Читать книгу Der neue Landdoktor Staffel 7 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 6

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»Geh, Nolan, nicht so hastig, du kommst schon noch rechtzeitig zum Training.« Traudel Bruckner schaute dem Berner Sennenhund der Seefelds überrascht nach. Die rundliche Frau in dem hellblauen Dirndl kümmerte sich schon seit beinahe vierzig Jahren um den Haushalt der Seefelds und war längst ein Teil der Familie.

Kaum hatte sie die Haustür geöffnet, stürmte Nolan in den Hof und hockte sich vor die Beifahrertür des dunkelroten Mercedes Cabriolet, eines Oldtimers aus den 60er Jahren, der vor der Garage stand.

»Mei, Benedikt, ich könnt fast glauben, er hat sich verliebt, so eilig, wie er es immer hat, wenn’s zum Trainingsplatz geht«, wandte sich Traudel mit einem amüsierten Lächeln dem attraktiven älteren Mann zu, der nach Nolan das Haus verließ.­

»Da könnte etwas Wahres dran sein«, stimmte Benedikt Seefeld ihr zu. »So führt er sich erst auf, seitdem Paula vor vier Wochen die Vertretung ihres Onkels übernommen hat.«

»Er hat einen Blick für schöne Frauen, da passt er sich den anderen Herren in dieser Familie an.«

»Muss ich eifersüchtig werden?«, wollte das Mädchen wissen, das aus einem Fenster im ersten Stock auf den Hof hinunterschaute. Das dichte Laub der prächtigen Ulme, die die Haustür und den Eingang der Praxis, die in einem Anbau untergebracht war, beschattete, nahm ihm die Sicht auf den Hund. Ihren Großvater und Traudel konnte Emilia Seefeld aber durch die Äste hindurch sehen.

»Keine Sorge, du wirst bei Nolan immer an erster Stelle stehen, aber das heißt nicht, dass er sich in der Welt nicht ein bisschen umsieht und neue Freundschaften schließt«, antwortete Benedikt schmunzelnd und schaute nach oben.

»Ich befürchte, wenn er sich irgendwann in eine Hundedame verliebt, dann werde ich schon erst einmal abgemeldet sein«, seufzte Emilia. »Andererseits würde ich es ihm von Herzen gönnen, sich zu verlieben. Wir müssten zumindest nicht befürchten, dass er planen würde, von zu Hause auszuziehen.«

»Nein, das würde er nicht tun«, antwortete Traudel mit einem tiefen Seufzer.

»Jetzt denkst du aber gerade nicht an Nolan, sondern an den Tag, an dem ich ausziehen werde«, entgegnete Emilia mit der unverblümten Offenheit eines Teenagers.

»Ich hoffe, er kommt nicht so bald«, gab Traudel gleich zu, dass Emilia sie durchschaut hatte. »Geh, Spatzl, wird es nicht Zeit für die Schule? Oder fallen heute noch mehr Stunden aus?«, wollte sie wissen, nachdem sie auf ihre Armbanduhr geschaut hatte.

»Nein, nur die beiden ersten. Unser Sportlehrer ist mal wieder krank«, seufzte Emilia. »Aber du hast recht, ich muss allmählich los. Viel Spaß, Opa, und wenn die Schule demnächst mal vormittags ganz ausfällt, komme ich mit zum Trainingsgelände. Ich würde Paula gern kennenlernen.«

»Das lässt sich bestimmt auch auf andere Weise arrangieren. Mal sehen, was mir dazu einfällt. Ich wünsche dir einen schönen Tag in der Schule.«

»Danke, bis heute Nachmittag«, entgegnete Emilia und schloss das Fenster.

»Wie geht es eigentlich dem Werner? Wird er weiter als Hundetrainer arbeiten? Ich meine, nach seiner Kur?«

»Paula hat vor ein paar Tagen mit ihm telefoniert. Er denkt wohl inzwischen darüber nach, in Zukunft ein wenig kürzer zu treten.«

»Sein Rücken wird es ihm danken, wenn er nicht mehr ständig mit den Hunden auf dem Trainingsgelände herumhopst. Obwohl, ganz ohne die Hunde wird er nicht können. So wie du nicht ganz ohne deine Patienten sein kannst.«

»Sollte Paula seine Nachfolge antreten, wird sie ihn sicher gern hin und wieder einspannen, so wie Sebastian auch hin und wieder gern ein wenig Hilfe annimmt. Worüber ich mich schon freue, das gebe ich zu.«

»Du weißt deine ehemaligen Patienten bei deinem Sohn in guten Händen und er kann, dank deines Einsatzes, dann und wann verreisen oder etwas unternehmen. Ihr ergänzt euch zu euer beider Vorteil.«

»Klingt nach einer guten Vereinbarung.«

»Wuff«, machte Nolan und drehte sich zu den beiden um.

»Er stimmt dir zu«, sagte Traudel lachend.

»Oder er will mich zur Eile antreiben.«

»Mir fällt da gerade etwas ein«, sagte Traudel, während sie nachdenklich über ihr Kinn strich. »Du hast mir doch erzählt, dass der Kilian schon einige Male das Hundetraining angeschaut hat, seitdem die Paula dabei ist.«

»Das ist richtig.«

»Er will vermutlich herausfinden, ob das Madl das Zeug dazu hat, auf Dauer die Hunde für die Bergwacht zu trainieren.«

»Ich bin sicher, die Voraussetzungen stimmen. Werner hat mir erzählt, dass sie schon während ihrer Ausbildung zur technischen Zeichnerin regelmäßig in einer Hundeklinik gearbeitet hat und dort auch in Notfallmedizin ausgebildet wurde.«

»Eine engagierte junge Dame. Ich hab gehört, dass sie demnächst mit zwei anderen jungen Damen eine Hundeschule in der Kreisstadt eröffnet.«

»Du bist wie immer bestens informiert.«

»So ist es«, stimmte Traudel Benedikt schmunzelnd zu. »Wegen der fachlichen Kompetenzen muss der Kilian gar nicht lange überlegen, ob sie sich für das Hundetraining eignet. Ich nehme an, es zieht ihn ohnehin nicht allein wegen ihrer Arbeit zum Trainingsplatz.«

»Richtig, der Grund ist wohl eher, dass er sich in dieselbe Frau wie Nolan verliebt hat«, erklärte Benedikt lächelnd. »Aber wie es aussieht, fehlt Kilian ein wenig der Mut, sich Paula zu offenbaren. Und sie geht ihm auch aus dem Weg, obwohl ich den Eindruck habe, dass sie ihn gern hat.«

»Vielleicht sollten wir ein bisserl nachhelfen.«

»Ich vermute, du hast auch schon eine Idee.«

»Richtig. Wir könnten doch mal wieder ein Essen für die Bergwacht ausrichten. Das letzte ist schon ein Vierteljahr her.«

»Und da Paula im Moment zur Bergwacht gehört, könnten wir sie dazu einladen.«

»Ganz genau, in ungezwungener Atmosphäre unter Freunden tut sich Kilian möglicherweise leichter, ihr seine Gefühle einzugestehen. Außerdem wäre es eine Gelegenheit für Emilia, Paula kennenzulernen.«

»Was hältst du davon, wenn wir sie gleich für den kommenden Freitag einladen? Oder wäre das zu kurzfristig?«

»Nein, kein Problem. Wir machen ein kleines Grillfest im Garten. Kümmere du dich um die Einladungen, ich übernehme die Vorbereitungen für das Essen.«

»Ich werde dir dabei helfen.«

»Wenn du das möchtest, sehr gern«, entgegnete Traudel lächelnd. »Was ist mit Ramona? Wirst du sie auch einladen?«

»Aber ja, sie gehört doch dazu. Sie kümmert sich seit über fünf Jahren um die Büroarbeiten der Bergwacht. Ehrenamtlich, wie alle bei der Bergwacht.«

»Du weißt es nicht«, stellte Traudel stirnrunzelnd fest.

»Was meinst du?«

»Ramona hat ein ganz besonderes Verhältnis zu Kilian.«

»Stimmt, sie arbeitet auch hauptberuflich für ihn.«

»Das heißt, sie ist die Sekretärin von Kilian Reimer, dem Leiter der Bergwacht, und sie ist die Sekretärin des Elektromeisters Kilian Reimer. Sekretärinnen fühlen sich immer als Vertraute ihres Chefs. Ramona verbringt vermutlich mehr Zeit mit Kilian als jeder andere Mensch.«

»Mag sein.«

»Du liebe Güte, Benedikt, diese Nähe zu ihm wird sie mit keiner anderen Frau teilen wollen. Sie macht sich doch regelrecht unentbehrlich für ihn. Ich bin sicher, sie hofft darauf, dass aus ihnen irgendwann ein Paar wird.«

»Ich hatte noch nie den Eindruck, dass Kilian sich auf diese Weise für Ramona interessiert.«

»Aber sie interessiert sich für ihn.«

»Dann ist es doch umso besser, dass sie von Anfang an Bescheid weiß, sollte sich zwischen Paula und Kilian etwas ergeben. Dann wird sie von dieser für sie möglicherweise unangenehmen Entwicklung nicht überrascht.«

»Das hört sich nach einer einfachen Lösung an. Aber für Ramona wird das kein einfacher Abend werden. Auch wenn ich ihre überhebliche Art nicht mag und ich nicht so recht etwas mit ihr anfangen kann, kann ich mir doch recht gut ausmalen, wie es für sie sein wird, sollten die beiden zusammenkommen.«

»Wenn ich sie nicht einlade, dann fühlt sie sich ausgegrenzt. Das würde ihr sicher noch mehr wehtun.«

»Ja, vermutlich. Also dann, lade sie ein.«

»Das mache ich, bis später«, verabschiedete sich Benedikt von Traudel und winkte Emilia noch einmal zu, die mit wehendem Haar über die abschüssige Wiese zur Straße hinunterlief. Nicht einmal mehr vier Jahre, dann ist sie erwachsen, zumindest auf dem Papier, dachte er und schaute dem Mädchen in dem gelben Minikleid, das sie zu einer dunklen Leggins trug, wehmütig nach.

Nolan, der in Sebastians Geländewagen immer hinten im Kofferraum sitzen musste, kletterte stolz auf den Beifahrersitz in Benedikts Cabriolet. Er hockte sich auf die weiche Decke, die dort für ihn bereit lag, und ließ sich klaglos mit dem Hundegurt anschnallen, damit er während der Fahrt geschützt war.

»Mei, das gefällt dir, Buberl«, murmelte Traudel, als der Wagen mit Benedikt am Steuer gleich darauf zur Straße hinunterfuhr und Nolan sie mit seinen dunklen Knopfaugen durch das Beifahrerfenster hindurch anschaute.

»Alles in Ordnung, Traudel? Du siehst so nachdenklich aus.« Sebastian hatte das Fenster seines Sprechzimmers geöffnet, um kurz zu lüften.

»Dein Vater und ich haben gerade über einen Grillabend mit euren Kollegen von der Bergwacht nachgedacht.«

»Gute Idee. Wann?«

»Gleich am Freitag. Du und Anna, ihr habt doch Zeit?«

»Wir sind da, und wir helfen dir auch bei den Vorbereitungen.«

»Danke, ich komme darauf zurück.« Traudel betrachtete den jungen Arzt mit einem liebevollen Lächeln. Sebastian war ein außergewöhnlich attraktiver Mann, groß und schlank, mit dunklem Haar und hellen grauen Augen.

