gekommen, zu mehr blieb ihm nicht die Zeit«, erwiderte Daniel ruhig.
»Zweimal in all den Jahren …«, murmelte Lilly. Traurig schaute sie Daniel an. »Und du hast dafür sogar dein Architekturstudium aufgegeben.«
»Es ging nicht anders, ich konnte Rautende nicht mit allem allein lassen. Vor allem aber wollte ich für Papa und ›Silberwald‹ da sein«, sagte Daniel. »Das Studium aufzugeben tat mir zwar leid, aber ich habe es nicht als großes Opfer empfunden und mir hier etwas anderes gesucht.«
»Das finde ich großartig und bewundernswert«, antwortete sie aus tiefstem Herzen.
»Tja, das kann nicht jeder so sehen«, erwiderte Daniel mit einem schiefen Lächeln. »Meine damalige Beziehung hat es nicht ausgehalten.«
»Das muss schlimm gewesen sein«, erwiderte Lilly mitfühlend. »Auf der ganzen Linie gab es Verluste für dich, und du hast damit ganz allein dagestanden.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm, und es war gleichermaßen Trost und Anerkennung. »Und trotzdem bist du in all den Anforderungen nicht untergegangen und hast sogar etwas Neues, Aufsehenerregendes geschaffen, die gläserne Kuppel über dem Festsaal der Burg. Wie bist du nur auf diese Idee gekommen?«
Daniel lachte leise auf. »Bei den Gemeinderatsitzungen zu diesem Thema wurde heiß diskutiert, und zunächst hielt man meinen Vorschlag für nicht durchführbar. Aber weil sie so viel Lichteinfall wie möglich haben und dafür keine großen Fenster in das meterdicke, alte Gemäuer brechen wollten, konnten sie sich schließlich auf meine Pläne einlassen. Die Kuppel wurde dann mit modernster Technik gebaut, aber auf die Idee an sich bin ich durch ein altes Märchen gekommen«, schloss Daniel leicht verlegen.
Aber Lilly schien diesen Gedanken keineswegs albern zu finden. Sie schaute ihn nachdenklich an und platzte plötzlich heraus: »Hirsedieb! Das kann nur Hirsedieb gewesen sein.«
»Du kennst dieses alte Märchen von Ludwig Bechstein?«, fragte Daniel überrascht.
»Aber ja, bei uns zu Hause wurden noch Märchen vorgelesen, und dieses von der Prinzessin auf ihrem gläsernen Berg habe ich immer besonders gern gemocht«, antwortete Lilly begeistert. »Und dann hast du dir also diesen gläsernen Berg vorgestellt und daraus eine Kuppel aus Glas gemacht?«
»So ungefähr«, antwortete Daniel lächelnd. Lilly war der einzige Mensch, dem er von dieser ungewöhnlichen Inspiration erzählt hatte, und ihre Reaktion machte ihn sehr glücklich. Für eine Sekunde erlaubte er sich den Gedanken, dass es kein Zufall, sondern Ausdruck ihrer tiefen gegenseitigen Verbundenheit war.
Sie schaute ihn mit einem Blick an, in dem Daniel eine Zärtlichkeit las, die ihm den Atem raubte. Auf einmal umfassten ihre Hände sein Gesicht, und sie flüsterte: »Du bist einmalig, Daniel, weißt du das? Welcher andere Mann könnte etwas aus einem Märchen herausholen, was in der modernen Zeit Gestalt annehmen und dort bestehen kann? Ich finde das fantastisch.« Lillys Gesicht war seinem so nahe, dass er später nicht sagen konnte, ob es ihr Atem oder ihre Lippen gewesen waren, die ihn streiften. »Pass auf dich auf, lieber Daniel. Der Mann im Märchen hatte das Zauberpferdchen, aber wer hilft dir?«
Du!, antwortete sein Herz, aber sein Verstand erinnerte ihn daran, dass diese wundervolle Frau zu seinem Bruder gehörte. »Nein, zu mir ist kein Zauberpferd gekommen, ich musste ohne das auskommen«, antwortete er mit großer Mühe. »Und wie du siehst, ging es auch so.«
Lillys Hände sanken von seinem Gesicht herab, aber die Zärtlichkeit schimmerte weiter in ihren grünen Augen. »Ja, es musste wohl so gehen«, erwiderte sie träumerisch. Langsam stand sie auf und wandte sich zum Gehen. »Es war schön, mit dir zu reden, Daniel. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
Mit großer Anstrengung riss Daniel sich zusammen und versuchte, die Zärtlichkeit und Nähe ihrer Begegnung in etwas Alltägliches umzuwandeln. »Heute Nacht werde ich wohl nur mit einem Auge und Ohr schlafen gehen«, erwiderte er bemüht nüchtern. »Es sind wieder orkanartige Sturmböen angesagt, die mich nicht ruhig schlafen lassen. Natürlich besteht die Kuppel aus Sicherheitsglas und ist so konstruiert, dass sie einiges aushält, aber ich mache mir trotzdem Sorgen, dass sie von etwas Schwerem getroffen wird. Dieser Sommer mit seinen Unwettern spielt verrückt.«
»Ja, es ist tatsächlich ein verrückter Sommer«, antwortete Lilly gedankenverloren. Sie pflückte ein Zweiglein duftenden Jasmin und schob ihn in ihre aufgesteckten Haare. Dann winkte sie ihm noch einmal zu und ging langsam über den weichen Grasweg zum Haus zurück.
Daniel holte tief Atem und versuchte, die zauberhafte Begegnung festzuhalten; Lillys Worte und ihre Wärme, ihren Duft und den weichen Schimmer ihrer Haut, als sie ihre Hände zu seinem Gesicht gehoben hatte.
Lilly, liebste Lilly, dachte er.
Plötzlich krachte es im Gebüsch hinter ihm, und eine spöttische Männerstimme sagte: »Hattest du Spaß bei deinem kleinen Rendezvous, Bruderherz?«
Daniel fuhr herum und stand Robert gegenüber, der sich Jasminzweiglein vom Sakko zupfte. »Ich hab das süße Zeug noch nie leiden können«, knurrte er und trat die Blüten in den Staub. Dann schaute er seinen jüngeren Bruder herausfordernd an.
Dieser erwiderte gelassen den provozierenden Blick. »Ja, Lilly und ich haben uns gut unterhalten«, antwortete er ruhiger, als er sich fühlte. Daniel hatte kein schlechtes Gewissen, denn zwischen der jungen Frau und ihm war nichts Unrechtes geschehen, aber Roberts plötzliches Auftauchen ärgerte ihn. Es legte sich wie ein hässlicher Schatten über die schöne Begegnung.
»Und worüber habt ihr euch so gut unterhalten?«, stichelte Robert weiter. »Wie du es am besten anstellen kannst, dass der liebe, aufopferungsvolle Daniel das Gut bekommt? Willst du Lilly einspannen, damit sie bei mir ein gutes Wort für dich einlegt? Damit du mal wieder das bekommst, was du haben willst?«
»Schätzt du mich tatsächlich so ein?«, fragte Daniel eher traurig als wütend.
Robert zuckte abschätzig mit den Schultern. »Wieso denn nicht? Du willst ›Silberwald‹ und hast dir dafür die Geschichte vom angeblichen Gespräch mit Vater zurechtgelegt. Als du damit nicht durchgekommen bist, musstest du dir etwas Neues überlegen, und dafür kommt dir Lilly sehr gelegen. Du musst sie nur auf deine Seite ziehen. Aber ich warne dich: versuche nicht, einen Keil zwischen Lilly und mich zu treiben!«
Daniel war ein friedliebender Mensch, aber nun platzte ihm der Kragen. Er trat sehr dicht an seinen Bruder heran und schaute ihm starr in die Augen. »Behalte deine Hirngespinste für dich, Robert!«, sagte er energisch. »Deine Worte beleidigen nicht nur mich, sondern auch Lilly. Sie ist klug und eigenständig und würde sich von niemandem einspannen lassen. Anstatt ausfallend zu werden, solltest du lieber über die Nachlassregelung nachdenken.« Daniel trat jetzt einen Schritt zurück und straffte erneut die Schultern. Der Blick seiner blauen Augen war so durchdringend und kühl, wie sein älterer Bruder ihn noch nie wahrgenommen hatte. »Und damit dir das ganz klar ist, Robert: für deine eitlen geschäftlichen Pläne werde ich dir ›Silberwald‹ niemals überlassen! Gute Nacht.« Daniel machte auf dem Absatz kehrt und ging ins Haus zurück.
»Das werden wir ja sehen«, murmelte Robert und schaute seinem Bruder aus zusammengekniffenen Augen hinterher. Er wartete, bis er ganz sicher sein konnte, Daniel nicht mehr über den Weg zu laufen, dann ging auch er ins Haus hinein.
Als er in sein Zimmer kam, bauschten sich die Vorhänge im Wind, der mittlerweile aufgekommen war. Das Licht des zunehmenden Mondes, über den Wolkenschatten fegten, erhellte das schweigende Zimmer. Lilly lag auf ihrer Seite des Bettes und schlief. Auf dem Nachttisch neben ihr stand eine flache Glasschale mit Wasser, auf dem ein Jasminzweiglein schwamm. Robert zog sich aus und ließ sich ins Bett fallen. Er rutschte zu Lilly hinüber und wollte sie an sich ziehen, aber sie murmelte im Halbschlaf: »Geh weg, du hast getrunken.« Sie drehte ihm den Rücken zu und suchte die Nähe zu den Blüten, die neben ihrem Kopf standen. Als sie den süßen Duft spürte, erschien die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen, und sie glitt tiefer in den Schlaf.
*
Daniel konnte nicht so entspannt und friedlich schlafend im Bett liegen. Die angekündigten Orkanböen hatten mittlerweile das Allgäu erreicht und tobten sich dort aus. Dieses Mal wurden sie nicht von sintflutartigen Regengüssen begleitet, aber das Unwetter war auch so heftig genug.
Begleitet von seinen treuen Hunden hatte Daniel das Haus und die Nebengebäude gesichert, im Hof der Werkstatt nach dem Rechten gesehen und mit Rautende die Sonnenschirme von der Terrasse geholt. Wieder einmal fegten abgerissene Äste und Blätter über die Rasenflächen, und von der Landstraße klangen die Sirenen der Einsatzfahrzeuge herüber.
»Was für ein seltsamer Sommer, so viele Unwetter hatten wir doch sonst nicht«, murmelte Rautende. Sie saß mit Daniel am Küchentisch und trank Kräutertee. Beruhigend legte sie ihre Hand auf die des Mannes und drückte sie. »Du wärst jetzt am liebsten dort draußen und würdest deine Glaskuppel bewachen wie eine Glucke ihre Küken, gell?«, sagte sie mit einem freundlichen Augenzwinkern.
Daniel seufzte. »Ich weiß ja, dass ich nichts tun kann und dass man mich sofort anrufen würde, sollte das Glas beschädigt sein. Trotzdem kann ich nicht schlafen, obwohl ich sehr müde bin. Die Gefahr durch umstürzende Bäume und Astbruch lässt mir einfach keine Ruhe.«
»Das kann ich verstehen«, antwortete Rautende nur. Sie wusste, es hatte keinen Zweck, Daniel jetzt zur Nachtruhe zu überreden. Die Kuppel über dem Burgsaal war sein ›Baby‹, für das er sich immer verantwortlich fühlen würde. Sie schob die Teekanne näher zu ihm heran und stand dann auf. »Ich gehe jetzt schlafen und wünsche auch dir eine gute Nacht. Versprich mir, dass du mich sofort weckst, sollte etwas passieren und du musst aus dem Haus.«
»Natürlich, Rautende, gute Nacht«, antwortete Daniel freundlich. Er nahm den Tee mit hinüber in die Bibliothek. Auf der dem Wind abgewandten Seite des Hauses öffnete er den hölzernen Laden, der die große Fenstertür schützte. Nachdem er Laden und Fenster gut gesichert hatte, wickelte er sich in einen Quilt, den seine Mutter macht hatte, und zog den Sessel zur Tür. Dort saß er stundenlang und beobachtete das Toben der Elemente und dachte daran, wie sehr der Sturm dort draußen seinen eigenen Gefühlen glich.
Er hatte sich noch keinem Menschen so nahe gefühlt wie Lilly, die ihn fraglos verstand. Aber sie war und blieb Roberts Freundin, das musste er respektieren. In seinem Kopf formte sich der Gedanke, dass sein skrupelloser Bruder diese wunderbare Frau nicht verdiente, aber was ging ihn diese Beziehung an? Leider gehörten Robert und Lilly zusammen, und er musste aufhören, an sie zu denken. Mit Anstrengung lenkte er seine Überlegungen wieder auf den Sturm und die Gefahren, die von ihm ausgingen.
Daniel war nicht der einzige Schlaflose in dieser Nacht. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste waren im Einsatz, Doktor Seefeld wurde zu Unfällen gerufen, die durch den Sturm verursacht worden waren. Förster Lorenz Breitner war mit seinen Leuten unterwegs, um gefährliche Waldgebiete abzusperren, seine Frau Friederike musste zu Höfen fahren, auf denen Weidevieh zu Schaden gekommen war. Als sich der Sturm in den frühen Morgenstunden ausgetobt hatte, waren alle Helfer froh, dass es keine Schwerverletzte gegeben hatte, sondern dass es überwiegend bei Sachschäden geblieben war.
Ehe er für eine Dusche und frischen Kaffee ins Forsthaus fuhr und die Aufräumarbeiten begannen, rief Förster Lorenz Daniel an. Neben der Burg war eine mächtige Eiche gesplittert, und Teile der Krone waren gegen das Glasdach des Festsaals geschleudert worden. Man hatte die Kuppel von innen begutachtet und zum Glück keine Schäden feststellen können.
»Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast, Lorenz«, sagte Daniel. »Ich mache mich gleich auf den Weg, um das Dach von außen zu untersuchen.«
»Willst du nicht lieber warten, bis meine Mannschaft mitkommen kann? Es ist vielleicht besser, du bist nicht allein dort oben«, gab Lorenz zu bedenken.