»Bis nachher, ich muss weitermachen«, sagte er und schloss das Fenster.

»Ja, bis nachher«, flüsterte Traudel und setzte sich für einen Moment auf die weiße Holzbank, die den Stamm der alten Ulme umrahmte.

Sie hatte keine eigenen Kinder, dazu war es nie gekommen, aber sie hätte einen eigenen Sohn auch nicht mehr lieben können als Sebastian, den Sohn ihrer Cousine, die bei seiner Geburt gestorben war. Sie hatte ihr versprochen, für den Jungen da zu sein, und als Benedikt sie bat, zu ihm zu ziehen, um sich um das Kind und den Haushalt zu kümmern, hatte sie nicht lange überlegt. Ihre Liebe schloss auch Emilia mit ein. Das Mädchen, das seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte, war ihr Sonnenschein. Sie war jedes Mal zu Tränen gerührt, wenn Emilia sie Omi nannte, weil ihre beiden Großmütter nicht mehr lebten und sie sich nach einer Großmutter sehnte. Und da war Benedikt, ihre heimliche große Liebe, die nie Wirklichkeit geworden war.

»Trotzdem bin ich glücklich«, murmelte Traudel und schaute lächelnd auf das Haus mit den lindgrünen Fensterläden – ihr Zuhause.

*

Das Trainingsgelände, eine hüglige Wiese, die der Bergwacht für ihre Hundeausbildung zur Verfügung stand, lag am Waldrand hinter dem Golfplatz. Das weitläufige Gelände erstreckte sich bis zum Fuß des Berges, auf dem sich die Burgruine der Grafen von Bergmoosbach erhob. Die beiden gut erhaltenen Wachtürme waren weithin sichtbar und lockten auch Tagestouristen an, die auf ihrem Weg in die Berge nur zufällig durch Bergmoosbach kamen.

Auf der Wiese gab es einen Hindernisparcours für die Hunde. Stangen, über die sie springen und andere, unter denen sie hindurch robben mussten. Wacklige Bretter mussten überquert und aufgeschüttete Sand- und Schotterhügel erklommen werden.

Der Bach, der mitten durch das Trainingsgelände rauschte, war ein natürliches Hindernis, das den Hunden Respekt abverlangte. Da sie im Notfall nicht vor dem Wasser zurückschrecken durften, gehörte die ständige Überquerung des Baches zu ihrem Ausbildungsprogramm.

Paula war wie immer eine halbe Stunde vor dem Eintreffen ihrer Schüler auf dem Platz. Sie lief das Gelände ab, überprüfte die Hindernisse und achtete darauf, dass nichts herumlag, das dort nicht hingehörte. Hin und wieder trafen sich Jugendliche nachts auf dem Trainingsgelände, um ausgelassen zu feiern. Nicht immer entsorgten sie danach Flaschen und Getränkedosen. An diesem Morgen aber war alles in Ordnung. Nichts lag herum und die Hindernisse standen fest verschraubt genau dort, wo sie hingehörten.

Ihr Herz schlug schneller, als sie aufschaute und den weißen Kleinbus sah, der auf den Parkplatz einbog. ›Kilian Reimer – Elektromeister‹, stand auf beiden Seiten des Autos in roten Buchstaben geschrieben. Ob er heute wohl das gesamte Training verfolgen wird?, fragte sie sich und betrachtete den jungen Mann, der aus dem Auto stieg.

Er hatte eine sportliche Figur und breite Schultern, die das graue langärmelige T-Shirt mit der Knopfleiste, das er zu seiner Jeans trug, noch betonte. Sie musste schlucken, als er gleich darauf in ihre Richtung blickte, sein braunes Haar aus der Stirn strich und lächelte. Seitdem sie Kilian das erste Mal begegnet war, träumte sie fast jede Nacht von ihm. In diesen Träumen ging sie Hand in Hand mit ihm spazieren oder saß einfach nur mit ihm auf der Wiese und versank in seinen dunklen Augen.

»Guten Morgen, Paula«, begrüßte er sie, als er näher kam.

»Hallo, Kilian, möchtest du dir heute das gesamte Training ansehen?« Sie versuchte, seinem Blick standzuhalten, schaute aber schließlich doch zur Seite, als sie spürte, dass ihre Augenlider flackerten.

So sehr sie sich auch dagegen wehrte, jede Begegnung mit ihm versetzte sie in Aufregung. Ihr Onkel hatte ihr schon vor einiger Zeit die Leute von der Bergwacht vorgestellt, und da sich dort bis auf wenige Ausnahmen alle duzten, hatte auch sie sich nicht mit dem förmlichen Sie aufgehalten.

»Nein, leider kann ich nicht bleiben. Ich bin auf dem Weg zu einer Großbaustelle nach Augsburg. Ich wollte dich nur fragen, ob es dabei bleibt, dass du die Prüfung in der nächsten Woche für den Anfängerkurs übernimmst?«

»So war es doch ausgemacht. Mein Onkel wird ja noch eine Weile fort sein.«

»Ich dachte nur, ich frage noch einmal nach, wegen der der Eröffnung eurer Hundeschule nächste Woche.«

»Das ist kein Problem. Die Termine für die Bergwacht sind fest eingeplant. Die Bergwacht hat immer Vorrang, auch bei uns.«

»Könnte ich daraus schließen, dass du möglicherweise die Nachfolge deines Onkels antreten würdest? Ich meine, sollte er sich entschließen, nicht mehr regelmäßig für das Training zur Verfügung zu stehen?«

»Du hältst mich für geeignet, eure Hunde auf Dauer zu trainieren?«

»Aber ja, auf jeden Fall. Ich müsste zwar erst mit dem Vorstand der Bergwacht sprechen, aber ich bin sicher, dass alle dafür sein werden. Zumal Benedikt Seefeld auch im Vorstand ist und nur lobende Worte für dich findet.«

»Danke, es freut mich, dass ihr mit meiner Arbeit zufrieden seid.«

»Sobald dein Onkel eine Entscheidung getroffen hat, setzen wir uns zusammen und reden über alles.«

»Ja, gern.«

»Gut, das wäre geklärt. Ich muss dann auch los. Ich wünsche dir einen schönen Tag«, verabschiedete sich Kilian.

»Den wünsche ich dir auch«, antwortete Paula und sah ihm nach, wie er eilig davonging. Er ist mit meiner Arbeit zufrieden, aber an mir persönlich hat er kein Interesse, dachte sie, sonst hätte er doch längst den Versuch unternommen, sie näher kennenzulernen. Vermutlich war es besser, ihn aus ihren Träumen zu verbannen. Sie würden sich wohl niemals erfüllen.

Gerade als Kilian in seinen Wagen steigen wollte, bog das rote Cabriolet mit Benedikt am Steuer auf den Parkplatz ein. Kilian wartete noch, bis Benedikt sein Auto abgestellt hatte und ausstieg. Die beiden Männer sprachen ein paar Worte miteinander, bevor Kilian sich schließlich in sein Auto setzte und den Parkplatz verließ. Danach ließ Benedikt Nolan aus dem Auto aussteigen, der gleich losstürmte, um Paula zu begrüßen.

Nolan war eindeutig ihr Lieblingsschüler. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er seinen wuscheligen Kopf zur Seite geneigt und sie mit seinen dunklen Augen angesehen, ein Blick, mit dem er sie im Sturm erobert hatte. »Hallo, Nolan«, begrüßte sie den Hund, der sich vor sie hinhockte und brav darauf wartete, bis sie ihn streichelte.

»Guten Morgen, Paula, Nolan konnte es kaum abwarten, dich wiederzusehen«, sagte Benedikt, der dem Hund in einigem Abstand folgte.

»Die Freude beruht auf Gegenseitigkeit, Doktor Seefeld«, erklärte Paula, während sie den Hund streichelte.

Benedikt Seefeld gehörte zum Vorstand der Bergwacht, und er war der langjährige Hausarzt der meisten Bergmoosbacher. Ihn einfach zu duzen, brachten nur wenige fertig, Paula eingeschlossen. Sie hatte allerdings darauf bestanden, dass er sie weiterhin duzte. So wie früher, wenn sie in den Ferien bei ihrem Onkel und ihrer Tante, die damals noch lebte, zu Besuch war und sie mit aufgeschlagenen Knien oder aufgeschrammten Armen die Praxis Seefeld besuchte.

»Nolan besitzt nicht nur ein liebenswertes Wesen, er ist auch äußerst gelehrig«, lobte sie den Berner Sennenhund, der ein tiefes »Wuff« hören ließ und sie anschaute.

»Manchmal könnte man wirklich glauben, er versteht jedes Wort«, stellte Benedikt fest und blinzelte gegen die Sonne, die hinauf zu den Gipfeln der Berge wanderte und das Tal mit ihrem Licht flutete.

»Ich denke, sie verstehen sehr viel mehr, als wir annehmen. Manchmal verstehen sie uns sogar besser als unsere Mitmenschen. Sie spüren, wenn wir traurig sind«, erklärte Paula, und dabei schweifte ihr Blick an den Horizont.

»Bist du denn traurig?«, fragte Benedikt und betrachtete die hübsche junge Frau, die sonst immer lächelte und gute Laune verbreitete. Sie war neben Nolan in die Hocke gegangen, warf ihr langes blondes Haar zurück, das ihr in die Stirn fiel, und lehnte ihren Kopf sanft gegen Nolans Rücken.

»Jetzt bin ich nicht mehr traurig, aber vor ein paar Monaten, da war ich es. Damals, als ich erfuhr, dass mein Freund sich in meine beste Freundin verliebt hatte.«

»Tut mir leid«, sagte Benedikt und streichelte Paula mitfühlend über die Schulter.

»Kein Problem, inzwischen tut es nicht mehr weh.« Sie legte ihre Arme um Nolan und drückte ihn liebevoll an sich.

»Bevor die anderen kommen, möchte ich noch etwas loswerden«, sagte Benedikt, nachdem Paula sich wieder erhoben hatte. »Wir wollen am Freitagabend bei uns im Garten mit den Leuten von der Bergwacht grillen. Ich hoffe, du hast Zeit und kommst auch.«

»Aber noch gehöre ich nicht da­zu. Ich bin nur die Vertretung für Onkel Werner.«

»Könntest du dir denn vorstellen, in Zukunft das Hundetraining für die Bergwacht zu übernehmen?«

»Das hat Kilian mich auch gerade gefragt. Er meinte, der Vorstand würde es befürworten.«

»Ich für meinen Teil könnte mir keine bessere Nachfolgerin für Werner vorstellen.«

»Kilians Schatten ist da aber wohl anderer Meinung.«

»Sein Schatten?«, fragte Benedikt verwundert.

»Ramona. Wo Kilian ist, da ist auch Ramona nicht weit. Sie ist mit meinen Trainingsmethoden überhaupt nicht einverstanden.«

»Wann hat sie denn das Training beobachtet? Ich kann mich nicht erinnern, sie hier gesehen zu haben.«

»Zweimal in der Woche trainiere ich doch auch die Hunde, die bereits ihre ersten Einsätze hatten. Kilian kam einige Male in Begleitung von Ramona dazu. Das letzte Mal hat sie mich nach dem Unterricht zur Seite genommen und mir erklärt, dass ich zu sanft mit den Tieren umgehe. Das sei mit der harten Wirklichkeit, in der sie sich während einer echten Rettungsaktion wiederfinden, nicht zu vereinbaren.«

»Du bist die ausgebildete Hundetrainerin, nicht Ramona.«

»Deshalb sage ich auch nichts weiter dazu und lasse sie einfach reden. Aber ich denke, dass sie Kilian ziemlich nahesteht und ihm schon klar machen wird, dass ich für diesen Posten nicht infrage komme.«

»So nahe, wie du glaubst, stehen sie sich nicht.«

»Es hat für mich aber den Anschein, dass sie nur darauf wartet, dass er ihr endlich einen Heiratsantrag macht.«

»Das hältst du für möglich?«, wunderte sich Benedikt. Er war bisher nie auf die Idee gekommen, dass das Verhältnis der beiden über eine Freundschaft hinausging.

»Wenn ich sie zusammen sehe, dann wirken sie auf mich wie ein vertrautes Paar, leider«, fügte sie leise hinzu.

»Leider?«

»Ja, ich dachte, ach nein, egal, nicht so wichtig. Ich nehme an, Ramona kommt auch zu Ihrem Grillfest.« Paula wollte ihre Gefühle für Kilian lieber für sich behalten.

»Ich weiß noch nicht, wer kommen wird. Bisher habe ich nur Kilian und dich gefragt.«

»Hat er zugesagt?«

»Ja, das hat er, und ich hoffe, du sagst auch zu. Oder fürchtest du dich vor Ramona?«

»Nein, natürlich nicht«, entgegnete sie lächelnd.

»Also, dann sehen wir uns am Freitag so gegen sieben.« Benedikt war nun ganz sicher, dass ihn seine Ahnung nicht trog. Paula empfand etwas für Kilian.

»Ich komme gern, Doktor Seefeld. Guten Morgen!«, rief sie, als sie die drei jungen Männer sah, die mit ihren Hunden an der Leine am Trainingsgelände eingetroffen waren und näherkamen.

Hundeführer der Bergwacht, die in Bergmoosbach oder den Nachbargemeinden ihren Arbeitsplatz hatten, wurden für das Training mit den Hunden stets freigestellt. Alle unterstützten die Bergwacht und ihre freiwilligen Helfer, weil alle wussten, dass sie die einzigen waren, die bei einem Unfall in den Bergen helfen konnten.

Die beiden Collies und der Schäferhund, die sich mit ihren Besitzern zu ihnen gesellten, waren ebenso friedlich und gehorsam wie Nolan. Nervöse Hunde eigneten sich nicht für Rettungseinsätze.

Ein paar Minuten später trafen auch die anderen vier Teilnehmer des Kurses ein. Drei junge Frauen aus der Nachbargemeinde mit ihren Labradorrüden und Timo Läutner von der Autowerkstatt Läutner mit Annika, einer Bernhardinerdame, die zum ersten Mal zum Training kam.

»Ruhig, Nolan.« Benedikt streichelte über den Rücken des Berner Sennenhundes, der plötzlich nur noch Augen für Annika hatte und auf sie zustürmen wollte.

»Du bekommst schon noch Gelegenheit, sie näher kennenzulernen«, versicherte ihm Paula.

»Sie ziert sich immer ein bisschen und spielt die Unnahbare«, sagte Timo, als Annika sich einfach zur Seite wandte und so tat, als würde sie Nolan gar nicht wahrnehmen.

»So sind wir eben, wir Frauen«, entgegnete Paula lachend. »Da jetzt alle da sind, fangen wir doch gleich mit der ersten Übung an«, wandte sie sich an die Hundebesitzer.

Sie ging zu den Hürden, unter denen die Hunde hindurchkriechen sollten, eine Aufgabe, die sie daran gewöhnte, während eines Rettungseinsatzes durch Höhlengänge zu robben. Nach dieser Übung mussten die Hunde ohne Leine neben ihren Besitzern herlaufen und jedem Kommando folgen, das Paula den Hundeführern vorgab. Danach gönnte sie den Tieren eine Pause, damit sie frei herumtollen konnten.

Nolan nutzte seine Chance und näherte sich Annika. Die Bernhardinerdame gab sich zunächst uninteressiert, als Nolan sie beschnuppern wollte. Aber auch sie konnte seinem Charme nicht lange widerstehen. Ein paar Sekunden später tobte sie bereits an seiner Seite über die Wiese.

»Ich bin beeindruckt, sonst gibt sie nicht so schnell nach«, stellte Timo fest.

»Nolan ist eben unwiderstehlich«, sagte Paula, während Benedikt nur schmunzelnd zusah, wie Nolan Annikas Aufmerksamkeit genoss.

Bald darauf setzte sie den Unterricht fort. Während der 90 Minuten, die eine Trainingseinheit dauerte, liefen die Hunde über das Gelände, kletterten die Hügel hinauf und hinunter, durchquerten den Bach und suchten nach einem Verletzten, der regungslos auf einem Sandhügel lag.

Klaus-Peter, der Lagerist aus dem Sägewerk Holzer, hatte sich für diese Rolle freiwillig zur Verfügung gestellt. Seine Schäferhündin Cora führte den Suchtrupp gemeinsam mit Paula an. Nachdem die Hunde Klaus-Peter gefunden hatten, der sich hinter einem eigens für das Training aufgeschütteten Steinhaufen verborgen hatte, wurden alle Tiere von ihren Besitzern gelobt. Wie immer am Ende der Stunde bekam jeder Hund von Paula einen Hundekeks und ein extra großes Lob.

»Heute gibt uns die gute Ramona schon während des Trainings die Ehre«, raunte Paula Benedikt zu, nachdem sie den Trainingshügel verlassen und die Kursteilnehmer sich alle von ihr verabschiedet hatten. Mit einem tiefen Seufzer schaute sie auf die Frau, die über die Wiese auf sie zukam.

Ramona Köster war wie immer auffällig gekleidet. Enge Jeans, helle Wildlederstiefel und ein auf Taille geschnittener Blazer. Sie trug dunkelroten Lippenstift und ihr kurzes braunes Haar war mit Gel in Form gebracht. Kein Wunder, dass Kilian mich nicht wahrnimmt, wenn er jeden Tag diese Frau vor Augen hat, dachte Paula.

»Offensichtlich war wieder gemütliches Spazierengehen angesagt.« Grinsend schaute Ramona auf die Hunde, die brav neben ihren Besitzern herliefen und das Gelände verließen.

»Das Training ist vorüber, Ramona«, sagte Paula.

»Kein Problem, ich denke nicht, dass ich etwas verpasst habe. Ich wollte mir nur das Gelände ansehen, ob wir mal wieder mit dem Rasenmäher drüber müssen. Hallo, Doktor Seefeld. Ist der gute Nolan nicht ein bisschen schwer, um als Rettungshund eingesetzt zu werden?«, wandte sie sich an Benedikt, nachdem sie Nolan gemustert hatte, der Annika sehnsüchtig nachschaute.

»Nolan eignet sich hervorragend als Rettungshund, gerade wegen ­seiner Größe und erst recht aufgrund seiner Intelligenz«, widersprach Paula Ramona und streichelte dabei unbewusst über Nolans Kopf.

»Wuff«, machte Nolan, streifte Ramona mit einem kurzen Blick und lehnte sich an Paula an, so als wollte er damit signalisieren, dass sie unter seinem Schutz stand.

»Dein besonderer Liebling?«, fragte Ramona mit einem herablassenden Grinsen, weil ihr diese Geste nicht entging.

»Ist das wichtig für dich?«

»Lieblingsschüler zu haben, ist immer ein Nachteil für die Gruppe. Die anderen fühlen sich schnell zurückgesetzt, wenn ein Lehrer einen Schüler bevorzugt. Das gilt für Menschen und für Tiere.«

»Ich denke, ich habe es im Griff. Letztendlich sind meine Schüler zuerst auf ihre Besitzer fixiert. Ich bin nur eine Randerscheinung in ihrem Leben.«

»Stimmt«, sagte Ramona. Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihres Blazers und sah Paula von oben herab an.

»Am Freitag ist Grillabend für die Bergwacht bei uns im Garten«, mischte sich Benedikt in das Gespräch der beiden jungen Frauen ein. Er spürte, dass Paula diese Begegnung mit Ramona unangenehm war, und er wollte Ramonas Aufmerksamkeit auf sich lenken.

»Das heißt, ich bin eingeladen?«, wandte sie sich ihm zu.

»Das ganze Team ist eingeladen.«

»Okay, ich bin dabei«, antwortete Ramona mit einem strahlenden Lächeln. »Um wie viel Uhr?«

»Gegen sieben.«

»Ich werde da sein. Grüßen Sie Traudel und Sebastian von mir«, sagte sie, als Benedikt sich zum Gehen wandte.

»Danke, ich werde es ausrichten. Ich wünsche den Damen noch einen schönen Tag«, sagte er und ließ die beiden allein.

»Um noch einmal auf die Randerscheinung zurückzukommen«, sagte Ramona, nachdem Benedikt außer Hörweite war.

»Ja?«, hakte Paula nach, als Ramona sie mit einem eiskalten Lächeln musterte.

»Ich wollte nur sagen, was unseren Verein betrifft, da bist du ohnehin nur eine Randerscheinung. Bald wird dein Onkel zurück sein, und dein kleines Abenteuer bei der Bergwacht findet ein Ende.«

»Was genau stört dich denn eigentlich so sehr an mir?«, fragte Paula sie nun ganz direkt. Sie war sicher, dass ihr Umgang mit den Hunden nur ein Aufhänger für Ramona war, um sie auf irgendeine Weise schlecht zu machen.

»Es gefällt mir nicht, wie du dich in den Vordergrund spielst.«

»Wieso spiele ich mich in den Vordergrund?«, fragte Paula verwundert.

»Dein ständiges Geplapper, wie gut du mit den Hunden zurechtkommst. Dieses Gerede interessiert niemanden. Es ist doch wohl ganz selbstverständlich, dass du als Hundetrainerin mit den Tieren auskommst.«

»Allerdings, so sollte es sein.« Ihr war nicht bewusst, dass sie ihre Fähigkeiten auf irgendeine Weise betont hatte. Außer Ramona hatte sie bisher auch noch niemand darauf angesprochen.

»Ich denke, es gehört mehr dazu als der sogenannte gute Draht zu den Tieren. Ein Trainer muss Stärke zeigen, das ist für mich das Entscheidende für eine erfolgreiche Dressur der Hunde.«

»Ich sehe das Training nicht als Dressur. Wir üben keine Kunststücke ein, wir nutzen die angeborenen Fähigkeiten dieser Tiere. Hunde wollen ein Teil einer Familie sein, sie wollen beschützen und in Notfällen helfen sie ihren Menschen unter dem Einsatz ihres Lebens. Wir bringen ihnen bei, wie sie helfen können, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen.«

»Du liebe Güte, deine Vorstellung von den Befindlichkeiten dieser Tiere ist aber schon stark idealisiert. Herr und Hund, Führung und Gehorsam. Nur so funktioniert es, alles andere gehört in die Märchenwelt junger Mädchen. Glaube mir, Kilian sieht das genauso. Er ist nicht wirklich zufrieden mit dem, was du hier zeigst.«

»Ich glaube, du irrst dich«, entgegnete Paula und sah Ramona direkt an.