»Es besteht ja keine akute Gefahr durch Glasbruch, und ich bin vorschriftsmäßig gesichert«, antwortete Daniel. »Ich will mir nur sofort die Verstrebungen anschauen. Vielleicht gibt es Schäden, die ihr von innen nicht sehen konntet.«
»In Ordnung, du bist der Fachmann, aber sei vorsichtig, du bist dann allein dort draußen«, warnte Lorenz freundschaftlich.
»Nicht ganz, ich nehme Athos und Alamea mit. Falls etwas passiert, werden sie in bester Lassie-Manier Hilfe holen«, scherzte Daniel.
»In Ordnung, wie sehen uns dann später«, verabschiedete sich der Förster.
Als Lilly hörte, dass Daniel auf das Kuppeldach wollte, machte sie sich Sorgen. Daniel sah übernächtigt aus und hatte tiefe Schatten unter den Augen, er wirkte alles andere als fit. Sie konnte verstehen, dass er das Dach sofort kontrollieren wollte, aber auch sie hätte es besser gefunden, Daniel wäre nicht allein gegangen.
»Pass auf dich auf«, bat sie eindringlich. Ihre Hand blieb länger als nötig auf seinem Arm liegen. »Am liebsten würde ich mitkommen, aber ich fürchte, ich bin dir keine große Hilfe, ich habe Höhenangst.«
»Ich melde mich, sobald ich wieder unten bin«, versprach Daniel. Ihre ehrliche Besorgnis wärmte sein Herz und löschte die abschätzigen Worte seines Bruders aus. Robert hatte spöttisch bemerkt, was Daniel mit seiner hilflosen Kraxelei denn schon erreichen könne, das solle er doch besser dem Fachmann überlassen.
»Genau der bin ich«, antwortete Daniel beherrscht und stieg nach einem letzten Blickwechsel mit Lilly ins Auto. Er fuhr hinunter ins Dorf in seine Firma, um den Hubwagen und die Profiausrüstung zu holen, die er auf dem Dach brauchen würde.
Lilly schaute ihm nachdenklich hinterher, dann wandte sie sich mit einer steilen Zornesfalte auf der Stirn zu Robert um. »Warum musst du so abfällig mit deinem Bruder reden? Anstatt zu spotten, hättest du ihm deine Hilfe anbieten können«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Und wobei? Indem ich ihm die Leiter halte?«, erwiderte er gereizt. Es gefiel ihm nicht, dass Lilly sich für die Belange seines Bruders interessierte.
Die junge Frau ging nicht auf seine höhnische Bemerkung ein. »Vielleicht hättest du das tatsächlich tun können«, erwiderte sie ernst. »Oder dich mit ihm über die Besonderheiten des Kuppeldachs unterhalten. Du bist Architekt und verstehst etwas von Statik. Sollte eine der Verstrebungen beschädigt sein, hätte Daniel sich mit dir beraten können.«
»Du studierst doch auch Architektur, vielleicht möchtest du lieber selbst dieses Gespräch mit meinem Bruder führen?«, stichelte er weiter.
Lilly schaute ihn mit einem Blick an, bei dem Robert die Freude am Lästern verging. »Vielleicht werde ich das tun«, antwortete sie ruhig, wandte sich auf dem Absatz um und verschwand im Haus.
»He, Lilly, warte, so habe ich das nicht gemeint!«, rief er hinter ihr her, aber sie hörte ihm nicht zu. Lilly besprach bereits mit Rautende und dem alten Gärtner Kilian die Aufräumarbeiten. Dann lief sie in ihr Zimmer und zog Jeans und ein altes T-Shirt an. Ohne Robert weiter zu beachten, ging sie in den Wirtschaftshof, wo sich die Leute versammelten, um gemeinsam die Sturmschäden zu beseitigen.
»Ich scheine hier ja vollkommen überflüssig zu sein«, murrte Robert beleidigt. Er beschloss, hinunter in das moderne Hotel ›Steg-Haus‹ zu fahren und sich trotz der frühen Stunde einen guten Whisky zu gönnen. Unter den Touristen fand sich bestimmt jemand, mit dem man sich über anderes als Sturmschäden, Land- und Forstwirtschaft oder Gebäudeschäden unterhalten konnte.
Inzwischen hatte Daniel die Burg erreicht und den Hubwagen so nahe wie möglich geparkt. Es gab schlimme Schäden im Forst, aber die Reste der Burganlage hatten standgehalten. Die beiden Collies beobachteten wachsam, wie Robert seine Arbeit vorbereitete und dann in den Korb des Hubwagens stieg. Er gab ihnen den Befehl zu warten und fuhr den Korb dann langsam in die Höhe. Vorschriftsmäßig gesichert begann er die Inspektion des Daches.
Auf dem Glas und dem umlaufenden schmalen Sims lagen größere und kleinere Äste, Zweige und Unmengen an Blättern, aber die riesigen Glaselemente und die Verstrebungen waren unbeschädigt geblieben. Erleichtert machte sich Daniel an die Arbeit und befreite die Kuppel von dem Grünzeug, das auf ihr gelandet war. Er arbeitete konzentriert und vorsichtig, um nicht den Halt auf dem schmalen Sims zu verlieren. Immer wieder überprüfte er die Glassegmente, nahm Messungen vor und suchte nach Haarrissen. Zu seiner großen Zufriedenheit konnte der Aufprall der schweren Äste keinen Schaden anrichten, sein Meisterwerk hatte seine erste große Bewährungsprobe überstanden.
Daniel merkte, dass ihn die Körperhaltung, die er vor der gewölbten Front annehmen musste, sehr anstrengte. Er beschloss, eine kleine Pause einzulegen, sich auf den Sims zu setzen und Lilly anzurufen. Sie würde sich sicher freuen zu hören, dass hier alles in Ordnung war.
Vorsichtig drehte sich Daniel um und wollte sich auf den steinernen Sims setzen, als wie aus dem Nichts ein jagender Habicht aus dem Himmel herabstieß und an ihm vorbei zur Erde raste. Reflexartig fuhr Daniel zusammen, seine Hand, die schon nach dem Handy gegriffen hatte, zuckte hoch, er geriet ins Schwanken – und stürzte ab.
Da er vorschriftsmäßig gesichert war, stürzte Daniel zum Glück nicht tief, das Gurtgeschirr bremste ihn, aber er war in einem sehr unglücklichen Winkel gefallen und hatte dabei instinktiv mit den Händen nach Halt gesucht. Sein rechter Arm geriet in die Gurte und wurde abrupt nach hinten gerissen. Ein wahnsinniger Schmerz durchzuckte seine Schulter, und Daniel schrie auf.
Mit aller Kraft wehrte er sich gegen den Schmerz und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er baumelte hilflos und verletzt in dem Rettungsgeschirr, sein Handy lag nutzlos auf dem Boden, und er konnte nichts anderes tun als hoffen, dass ihn bald jemand fand.
»Was bin ich für ein Idiot, sie haben mich gewarnt, allein herzukommen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Bei der kleinsten Bewegung trieb ihm der Schmerz die Tränen in die Augen, und er begriff, dass es nur auszuhalten war, wenn er sich möglichst reglos verhielt. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren, als er überlegte, wie lange er hier wohl so hängen musste.
Etliche Meter unter ihm bellten die beiden Collies Alarm. Sie waren durch die plötzliche Bewegung des Sturzes aufgeschreckt und spürten, dass etwas passiert war. Sie rochen Daniels Angst und Schmerzen und waren furchtbar aufgeregt.
In seiner Not fiel Daniel der Satz ein, den er im Scherz zum Förster gesagt hatte. Sollte es tatsächlich möglich sein, die Hunde Hilfe holen zu lassen? Der Schmerz und die Anstrengung ließen Daniels Stimme heiser klingen. »Athos! Alamea! Lauft! Holt Lilly! Lauft zu Lilly!«, stieß er hervor, so laut er konnte. Er glaubte nicht daran, dass dieses ungeübte Kommando klappen würde, aber was hatte er schon zu verlieren?
Die Hunde überraschten ihn. Unter den beiden aufgeregten Collies schien eine Art lautloser Verständigung stattzufinden, die sich Daniel nicht erklären konnte. Dann bezog Alamea genau unter ihm Stellung, so nahe wie möglich an der Mauer und ließ ihn nicht aus den Augen. Athos, der größere und kräftigere Rüde, raste in weiten Sprüngen los und verschwand tatsächlich in Richtung ›Silberwald‹.
»Ihr seid die Besten!«, krächzte Daniel gerührt. Für ihn dehnten sich die Minuten zu Stunden, und in seiner Verzweiflung klammerte er sich an jeden Strohhalm. Und für ihn war das jetzt die absurde Hoffnung, dass das Verhalten der klugen Collies kein Zufall, sondern beabsichtigt gewesen war.
Für den Weg von der Burgruine zum Gutshof brauchte Athos mit Höchstgeschwindigkeit eine knappe halbe Stunde. Dann jagte er mit fliegender Atmung und hechelnd vor Anstrengung über das Gelände und suchte aufgeregt nach Lilly.
Sie arbeitete mit anderen Helfern bei den Birken, die Haus und Park umgaben, und suchte Reisig und Äste zusammen. Athos schoss auf die junge Frau zu und bellte, als hinge sein Leben davon ab, und immer wieder versuchte er, nach ihrem Hosenbein zu schnappen.
Im ersten Augenblick zuckte Lilly erschreckt zurück. Was war nur in den sanften Athos gefahren? Er schien außer Rand und Band zu sein, noch nie hatte er sich so herausfordernd verhalten. Einer der Helfer wollte dazwischen gehen, aber Lilly hielt ihn zurück. Sie hatte plötzlich ein ganz ungutes Gefühl und das bezog sich nicht auf den Hund, den sie keineswegs als gefährlich empfand.
»Ich glaube, er will etwas von mir«, sagte sie stirnrunzelnd. »Schaut doch nur, er steht unter einer enormen Anspannung, und sonst ist er die Ruhe und Souveränität in Person. Und wo ist Alamea? Die beiden sind doch immer zusammen. Vielleicht ist ihr irgendetwas passiert? Oder Daniel ist etwas geschehen?« Lillys Herz raste, und ihr wurde eiskalt. »Er hatte beide Hunde dabei, als er zur Burgruine gefahren ist. Es muss etwas passiert sein!« Sie versuchte, Daniel auf dem Handy zu erreichen, aber er meldete sich nicht.
In Lilly verdichtete sich der Verdacht, dass etwas Schlimmes geschehen war. Ohne sich um die skeptischen Kommentare der anderen zu kümmern, warf sie Wasserflaschen und eine Taschenlampe zum Erste- Hilfe-Kasten ins Auto, gab Athos zu trinken und rief sogar beim Landdoktor an, um ihn zu bitten, sie zur Burgruine zu begleiten. Sebastian Seefeld war nicht nur ein erfahrener Arzt, sondern auch erfahrener Hundebesitzer, und er lachte Lilly nicht aus. Sie hatte einen Verdacht und machte sich große Sorgen, deshalb würde er zur Burg kommen. Erleichtert wegen der Unterstützung machte sich Lilly mit Athos auf den Weg.
Rautende schaute dem Wagen mit einem liebevollen Kopfschütteln hinterher. Sie machte sich zwar auch große Sorgen um ihren ›Bub‹, aber es tröstete sie, dass Hilfe unterwegs war.
»Sie ist schon recht, diese Lilly«, brummte Kilian, mehr zu sich selbst als zu Rautende.
»Gell?«, stimmte die ältere Frau leise zu. »Wie sie sich eben von ihrem Gedanken nicht hat abbringen lassen und sogar den Landdoktor anrufen musste, das hat mich an unsere Sybille erinnert. Die konnte sich auch immer auf ihr Gefühl verlassen und meistens hatte sie recht.«
»Ja, die Sybille Berger war eine feine Gutsfrau, sie hatte ›Silberwald‹ im Blut, mit allem, das dazugehörte«, antwortete der alte Kilian wehmütig. »Genauso eine ist diese Lilly auch.«
»Wenn sie nur den richtigen Mann an ihrer Seite hat«, murmelte Rautende kaum hörbar.
Kilian nickte heftig, tat so, als hätte er nichts gehört, und widmete sich weiter dem Birkenreisig. Rautende verbot sich jeden Gedanken an eine ferne Zukunft und schickte ein Stoßgebet zum Himmel mit der Bitte, dass sie bald eine gute Nachricht von Daniel erhalten würden.
Inzwischen hatten Lilly und Athos die Burgruine erreicht, wenige Minuten später kam Doktor Seefeld aus der anderen Richtung hinzu. Alamea begrüßte sie aufgeregt, verließ aber nicht ihren Platz direkt unter Daniel. Der Mann wollte zuerst seinen Augen nicht trauen, als er die Autos auf die Burg zufahren sah. Sollte sein Hund es tatsächlich geschafft haben, Hilfe zu holen? Als er eine aufgeregte Lilly aus dem Wagen springen und auf dem Turm zu rennen sah, schossen ihm vor Erleichterung und Dankbarkeit Tränen in die Augen.
»Daniel! Was ist passiert? Um Himmels willen, sag etwas!«, rief Lilly angstvoll zu ihm hinauf.
»Es ist nicht so dramatisch, wie es aussieht«, antwortete er heiser. »Der Gurt hat mich aufgefangen, aber ich habe mir wohl die Schulter ausgekugelt. Hat Athos dich geholt?«
»Ja, aber das erzähle ich dir später. Doktor Seefeld ist auch hier, wir holen dich erst einmal wieder von dort oben herunter!«, schrie Lilly zu ihm hinauf.
»Meine Güte, auch der Landdoktor? Da hat Lassie ja die ganze Kavallerie geholt«, scherzte Daniel gerührt. Der Schmerz in seiner Schulter quälte ihn immer noch heftig, aber nun wusste er, dass bald ein Ende abzusehen war. Erleichtert verfolgte er, was Lilly und Sebastian Seefeld dort unten zu seiner Rettung unternahmen.