»Verzeihung, im Gegensatz zu dir kenne ich Kilian ziemlich gut. Ich weiß, was er denkt, manchmal schon, bevor er es denkt«, fügte sie von sich überzeugt hinzu.

»In diesem Fall ist es wohl nicht so. Kilian war vorhin hier und hat mich gefragt, ob ich das Hundetraining für die Bergwacht in Zukunft ganz übernehmen würde. Vorausgesetzt, mein Onkel möchte sich zurückziehen.« Du hast es so gewollt, dachte Paula, als Ramona sie in diesem Moment entgeistert anstarrte.

»Das hat er nicht ernst gemeint. Das war nur höfliches Geplänkel«, sagte sie, nachdem sie sich wieder gefangen hatte.

»Wir werden sehen, wie ernst er es gemeint hat, sollte mein Onkel seinen Rücktritt wahrmachen.«

»Du solltest nicht darauf bauen, dass Kilian sein Angebot wiederholt. Ich weiß, dass jeder Hundetrainer gern eine Weile für die Bergwacht tätig sein möchte, weil das auf die private zahlende Kundschaft Eindruck macht. Ich denke da an die Hundeschule, die du eröffnen wirst. Diese Art von Werbung könntet ihr sicher gut gebrauchen.«

»Ich bin hier, weil mein Onkel ganz dringend eine Vertretung brauchte. Es gab keine weitere Überlegung.«

»Gut, dann wird es dich nicht allzu sehr treffen, wenn dein Engagement für uns nur von kurzer Dauer sein wird. Weißt du, es gibt Kandidaten mit weitaus besserer Qualifikation für dieses Training. Du bist ja nicht einmal Mitglied bei uns.«

»Das würde sich ja ändern. Ich wäre sogar aktives Mitglied, falls ich das Hundetraining übernehme.«

»Das wird aber nicht passieren. Ihr aus der Stadt glaubt doch immer, ihr könntet haben, was ihr wollt. Aber so ist es nicht. Morgen früh wird der Rasen hier gründlich gemäht«, wechselte Ramona das Thema, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf die Wiese geworfen hatte.

»Kein Problem. Das nächste Training ist erst übermorgen«, entgegnete Paula und sammelte die Bälle auf, die sie für die Hunde auf dem Rasen verteilt hatte.

»Spieltraining, sage ich doch«, murmelte Ramona und schaute zu, wie Paula einen bunten Ball nach dem anderen in das große Netz legte, mit dem sie über die Wiese lief. »Ich gehe dann wieder. Ich bin mit Kilian in Augsburg zum Essen verabredet!«, rief sie über den Platz und schaute der hübschen jungen Frau nach, deren blondes Haar in der Sonne glänzte.

»Ist gut«, entgegnete Paula, ohne aufzusehen.

Ignoriere mich nur. Du wirst schon noch darauf kommen, dass du keine Chance bei der Bergwacht Bergmoosbach hast, solange ich hier bin. Und Kilian werde ich schon klar machen, dass du nicht die richtige für unsere Hunde bist, dachte Ramona und stapfte davon. »Ja, hallo, was ist?«, meldete sie sich schlecht gelaunt, als sie gerade den Parkplatz erreichte und ihr Handy läutete.

»Die Prüfung wurde vorverlegt, sie findet nächsten Mittwoch statt, Ramona«, hörte sie eine Frau sagen.

»Das ist gut, das ist sogar sehr gut. Danke, dass du mich benachrichtig hast, Inge. Wir telefonieren heute Abend noch mal«, sagte sie und beendete das Gespräch. Endlich würde sie Kilian beeindrucken können. Mit zufriedener Miene stieg sie in den weißen Kombi mit dem Namenszug der Werkstatt Reimer auf der Fahrertür.

Sie wusste, wie sehr Kilian die Ausbildung der Hunde am Herzen lag und dass jeder, der mit den Tieren umgehen konnte, seine Aufmerksamkeit genoss. Als sie von Werners Überlegung erfuhr, den Trainerjob aufzugeben, hatte sie nicht lange überlegt. Obwohl sie Hunde eigentlich nicht mochte, hatte sie sich in München zu einer Ausbildung als Trainerin angemeldet.

Sie forderte absoluten Gehorsam von den Tieren, überließ alles Weitere aber deren Besitzern. Sie beschränkte den Kontakt mit den Hunden auf das Nötigste und überwachte die Umsetzung ihrer Anweisungen mehr aus der Ferne. Mit Hilfe ihrer Freundin Inge, die die Ausbildung leitete, würde sie den Trainerschein trotzdem erhalten. Dafür würde sie Flyer für Inges Hundeschule überall in Bergmoosbach auslegen und sie jedem empfehlen, der nach einer guten Hundeschule fragte.

»Von dir werde ich bedauerlicherweise nichts Gutes zu berichten haben«, murmelte sie, als sie sich noch einmal nach Paula umdrehte, die das Netz mit den Bällen zu dem Bungalow trug, der als Büro und Lager für die Trainingsstunden diente.

Nach ihrer Abschlussprüfung wür­de sie das Training der Hunde übernehmen. Noch waren sie und Kilian nur Freunde, ihr neues Betätigungsfeld aber würde sie in seinen Augen interessant machen, davon war sie fest überzeugt. Aus Freundschaft konnte jederzeit Liebe werden, wenn man in der Lage war, die richtigen Weichen zu stellen. Sie hatte sie gestellt, daran konnte Paula absolut nichts mehr ändern. So schnell, wie sie in ihrem und Kilians Leben aufgetaucht war, so schnell würde sie auch wieder verschwinden.

»Mach’s gut, Schätzchen«, flüsterte sie grinsend, wandte sich von Paula ab und startete den Motor ihres Wagens.

*

Paula hatte sich für die Dauer ihres Aufenthaltes in Bergmoosbach auf dem Berghof ihres Onkels einquartiert. Eine holprige Straße führte in engen Serpentinen durch einen dichten Tannenwald, bis hinauf zu der Alm, auf der das Haus vor mehr als zweihundert Jahren erbaut wurde. Es war nach alter Tradition aus dunklem Holz gefertigt, hatte einen Balkon im ersten Stock, dessen Blumenkästen ihr Onkel im Andenken an seine verstorbene Frau stets mit weißen und lila Geranien bepflanzte, die sie so sehr geliebt hatte.

Auch im Haus hatte sich seit ihrem Tod nicht viel verändert. In dem großen Wohnraum im Erdgeschoss standen noch immer das grüne Stoffsofa und die schönen alten Möbel aus Eichenholz, die schon Werners Eltern gehört hatten. Die Küche hatten sie vor einigen Jahren mit einer hellen modernen Einbauküche eingerichtet und auch das Schlafzimmer im ersten Stock und das kleine Gästezimmer hatten helle Kiefernholzmöbel bekommen.

Mit dem Auto dauerte es nur etwa eine Viertelstunde ins Dorf hinunter und doch hatte Paula das Gefühl, wenn sie abends allein auf dem Hof war, als wohnte sie weit ab von jeder Zivilisation. Nur aus dem Fenster im Dachboden konnte man über die Tannen hinweg ins Tal hinuntersehen. Dort hatte sie als Kind hin und wieder mit ihrem Schlafsack übernachtet und sich wie eine mächtige Fürstin gefühlt, der ein großes Land zu Füßen lag.

Auf dem Berghof hatte sie sich immer frei gefühlt, obwohl sie sich körperlich weitaus mehr anstrengte als in der Stadt. Sie liebte die Ziegen, Hühner und Kühe, die damals noch auf dem Hof lebten, und sie packte auch bei der Versorgung der Tiere mit an. Nach dem Tod ihrer Tante vor vier Jahren hatte ihr Onkel die Tierwirtschaft allmählich eingestellt. Die Rente, die er seitdem bezog, reichte ihm zum Leben. Hin und wieder verdiente er sich als privater Hundetrainer etwas dazu und er nutzte seine freie Zeit für die Hunde der Bergwacht.

Nein, ich werde mir diesen Abend mit Sicherheit nicht von Ramona verderben lassen, dachte Paula, als sie am Freitagabend über den Hof lief, um ihr Auto aus der Scheune zu holen, die inzwischen als Garage genutzt wurde. Sie musste lächeln, als sie auf das Fahrrad mit dem Anhänger schaute, mit dem ihr Onkel manchmal zum Einkaufen ins Dorf hinunterfuhr.

Bärchen, wie er seinen Hund, eine Mischung aus Münsterländer und Labrador, wegen seines braunen Gesichtes liebevoll nannte, durfte dann im Anhänger mitfahren. Überhaupt war Bärchen Werners ständiger Begleiter. Auf eine Kur hatte er sich auch erst eingelassen, nachdem er ein Hotel in der Nähe des Kurhauses gefunden hatte, das Hunde willkommen hieß.

Paula war mit Hunden aufgewachsen. Im Moment aber hatte sie keinen eigenen Hund. Sobald sie eine Wohnung in der Kreisstadt gefunden hatte und wusste, wie sich das mit der Hundeschule anließ, würde sie darüber nachdenken, ob sie sich wieder ein Haustier zulegte.

Hoffentlich bin ich für den Grillabend bei den Seefelds richtig angezogen, dachte sie, als sie in den roten Kombi stieg, in dessen Kofferraum sie hin und wieder auch die Hunde ihrer Kunden transportierte. »Es wird schon passen«, sagte sie und schaute auf die Jeans und den kuscheligen nachtblauen Pullover, für den sie sich entschieden hatte, weil es abends inzwischen schon recht kühl sein konnte.

Während sie ins Tal hinunterfuhr, versank die Sonne allmählich hinter den Gipfeln der Berge und verwandelte den Himmel in ein rot glühendes Flammenmeer. Der vergoldete Wetterhahn auf dem Bergmoosbacher Rathausturm funkelte im roten Licht, das auch den Marktplatz mit seinem schönen Kopfsteinpflaster und den hübsch renovierten Häusern wie eine verwunschene Welt erscheinen ließ. Paula hatte kurz angehalten, nachdem sie den Waldweg verlassen hatte, der neben dem Rathaus auf die Dorfstraße mündete. Einen Moment lang wollte sie diesen Anblick auf sich wirken lassen.

Noch hatte sie ihre Träume und Sehnsüchte, die Kilian betrafen, nicht ganz aufgegeben. Es war ihr einfach nicht gelungen. Er war diese Woche zu keinem weiteren Training gekommen. Irgendjemand hatte erzählt, dass er mehrere Tage in Augsburg zu tun hatte. Da Ramona sich auch nicht hatte blicken lassen, konnte sie nicht ausschließen, dass sie zu ihm gefahren war.

Wenn die beiden ein Paar sind, dann ist es eben so, dachte sie. Sie nahm sich vor, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, sollten sie ihr gleich vorführen, wie nahe sie sich standen.

*

»Hallo, Paula, schön, dass du da bist«, wurde sie von Anna Bergmann begrüßt, die auch zum Team der Bergwacht gehörte.

Paula war die schöne Frau mit den strahlend grünen Augen gleich sympathisch gewesen. Sie und Sebastian Seefeld waren ein außergewöhnliches Paar, dessen Anblick sich niemand entziehen konnte.

»Komm rein«, forderte Sebastian sie auf, der hinter Anna an der Haustür auftauchte, ihr eine Hand sanft auf die Schulter legte und mit der anderen Paula begrüßte.

Paula bedankte sich noch einmal für die Einladung bei ihm und folgte ihm und Anna ins Haus. In der Küche traf sie auf Traudel, die ihr noch aus ihrer Kindheit vertraut war und die sie inzwischen schon einige Male im Dorf getroffen hatte. Nachdem sie auch Traudel begrüßt hatte, die in ihrem cremefarbenen Dirndl mit dem dunkelblauen Schürzchen geradezu elegant aussah, führten Sebastian und Anna sie in den Garten.

Während sie Nolan streichelte, der gleich zu ihr kam, schaute sie sich im Garten um. Sie zählte ungefähr zwanzig Leute, die an den drei runden Tischen saßen, die auf der Terrasse aufgestellt waren. Sven, der Pilot, der den Hubschrauber der Bergwacht flog, war mit Jasmin, einer hübschen rothaarigen Frau mit hellen blauen Augen, gekommen. Sie saßen mit Leonhard Schwartz, dem Eigentümer der örtlichen Brauerei, und seiner Frau Susanne an einem Tisch. Leonhard mit seinen dunklen feurigen Augen und die blonde Susanne waren ein ebenso attraktives Paar wie die beiden, die ihnen gegenüber saßen.

Auch die drei Sanitäter mit ihren Frauen waren gekommen, genau wie Achim Baumeister, der zum Tauchteam der Bergwacht gehörte, und Wanda, seine hübsche Verlobte, die in der Grundschule von Bergmoosbach für den Musikunterricht zuständig war. Nur Kilian und Ramona konnte sie nirgendwo entdecken. Nachdem sie alle begrüßt hatte, bat Benedikt sie, sich zu ihm und seiner Familie an den Tisch zu setzen.

»Sie sind also Paula, die Frau, die sich mit der Konkurrenz auseinandersetzen muss«, sagte Emilia, die Paula beobachtet hatte, seitdem sie in den Garten gekommen war. »Ich bin übrigens Emilia, Sebastians Tochter«, stellte sie sich vor.

»Es freut mich, dich kennenzulernen«, sagte Paula und sah das Mädchen an, das die gleichen hellen grauen Augen wie sein Vater hatte. »Aber in was habe ich Konkurrenz bekommen?«, fragte sie.

»In der Liebe.«

»Aha.« Was meint sie?, dachte Paula erschrocken. Wussten etwa alle über ihre Gefühle für Kilian Bescheid? Spielte Emilia mit ihrer Bemerkung auf Ramona an, die längst mit Kilian zusammen war?

»Sie spricht von dem Dreiecksverhältnis: Nolan, Paula und Annika«, klärte Benedikt sie auf und streichelte ihr beruhigend über die Schulter.

»Ja, die hübsche Annika«, sagte Paula und gab sich unbefangen. Benedikt wusste auf jeden Fall über ihre Gefühle Bescheid, das hatte ihr diese tröstende Geste gezeigt.

»Wuff, wuff, wuff«, machte Nolan, als der Name Annika zum zweiten Mal fiel.

Er lag auf dem Boden zwischen Emilias und Paulas Stuhl und reckte seinen Kopf in die Höhe, so als würde er nach der Hundedame Ausschau halten.

»Du kannst dich wieder beruhigen, sie ist nicht hier. Du musst dich schon mit uns begnügen«, sagte Emilia und streichelte dem Hund über den wuscheligen Kopf, der sich mit einem zufriedenen Brummen wieder ausstreckte.

»Die ersten Steaks sind gleich fertig!«, rief Sebastian in die Runde. Er und Anna überwachten den Grill, der ein Stück abseits von den Tischen auf der Terrasse stand.

»Dann kann es ja losgehen«, sagte Traudel, die mit einer Schüssel Kartoffelsalat auf die Terrasse kam. Kim, Susanne und Wanda, die ihr in die Küche gefolgt waren, brachten Brot, Brezeln, Nudelsalat, grüne Salate und verschiedene Soßen an die Tische.

Inzwischen war es dunkel geworden. Die Lampen auf der Terrasse, das Licht der Laterne im Hof und die Leuchten, die auf der Wiese und in der Erde des Steingartens steckten, unterstrichen die gemütliche Atmosphäre.

»Denkst du, Kilian und Ramona kommen noch?«, wandte sich Traudel an Benedikt, als sie auf dem Stuhl neben ihm Platz nahm.

»Ich hoffe es«, sagte er und streifte Paula mit seinem Blick.

»Steak oder Würstchen oder lieber gegrillte Aubergine?«, fragte Sebastian, der mit einem Teller voller Gegrilltem zu ihnen an den Tisch kam und zuerst Paula anschaute.

»Aubergine, bitte«, sagte sie.

»Für mich Steak und Würstchen«, meldete sich Emilia und hielt ihrem Vater ihren Teller hin. »Ich bin noch im Wachstum«, erklärte sie Paula augenzwinkernd, die das gertenschlanke Mädchen überrascht ansah, das bereits eine große Portion Nudelsalat auf seinen Teller geladen hatte.

»Ich wünschte, ich wäre auch noch im Längenwachstum. Bei mir bezieht sich das Wachstum allein auf die Breite«, seufzte Traudel.

»Da geht schon noch was«, sagte Emilia und petzte Traudel sanft in die Hüfte.

»Spatzl, benimm dich«, entgegnete Traudel lachend.

»Ich bin ganz brav, Omi«, kicherte Emilia und küsste Traudel auf die Wange, während Sebastian Steak und Würstchen an ihrem Tisch verteilte.

Benedikt kümmerte sich währenddessen darum, dass alle etwas zu trinken hatten, brachte seinen Gästen Honigbier mit und ohne Alkohol, Wasser und Limonade. Als er wieder an seinen Tisch zurückkam, setzten sich auch Anna und Sebastian zu ihnen, während die nächsten Würstchen auf dem Grill brutzelten. Da sich alle Gäste gut kannten, waren alle ganz entspannt, und es wurde viel gelacht.

Auch Paula beteiligte sich an der fröhlichen Unterhaltung. Wie es aussah, würde Kilian wohl nicht mehr kommen. Sie redete sich ein, dass es so für sie persönlich ohnehin besser war. So musste sie nicht zusehen, wie vertraut Ramona und er in privater Atmosphäre miteinander umgingen.

*

»So wird unser schöner Plan nicht aufgehen«, raunte Traudel Benedikt zu, als sie eine halbe Stunde später in die Küche ging, um noch mehr von dem geschnittenen Weißbrot zu holen. Kilian war bisher nicht aufgetaucht. Sie befürchtete bereits, dass er gar nicht mehr kommen würde.

»Ich denke, es könnte noch etwas werden«, antwortete Benedikt, als in diesem Moment ein Auto vor ihrem Grundstück anhielt.

Paula zuckte zusammen, als sie sah, dass es das Auto war, mit dem Ramona immer unterwegs war. Gleich darauf stieg sie auch an der Fahrerseite aus. War ja nicht anders zu erwarten, dachte sie, als Kilian an der Beifahrerseite ausstieg. Ramona und er schienen einfach unzertrennlich zu sein. Trotzdem brachte sie es nicht fertig wegzusehen. Wie gebannt beobachtete sie die beiden, die Seite an Seite die Treppe durch den Steingarten heraufkamen. Kilian in Jeans und Pullover, so wie fast alle Gäste. Ramona dagegen trug ein knielanges helles Kleid, das ihre schlanke Figur betonte und das sich nicht wirklich für einen Grillabend im Garten eignete. Es sei denn, man wollte Aufmerksamkeit erregen.

»Hier bei uns sind noch zwei Plätze frei«, sagte Traudel, nachdem die beiden ihre Gastgeber und deren Gäste begrüßt hatten. Sie deutete auf die freien Stühle neben Paula, die sie für Kilian und Ramona freigehalten hatte.

»Es tut uns leid, dass wir so spät sind«, entschuldigte sich Ramona und nahm auf dem Stuhl neben Paula Platz, bevor Kilian überhaupt reagieren konnte. »Wir hatten noch ein Problem mit dem Computer in der Firma. Es hat ein bisschen gedauert, bis ich es gelöst hatte.«

»Bist du jetzt PC-Expertin?«, fragte Emilia erstaunt. Sie war schon einige Mal mit ihrem Freund Markus, der sich mit Computern wirklich gut auskannte, in der Leitstelle der Bergwacht, um den Computer, den Ramona dort für das Büro benutzte, wieder zum Laufen zu bringen. Ramona hatte immer den Eindruck erweckt, als wäre ihr alles suspekt, was über die reine Anwendung der Programme hinausging.

»Ich habe mich fortgebildet. Abendschule in der Kreisstadt«, erzählte Ramona stolz und schaute gleich zu Kilian, um sich seiner Anerkennung zu vergewissern. Aber er reagierte nicht darauf, so als hätte er ihr nicht zugehört. Und überhaupt, wo sah er denn eigentlich hin? Dieser Blick zur Seite an ihr vorbei, der galt ohne Zweifel Paula.

»Was war denn mit dem PC?«, fragte Emilia.

»Er ist abgestürzt. Als ich zu Kilian kam, um ihn abzuholen, weil er nicht mit dem Bus herumfahren will, in dem das ganze Zeug für die Arbeit auf der neuen Großbaustelle lagert, war ich noch mal kurz im Büro. Ich wollte die Rechnungseingänge überprüfen, dabei ist es passiert. Nachdem ich ihn wieder zum Laufen gebracht hatte, waren einige Dateien verschwunden. Ich musste sie erst wieder herstellen«, erzählte Ramona Emilia die gleiche Lüge wie zuvor schon Kilian. In Wirklichkeit war mit dem Computer alles in Ordnung gewesen, sie hatte einfach nur das Kabel der Festplatte abgezogen, um ihn lahmzulegen. Sie wollte erst nach den anderen zusammen mit Kilian bei den Seefelds eintreffen. Dieser Auftritt würde zumindest unbewusst den Eindruck hinterlassen, dass sie beide zusammen gehörten.

»Hattest du keinen Backup?«, schaltete sich Paula in die Unterhaltung ein.

»Selbstverständlich hatte ich den. Aber ich wollte sicher gehen, dass kein Virus den PC befallen hat. Ich wollte wissen, ob sich die Dateien wieder herstellen lassen.«

»Ein Virus? Besitzt ihr kein aktuelles Virenschutzprogramm?«, hakte nun Emilia wieder nach.

»Doch, aber letztendlich ist alles möglich. Hacker sind doch jedem Antivirenprogramm voraus.«

»Aber jetzt ist alles wieder in Ordnung?«, erkundigte sich Traudel.