Zunächst wurde kurz bei Rautende Entwarnung gegeben, dann manövrierten die beiden Retter den Hubwagen zu der Stelle des Turms, an der Daniel festhing. Danach stieg Sebastian in den Korb, den Lilly hinüber zu dem Verunglückten dirigierte. Vorsichtig half der Landdoktor Daniel in den Korb hinein, und Lilly brachte sie sicher zum Erdboden zurück.
Sebastian untersuchte Daniel und bestätigte dessen Verdacht: das rechte Schultergelenk war aus der Gelenkpfanne gesprungen. Es könnten noch weitere Verletzungen vorliegen, und der Arzt wollte seinen Patienten liegend ins Krankenhaus zu weiteren Untersuchungen bringen lasse.
Das lehnte Daniel ab. »Doktor, ich bin keine zwei Meter tief gefallen und habe außer der Verletzung der Schulter nur ein paar Hautabschürfungen, als ich gegen die Mauer geprallt bin. Mein Kopf hat nichts abbekommen, weil ich den Schutzhelm trage, und mir geht es gut. Können Sie die Schulter nicht einfach wieder einrenken? Ich möchte so wenig Aufsehen wie möglich, das hier reicht mir völlig.«
»Bitte, Daniel, sei nicht leichtsinnig«, warnte Lilly und wechselte einen besorgten Blick mit Sebastian Seefeld.
»Das Krankenhaus ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Ob Sie darauf eingehen oder nicht, ist Ihre Entscheidung, Herr Berger. Natürlich kann ich ihr Schultergelenk wieder einrenken, aber ich bestehe darauf, dass wir das nicht hier, sondern in der Praxis tun. Und ich bestehe auf einer umfassenden, allgemeinen Untersuchung, um eventuelle weitere Verletzungen ausschließen zu können«, antwortete Sebastian bestimmt.
»Das hört sich doch sehr gut, so machen wir das«, stimmte Daniel erleichtert zu. Er spürte, dass es keine anderen Verletzungen gab, aber allmählich fühlte er sich fix und fertig. Jetzt ins Krankenhaus zu fahren, von der Unfallchirurgie aus weitere Untersuchungen wie Röntgen, Ultraschall, CT oder MRT durchlaufen zu müssen, schreckte ihn ab. Er wollte jetzt nur noch von seinen Schmerzen befreit werden, nach Hause und gemeinsam mit seinen wundervollen Hunden die Ereignisse der vergangenen Stunden verdauen.
Lilly wären die Untersuchungen lieber gewesen, es hätte sie beruhigt, aber sie konnte auch Daniel verstehen. Sie half ihm ins Auto des Landdoktors und beim Anlegen des Sicherheitsgurts.
»Den Hubwagen lasse ich von deinen Leuten abholen. Ich fahre mit in die Praxis und warte dort auf dich, und dazu brauchst du gar nichts zu sagen, das ist nicht verhandelbar«, sagte sie energisch.
»Hatte ich auch gar nicht vor«, antwortete Daniel mit einem leisen Lächeln.
Der Landdoktor fuhr mit seinem Schmerzpatienten so behutsam wie möglich über den holprigen Waldweg hinunter zur Landstraße, und Lilly lud die beiden Collies in ihr Auto. Dort gab es noch einmal Wasser und die besonderen Leckerli, die ihr Rautende geistesgegenwärtig zugesteckt hatte, ehe sie vom Hof gefahren war: selbstgebackene Leberwurstkekse.
»So, ihr zwei Helden, jetzt lasst es euch gut gehen, und dann fahren wir zum Landdoktor und holen euer Herrchen nach Hause«, sagte Lilly zufrieden und kraulte den beiden Hunden liebevoll ihre üppigen Mähnen. »Ihr seid einfach unglaublich, wisst ihr das?«
Athos und Alamea schauten zurück, als wollten sie sagen: doch, das wissen wir.
Lilly musste lachen, gab jedem der Hunde ein Küsschen auf den langen, eleganten Nasenrücken und fuhr Richtung Bergmoosbach. Sie war unendlich erleichtert, dass nichts Schlimmeres geschehen war, und hatte plötzlich das warme Gefühl, dass alles gut werden konnte.
Wobei sie lieber nicht zu genau darüber nachdenken wollte, was für sie ›alles‹ bedeutete.
Die Untersuchung des Landdoktors zeigte, dass sich Daniel tatsächlich keine weiteren Verletzungen zugezogen hatte. Unter örtlicher Betäubung renkte Sebastian das Schultergelenk wieder ein und legte eine Orthese an, um den Arm ruhig zu stellen.
»Diese Schlinge werden Sie eine bis drei Wochen tragen müssen, damit das Gelenk entlastet ist«, erklärte Sebastian. »Wir sehen uns in einer Woche wieder, dann kann ich sagen, wie weit der Heilungsprozess fortgeschritten ist. Sie bekommen Schmerzmittel mit und sollten sich in der nächsten Zeit schonen. Was Ihren Beruf betrifft, sollten Sie, wenn überhaupt, am Schreibtisch arbeiten und auch das nur mit der linken Hand.«
»Das werde ich beherzigen«, versprach Daniel und verließ erleichtert das Sprechzimmer.
Sebastians Vater Benedikt, der ihn während der Rettungsaktion vertreten hatte, steckte kurz seinen Kopf durch die Tür. »Jetzt muss ich mal ganz neugierig fragen: stimmt es, was man sich erzählt? Der eine Collie hat bei Daniel gewacht, während der andere Hilfe geholt hat?«
»Stimmt, ich habe es selbst miterlebt«, bestätigte Sebastian lächelnd.
Lilly hatte auf Daniel gewartet und war sehr erleichtert, dass es keine weiteren Verletzungen gab. Sie half Daniel ins Auto und fuhr zum Gutshaus zurück.
In ›Silberwald‹ wurden sie von Rautende und den anderen Mitarbeitern herzlich begrüßt. Alle Gespräche drehten sich nur um Daniel und seine beiden Hunde. So gut die ganze Anteilnahme gemeint war, wurde sie ihm irgendwann zu viel. Er verzog sich mit Athos und Alamea auf seinen Lieblingsplatz im Garten. Gestützt von einigen Kissen, streckte er sich auf der alten Bank aus und schloss die Augen.
In der Zwischenzeit war auch Robert wieder auf dem Gutshof erschienen. Er war aufgekratzt und leider auch ein bisschen angetrunken. Im Steg-Haus hatte er ein junges, gut betuchtes Ehepaar kennengelernt, das sich mit Bauplänen trug, die gar nicht exklusiv genug sein konnten.
»Timon und Jenny Löffler sind genau die richtigen Kunden für mich«, sagte Robert im Brustton der Überzeugung. »Wenn ›Silberwald‹ erst mir gehört und völlig entkernt und entstaubt worden ist, werde ich meine Auftraggeber noch ganz anders beeindrucken können als in meinem Büro in Lugano.«
Lilly schauderte. »Ich freue mich für deinen Erfolg«, sagte sie knapp, »aber jetzt gibt es anderes, an das du denken solltest. Dein Bruder hatte einen Unfall und hat sich die Schulter verletzt. Er ist bei Arbeiten an der Glaskuppel abgestürzt.«
»Was?« Schlagartig war Robert nüchtern. »Ist er schwer verletzt? Dieser Idiot, wie konnte das passieren, und natürlich musste er allein dort rauf.«
»Vorwürfe nützen jetzt nichts, die macht er sich bestimmt selbst schon genug«, entgegnete Lilly. »Du solltest dir lieber überlegen, wie du ihn jetzt unterstützen kannst, solange du noch hier bist.«
Robert zuckte verlegen mit den Schultern. »Was sollte ich denn für ihn tun können? Von seiner Tischlerei verstehe ich nichts, und auf dem Gut läuft doch alles von ganz allein.«
»Wie wäre es ganz einfach mal mit ein bisschen Anteilnahme?« fragte Lilly streng.
»Hab ich doch, auch wenn ich nicht andauernd mit ihm Händchen halte«, murrte Robert mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. »Wo ist er denn? Im Krankenhaus oder zu Hause?«
»Er ist hier und soll sich schonen. Ich glaube, er hat sich jetzt in den Garten zurückgezogen«, informierte Lilly ihn.
»Dann will ich ihn jetzt nicht stören, außerdem muss ich dringend mit Rautende reden. Ich habe Gäste eingeladen, die ich nicht mit Hausmannskost bewirten will.«
Lilly traute ihren Ohren nicht. »Du hast was?«, fragte sie ungläubig. »Du lädst Fremde ein, ohne es vorher mit Daniel abzusprechen?«
»Warum sollte ich das tun?«, fragte Robert aufrichtig überrascht.
»Weil er der Hausherr ist und wir seine Gäste sind«, erwiderte Lilly bestimmt.
»Ich bin hier ebenso Hausherr wie mein Bruder, ›Silberwald‹ gehört ihm nicht allein«, antwortete Robert scharf. »Wenn ich wen einladen will, dann tue ich es. Timon und Jenny sind potenzielle Auftraggeber, um die ich mich kümmere. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich deswegen meinen kleinen Bruder um Erlaubnis bitte?«
»Das ist selbstverständlich und eine Frage der Höflichkeit«, erwiderte Lilly entschieden. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging ins Haus, um Rautende um eine Beschäftigung zu bitten. Im Augenblick konnte sie Roberts Gesellschaft nicht mehr ertragen.
Dieses Gefühl verstärkte sich im Laufe des Abends, als das andere Paar bei ihnen zu Gast war. Robert verstand sich blendend mit den beiden jungen Leuten, die ähnliche Ansichten vom Leben hatten wie er. Lilly konnte mit der Unterhaltung, die sie als oberflächlich empfand, wenig anfangen. Die Löfflers erzählten von ihren großen Reisen, tollen Feriendomizilen und ihrem absolut unzureichenden Sechs-Zimmer-Haus mit nur zwei Bädern. Robert war ganz in seinem Element und spielte mit Ideen, die Jenny vor Begeisterung laut kreischen ließen.
Das war der Augenblick, in dem Daniel sich vom Tisch verabschiedete. Er hatte den unerwarteten Besuch höflich über sich ergehen lassen, aufgeregtes Geplapper über seinen Sturz und die klugen Hunde gelassen beantwortet und Robert die Position als Gastgeber überlassen. Er war mehr Zuschauer als Teilnehmer bei dieser Dinnerparty und nun hatte er genug. Höflich verabschiedete er sich und verließ das Esszimmer.
Nachdem Daniel gegangen war, erschien Lilly der Raum plötzlich größer und kälter, als er es eben noch gewesen war. Es strengte sie an, dem Plappern Jennys, dem Prahlen ihres Mannes und Roberts gut verpacktem Geschäftssinn zuzuhören. Als ganz selbstverständlich eine Flasche wertvoller, alter Whisky aus Daniels Beständen auf den Tisch kam, verabschiedete auch sie sich.
»Aber Süße, bleib doch, es ist noch nicht spät. Seitdem du auf dem Land bist, gehst du mit den Hühnern ins Bett und stehst mit den Hühnern auf, das muss wirklich nicht sein«, sagte Robert und hielt ihren Arm fest.
Lilly hasste es, wenn er sie Süße nannte. »Gute Nacht euch allen«, sagte sie kurz und zog ihren Arm zurück. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verließ sie das Zimmer und suchte Rautende.
Die ältere Frau saß zusammen mit Kilian auf der kleinen Terrasse vor der Küche und trank Weinschorle. Auf dem Tischchen schimmerte ein Windlicht, und der Duft des Geißblatts erfüllte die Luft. »Entschuldige bitte, wenn ich störe«, sagte Lilly ein wenig verlegen, »aber ich habe eine Frage.«
»Du störst überhaupt nicht«, antwortete Rautende freundlich. Sie spürte sofort, dass Lilly ihre Frage ungern vor Kilian stellen wollte und ging mit der jungen Frau ins Haus hinein. »Was gibt’s denn, wobei ich dir helfen kann?«
»Wenn es nicht zu viel Mühe macht, hätte ich gern ein anderes Zimmer«, antwortete Lilly. »Ein Zimmer für mich allein. Robert hat seine Gäste und es wird spät werden und …«
»Brauchst gar nichts weiter zu sagen«, unterbrach Rautende sie verständnisvoll. »Hier gibt es mehrere Gästezimmer, und ich weiß eines, das ganz genau zu dir passt.« Sie begleitete Lilly durch die Eingangshalle in den Flur, der zu den hinteren Schlafzimmern führte. Dort öffnete sie die Tür zu einem Raum, der zwei große Fenster hatte, die über Eck lagen. Trotz der nächtlichen Dunkelheit ahnte man, wie besonders und schön dieser Raum im Tageslicht sein würde.
Wie alle anderen Zimmer hatte auch dieses einen schimmernden, hellen Holzfußboden und hohe Wände. Die cremefarbene Blümchentapete wirkte nostalgisch und wurde von schlichten Vorhängen in einem zarten Pfirsichfarbton ergänzt. Dazu passten das weiße Metallbett, ein bequemer, moderner Sessel mit Beistelltisch und ein weißer Kleiderschrank. Mehrere Lampen mit Schirmen in der gleichen Farbe wie die Vorhänge tauchten den Raum in ein warmes Licht.
Vom ersten Augenblick fühlte sich Lilly in diesem Zimmer wohl und geborgen. »Rautende, es ist bezaubernd«, sagte sie dankbar. »Es ist feminin, ohne kitschig zu sein. Wem hat dieses Zimmer vorher gehört?«
»Roberts und Daniels Mutter«, antwortete die ältere Frau liebevoll. »Hier hat sie früher ihre Briefe geschrieben, gemalt, den Kindern vorgelesen oder mit ihrer besten Freundin Kaffee getrunken. Die Möbel sind, bis auf ihren Schreibtisch, neu, aber die Tapete, Vorhänge und Lampen hat sie noch ausgesucht.«
Zufrieden schaute sich Lilly um. »Dieses Zimmer hat eine ganz besondere Atmosphäre. Ich werde wunderbar hier schlafen können.«
»Ich lege dir frische Bettwäsche und Handtücher heraus«, erwiderte Rautende, ohne weitere Fragen zu stellen.
»Und ich hole meine Sachen.« Lilly marschierte hinüber in Roberts altes Zimmer und packte. Sie legte ihm einen Zettel mit der Nachricht aufs Kopfkissen, dass sie sich für ein eigenes Zimmer entschieden habe, und ging.
Während Roberts Unterhaltung mit seinen Gästen feucht-fröhlicher und seine Planung immer kostspieliger wurde, streckte sich Lilly gemütlich auf dem Bett mit der duftenden Leinenwäsche aus und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Du hast in der Tat zwei sehr bemerkenswerte Söhne, Sybille Berger«, sagte sie in die Stille hinein, die keine Antwort für sie bereithielt. Irgendwann hörte sie auf, über die ungleichen Brüder nachzudenken, kuschelte sich tiefer in die Kissen und schlief ein.
*
Erwartungsgemäß war Robert gekränkt von Lillys Umzug und konnte ihren Wunsch nach Rückzug nicht verstehen. »Was soll das heißen, du kannst mit meiner großspurigen Art und dass ich mit den Löfflers getrunken habe, nichts anfangen!«, regte er sich auf. »Ich arbeite daran, einen neuen Auftrag zu bekommen, und dafür ist mir jedes Mittel recht. Selbst wenn das heißt, dass ich mit dieser Jenny flirte, und du eifersüchtig bist.«
Lilly verdrehte genervt die Augen. »Ich bin nicht eifersüchtig!«, antwortete sie bestimmt. »Diese Löfflers sind mir als Personen völlig egal. Es gefällt mir nicht, wie du dich hier verhältst. Du spielst den Hausherrn, bedienst dich an Daniels Vorräten, versuchst, Rautende herum zu scheuchen und bist im Augenblick ziemlich unausstehlich. Deshalb möchte ich etwas Abstand zu dir haben, und es tut mir leid, dass du es nicht verstehst.«
»Ich habe anderes im Kopf als weibliche Empfindlichkeiten«, erwiderte Robert scharf. »Hier geht nichts voran, und für mich wird die Zeit allmählich knapp. Ich muss arbeiten, und dafür brauche ich die Programme, die ich in meinem Büro in Lugano auf den Rechnern habe. Die leidige Nachlassgeschichte muss endlich abgewickelt sein, damit ich zum Alltag übergehen kann.«
»Dann akzeptiere den Vorschlag deines Vaters, und alles ist geklärt«, antwortete Lilly energisch. »Und was deine Arbeit angeht: versuch es mal mit Reißbrett, Papier und Stiften, so haben Architekten bis zur Erfindung der Computerprogramme erfolgreich gearbeitet.«
Lilly wandte sich ab und suchte nach Daniel. Sie brauchte Bewegung und wollte ihn fragen, ob einer der Hunde mit ihr spazieren gehen konnte. Lilly traf Daniel in der Bibliothek am Schreibtisch an, wo er über seiner Buchführung saß. Er hielt sein Handy in der Hand und hatte einen seltsamen Gesichtsausdruck.
»Daniel, ist etwas passiert?«, erkundigte sich Lilly beunruhigt.
»Das weiß ich noch nicht«, antwortete Daniel. »Eben hat Doktor Seefeld angerufen und um ein Gespräch gebeten. Er wollte am Telefon nicht sagen, worum es geht; er meinte nur, dass er mir zu weiteren Untersuchungen raten würde.«
»Das muss nicht automatisch etwas Schlechtes bedeuten«, erwiderte Lilly vernünftig und bemühte sich, ruhig und gelassen zu klingen. »Natürlich ist es am besten, du sprichst so schnell wie möglich mit dem Landdoktor. Soll ich Robert fragen, ob er dich gleich fährt?«
Daniel nickte und schloss seine Bücher.
Robert allerdings lehnte Lillys Bitte mit der Begründung ab, er habe jetzt keine Zeit, weil er mit den Entwürfen für die Löfflers beginnen müsse. Es seien genug andere Leute auf dem Gut, die die Fahrt übernehmen könnten.
Lilly schaute ihn mit ihrem glasklaren Blick an, der einen Diamanten hätte schneiden können. »Ja«, antwortete sie entschieden, »zum Beispiel ich.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging zu Daniel.
Die beiden fuhren schweigend zum Doktorhaus, wo Lilly den Wagen parkte. Sie würde im Café Bernauer auf ihn warten.
Mit sehr gemischten Gefühlen ließ sich Daniel ins Sprechzimmer führen und nahm vor dem Schreibtisch Platz.
»Ich hoffe, ich habe Sie mit meinem Anruf nicht allzu sehr beunruhigt«, begann Sebastian freundlich das Gespräch. »Es ist nichts Dramatisches, was mir aufgefallen ist, aber es könnte ein grundsätzliches Problem geben, das wir behandeln sollten.
Ich hatte den Eindruck, dass Sie sich in einem geschwächten Allgemeinzustand befinden. Sie sagten, Sie fühlen sich oft sehr müde und antriebslos, frieren auffallend mehr. Auch haben Sie zugenommen, ohne dass sich ihre Essgewohnheiten geändert haben. Ich habe eine große Blutuntersuchung vornehmen lassen, die meinen Anfangsverdacht bestätigt hat, es könne sich um eine Unterfunktion der Schilddrüse handeln.«
»Und was bedeutet das genau?«, fragte Daniel beunruhigt.
»Ihr Körper bildet Antikörper gegen die eigene Schilddrüse, was im Laufe der Zeit die geschilderten Symptome verursacht. Das ist nichts Bedrohliches und kann mit Medikamenten behandelt werden, die das fehlende Hormon ersetzen«, erklärte der Landdoktor.
Daniel atmete vorsichtig auf. »Das klingt vielversprechend und nicht allzu kompliziert.«
»Das ist es auch nicht«, fuhr Sebastian ruhig fort. »Allerdings weist Ihr Blut einige Werte auf, die ich nicht klar zuordnen kann. Diese Form der Schilddrüsenunterfunktion ist angeboren und tritt ungefähr ab dem zehnten oder elften Lebensjahr auf, Sie sind deutlich älter. Ich würde Ihnen raten, noch eine zweite Meinung einzuholen. Dafür kann ich Ihnen einen Kollegen empfehlen, der auf Erkrankungen der Schilddrüse spezialisiert ist, Doktor Leopold Baron. Er lebt am Tegernsee und genießt einen internationalen Ruf, bei ihm sind Sie fachlich und menschlich in sehr guten Händen. Leider ist seine Praxis überlaufen und es ist schwer, bei ihm zeitnah einen Termin zu bekommen. Wenn Sie es wünschen, würde ich dort anrufen und mich um einen baldigen Termin kümmern.«
Daniel schluckte. »Das kommt jetzt etwas überraschend«, sagte er. »Ich muss Ihre Diagnose erst einmal sacken lassen und überdenken. Ist es in Ordnung, wenn ich mich innerhalb der nächsten Tage bei Ihnen deswegen melde?«
»Natürlich, Herr Berger«, erwiderte Sebastian verständnisvoll. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie so weit sind. Ich kümmere mich um den Kontakt zu meinem Kollegen und stelle die bisherigen Untersuchungsergebnisse zusammen.«
Nachdem der Arzt noch Daniels Schulter untersucht hatte, die gut verheilte, war der Besuch in der Landarztpraxis beendet, und Daniel ging in den Garten des Cafés Bernauer hinüber. Lilly erwartete ihn gespannt und voll mühsam verborgener Sorge. Was mochte Doktor Seefeld gewollt haben?
Daniel berichtete in allen Einzelheiten von dem, was der Landdoktor entdeckt hatte. Lilly hörte aufmerksam zu, und als er geendet hatte, lächelte sie ihn an. »Das klingt doch gar nicht besorgniserregend oder gar lebensbedrohlich«, sagte sie erleichtert. »Wirst du diesen Arzt denn aufsuchen?«
»Ja, unbedingt, Doktor Seefeld scheint viel von seinem Kollegen zu halten. Er wird auch versuchen, mir so bald wie möglich dort einen Termin zu beschaffen«, erklärte Daniel.
Jetzt wurde aus Lillys Lächeln ein spitzbübisches Grinsen. »Das muss er gar nicht, den Termin hast du schon so gut wie im Kalender stehen«, antwortete sie vergnügt. »Alexandra und Leopold Baron sind seit vielen Jahren gut mit meiner Familie befreundet, und Alexandra ist meine Patentante. Leopold ist ein sehr erfahrener Spezialist und wird dich mit Sicherheit untersuchen. Wenn du möchtest, rufe ich noch heute bei ihnen an und kläre es ab.«
»Du meine Güte, es geht doch nichts über gute Beziehungen«, sagte Daniel perplex.
»Die man pflegen sollte«, erwiderte Lilly ernsthaft. »So kann ich dir ein wenig für die wunderschöne Zeit in ›Silberwald‹ danken.«
Noch am selben Abend rief Lilly bei ihren Pateneltern an und erzählte von den Ereignissen der letzten Zeit. Umgehend wurde ein Termin für die Untersuchung abgemacht, und Alexandra lud Lilly, ihren Freund und Daniel ein, für einige Tage Urlaub am Tegernsee zu machen.
Während ihre Patentante diese Einladung aussprach, war es wie ein plötzlicher Schock für Lilly, als Roberts Name genannt wurde. Für einen Moment hatte sie tatsächlich vergessen, dass es ihn gab, und dass es ganz natürlich war, sie beide gemeinsam einzuladen. Sie hatte nur an Daniel gedacht und wie schön es sein würde, gemeinsam mit ihm Zeit in dem schönen alten Bauernhaus der Familie zu verbringen.
»Danke für die spontane Einladung«, antwortete sie und fühlte sich schlecht, »das ist sehr lieb und großzügig von euch.«
Alexandra Baron war eine kluge und lebenserfahrene Frau, die sehr gut zuhörte. Sie hatte das winzige Erschrecken in der Stimme ihrer Patentochter wahrgenommen. »Die Einladung steht, egal, mit wie vielen Personen ihr kommt«, antwortete sie unbeschwert. »Wir freuen uns auf dich.«
»Und ich mich auf euch«, antwortete Lilly aufrichtig.
Als das Gespräch beendet war, ging sie zu Robert und erzählte von dem Besuch am Tegernsee. Er schaute sie leicht gereizt an. »Ich kann jetzt keinen Urlaub machen, ich sitze über den Entwürfen für das neue Haus. Timo und Jenny wollen in zwei Tagen weiter nach Italien, und ich will sie im direkten Kontakt ködern. Fahr du allein und bring Daniel zu diesem anderen Arzt.« Ehe er sich wieder seinen Berechnungen widmete, warf er Lilly einen durchdringenden Blick zu. »Ich wünsche meinem Bruder wirklich nichts Schlechtes, aber er sollte über seine Situation nachdenken. Kann er sich mit einer chronischen Erkrankung leisten, als Selbstständiger zu arbeiten? Was ist, wenn er immer wieder oder für längere Zeit ausfällt? Als mein Angestellter wäre er abgesichert, das sollte er nicht vergessen.«
Lilly wusste, dass Robert damit nicht ganz unrecht hatte, aber sein herablassender Tonfall ärgerte sie. »Tu nicht so, als sei Daniel invalide«, sagte sie ärgerlich. »Informiere dich lieber über das Hashimoto Syndrom, dann weißt du, worum es geht.«
»Sehr wohl, Frau Doktor«, erwiderte Robert spöttisch und wandte sich wieder seinen Berechnungen zu.
Lilly verließ sein Zimmer und zog die Tür ein wenig heftiger, als nötig gewesen wäre, ins Schloss. Sie rief ihre Patentante an und sagte, dass sie nur zu zweit kämen, Robert habe viel zu tun.
»Dann wünschen wir ihm viel Erfolg bei seiner Arbeit und euch eine erholsame Zeit am Tegernsee«, antwortete Alexandra diplomatisch.
Daniel war gerührt von der Gastfreundschaft, mit der das Arztehepaar ihn in ihr Haus aufnahm. Er genoss die Autofahrt in Lillys Gesellschaft, und je weiter er sich von der angespannten Situation in ›Silberwald‹ entfernte, desto gelöster wurde er. Seine Hunde und das Haus wusste er bei Rautende und Kilian in den besten Händen, sein Geselle Bernward und die zuverlässige Sekretärin Claudia kümmerten sich um den laufenden Betrieb in der Tischlerei.
»Weißt du, was?«, sagte er staunend zu Lilly. »Trotz allem geht es mir fantastisch. Ich habe tatsächlich ein paar Tage Urlaub und das zum ersten Mal seit vielen Jahren.«
»Das sollten wir genießen«, antwortete Lilly, drehte das Radio lauter und fing an, den Song, der gerade lief, mit einer zweiten Stimme zu unterlegen.
»Alle Achtung!«, rief Daniel. »Wenn es bei dir mit der Architektur mal nicht so gut läuft, kannst du immer als Sängerin deine Brötchen verdienen.«
Lilly lachte übermütig. »Och, ich kann auch anders«, antwortete sie und begann, bewusst schräg zu singen. Daniel fiel mit ein, und die beiden kamen in ziemlich alberner und ausgelassener Stimmung bei Lillys Pateneltern an.
Der Lärm und das Gelächter aus ihrem Auto waren nicht zu überhören, als sie bei Doktor Baron auf den Parkplatz fuhren.
»Selten kommt ein Patient in so guter Stimmung, das ist doch mal eine nette Abwechslung«, sagte Leopold schmunzelnd zu seiner Frau, als sie unter der Haustür auf die jungen Leute warteten.
Das Haus von Lillys Pateneltern lag am Hang und bot großzügig Raum zum Wohnen und für die Praxis. Es war weiß mit traditionellen hölzernen Balkonen, die Alexandra mit individueller Farbgebung versehen und mit leuchtend roten Blumen geschmückt hatte. Grüne Fensterläden und grün-weiß gestreifte Markisen schützten die klassischen Sprossenfenster vor heißer Sommersonne, und der Bauerngarten mit seiner blühenden Pflanzenvielfalt war ein Paradies für Vögel, Schmetterlinge und Bienen. Die betagte, aber noch sehr fidele Rauhaardackelhündin Lotta lag im Halbschatten auf der Terrasse und freute sich sichtlich über den Besuch.