»Ja, alles bestens«, antwortete Ramona.

»Ja, sicher, alles ist gut«, stimmte Kilian ihr zu, als Traudel ihn ansah. Wieder schaute er zur Seite, um einen Blick von Paula zu erhaschen, aber sie tat, als nähme sie ihn gar nicht wahr.

»Habt ihr denn schon Buchungen in eurer Hundeschule?«, unterbrach Anna das Schweigen, das plötzlich am Tisch herrschte.

»Ja, einige«, ging Paula auch gleich auf Annas Frage ein. »Für die ersten beiden Wochen sind wir sogar schon ausgebucht.«

»Wirklich? Das ging aber schnell. Das Training mit den Hunden der Bergwacht beweist offensichtlich schon Wirkung«, wandte sich Ramona Paula zu und betrachtete sie mit einem herablassenden Blick.

»Es wäre doch ein schöner Nebeneffekt für ihre Schule. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn eine ehrenamtliche Tätigkeit auch lukrative Aufträge zur Folge hat. Von einem Ehrenamt allein kann niemand seinen Lebensunterhalt bestreiten«, verteidigte Kilian Paula gegenüber Ramona.

»Trotzdem.«

»Trotzdem was?«, fragte Kilian, als Ramona ihn mit blitzenden Augen ansah.

Ramona fühlte sich von ihm in die Ecke gedrängt. Sie hatte plötzlich kein Argument mehr, um Paula in dieser Richtung etwas vorzuhalten. »Wenn jemand nur zu Werbezwecken ein Ehrenamt annimmt, dann halte ich das für verwerflich«, erklärte sie, weil ihr sonst nichts einfiel.

»Du redest Unsinn, Ramona. Werner hat Paula vorgeschlagen, weil sie seine Trainingsmethoden kennt und glücklicherweise gerade ein bisschen Zeit hat, die sie für uns opfert.« Kilian hatte sich darauf gefreut, sich an diesem Abend einmal länger mit Paula unterhalten zu können. Er wurde den Verdacht nicht los, dass Ramona das unter allen Umständen verhindern wollte. Aber damit war jetzt Schluss. Er hatte schon einige Male daran gedacht, Paula zum Essen einzuladen. Da sie sich ihm gegenüber jedoch ziemlich reserviert verhielt, hatte er es bisher nicht gewagt.

Er war davon ausgegangen, dass sie eine feste Beziehung hatte und nicht darauf aus war, seine nähere Bekanntschaft zu machen. Mittlerweile wusste er es besser. Er hatte am frühen Abend mit ihrem Onkel telefoniert, um ihn zu fragen, wie es ihm geht. Beiläufig hatte er ihn gefragt, ob Paula mit ihrem Einsatz für die Bergwacht nicht ihren Freund verärgere, der so lange auf sie verzichten müsse. Als Werner ihm versicherte, dass er sich darüber keine Gedanken machen müsste, da Paula zur Zeit keinen Freund hatte, machte ihm das Mut. Er nahm sich vor, sie wenigstens zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen würde. Falls sie ablehnte, dann würde er das eben akzeptieren müssen.

»Dass ich meinen Onkel vertrete, stand in der Zeitung. Es war übrigens ein Artikel, den du veranlasst hattest. Wenn ein Verein in der Zeitung erwähnt wird, das regt die Spendenfreudigkeit an. Waren das nicht deine Wort?«, sagte Paula und sah Ramona direkt an. Sie wollte ihre Anspielung nicht einfach so stehen lassen.

»Das eine schließt das andere nicht aus. Ich denke, ich schulde dir meinen Respekt, dass du diese Chance gleich für dich genutzt und deine Hundeschule angepriesen hast.«

»Ich hole die nächsten Steaks vom Grill, dabei könnte ich Hilfe gebrauchen«, sagte Anna und schaute in Paulas Richtung. Dass Ramona sich nur allzu gern mit Paula anlegen wollte, war inzwischen allen am Tisch klar. Sie wollte Paula gern eine Verschnaufpause gönnen.

»Ich komme mit«, ging Paula auch gleich auf Annas Angebot ein.

»Ramona verhält sich ziemlich aggressiv dir gegenüber. Ist irgendetwas zwischen euch vorgefallen?«, fragte Anna leise und drückte Ramona den großen Teller in die Hand, den sie aus der Küche geholt hatte.

»Sie ist der Meinung, dass ich die Hunde falsch trainiere«, sagte Paula und erzählte Anna von ihren Begegnungen mit Ramona.

»Ich wusste gar nicht, dass sie sich so sehr für die Hunde interessiert«, wunderte sich Anna. »Sie ist nicht gerade ein Hundefreund. Nicht einmal mit Nolan kommt sie wirklich gut zurecht.«

»Vielleicht gefällt es ihr nicht, dass Kilian hin und wieder zum Training kommt.«

»Warum sollte ihr das nicht gefallen? Im Gegensatz zu ihr versteht er es, mit den Hunden umzugehen. Er entscheidet, wer von den Tieren letztendlich in die Rettungsstaffel aufgenommen wird.«

»Ich würde sagen, sie ist ziemlich eifersüchtig, was Kilian betrifft.«

»Eifersüchtig?« Anna legte das nächste fertige Steak vom Grill auf den Teller, den Paula in den Händen hielt.

»Ihre Beziehung zu Kilian beschränkt sich doch nicht nur auf Büro und Bergwacht.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Weil es für mich so aussieht. Sie sind doch ständig zusammen.«

»Stimmt, sie sind tatsächlich oft zusammen«, gab Anna zu. »Aber ehrlich gesagt, habe ich noch nie darüber nachgedacht, dass da mehr zwischen ihnen sein könnte.«

»Ramona ist doch wie sein Schatten. Entweder tauchen sie zusammen auf oder kurz hintereinander.«

»Aber sie sind nicht zusammen, Paula.«

»Irgendwie doch. Oder hat sie jemanden anderen? Oder er?«

»Nein, ich denke nicht. In Bergmoosbach bliebe so etwas auch nicht lange geheim. Kilian hatte bisher mit den Frauen nicht viel Glück. Sein Betrieb, sein Engagement bei der Bergwacht, da bleibt ihm nicht so viel Freizeit. Das gefällt den meisten Frauen nicht.«

»Dann wäre er doch bei Ramona bestens aufgehoben. Sie ist ohnehin schon überall dabei.«

»Könnte es sein, dass du in ihn verliebt bist?«, fragte Anna, als sie den Blick bemerkte, mit dem Paula Kilian anschaute, der sich gerade mit Sebastian unterhielt, während Ramona mit Traudel und Benedikt sprach.

»Ja, so ist es wohl, und ich hätte mir gern ein wenig mehr bei ihm ausgerechnet. Aber ich dränge mich nicht in eine bestehende Beziehung, egal, ob sie offiziell ist oder noch im Verborgenen vor sich hin köchelt.«

»Ich glaube, du liegst falsch, Paula.«

»Ja, vielleicht, aber eigentlich ist das auch nicht mehr so wichtig. Kilian hat noch nie den Versuch unternommen, sich mit mir zu verabreden, und unsere Gespräche auf dem Trainingsplatz drehen sich ausschließlich um die Hunde. Wie sein Verhältnis zu Ramona auch sein mag, ich denke nicht, dass er sich für mich interessiert.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Benedikt hatte doch erst gestern beim Abendessen erneut erzählt, dass er davon überzeugt sei, dass Kilian sich zu Paula hingezogen fühlte. »Wenn du alles verteilst, könnte ich den Grill noch einmal belegen«, sagte Anna, weil sie Paula die Möglichkeit geben wollte, auch die anderen Gäste ein wenig näher kennenzulernen.

»Kein Problem, das mache ich gern«, antwortete Paula und ging mit dem voll beladenen Teller zu dem Tisch, an dem Leonhard und Susanne saßen.

»Ich bringe den Rest«, sagte Sebastian, der die letzten eingelegten Steaks und noch einige Würstchen aus der Küche geholt hatte und mit einem Tablett in den Händen zu ihnen kam. »Was ist mit ihr? Sie sieht niedergeschlagen aus«, raunte Sebastian Anna zu, nachdem Paula außer Hörweite war.

»Sie glaubt, Kilian sei mit Ramona zusammen«, verriet ihm Anna, worüber sie mit Paula gesprochen hatte.

»Das ist definitiv nicht richtig. Ich kenne Kilian ziemlich gut. Er hat mir erst vor Kurzem anvertraut, dass ihn Ramonas Annäherungsversuche nerven. Er arbeitet gern mit ihr zusammen, weil sie intelligent und zuverlässig ist, aber sein Verhältnis zu ihr geht über freundschaftliche Gefühle nicht hinaus.

»Gut, dann sollten er und Paula es doch schaffen, sich näher zu kommen, wenn sie es beide wollen.«

»War das nicht die Idee hinter diesem Grillabend?«, fragte Sebastian lächelnd.

»Richtig, und ich hoffe, er verläuft erfolgreich.«

»Ich denke, das wird er«, sagte Sebastian, als Kilian in diesem Moment seinen Platz verließ und zu dem Tisch ging, an dem Paula die Steaks und Würstchen verteilte.

»Vielleicht wird Ramona sich bei dir ausweinen, sollte ihr der Verlauf des Abends nicht zusagen.«

»Ja, mag sein.«

»Es gefällt dir wohl, dass die Frauen sich gern bei dir ausweinen?«

»Dir nicht?«

»Nein, nicht unbedingt.«

»Warum nicht?«

»Weil ausweinen auch trösten mit einschließt. In diesem Punkt gibt es höchst unterschiedliche Vorstellungen. Ich meine, was dieses Trösten alles so beinhaltet.«

»Ich höre nur zu.«

»Immer?«

»Nein, nicht immer.«

»Aha«, entgegnete Anna und legte die letzten Würstchen auf den Grill.

»Nicht immer bedeutet, wenn jemand Trost braucht, der mir wirklich nahesteht. Oder möchtest du, dass ich mich bei dir auch nur aufs Zuhören beschränke?«

»Nein, auf keinen Fall«, sagte Anna und wandte sich ihm wieder zu. »Wenn ich es bin, die deinen Trost braucht, dann erwarte ich das volle Programm.«

»Was ist das volle Programm?«, fragte er schmunzelnd.

»Ich bin sicher, das weißt du«, antwortete sie und küsste ihn zärtlich.

»Sie sind wirklich glücklich«, seufzte Emilia zufrieden, die ihren Vater und Anna beobachtete.

»Ja, das sind, Spatzl«, sagte Traudel und zog das Mädchen liebevoll an sich.

Ramona sprach gerade mit Susanne, als Paula mit ihrem Teller zu ihrem Tisch kam. Fassungslos schaute sie auf, als Kilian sich neben Paula stellte.

»Ich helfe dir«, sagte er und nahm ihr den Teller ab.

»Vielen Dank«, entgegnete Paula überrascht.

»Sehr gern«, antwortete Kilian lächelnd und sah zu, wie sie das Gegrillte auf die Teller verteilte, die ihr gereicht wurden.