Gemeinsam gingen sie ins Haus, das von innen ebenso geschmackvoll und stilsicher gestaltet worden war wie von außen. Nach einer kurzen Pause mit Tee und Erdbeerkuchen ging Leopold mit Daniel hinüber in seine Praxis.
Doktor Leopold Baron war ein gut aussehender Mann mit silbergrauen Haaren, einer sonoren Stimme und angenehm ruhiger Ausstrahlung. Er hörte Daniel aufmerksam zu, kommentierte die Untersuchungsergebnisse seines Kollegen und nahm dann eigene Untersuchungen vor. Daniel fühlte sich auch bei diesem Arzt gut aufgehoben, und er vertraute dessen besonderer Fachkenntnis.
»Ich kann schon jetzt bestätigen, dass Doktor Seefeld mit seiner Diagnose richtig liegt«, erklärte Leopold ruhig. »Auch bei Schilddrüsenerkrankungen gibt es Abstufungen, häufigere und seltenere Erscheinungsformen. Worum genau es sich bei Ihnen handelt, werden die neuen Testergebnisse zeigen, die in zwei Tagen vorliegen. Danach erstelle ich den Behandlungsplan, den wir besprechen.«
Daniel stellte noch etliche Fragen, die der Facharzt umfassend beantwortete, womit er ihm seine Bedenken nahm. Am meisten hatte er befürchtet, dass diese ewige Mattigkeit anhalten könnte, die sein Leben erschwerte.
Doktor Baron konnte ihn beruhigen. »Wenn sich der Körper auf das Medikament eingestellt hat, wird sich auch Ihr Allgemeinzustand bessern. Das kann einige Wochen dauern, bis Sie es merken, aber es wird sich verändern.«
»Sehr gut«, erwiderte Daniel erleichtert und wies auf die Schlinge, in der sein Arm ruhte. »Diese Müdigkeit hat mich in eine sehr unangenehme Lage gebracht.«
»Das werden Sie bald hinter sich haben«, antwortete Leopold zuversichtlich.
Der Arzt widmete sich dann weiter seinen anderen Patienten, und Daniel verbrachte einen entspannten Nachmittag mit Lilly und ihrer Patentante.
Alexandra war eine temperamentvolle Frau mittleren Alters mit kinnlangen, aschblonden Haaren, die in einer natürlichen Welle ihr Gesicht umrahmten. Sie kleidete sich ausgesprochen chic und geschmackvoll und hatte eine Vorliebe für edlen Schmuck, den sie unaufdringlich zu tragen verstand. Alexandra machte immer eine gute Figur, sowohl in rustikaler Wanderkleidung als auch im eleganten Cocktailkleid.
Im Laufe der Jahre hatte sie sich als Künstlerin im Bereich der Kalligraphie einen Namen gemacht, was Daniel in Erinnerung an seine Mutter besonders interessierte. Er bat seine Gastgeberin, ihm einige Arbeiten zu zeigen, und war beeindruckt von dem, was Alexandra an Schönem und Ausgefallenem erschaffen hatte.
»Jetzt, da ich Sie persönlich kennengelernt habe, freue ich mich noch mehr auf Ihre Ausstellung in der Burgruine bei uns in Bergmoosbach«, sagte er.
»Und ich freue mich, den Künstler kennenzulernen, der die gläserne Kuppel über dem Festsaal gebaut hat«, antwortete Alexandra aufrichtig begeistert. »Leopold und ich haben uns den Raum angeschaut, das Zusammenspiel von Licht und Schatten ist fantastisch. Es verleiht jedem Bild, das dort ausgestellt wird, einen besonderen Reiz. Abgesehen davon ist diese Kuppel einfach ein Meisterwerk.«
Daniel wollte leicht verlegen etwas wegen des Begriffs Künstler sagen, er verstand sich eher als Handwerker, aber Lilly fiel ihm lachend ins Wort. Sie schob ihren Arm unter seinen und drückte ihn. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel«, sagte sie energisch. »Ohne ein Künstler zu sein, wärest du kein so genialer Handwerker.«
»Lilly hat recht, jede gute Kunst ist auch Handwerk und umgekehrt«, stimmte Alexandra zu.
Am nächsten Abend verabschiedete sich Daniel als Erster aus der Runde, die nach einer langen Wanderung zu einer benachbarten Alm im Garten zusammensaß. Als die junge Frau mit ihren Pateneltern allein war, begann sie vorsichtig, von den Erbstreitigkeiten zu erzählen. Sie wollte Robert nicht schlecht machen, aber sie musste mit jemand Vertrautem über ihre Gedanken sprechen.
»Ich kann Robert überhaupt nicht mehr verstehen, er ist mir so fremd geworden«, sagte sie bedrückt. »Zunächst habe ich alles geglaubt, was er mir über seinen jüngeren Bruder erzählt hatte, aber jetzt weiß ich, dass es mehr als nur seine Sichtweise gibt. Ich finde sein Verhalten während der Krankheit seines Vaters und bei dessen Tod unerklärlich und unentschuldbar. Ebenso wenig kann ich sein Verhalten in Bezug auf das Erbe verstehen. Wenn ich mit ihm darüber reden möchte, gibt es sofort Streit.«
»Könnte es sein, dass Robert eifersüchtig ist?«, fragte Leopold vorsichtig.
Lilly stutzte. »Dazu gibt es überhaupt keinen Grund, zwischen mir und Daniel läuft nichts«, antwortete sie entschieden und fuhr nach einer Zeit des Nachdenkens fort: »Aber ich verstehe mich besser mit ihm als im Moment mit Robert, das stimmt. Vielleicht sollte ich einfach wieder mehr auf Robert zugehen; ich weiß doch, dass er sich in ›Silberwald‹ nicht wohlfühlt.«
»Aber du tust es, nicht wahr?«, fragte ihre Patentante.
»Ja, sehr, es ist wie ein Zuhause«, antwortete Lilly ehrlich.
»Nun, im Augenblick seid ihr hier und könnt ein paar freie Tage genieße«, wechselte Leopold diplomatisch das Thema. »Etwas Abstand wird euch beiden gut tun und hoffentlich auch den Konflikt wegen des fehlenden Testaments entschärfen.«
»Hoffen wir’s, das kann Daniel gebrauchen«, erwiderte Lilly nachdrücklich.
Die wenigen Tage wurden zu einem herrlichen Kurzurlaub, den sie mit sorglosem Faulenzen, Segeln auf dem Tegernsee, Wanderungen und einem Besuch im Metropoltheater in München verlebten. Daniel war so glücklich und entspannt wie seit Langem nicht mehr und weigerte sich, an die Herausforderungen zu denken, die ihn zu Hause erwarteten.
Ehe sie abreisten, lud er das Ehepaar Baron nach ›Silberwald‹ ein, während der Ausstellung von Alexandras Bildern seine Gäste zu sein. Sie trennten sich in freundschaftlicher Stimmung und voller Vorfreude auf die Ausstellung.
*
Die entspannte Urlaubsstimmung änderte sich allerdings rasch, als Lilly und Daniel aufs Gut zurückkamen. Robert war sehr gereizt, weil es ihm nicht gelungen war, das Ehepaar Löffler als neue Auftraggeber zu gewinnen.
»Das wäre nicht passiert, hätte ich von Lugano aus arbeiten können. Dass wir nicht längst wieder dort sind, liegt einzig und allein an der Verschleppung der Testamentsvollstreckung«, schimpfte er schlechtgelaunt.
»Und wer verzögert das? Du mit deiner absurden Forderung!«, zischte Lilly. Ihre Nerven lagen blank. Sie hatte versucht, sich auf das Wiedersehen mit Robert zu freuen und mehr Geduld mit ihm zu haben. Sie hatten doch auch gute Zeiten gehabt, und Lilly versuchte, daran anzuknüpfen. Nur fiel es ihr mit jedem Tag schwerer, an dem sie Robert entweder missmutig oder mit prüfendem, abwägendem Blick durch Haus und Hof gehen und Veränderungen planen sah.
»Dieser bekannte Doktor Baron ist also dein Patenonkel. Es ist immer gut, neue, einflussreiche Leute kennenzulernen. Vielleicht ergibt sich über diesen Kontakt etwas, was mich für den entgangenen Auftrag entschädigt. Auf jeden Fall ist es gut, dass sie hier auf dem Gut wohnen und nicht im Hotel, dann haben wir mehr Zeit für Gespräche, und sie lernen den Mann an deiner Seite vor dem richtigen Hintergrund kennen«, sagte Robert.
Lilly sah ihn scharf an. »Bist du denn noch der Mann an meiner Seite?«, fragte sie. »Du hast nur noch Geschäftliches im Kopf. Manchmal habe ich das Gefühl, dich gar nicht mehr zu kennen.«
»Tut mir leid, wenn du es so siehst«, antwortete Robert und zog sie in seine Arme. Es fühlte sich ganz anders an als früher. »Ich weiß, dass ich ziemlich unleidlich bin in letzter Zeit, aber das liegt an der Anspannung. Wenn hier alles geklärt ist, wird es wieder leichter.«
»Dann nimm doch endlich Daniels Verschlag an und einige dich mit ihm«, erwiderte Lilly eindringlich. »Warum willst du unbedingt das Gutshaus haben und es für dich nutzen, wenn du doch nur bittere Gefühle damit verbindest?«
»Weil ich es kann!«, antwortete Robert hart. »Ich bin der älteste Sohn.«
Lilly spürte, dass es sinnlos war, mit ihm weiter darüber zu sprechen. »Ich kümmere mich jetzt um das Zimmer für Alexandra und Leopold«, sagte sie nur und machte sich auf die Suche nach Rautende, um sich Bettwäsche und Handtücher geben zu lassen.
Wie soll der Besuch nur werden, wenn hier solch eine gereizte Stimmung herrscht, dachte sie bedrückt.
Aber wie sich dann zeigte, war Robert nach der Ankunft von Lillys Pateneltern wie ausgewechselt. Er wirkte freundlich und entspannt, stellte Fragen zu Leopolds Beruf und Alexandras Kunst und sorgte für das Wohl der Gäste. Das Haus am Tegernsee war ein alter, denkmalgeschützter Bauernhof, und der Architekt interessierte sich sehr für dessen Um- und Ausbau. Es ergab sich eine angeregte Fachsimpelei, bei der Robert mit Wissen und Charme glänzte, während sich sein jüngerer Bruder im Hintergrund hielt.
»Aus heutiger Sicht würde man vielleicht einiges anders machen. Es ist schade, dass wir Sie damals noch nicht kannten, als das Haus umgebaut wurde. Sie sind genau der Fachmann, den wir uns für die Fenster gewünscht haben«, sagte Alexandra zu Daniel.
»Ihr Haus ist sehr schön so, wie es ist«, antwortete Daniel ruhig. »Nur für Ihr Atelier hätte ich einen Änderungsvorschlag, der den Denkmalschutz berücksichtigt und trotzdem mehr Licht in den Raum bringt.«
»Willst du dich auch dort mit so einer genialen Kuppel aus Glas verewigen?« Robert konnte sich diese Bemerkung nicht verkneifen, aber er sagte es freundlich und mit einem verschmitzten Augenzwinkern.
Daniel ging nicht darauf ein, sondern wendete sich Alexandra zu. »Falls Sie morgen Hilfe beim Aufhängen Ihrer Bilder haben möchten, sagen Sie Bescheid. Die Schlinge für meinen Arm bin ich inzwischen los und kann Ihnen zur Hand gehen.«
»Wie schön, das nehme ich dankend an«, erwiderte sie erfreut. »Und wenn es möglich ist, dann würde ich mir sehr gern die Bilder Ihrer Mutter anschauen.«
Daniels Gesicht leuchtete auf. »Das finde ich schön, und ich werde Ihnen gern alles zeigen, wenn Sie die Zeit haben. Zwei ihrer Bilder hängen in der Eingangshalle links und rechts neben der Tür, andere Arbeiten, vor allem ihre Versuche mit der Kalligraphie, liegen in der Bibliothek.«
»Es gibt noch eine zweite Mappe«, fuhr Lilly fort. »Sie ist im alten Schreibtisch deiner Mutter in ihrem Zimmer. Wenn du möchtest, kann ich sie holen und zu der anderen in die Bibliothek bringen.«
»Ach, Mamas Sekretär«, sagte Daniel etwas wehmütig. »Ich wusste gar nicht mehr, dass dort auch noch eine Mappe liegt.«
»Rautende hat mir erzählt, dass eure Mutter dort alles aufbewahrte, was ihr besonders viel bedeutet hat. Zum Beispiel ist dort auch noch eine Schachtel mit euren Kinderzeichnungen.«
»Ich bin lange nicht mehr in diesem Zimmer gewesen«, antwortete Daniel versonnen.
»Dann solltest du es bald einmal tun. Für mich ist es das schönste Zimmer des Hauses«, erwiderte Lilly lächelnd.
»Das hat Mama auch immer gesagt; erinnerst du dich noch, Robert?« wandte sich Daniel an seinen Bruder.
»Nein.« Robert klang nicht unfreundlich, aber leicht gelangweilt. Ihn interessierten diese kleinen Streiflichter aus seiner Kindheit nicht. Er wollte seinen Arm um Lillys Schultern legen, aber genau in diesem Augenblick stand sie vom Sofa auf.
»Ich bringe jetzt die andere Mappe in die Bibliothek und dann gehe ich ins Bett. Morgen wollen Rautende und ich die Kleinigkeiten für die Ausstellungseröffnung und die anschließende kleine Party hier vorbereiten. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht«, verabschiedete sich Lilly.
Auch Leopold und Alexandra brachen zur Abendrunde mit Lotta durch den Park auf und gingen dann in ihr Zimmer. Während sie durch die sommerliche Dunkelheit gingen, die von den freundlich erleuchteten Fenstern des Hauses erhellt wurde, fragte Leopold seine Frau vorsichtig: »Und? Was hältst du von Daniels Bruder?«
»Hm, das ist schwierig zu sagen, noch kennen wir ihn nicht gut genug«, antwortete Lillys Patentante. »Er ist intelligent, freundlich und charmant, aber ich finde ihn zu bemüht, immer in gutem Licht dazustehen. Daniel ist zurückhaltender, aber aufrichtig, und ich glaube, dass Lilly es ähnlich sieht.«
»Ja, die Brüder sind sich nicht sehr ähnlich«, stimmte ihr Mann zu.
»Nein, und ich bin froh, dass mir Daniel seine Hilfe angeboten hat, nicht Robert. Die Auseinandersetzung wegen des Guts gefällt mir nicht. Es ist zu spüren, welcher der beiden Brüder hierher gehört«, erwiderte Alexandra energisch. Sie schaute zum Haus hinüber, bei deren vorderen Zimmern bis auf die Bibliothek nacheinander die Lichter erloschen und schob ihren Arm unter den ihres Mannes. In einträchtigem Schweigen ging das Ehepaar zurück.
Lilly hatte sich im Bad fertig gemacht und bereits ausgezogen, als ihr Sybilles Mappe wieder einfiel. Vielleicht wollte ihre Patentante noch heute Abend einen Blick auf die Arbeiten werfen? Die junge Frau schlüpfte in ihren Kimono und lief barfuß durch den Flur und die Halle hinüber zur Bibliothek. Dort war es dunkel bis auf eine Leselampe, die neben dem bequemen Ohrensessel am Fenster stand. Rasch legte Lilly die Mappe auf den Schreibtisch und wollte wieder gehen, aber vorher noch die vergessene Lampe ausmachen. Sie trat um den Sessel herum und fuhr mit einem erstickten Aufschrei zurück.
»Meine Güte, hast du mich erschreckt! Ich dachte nicht, dass noch jemand hier ist«, stammelte sie und presste die Hand auf ihr wild rasendes Herz.
»Nun, lieber ich als irgendein Einbrecher, gell?«, antwortete Daniel. Er hielt ein aufgeschlagenes Buch in der Hand und lächelte verschmitzt.
Lilly hatte sich von dem Schreck erholt, aber plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie barfuß und nur mit einem kurzen Kimono bekleidet vor Daniel stand. Verlegen raffte sie den Ausschnitt des seidigen Kleidungsstücks zusammen und strich sich mit der anderen Hand ihre langen Haare aus dem Gesicht.
»Du solltest gar nicht hier sein«, sagte sie nicht besonders logisch.
»Du auch nicht«, antwortete Daniel langsam.
»Ich, ähm, wie geht es dir inzwischen? Mit dem Medikament meine ich«, stotterte Lilly konfus.
Mit Anstrengung lenkte Daniel seine Gedanken auf eine halbwegs vernünftige Antwort. »Gut, danke. Es gibt keine Nebenwirkungen, aber bis sich mein Organismus umgestellt hat, dauert es natürlich etwas.«
»Natürlich«, murmelte Lilly abwesend.
Der große Raum war dunkel und warm, der Schein der einzigen Lampe bildete eine Insel aus Licht, in der Daniels blonde Haare und seine blauen Augen schimmerten. Es wäre so leicht und es fühlte sich so richtig an, jetzt diesen einen Schritt zu tun, der ihn noch von ihr trennte – wenn nicht der andere Mann, zu dem sie gehörte, unter diesem Dach wäre, nur durch die Halle und einige Türen von ihr getrennt.
»Ich sollte jetzt gehen. Gute Nacht, Daniel«, flüsterte Lilly und floh aus dem Zimmer.
»Gute Nacht, Liebste«, antwortete er leise, nachdem sich die Tür hinter der jungen Frau geschlossen hatte.
*
Der nächste Tag verging wie im Flug mit den Vorbereitungen für die Ausstellung und die Bewirtung der Gäste. Den Besuchern im Festsaal der Burg wurden Erfrischungen angeboten, das Kellnern hatten Emilia, ihr Freund Markus und ihre Freundin Toni, eine Tochter der Familie von Raven, übernommen. Enge Freunde würden abends, wenn die Ausstellung geschlossen war, noch zu Gast in ›Silberwald‹ sein.
Während Daniel im Burgturm Alexandra beim Hängen der Bilder und den Stellwänden unterstützte, half Lilly Rautende bei den Vorbereitungen in der Küche. Die beiden jungen Leute gingen sich nicht bewusst aus dem Weg, aber beide spürten, dass es besser so war. Der Abstand zwischen ihnen war inzwischen viel zu klein und gleichzeitig unüberbrückbar.
Zum Glück gab es sehr viel zu tun, und es blieb keine Zeit für Grübeleien. Sehr schnell war es achtzehn Uhr, und die Ausstellungseröffnung rückte näher. Lilly stand in Roberts ehemaligen Zimmer vor dem Kleiderschrank und überlegte, was sie am Abend tragen wollte. Es sollte chic, aber nicht übertrieben festlich sein und den Anlass würdigen. Sie hielt ein schön geschnittenes, grünes Sommerkleid mit einem angedeuteten Blattmuster und eine schmale, schwarze Leinenhose mit einem weißen Spitzentop in die Höhe, als Robert ins Zimmer trat. Ihre Blicke begegneten sich im Spiegel und wieder einmal dachte er, wie gutaussehend Lilly war und dass sie heute Abend etliche Blicke auf sich ziehen würde.
Er trat zu ihr und legte seine Hand in ihren Nacken. »Wann hast du eigentlich vor, deinen Schmollwinkel in Sybilles Zimmer zu verlassen und wieder hierher zu kommen?«, fragte er nicht unfreundlich.
In jeder Hand einen beladenen Kleiderbügel, trat Lilly zwei Schritte von ihm zurück und entzog sich seinem Griff in ihrem Nacken. Wenn sie eben noch bereit gewesen war, heute Abend als seine Freundin mit ihm zur Ausstellung zu fahren, hatte sich das schlagartig geändert.
»Es ist nicht mein Schmollwinkel«, antwortete sie kühl. »Und ich fühle mich dort sehr wohl. Ich kann noch nicht sagen, wann ich wieder in dieses Zimmer komme.«
»Meine Güte, wenn ich bloß verstehen könnte, wovon du eigentlich Abstand brauchst!«, rief Robert ärgerlich aus.
»Du begreifst es noch immer nicht«, erwiderte sie resigniert. Lilly hängte die Hosenkombination in den Schrank zurück und suchte nach den passenden Schuhen für das grüne Kleid.
»Nein, tue ich auch nicht, und ich finde es ungerecht, dass du immer wieder darauf herumreitest«, verteidigte Robert sich. »Lass uns doch versuchen, Frieden zu schließen, bitte, Lilly. Ich weiß, dass dir dieser Abend etwas bedeutet, weil er wichtig für deine Patentante ist. Ich möchte mit dir zu der Ausstellung gehen ohne das Gefühl, ständig auf dem Prüfstand zu stehen.«
Lillys Gesichtsausdruck wurde weich. Wenn hier noch irgendetwas zu retten war, dann musste auch sie sich Mühe geben. »Wir sollten um halb sieben hier losfahren. Ich warte in der Halle auf dich«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
Während Lilly sich in Sybilles Zimmer fertig machte, verbot sie sich energisch jeden Gedanken an Daniel. Sie steckte ihre dunklen Haare zu einem hohen Knoten auf, den sie mit weißen Blüten aus dem Garten schmückte. Ohrringe aus grünem Glas, farblich passende High Heels und eine grüne Handtasche vervollständigten ihr Outfit. Sie sah hinreißend und ein wenig exotisch aus.
Robert küsste ihre Hand, ehe er ihr die Autotür öffnete, und sagte bewundernd: »Heute Abend werden sich alle Augen mehr auf dich als auf die Bilder deiner Patentante richten.«
»Das hoffe ich ganz und gar nicht«, wehrte Lilly lachend ab. »Dann müsste ich sofort zurück und meine Gartenlatzhose mit dem verfärbten T-Shirt anziehen.«
»Und du glaubst, das würde etwas ändern?«, erwiderte er und blinzelte ihr gut gelaunt zu.
Sie kamen in entspannter Stimmung im Festsaal an, der sich rasch mit Besuchern füllte. Alexandra beantwortete freundlich Fragen zu ihren Bildern und führte selbstbewusst durch die Ausstellung. Mit Kalligraphie, der Kunst des Schönschreibens, ließen sich wundervolle Bilder herstellen, die auf großes Interesse bei den Besuchern stießen. Alexandra Baron hatte als Künstlerin bereits einen Namen, und nicht nur das Bergmoosbacher Tagblatt, sondern auch zwei große überregionale Zeitungen hatten Reporter geschickt. Sie wurde zu ihren Arbeiten interviewt, und es wurden Fotos gemacht.
Daniel freute sich, dass neben den Touristen auch viele Bergmoosbacher gekommen waren. Es war schön, die Nachbarn und Bekannte bei einem fröhlichen Anlass wiederzusehen, die er vor kurzer Zeit zur Beerdigung hatte einladen müssen.
Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Lilly, mit wieviel Freundlichkeit und Respekt man Daniel begegnete. Es wurden Fragen nach seiner Zukunft gestellt, die nicht neugierig, sondern anteilnehmend klangen. Auch erkundigten sich viele nach den Folgen seines Sturzes und boten noch einmal Hilfe an, falls er sie brauchte.
Auch Robert begegnete man mit Freundlichkeit, aber wesentlich zurückhaltender. In einigen Fragen schwang deutlich der Verwurf deswegen mit, dass er sich jahrelang nicht hatte blicken lassen, obwohl ihn seine Familie brauchte.
Robert ging scheinbar darüber hinweg, aber über sein Sektglas hinweg flüsterte er Lilly zu: »Meine Güte, was denken diese Leute denn, was ich getan habe? Jahrelang geschlafen? Ich habe gearbeitet!«
Das hat Daniel auch, dachte Lilly.
Sie suchte seinen Blick, und jedes Mal, wenn sie sich anschauten, war es wie Heimkommen.
Lilly stand vor einem Bild ihrer Patentante, das sie ganz in Schwarz und Weiß gehalten hatte. Alle Buchstaben schienen miteinander zu verschwimmen, aber wer genau hinschaute, erkannte eine haarscharfe Trennungslinie.
Das sind Robert und ich, dachte Lilly. Wir sind auch nur scheinbar zusammen und doch getrennt.
Tränen traten in ihre Augen, aber sie blinzelte sie schnell weg. Dieses war Alexandras Abend, an dem hatte Trauer nichts zu suchen. Hilfesuchend schaute sie sich nach Robert um und entdeckte ihn neben einer Stellwand, an der nur Bilder in unterschiedlichen Blautönen hingen. Er hörte seinem Bruder zu, der sich mit einem der Reporter unterhielt. Lilly ging zu den Männern hinüber und stellte sich neben Robert.
»Idee und Ausführung dieser Glaskuppel über dem Raum sind genial«, sagte der Reporter gerade begeistert zu Daniel. »Ich habe nicht damit gerechnet, heute Abend den Baumeister zu treffen. Herr Berger, das ist die Gelegenheit für ein Interview. Man munkelt, Sie sind sogar für einen Preis vorgeschlagen? Eine Reportage in unserer bekannten Zeitung wird Ihnen weitere Türen öffnen.« Der Journalist hielt Daniel bereits sein Aufnahmegerät entgegen und wollte den Eröffnungssatz sprechen, aber der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Nein, heute Abend wird es kein Interview wegen der Glaskuppel geben«, entgegnete er bestimmt. »Sie sind hier wegen der Künstlerin Alexandra Baron, nicht wegen mir. Wenn Sie eine Reportage über die gläserne Kuppel bringen möchten, würde mich das freuen, aber wir müssten uns ein anderes Mal darüber unterhalten.«
»Ich weiß nicht, ob es ein anderes Mal geben kann«, antwortete der Reporter unzufrieden. »Jetzt bin ich vor Ort, und wir sollten diese Gelegenheit nutzen.«
»Es ist nicht mein Abend!«, erinnerte Daniel ihn. Er überreichte dem Mann eine seiner Visitenkarten. »Wenn Sie an einem Interview interessiert sind, haben Sie meine Kontaktdaten.«
»Ich kann nicht versprechen, dass daraus noch etwas wird«, brummte der Mann und schlenderte zu Emilia hinüber, die mit einem Tablett frisch gefüllter Sektgläser unterwegs war.
»Den bist du los«, stellte Robert kopfschüttelnd fest. »Wie kannst du nur so geschäftsuntüchtig sein, kleiner Bruder? Du hättest einen Riesennutzen aus dem Artikel ziehen können. Ich verstehe einfach nicht, wie du dir das entgehen lassen kannst. Was hätte es Frau Baron geschadet, wenn auch du öffentliche Aufmerksamkeit bekommst?«
»Nichts«, antwortete Daniel ruhig, »aber es wäre unhöflich und taktlos gewesen, dieses hier ist ihr Abend.«
Robert lachte auf. »Du bist und bleibst ein Schaf, kleiner Bruder. Pass nur auf, dass du mit dieser Einstellung deine Firma nicht gegen die Wand fährst. Es ist wohl tatsächlich besser, du arbeitest für mich als Angestellter, dann musst du keine Verantwortung tragen; siehst du das nun endgültig ein?«
Bei diesen Worten zog Lilly ihre Hand unter Roberts Arm hervor. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
Daniel schaute immer noch seinen Bruder an. »Nein, das sehe ich ganz und gar nicht so«, entgegnete er ruhig. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst? Ich sehe drüben Lorenz Breitner stehen, der noch etwas mit mir wegen der Sturmschäden besprechen will.«
Nachdem sein Bruder zum Förster hinüber gegangen war, sagte Robert kopfschüttelnd zu Lilly: »Daniel ist und bleibt ein Träumer und Verlierer, er …«
»Nein, er ist der Gewinner«, schnitt Lilly ihm das Wort ab. Sie machte eine ungeduldige Handbewegung, als Robert etwas sagen wollte. »Wir reden später weiter, wenn wir auf dem Gut sind. Und ich fahre mit meinen Pateneltern zurück, warte nicht auf mich.« Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und ging zu Leopold hinüber, der in ein angeregtes Gespräch mit Benedikt Seefeld vertieft war.