»Du liebe Güte, Kilian, das kann sie schon allein bewältigen«, mischte sich Ramona kopfschüttelnd ein, weil ihr gar nicht gefiel, was sie da gerade sah.

»Könnte sie, aber warum sollte sie?«

»Ach Gottchen, dein Helfergen gönnt dir einfach nie eine Pause«, sagte Ramona und lachte gekünstelt, als Kilian Paula an den Tisch der Seefelds begleitete.

»Du solltest besser einen Gang zurückschalten«, raunte Susanne Ramona zu, als sich plötzlich alle Blicke auf sie richteten.

»Tut mir leid, aber diese Frau ist einfach ein rotes Tuch für mich. Wisst ihr«, sagte sie leise und beugte sich mit wichtiger Miene über den Tisch. »Sie ist einfach unfähig, die Hunde zu trainieren. Sie bereitet sie nicht auf ihre schwere Aufgabe vor. Sie macht Kuscheltiere aus ihnen. Aber Kilian will das nicht sehen. Er lässt sich von ihrem Äußeren und ihrer freundlichen Art blenden. Nicht, dass ich eifersüchtig wäre, ganz bestimmt nicht, aber das mit den Hunden ist zu wichtig, um es einfach so laufen zu lassen«, erklärte sie und richtete sich wieder auf.

»Die Hundeführer sind aber ganz anderer Meinung. Sie schätzen ihre Arbeit«, widersprach Sven Ramona. »Ich hatte in der letzten Woche einen Hubschraubereinsatz mit Hunden. Ich habe nur Gutes über Paula gehört.«

»Offensichtlich ist ein hübsches Gesicht heutzutage ein ausreichender Qualitätsnachweis. Ihr habt doch alle keine Ahnung.«

»Und was qualifiziert dich dazu, ihre Arbeit zu beurteilen?«, wollte Sven wissen.

»Das werdet ihr schon noch erfahren.«

»Es ist gut, Ramona, niemand will dir etwas Böses«, sprach Susanne beruhigend auf sie ein und legte ihre Hand auf Ramonas Arm.

»Ihr solltet mir vertrauen. Mich kennt ihr, sie nicht.«

»Lassen wir dieses Thema, setz dich zu uns und trink etwas mit uns«, forderte Susanne sie freundlich auf.

»Danke, aber mein Platz ist dort drüben«, sagte sie und ging zurück zum Tisch der Seefelds.

»Dieses Mal scheint sie sich echt Sorgen zu machen. Nicht um die Hunde, sondern um ihre Stellung bei Kilian«, stellte Susanne leise fest, nachdem Ramona gegangen war.

Es war kein Geheimnis, dass Ramona schon lange hinter Kilian her war, aber es war auch kein Geheimnis, dass Kilian ihr nicht die gleichen Gefühle entgegenbrachte. Es war nicht das erste Mal, dass er sich für eine andere Frau interessierte, bisher hatte Ramona das aber immer stillschweigend hingenommen.

»Sie muss endlich begreifen, dass diese unerfüllte Liebe zu Kilian sie nur daran hindert, den richtigen für sich zu finden«, sagte Leonhard und legte den Arm um seine Frau. Auch er hatte sich mit einer eifersüchtigen Frau auseinandersetzen müssen, die gern verhindert hätte, dass er und Susanne zusammenkamen.

»Die Liebe kann manchmal recht kompliziert sein«, entgegnete Susanne und lehnte sich an die Schulter ihres Mannes.

»Manchmal bedarf es auch nur einer Reise nach Wien, damit sich alles klärt«, erinnerte Kim ihre Freunde an Sebastians und Annas Reise vor einigen Wochen, von der sie als Paar zurückkamen.

»Endlich«, entgegnete Susanna lächelnd, und dann stießen sie alle auf Anna und Sebastian an. Susanne und Leonhard, Kim und Sven und Wanda und Achim.

Als Ramona an ihren Tisch zurückkam, hatte sich Kilian auf den Stuhl neben Paula gesetzt. Ihren Platz zurückzufordern, erschien selbst ihr albern. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie du dich an ihn heranmachst, dachte sie und sah Paula mit einem herablassenden Grinsen an. »Ich habe mir überlegt, dass wir Ende des Monats mal wieder eine Übung mit allen Einsatzkräften durchführen sollten«, sagte sie und schaute in die Runde. Sie wusste, dass sie mit diesem Vorschlag die Aufmerksamkeit aller Rettungshelfer auf sich zog. Es war gut für den Teamgeist, wenn sich alle hin und wieder davon überzeugten, dass sie sich auf jeden einzelnen blind verlassen konnten. Es funktionierte.

Während des Essens wäre es zu beengt gewesen, aber jetzt wurden die beiden Tische zusammengeschoben, an denen alle irgendwie Platz fanden, um sich an der Planung für die Übung zu beteiligen. Wie immer wurde auch die eine oder andere Rettungsaktion der Vergangenheit noch einmal im Detail besprochen, wozu auch amüsante Begebenheiten gehörten, die alle zum Lachen brachten.

Ramona, die oft den Telefondienst der Bergwacht übernahm und die eingehenden Notrufe an die Einsatzkräfte weiterleitete, konnte die eine oder andere Anekdote beitragen. »Wir sind ein eingeschworenes Team, du wirst nie dazugehören«, zischte sie Paula ins Ohr, als sie beide Anna einmal in die Küche begleiteten, um noch ein paar Knabbereien zu holen.

Wenn du meinst, dachte Paula und reagierte nicht weiter darauf. Außer Ramona vermittelte ihr niemand das Gefühl, dass sie nicht dazu gehörte. Im Gegenteil, sie wurde in die Unterhaltung miteinbezogen und nach ihrer Meinung gefragt, wenn es um die Einsätze mit den Rettungshunden ging. Die Seefelds und ihre Gäste waren ihr allesamt sympathisch, und sie war sicher, dass sie auch mit Ramona auskommen würde, wenn sie ihr die Chance dazu gäbe.

Aber vermutlich war das nicht möglich. Sie hatte ihren wütenden Blick bemerkt, als Kilian sich wieder wie selbstverständlich neben sie gesetzt hatte. Auch wenn sie und Kilian in der großen Runde keine Gelegenheit fanden, allein miteinander zu sprechen, genoss Paula seine Nähe. Die zufälligen Berührungen, die ihr ein aufregendes Kribbeln bescherten, seine Blicke, mit denen er sie streifte, zu kurz, um sie festzuhalten, aber lange genug, um ihr zu zeigen, dass auch er mehr als freundschaftliche Gefühle für sie hegte.

»Ich bin müde, wir sollten aufbrechen«, wandte sich Ramona an Kilian, als er seinen Blick wieder einmal auf Paula richtete.

»Ich bin noch nicht müde«, antwortete Kilian, ohne seinen Blick von Paula zu nehmen.

»Sorry, aber wir sind mit einem Auto hier. Willst du nach Hause laufen?«, entgegnete sie schnippisch.

»Du musst dir keine Sorgen machen, Ramona. Paula kommt doch auf ihrem Weg zum Berghof fast an Kilians Haus vorbei. Sie nimmt ihn bestimmt gern mit«, ergriff Traudel die Chance, Kilian und Paula einander näherzubringen.

»Ja, kein Problem«, sagte Paula, ohne ihren Blick von Kilian zu nehmen.

»Dann wäre das ja wohl geklärt. Einen schönen Abend wünsche ich noch«, sagte Ramona und erhob sich.

Sie würde jetzt lieber gehen, bevor sie sich mit ihrer blöden Eifersucht lächerlich machte, die sie gerade einfach nicht in den Griff bekam.

Da Traudel sich, wie die anderen am Tisch auch, ganz offensichtlich auf Paulas Seite geschlagen hatte, musste sie erst einmal nachgeben. Sie winkte zum Abschied in die Runde und stolzierte auf ihren hohen Schuhen durch den Steingarten hinunter zur Straße. Du wirst das, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut habe, nicht zerstören, dachte sie und schlug im Vorbeigehen mit der flachen Hand gegen die Fahrertür von Paulas Wagen. Erschrocken blickte sie auf, weil sie befürchtete, jemanden könnte den Schlag gegen das Blech gehört haben. Sie amtete erleichtert auf, als sie sah, das niemand in ihre Richtung schaute. Dass Emilia, die inzwischen auf ihr Zimmer gegangen war, an ihrem Fenster stand und wie jeden Abend noch einen Blick an den Himmel warf, entging ihr.

»Wow, die ist echt sauer«, flüsterte Emilia.

»Wuff«, machte Nolan, der bei ihr war, sich mit seinen Vorderpfoten auf dem Fensterbrett abstützte und auf die Straße hinuntersah.

»Sollten Paula und Kilian zusammenkommen, und irgendwie habe ich den Eindruck, dass es so kommen wird, dann bin ich wirklich auf Ramonas Reaktion gespannt.«

»Wuff, wuff, wuff«, machte Nolan.

»Ja, ich denke auch, dass wir uns auf einiges gefasst machen müssen«, antwortete Emilia lächelnd und streichelte über Nolans Kopf.

*

Kurz nach Mitternacht verabschiedeten sich die letzten Gäste der Seefelds, Leonhard und Susanne und Paula und Kilian. Sie hatten noch eine Weile im kleinen Kreis zusammen gesessen und auch über Paulas Onkel gesprochen, der sich in nächster Zeit mehr Ruhe gönnen wollte. Kilian hatte Paula erneut vorgeschlagen, die Nachfolge ihres Onkels im Team der Bergmoosbacher Bergretter anzutreten. Ein Vorschlag, den Benedikt ohnehin unterstützte und dem auch Anna und Sebastian zustimmten.

»Also gut, dann lasse ich mich nicht länger bitten. Ich bin dabei, falls Onkel Werner ausscheidet«, erklärte Paula, als sie mit Kilian zu ihrem Auto ging.

»Du könntest auch an den Rettungseinsätzen teilnehmen und dich um die Hunde kümmern.«

»Ich könnte mir schon vorstellen, solche Einsätze zu begleiten«, sagte sie, während sie mit dem Sender an ihrem Schlüssel die Autotüren öffnete.

»Ich habe mit deinem Onkel telefoniert, bevor ich heute Abend zu den Seefelds kam«, eröffnete ihr Kilian, als sie sich hinter das Steuer setzte und den Motor anließ.

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Ich wollte wissen, wie es ihm geht.«

»Vor drei Tagen, als ich mit ihm gesprochen habe, ging es ihm recht gut.«

»Das hat er mir auch gesagt.«

»Das sind doch gute Nachrichten«, entgegnete Paula und bog auf die Straße ein.

»Dein Onkel hatte nur gute Nachrichten für mich.«

»Über was habt ihr denn noch gesprochen?«

»Über etwas, das mir wichtig war«, sagte Kilian und schaute auf den Marktplatz, an dem sie gerade vorbeikamen. Das honigfarbene Licht der alten Straßenlaternen fiel auf das Auto, und er konnte Paulas Gesicht erkennen, das sich in der Scheibe des Beifahrerfensters spiegelte.

Paula zuckte zusammen, als sie kurz zur Seite schaute und er sich ihr wieder zuwandte. Sie fragte sich, ob er bei ihrem nächsten Treffen an diesen Abend anknüpfen oder ob er wieder den bisher gewohnten Abstand einhalten würde.