Robert fühlte sich abserviert und machte seinem Ärger Luft, indem er Markus anfuhr, der angeblich die Sektgläser nicht gut genug auffüllte.
*
Bevor Lilly zu der fröhlichen Runde ging, die sich im Park von ›Silberwald‹ versammelt hatte, um gemeinsam den Abend ausklingen zu lassen, zog sie sich für einen Moment in Sybilles Zimmer zurück. Sie musste mit sich und ihren Gedanken allein sein.
Roberts abwertende Worte über seinen Bruder und Daniels Gefühl für Takt und Rücksichtnahme hatten sie zu einer Entscheidung gebracht. Es war sinnlos, sich weiter um etwas zu bemühen, was nicht mehr existierte. Hier hatte sie Robert von einer Seite kennengelernt, die sie abstieß. Er konnte nicht mehr ihr Freund sein, sie würde sich von ihm trennen. Sobald die Gäste gegangen waren, würde sie es ihm sagen, ihre Sachen packen und endgültig aus dem gemeinsamen Zimmer ausziehen.
»Es tut mir ehrlich leid, Sybille, aber dein Sohn Robert ist nicht der Richtige für mich«, sagte sie leise in die Stille hinein.
Dann tauschte Lilly die High Heels gegen Ballerinas, mit denen sie bequem auf dem Rasen laufen konnte, griff nach ihrem Pashminaschal in der Farbe zarter Teerosen und ging zu den anderen in den Park hinaus.
Familie Seefeld, Familie von Raven und noch einige andere Freunde ließen den Abend gemeinsam ausklingen. Es war eine freundliche und entspannte Atmosphäre, in der viel erzählt und gelacht wurde. Windlichter flackerten auf dem Tisch und in den Bäumen, es gab guten Wein, Wasser und Fruchtschorlen, und zum Essen hatten Rautende und Lilly kleine Blätterteigtaschen mit pikanter Füllung gezaubert, von denen man einfach nicht genug bekommen konnte.
»Es ist so schön hier; ich freue mich, dass wir nach der Aufregung um die Ausstellung jetzt noch so entspannt zusammensitzen können«, sagte Alexandra glücklich.
Inzwischen waren außer der Familie Seefeld die Gäste gegangen, und auch Robert hatte sich für mehrere wichtige Auslandstelefonate in sein Zimmer zurückgezogen.
Benedikt schaute zu den Birken hinüber, die in der Dunkelheit schimmerten, und sagte versonnen lächelnd: »Es ist immer etwas Besonderes, wenn man in ›Silberwald‹ zusammensitzt. Das war es schon früher bei Ihren Eltern und das ist es auch jetzt bei Ihnen, Daniel.«
»Und wir hoffen sehr für Sie, dass es auch in Zukunft so bleibt«, fügte Traudel warmherzig hinzu. »Hat sich denn inzwischen etwas wegen des fehlenden Testaments klären können?«
»Leider noch nicht.« Daniel schüttelte den Kopf. »Wir haben morgen einen Termin mit unserem Anwalt. Es wird Zeit, dass das hier zu einem Abschluss kommt.«
»Gibt es denn tatsächlich gar nichts Schriftliches? Vielleicht an einem Ort, an dem Sie noch nicht nachgesehen haben, weil er Ihnen zu unwahrscheinlich vorkommt?«, fragte Leopold nachdenklich. »Oder gibt es doch einen Zeugen für Franz Bergers mündliche Verfügung? Du bist doch bis zum Schluss bei ihm geblieben, Sebastian. Hat er nicht noch irgendetwas gesagt?«
»Er hat es versucht, aber es war wegen der Störung durch den Schlaganfall kaum zu verstehen«, antwortete der junge Landdoktor bedrückt. »Für mich klang es nach dem Namen seiner Frau, Sybille, und ähnlich wie ›bei den alten …‹, aber das ergibt keinen Sinn.«
»Nein, leider nicht«, sagte Daniel. »Ich habe diese Wortfetzen auch so gehört, aber nicht gewusst, was mein Vater damit meinte. Papa wirkte sehr unruhig, als er es zu sagen versuchte, es muss wichtig für ihn gewesen sein.« Überwältigt von der traurigen Erinnerung schaute Daniel vor sich hin ins Leere.
Alexandra hoffte, dass ihn vielleicht die Beschäftigung mit den Arbeiten seiner Mutter trösten konnte. »Ist es Ihnen recht, wenn Sie mir jetzt die Bilder Ihrer Mutter zeigen? Ihre Kunst anzuschauen ist doch ein schöner Ausklang dieses Abends«, sagte sie freundlich.
Daniels Miene hellte sich auf. »Das tue ich sehr gern«, antwortete er.
»Bitte, wäre es Ihnen und Frau Baron recht, wenn wir auch mitkommen?«, fragte Emilia. »Meine Mutter hat zwar keine Kalligraphie gemacht, aber auch gemalt, Kunst interessiert mich.«
»Mit den Bildern deiner Mutter ist der restaurierte Festsaal eröffnet worden«, antwortete Daniel lächelnd. »Natürlich könnt ihr gern mitkommen und schauen, was von Sybille Berger noch im Haus ist.«
Alle standen auf und schlenderten zu den geöffneten Fenstertüren der Bibliothek hinüber. Dort verteilten sie sich in Grüppchen um den alten Schreibtisch, und Daniel öffnete die erste Mappe mit den ungerahmten Arbeiten. Es waren anrührende Bleistiftzeichnungen von Robert und Daniel, als sie noch ganz kleine Babys gewesen waren, Landschaftsansichten in Aquarellmalerei, einige Porträtstudien und Schriftübungen in Kalligraphie.
»Wie schade, dass Ihre Mutter irgendwann damit aufgehört hat«, sagte Alexandra bedauernd. »Sie hatte großes Talent.«
»Wahrscheinlich hat sie nicht mehr ausreichend Zeit zum Malen und die Kurse gehabt, in denen sie lernte und sich weiterbildete«, antwortete Daniel. »Mama hatte zwei Kinder in ganz unterschiedlichen Lebensaltern und hat sehr viel auf dem Gut gearbeitet. Damals hatten wir auch noch Pferde und einen kleinen Reitbetrieb, um den Mama sich gekümmert hat.«
»Hier ist noch mehr. In dieser zweiten Mappe sind überwiegend Arbeiten aus der Kalligraphie«, sagte Lilly. »Eure Mutter hatte sie in ihrem Zimmer aufbewahrt, fast wären sie in ihrem alten Sekretär in Vergessenheit geraten.«
»Das wäre schade gewesen, denn sie sind außergewöhnlich und sehr gut«, stellte Alexandra neidlos fest.
Die Blätter gingen unter den bewundernden Blicken der anderen von Hand zu Hand, und man bestaunte die verschiedenen Techniken, mit denen Sybille Berger gearbeitet hatte.
»Aber was ist das hier? Das sieht viel älter aus als alles, was in dieser Mappe ist«, stellte Alexandra fest und zog ein halb verborgenes Pergament aus einem Seitenfach der Ledermappe.
Das Papier war alt und vergilbt und mit seltsam aussehenden Zeichen bedeckt, die auf den ersten Blick kaum als Kalligraphie zu erkennen waren. Das einzig Leserliche auf dem Bogen war die verschnörkelte Jahreszahl AD 1892.
»In diesem Jahr haben unsere Ur-Großeltern ›Silberwald‹ erbaut. Ich kenne das Datum aus alten Kaufverträgen und Rechnungen, aber dieses Pergament habe ich noch nie gesehen«, sagte Daniel erstaunt. »Ich kann mit den Schriftzeichen nichts anfangen, für mich sind sie völlig unleserlich. Handelt es sich überhaupt um Schrift oder sind es nur kunstvolle Ornamente?«, fragte Daniel ratlos.
Lilly, die ihrer Patentante über die Schulter schaute, deutete auf das Pergament. »Seht mal, da ist der schwache Abdruck einer Büroklammer. Es sieht so aus, als gehört noch etwas zu diesem Papier.«
Sehr vorsichtig drehte Alexandra das Pergament um und fand auf der Rückseite noch ein weiteres Blatt Papier, einen Briefbogen, der eindeutig jüngeren Datums war. Mit Tinte stand darauf geschrieben:
Dieses sind die Werte und die Worte unserer Familie und sollen als mein Testament gelten.
Das Schriftstück war mit den Namen Franz Berger unterzeichnet und trug das Datum aus dem Jahr, in dem seine Frau Sybille gestorben war.
Verwirrt schaute Daniel die Umstehenden an. »Ich verstehe das nicht ganz. Ist dieses hier das Testament, nach dem alle gesucht haben?«
»Es sieht so aus«, antwortete Leopold langsam. »Ob es rechtsgültig ist, das muss ein Notar entscheiden.«
»Aber was sind denn nun diese Werte und Worte unserer Familie, auf die sich mein Vater offensichtlich bezieht?«, rief Daniel ratlos. »Gemeint ist wohl dieses Pergament, aber das ist nicht zu lesen.«
Alexandra hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt, sondern hochkonzentriert auf den Bogen gestarrt. Jetzt griff sie zu Briefpapier und Stift und begann, einige Schriftproben anzufertigen.
Daniel schaute ihr gespannt über die Schulter. »Haben Sie eine Ahnung, was es bedeuten könnte?«, fragte er aufgeregt.
»Ich habe eine vage Idee«, murmelte Alexandra. Sie probierte mehrere Schriftarten und Buchstaben aus, von denen einige dem Schriftstück ähnelten, allerdings genauso unleserlich aussahen. »Kann mir bitte jemand einen Spiegel geben?«, fragte sie stirnrunzelnd.
Traudel holte einen kleinen aus ihrer Handtasche hervor, und die Künstlerin hielt ihn in einem bestimmten Winkel neben ihre Schriftproben.
»Spiegelschrift! Sie probieren es mit Spiegelschrift!«, rief Emilia aufgeregt aus.
Das Mädchen hatte recht: Alexandras eben noch unlesbare Zeichen entpuppten sich als lateinische Buchstaben.
»Wie cool ist das denn!« Emilia war begeistert. »Das heißt, dass die Schrift auf dem alten Pergament doch noch zu enträtseln ist?«
»Das hoffe ich«, seufzte Alexandra. »Wenn ich mich nicht stark täusche, ist es zwar Kalligraphie, aber die auch noch in Spiegelschrift. Wir müssten das Papier vor einen größeren Spiegel halten, um es entziffern.«
»Kommt gleich!«, rief Daniel und stürzte ins nächste Bad, um das Benötigte zu holen.
»Was ist denn das hier für eine Hektik?«, fragte Robert mürrisch, der gerade aus seinem Zimmer kam und verwundert seinen Bruder mit dem Spiegel in der Hand anschaute.
»Los, komm mit!«, rief Daniel aufgeregt. »Wir glauben, dass wir endlich das Testament entdeckt haben!«
»Was?« Sofort war Robert hellwach und spurtete mit seinem Bruder in die Bibliothek.
»Hier ist der Spiegel. Ich hoffe so sehr, dass wir damit einen großen Schritt weiterkommen«, sagte Daniel.
»Wir möchten uns rasch verabschieden. Wie es jetzt weitergeht, ist eine Familienangelegenheit, Sie sollten unter sich sein. Vielen Dank für den schönen Abend, und ich hoffe, dass wir uns bald wiedertreffen werden«, verabschiedeten sich Sebastian und seine Familie.
Daniel dankte ihnen für ihr Verständnis und begleitete sie zur Tür.
»Ich sollte auch gehen«, sagte Lilly. »Der Landdoktor hat recht, dieses hier ist eine sehr persönliche Angelegenheit, und ich gehöre nicht zur Familie.«
»Doch!«, wiedersprachen beide Brüder wie aus einem Mund.
»Ich würde mich freuen, wenn du bleibst«, fügte Daniel leise hinzu.
Lilly nickte.
Alexandra hielt den größeren Spiegel neben das Pergament, und langsam wurden auch für die ungeübten Augen die Worte lesbar:
Der Wahlspruch unserer Familie ist gleichzeitig unser Testament: Dasjenige unserer Kinder, das den Weg seiner alten Eltern bis zum Schluss innig begleitet, soll Haus und Hof vererbt bekommen.
Unterschrieben war das Papier mit den Namen der Ur-Großeltern, Franz-Joseph und Hedwig-Maria Berger.
Zunächst herrschte Stille im Raum, dann sagte Leopold nach einem tiefen Atemzug: »Dann hat sich Ihr Vater an diesem Schriftstück orientiert und wollte dem Wahlspruch der Familie folgen.«
»Und als es ernst wurde, konnte sich Ihr Vater nicht mehr verständlich machen und auf dieses ungewöhnliche Vermächtnis hinweisen«, fügte Alexandra traurig hinzu.
»Dann bedeutet es wohl, dass das hier sozusagen ein Zeuge für die mündliche Absprache ist, von der Daniel erzählt hat? Dass ›Silberwald‹ ihm zufällt, und Robert durch den Verkauf der Ländereien ausgezahlt wird oder beide Häuser in München erhält?«, fasste Lilly erleichtert zusammen.
»Was denn, ihr glaubt diesem nichtssagenden alten Gekrakel?«, explodierte Robert. »Das ist doch nie und nimmer ein rechtsgültiges Testament! Das ist eine absurde Spielerei, die vor dem Gesetz keinen Bestand hat. Ein Testament, geschrieben in Kalligraphie und Spiegelschrift, das ist doch lachhaft.«
»Vielleicht auch nicht«, wehrte Daniel die harten Worte ab. »Morgen kommt Korbinian Wamsler; er wird beurteilen können, ob diese Worte und Vaters angehängtes Schreiben rechtskräftig sind.«
»Ich verlasse mich doch nicht auf diesen Winkeladvokat, ich lasse das selbstverständlich von meinen eigenen Anwälten bearbeiten«, fauchte Robert.
»Sicher, tu das«, antwortete sein Bruder müde. Er war diesen Zwist so unsagbar leid. Sollte Robert doch mit den Münchner Häusern zufrieden sein. Die Immobilien passten gut zu ihm und waren bei den heutigen Preisen und in der Lage sogar mehr wert als das Gut.
»Ich denke, Sie sollten es für heute ruhen lassen und morgen das Gespräch mit dem Anwalt abwarten«, sagte Alexandra diplomatisch. »Es war ein langer, ereignisreicher Tag, und ich glaube, wir alle könnten jetzt etwas Entspannung brauchen.«
»Und deshalb koche ich jetzt eine große Kanne Lavendeltee und stelle sie in die Küche. Wer mag, kann sich dort einen Becher holen«, verkündete die praktische Rautende. »Ich jedenfalls gehe jetzt schlafen. Gute Nacht, alle miteinander.«
»Wer will jetzt Kräutertee, ich brauche einen Whisky«, raunzte Robert, bediente sich ungefragt und verzog sich Türen schlagend.
Lilly biss sich auf die Lippen. Jetzt war kein guter Zeitpunkt, um mit ihm über die Trennung zu sprechen. Sie verschob es auf morgen, verabschiedete sich von den anderen und ging in Sybilles Zimmer hinüber. Langsam erloschen die Lichter, und nächtliche Stille senkte sich über das Haus.
Die junge Frau war zu unruhig, um jetzt schlafen zu gehen. Sie wusste, dass auch Rautendes Kräutertee ihr nicht helfen würde, und beschloss, stattdessen noch ein Stückchen durch die Birkenallee zu gehen. Sie wickelte sich fester in ihren Pashminaschal und verließ leise das Haus.
Das Gehen durch die sternklare Nacht tat ihr gut und beruhigte ihre Gedanken. Sie liebte diese Allee aus silbrigen Birkenbäumen, die das Haus umrundete. Wenn es nach ihr ginge, dürfte nie einer dieser Bäume gefällt werden. Sie schauderte bei der Vorstellung, dass Robert diesen friedlichen Weg vernichtet hätte, wenn ›Silberwald‹ an ihn gefallen wäre. Von Herzen dankbar dachte sie an ihre Patentante, deren Kenntnisse es möglich gemacht hatten, dass Daniel letztendlich doch noch zu seinem Recht kam.
Allmählich merkte Lilly, wie eine angenehme Müdigkeit in ihr aufstieg, jetzt würde sie gut schlafen können. Die junge Frau ging zum Haus zurück und schlüpfte unbemerkt durch die Tür in die Halle. Sie wollte gerade in den Flur zu Sybilles Zimmer einbiegen, als sie auf der anderen Seite einen seltsamen Lichtschein bemerkte. Er wirkte wie der Kegel einer Taschenlampe, der suchend umherstrich, und er kam aus der Bibliothek.
Lillys Herz begann zu rasen, sollten sich Einbrecher eingeschlichen haben? Unmöglich, die Collies und Lotta hätten Alarm geschlagen. Lautlos schlich sie zur Tür, die ein Stück geöffnet war, und schaute vorsichtig in den dunklen Raum. Was sie sah, verschlug ihr den Atem.
Robert stand über den Schreibtisch seines Vaters gebeugt und blätterte hastig durch die Mappe, die Daniel vorhin sicher in den Schubladen verstaut hatte. Im Licht der kleinen Taschenlampe erkannte Lilly das Pergament mit dem wichtigen Anhang. Sie sah, wie Robert den Brief seines Vaters aus der Büroklammer zog, ärgerlich zusammenknüllte und in die Tasche seines Sakkos stopfte.
»Was tust du da!«, sagte sie mit eisiger Stimme.
Ertappt fuhr Robert herum und starrte sie an. Als er erkannte, dass sie es war, atmete er auf. »Hast du mich erschreckt«, sagte er nur, während er die Mappe schloss und sie wieder in die Schublade legte.
Lilly trat drohend auf ihn zu. »Ich frage dich noch einmal: was tust du hier?«
»Das erklärt sich wohl von selbst. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich diesen lächerlichen Wisch gelten lasse?«, antwortete er.
»Du spinnst doch!«, rief Lilly fassungslos. »Ich kann diesen Quatsch einfach nicht glauben. Und wie willst du erklären, dass morgen der Brief eures Vaters fehlt?«
»Wieso ich?« Robert grinste schief. »Da muss der Brief in der Aufregung des Abends wohl leider, leider irgendwie abhanden gekommen sein.«
Lillys Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Ist er nicht!«, zischte sie. Mit einem einzigen Schritt stand sie neben Robert, zog den Brief aus seiner Jackentasche und steckte ihn vorn in ihr Kleid. Er war so überrumpelt, dass er nicht schnell genug reagieren konnte.
Lilly stand jetzt jenseits des Schreibtisches und schaute ihn aus blitzenden Augen an. »Wie hat es nur so weit kommen können!«, rief sie anklagend. »Du benimmst dich, als wollte Daniel dich um dein Erbe betrügen. Dabei kommst du finanziell gesehen sogar besser weg als er, wenn du die Häuser in München bekommst. Lass Daniel doch in ›Silberwald‹ glücklich sein, du magst es ja gar nicht.«
»Du legst dich für meinen kleinen Bruder aber mächtig ins Zeug«, erwiderte Robert vorwurfsvoll.
»Ja, weil ich ihm Unrecht getan habe«, antwortete Lilly. »Nach deinen Erzählungen hatte ich ein ganz falsches Bild von ihm. Inzwischen glaube ich, dass er nie der fordernde, missgünstige Bruder gewesen ist, das bist du. Geschwistereifersucht gibt es überall, frag mal meine beiden Brüder und mich. Trotzdem stehen wir füreinander ein und helfen uns, wenn es nötig ist. Das hast du weder für deinen Vater noch für Daniel getan, er hat hier ganz allein alles erhalten. Deshalb ist es nur gerecht, wenn er das Gut bekommt.«
Robert hatte ihr mit wachsendem Ärger zugehört und kam jetzt auf sie zu. »Gib mir den Brief meines Vaters!«, forderte er gereizt und streckte seine Hand aus.
»Wenn du versuchst, ihn mir wegzunehmen, dann schreie ich das ganze Haus zusammen!«, drohte Lilly. »Ich schwöre dir, ich tue es. In Sekunden werden alle wach und hier sein und dann werden wir ja sehen, wessen Geschichte sie glauben.«
Robert zuckte zurück. Er traute Lilly diesen Auftritt durchaus zu und diese Peinlichkeit wollte er sich lieber ersparen. Vielleicht ließ sie vernünftig mit sich reden?
»Und was schlägst du nun vor?«, fragte er so ruhig wie möglich. »Wirst du Daniel erzählen, was hier passiert ist?«
»Nein.« Lilly schüttelte den Kopf. »Diese Enttäuschung will ich ihm ersparen und dir auch. So schlecht möchtest du sicher nicht in den Augen deines Bruders dastehen. Wenn du noch einen Funken Ehrgefühl hast, Robert, und willst, dass ich meinen Respekt vor dir nicht völlig verliere, dann hör auf, um das Gut zu kämpfen. Überlass es deinem Bruder, der es sich mit Fug und Recht verdient hat. Wenn du morgen auf die Vorschläge des Notars eingehst und die beiden Häuser in München übernimmst, dann wird Daniel nichts über diesen Vorfall erfahren, und ich werde ihn dir gegenüber niemals wieder erwähnen. Versprochen!«
Robert wollte hitzig widersprechen, aber er sah ein, dass er keine andere Wahl hatte. »Gut, dann werden wir es so machen. Für Daniel Gut und Land, für mich die beiden Häuser in München.«
Erleichtert atmete Lilly auf. »Ich glaube ganz sicher, dass damit jeder der beiden Brüder das bekommt, was zu ihm passt und ihm am meisten nützt. Vergessen wir, was heute Abend hier geschehen ist.« Sie griff nach der Ledermappe, in der das alte Schriftstück lag, und drückte sie an ihre Brust. »Ich wünsche dir eine ruhige Nacht, Robert.« Nach einem langen letzten Blick wandte sie sich ab und ging zur Tür.
»Ich nehme an, du ziehst nicht wieder mit in mein altes Zimmer?«, erklang Roberts Stimme in ihrem Rücken.
Sie drehte sich um und sah, dass er sie fast wieder so wie früher anschaute. »Nein, Robert, ich komme nicht wieder zurück«, antwortete sie ernst. »Ich werde auch nicht mehr zu dir nach Lugano kommen, unsere Wege trennen sich hier. Es ist vorbei.«
»Tja, es hat wohl doch nicht so gut gepasst, wie ich anfangs dachte«, erwiderte Robert mit einem schiefen Lächeln. »Irgendwie bist du mehr Bergmoosbach und ich die große, weite Welt.«
»Ja, das trifft es«, antwortete sie nachdenklich und wandte sich endgültig zum Gehen. »Wir sehen uns dann morgen beim Notar.«
In Sybilles Zimmer glättete Lilly den Brief, so gut es ging, und heftete ihn wieder hinter das Dokument. Sie schob die wertvolle Mappe unter ihre Matratze, ließ sich erschöpft ins Bett fallen und war sofort eingeschlafen.
Robert ging hinüber in sein Zimmer, packte seine Sachen und wartete auf den Morgen, um ›Silberwald‹ endgültig hinter sich zu lassen.
*
Etliche Bewohner des Guts schauten dem Termin mit Korbinian Wamsler sorgenvoll entgegen.
»Mei, wie das wohl heute gehen mag«, seufzte Rautende beim Frühstück.
Auch Alexandra und Leopold wechselten einen beunruhigten Blick.
»Ach, vielleicht wird es ja gar nicht so arg«, sagte Lilly vorsichtig. »Robert hört sich manchmal bissiger an, als er es tatsächlich meint. Er hatte Zeit zum Überlegen, und was sollte er gegen die Worte seines Vaters sagen? Franz Berger hat doch jedem Sohn genau das zugesprochen, was für ihn passt.«
»Schauen wir mal, ob es tatsächlich so gut abgeht«, sagte Daniel, der eben mit seinen Hunden vom Morgenspaziergang kam. »Ich habe den Wagen von Korbinian vorfahren sehen. Wo ist Robert? Wir können gleich in die Bibliothek gehen und mit dem Schriftstück beginnen.«
Robert wartete schweigend in der Halle. Er begrüßte die anderen nur mit einem Kopfnicken, und Daniel stieß innerlich einen Seufzer aus: es versprach kein gutes Gespräch zu werden.
Aber Robert überraschte ihn. Ohne Protest oder nachträgliche Forderungen wurde das Erbe so aufgeteilt, dass Daniel das Gut zufiel und dem älteren Bruder die beiden Häuser in München. Ein Sparguthaben wurde auf Daniels Vorschlag auf Rautende überschrieben, und auch da protestierte Robert nicht. Die gefürchtete Verhandlung verlief viel leichter, als alle bis auf Lilly es gedacht hatten.
Gegen Mittag waren alle Punkte abgehakt und die Aufteilung des Erbes geklärt. Roberts und Daniels Unterschriften besiegelten die getroffenen Abmachungen, und der junge nun alleinige Besitzer von ›Silberwald‹ atmete erleichtert auf. Er lud den Notar zum Essen ein, was dieser dankend annahm.
»Mit mir könnt ihr nicht rechnen. Ich habe heute eine dringende Nachricht aus Lugano bekommen und muss gleich zum Flieger nach München«, erklärte Robert. »Das Gepäck ist schon im Auto.«
»Ach, nein, ihr reist schon ab? Das ist aber schade«, sagte Rautende enttäuscht.
Lilly räusperte sich. »Ich bleibe euch noch ein Weilchen erhalten. Robert fliegt allein nach Lugano zurück«, sagte sie fest.
Erstaunte und freudige Blicke kreuzten sich bei diesen Worten, und Daniel hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Rautende schien auf einmal traurig zu sein. »Ach, Großer, wird es denn wieder fast zehn Jahre dauern, bis du einmal wiederkommst?«, fragte sie bedauernd.
»Das weiß ich nicht«, brummte Robert und fügte mit einem Blick auf seinen Bruder hinzu: »Es könnte aber sein, dass ich eher mal vorbeischaue. Ich hab ja jetzt ab und zu in München zu tun und das ist so gut wie um die Ecke.«
»Ach, mein Großer«, murmelte Rautende hinter ihrem Taschentuch und da musste Robert sie einmal kurz und unbeholfen in den Arm nehmen.
»Die Tür hier steht immer offen für dich«, sagte Daniel zum Abschied zu Robert, und beide wussten, dass es aufrichtig gemeint war. »Servus, Robert.«
»Servus, Daniel.«
Lilly überraschte ihn mit einer Umarmung. »Kein einziges Wort, versprochen!«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Laut sagte sie: »Gute Reise und pass gut auf dich auf, Robert.«
»Mach ich doch immer«, antwortete er mit seinem alten, charmanten Lächeln. »Wer weiß, wen ich bei meinem nächsten Besuch mitbringe?« Er hupte kurz und war dann in der Einfahrt verschwunden.
Rautende wischte sich ein Tränchen aus dem Auge und bat energisch zu Tisch, ehe alles verkocht oder eiskalt geworden war. Sie hatte den alten Gartentisch hübsch gedeckt, und alle nahmen in guter Stimmung und gelöst Platz, um auf den jungen Hausherrn anzustoßen.
Schwalben schossen hoch oben durch das makellose Blau, im satten Grün der Wiese leuchteten bunte Wildblumen, und der Wind trug einen leisen Abglanz des Mittagsläutens in den weitläufigen Garten hinüber. Daniel nahm unfassbar glücklich jeden Augenblick dieser goldenen Mittagsstunde in sich auf und bewahrte ihn für immer.
Während sich die anderen angeregt unterhielten und lachten, saß er wie träumend am Tisch. Irgendwann begegnete er Lillys Blick und ihrem Lächeln und er flüsterte ihr zu: »Sag mir doch bitte – bedeutet, dass du hiergeblieben bist, das, was ich denke, warum du hiergeblieben bist?«
Lilly ließ sich seinen komplizierten Satz kurz durch den Kopf gehen, lächelte verschmitzt und schob ihre Hand in seine. »Ja, genau das bedeutet es«, flüsterte sie zurück, »Lilly und Daniel.«
»Daniel und Lilly«, wiederholte er glücklich, und der goldene Sommertag begann noch intensiver zu leuchten.