Kilian wohnte in einer Seitenstraße hinter dem Rathaus, nur wenige Meter von dem Waldweg entfernt, der zum Berghof ihres Onkels hinaufführte. Die Werkstatt war im Erdgeschoss des zweistöckigen Hauses untergebracht, der Eingang lag hinter einer Mauer mit einem schmiedeeisernen Tor, die den Hof von der Straße trennte.

»Da wären wir«, sagte Paula, als sie vor seinem Haus anhielt.

»Dann sollte ich wohl aussteigen«, antwortete Kilian und betrachtete sie im Schein der Straßenlaterne.

»Es war ein schöner Abend«, sagte Paula und hielt seinen Blick fest.

»Ja, das war er. Ich sagte doch vorhin, dass ich deinen Onkel etwas gefragt habe, was mir sehr wichtig war.«

»Stimmt, das sagtest du.«

»Es war etwas, das dich betrifft.«

»Warum hast du mich dann nicht selbst gefragt?«

»Vermutlich, weil ich mich vor der Antwort gefürchtet habe.«

»Du fürchtest dich vor einer Antwort? Du kletterst in den steilsten Gebirgswänden herum, beteiligst dich an waghalsigen Rettungsaktionen und fürchtest dich davor, mir eine Frage zu stellen?«

»Manche Antworten sind entscheidend für unser zukünftiges Leben.«

»Was wolltest du von meinem Onkel wissen?« Paula spürte ihr Herz schneller schlagen, als sie Kilian abwartend anschaute.

»Ich wollte wissen, ob du zu Hause vermisst wirst. Von deinem Freund oder Verlobten. Er hat gesagt, dass da im Moment niemand ist, der auf dich wartet.«

»Und welche Auswirkung hat seine Antwort auf dein zukünftiges Leben?«

»Noch keine, aber sie gibt mir die Möglichkeit herauszufinden, ob es vielleicht eine Veränderung in meinem Leben geben könnte.«

»Welche?«

»Du weißt, was ich meine, Paula.«

»Vielleicht.«

»Wollen wir morgen etwas zusammen unternehmen?«

»Ja, sehr gern. Wann und wo?«

»Rufe mich an, sobald du wach bist, dann überlegen wir uns etwas.«

»Und wenn ich schon um sechs wach bin?«

»Dann rufst du mich um sechs an.«

»Ist das dein Ernst?«

»Ja, ist es. Ich wünsche dir eine gute Nacht«, sagte er und fasste in seine Hosentasche, um seine Hausschlüssel herauszunehmen, aber sie waren nicht da.

»Was ist?«, fragte sie, als er erschrocken hochschaute.

»Es sieht so aus, als hätte Ramona noch meinen Hausschlüssel. Als wir das Haus verließen, um zu den Seefelds zu fahren, wollte sie noch mal ins Büro, nachsehen, ob sie das Licht ausgeschaltet hatte. Mein Schlüssel steckte schon in der Haustür, weil ich gerade abschließen wollte. Ich habe ihn stecken lassen und bin schon mal zum Auto gegangen. Ramona hat dann die Haustür und das Hoftor abgeschlossen.«

»Und den Schlüssel behalten.«

»Was mir in diesem Moment nicht so wichtig erschien, da ich davon ausging, dass wir zusammen nach Hause fahren. Und dann habe ich nicht mehr daran gedacht, weil ich mit etwas anderem beschäftigt war. Was für Ramona ohne Zweifel auch zutrifft.«

»Sie war heute Abend nicht sonderlich gut gelaunt.«

»Was vermutlich meine Schuld ist. Aber darüber mache ich mir später Gedanken. Jetzt muss ich erst einmal sehen, wo ich die Nacht verbringe.«

»Hast du keinen Ersatzschlüssel?«

»Doch, bei Ramona. Aber ich bin wirklich nicht in der Stimmung, sie anzurufen.« Er konnte sich schon vorstellen, wie das ausgehen würde. Sie würde ihm die Schlüssel bringen, ihn dann um einen Kaffee bitten, und er würde Mühe haben, sie zum Gehen zu bewegen. So war es immer, wenn er sie in seine Wohnung ließ. Sie wollte einfach nicht begreifen, dass sich Liebe nicht erzwingen ließ. »Ich glaube, auf der Terrasse steht noch eine Liege.«

»Hast du auch eine Decke? Es ist ziemlich kühl geworden?«

»Ich habe schon oft im Freien übernachtet. Ich bin nicht so empfindlich.«

»Du willst also über das Hoftor klettern, darauf hoffen, dass noch eine Liege auf der Terrasse steht und dass du irgendwo eine Decke findest?«

»Das ist der Plan«, antwortete Kilian lächelnd.

»Ich habe einen besseren Plan. Du kommst mit zum Berghof. Da ist genug Platz für einen Übernachtungsgast.«

»Du willst einen fremden Mann mitten in der Nacht auf einen einsamen Berghof mitnehmen?«

»Du bist kein fremder Mann, und der einsame Berghof ist nicht mehr einsam, wenn du mitkommst. Ich muss dich doch jetzt nicht erst lange bitten, dass du mein Angebot annimmst. Oder doch?«, fragte Paula schmunzelnd.

»Nein, du musst mich nicht überreden.«

»Gut, dann fahre ich weiter«, sagte Paula und ließ den Motor wieder an.

*

»Wer sich hier nicht auskennt, könnte meinen, dass der Hof in der totalen Einöde liegt. Von Bergmoosbach oder Mainingberg ist nichts zu sehen«, stellte Kilian fest, als sie zum Wohnhaus des Berghofes liefen, nachdem sie das Auto in der Scheune geparkt hatten.

»Warst du schon mal auf dem Dachboden?«, fragte Paula, als sie die Haustür aufschloss.

»Ich besuche deinen Onkel zwar hin und wieder, wenn ich in den Bergen unterwegs bin oder einfach nur mal nach ihm sehen möchte, aber bisher hatten wir keine Veranlassung, auf den Dachboden zu steigen.«

»Als Kind war der Dachboden mein Lieblingsplatz. Obwohl, eigentlich ist er es heute immer noch. Bitte, komm herein«, bat sie ihn und trat zur Seite, damit er zuerst ins Haus gehen konnte.

»Was ist denn so besonders auf dem Dachboden?«, fragte er, als sie sich in der Diele gegenüberstanden, die mit ihren mit hellem Kiefernholz vertäfelten Wänden gemütlich und einladend wirkte.

»Wenn du möchtest, zeige ich es dir.«

»Jetzt gleich?«

»Ja, es sei denn, du möchtest gleich schlafen gehen, dann mache ich dir das Sofa im Wohnzimmer zurecht.«

»Ich würde das Geheimnis auf dem Dachboden gern lüften.« Es war das erste Mal, dass er mit Paula allein war. Er würde jetzt ganz bestimmt nicht sofort schlafen gehen.

»Da entlang.« Sie deutete auf die Treppe, die in das obere Stockwerk führte. Dort angekommen ging es weiter über eine Leiter hinauf zum Dachboden.

»Gibt es hier auch Licht?«, fragte Kilian, als er sich in einem stockfinsteren Raum wiederfand.

»Nur eine Taschenlampe«, hörte er Paula sagen. »Folge mir«, bat sie ihn, als der Lichtkegel der Taschenlampe auf den knirschenden Dielenboden fiel.

Der Raum mit den Dachbalken aus Eichenholz war bis auf einen alten Schrank und einige Kisten leer. Der Boden war sauber gefegt und die Scheiben des großen Fensters, auf das sie zugingen, schienen geputzt, zumindest soweit er das in der Dunkelheit erkennen konnte.

»Hast du hier geschlafen?«, fragte er verwundert, als er auf das Luftbett schaute, das vor dem Fenster stand und auf dem Kissen und Decken lagen.

»In klaren Nächten schlafe ich immer hier oben«, erklärte sie, und er konnte sie im Licht der Taschenlampe lächeln sehen. »Komm, sieh aus dem Fenster, dann weißt du, warum«, sagte sie und schaltete die Taschenlampe aus.

»Das hätte ich nicht erwartet«, zeigte sich Kilian überrascht.

Er konnte beinahe das ganze Tal mit dem nächtlichen Bergmoosbach überblicken.

»Setzen wir uns«, sagte Paula. Sie strich die Daunendecke glatt, die auf dem Bett lag, und setzte sich an das Fußende, das genau vor dem Fenster stand. »Möchtest du ein Bier? Ich meine, ein Malzbier. Das ist das einzige Bier, das ich gern hin und wieder trinke.«

»Das Honigbier vorhin bei den Seefelds?«

»War alkoholfrei. Alkohol vertrage ich nicht so gut. Tut mir leid, ich rede irgendwie Unsinn«, entschuldigte sie sich. »Ich hole das Bier«, sagte sie und wollte aufstehen.

»Ich finde nicht, dass du Unsinn redest«, sagte er leise und berührte ihre Hand. »Dieses Schauspiel verliert nie seinen Reiz, jedenfalls nicht für mich.« Er schaute auf die Milchstraße, die sich gerade noch hinter vorbeiziehenden Wolken verborgen hatte und nun in ihrer ganzen Schönheit zu sehen war.

»Deshalb liebe ich diesen Platz so. Die Erde, der Himmel, alles scheint zum Greifen nah. Aber so wie gerade…«

»Ja?«, hakte er nach, als sie innehielt.

»So wie heute habe ich es noch nie empfunden.«

»Das heißt?«

»Die Dunkelheit, das Licht, die Farben, alles scheint intensiver auf mich zu wirken. Ich wünschte, ich könnte mich auf eine duftige Wolke legen und über das Tal hinwegschweben. Nein, das stimmt nicht, Kilian«, sagte sie, nachdem sie tief Luft geholt hatte, weil es sie Überwindung kostete, ihm zu sagen, was sie sich wirklich wünschte. »Ich möchte nicht allein auf dieser Wolke liegen, es wäre viel schöner, wenn du bei mir wärst. Zu direkt?«, fragte sie.

»Nein, gar nicht«, antwortete er und betrachtete sie im Licht der Sterne und des Mondes, das in das Fenster fiel. »Irgendwie fühlt es sich bereits so an, als würden wir schweben. Dieses Bett hat schon etwas von einer Wolke.«

»Ich weiß«, antwortete Paula, als Kilian sich zurücklehnte und das Bett ins Schwanken geriet.

»Lass es uns ausprobieren«, sagte er.

»Was meinst du?«

»Auf Wolken zu schweben.«

»Soll ich kein Malzbier mehr holen?«

»Nein«, antwortete er lächelnd und zog sie zärtlich zu sich auf das Bett. »Kennst du das Gilgamesh-Epos?«, fragte er sie, als sie nebeneinander auf dem Bett lagen und an den Himmel schauten.

»Der sumerische König Gilgamesh besiegt zusammen mit seinem Freund Enkidu den Himmelsstier, den ihm die wütende Göttin Ischtar schickte, weil er ihren Heiratsantrag ablehnte.«

»Die Kurzfassung eines großen Epos, das vor mehr als 5.000 Jahren verfasst wurde.«

»Der eine oder andere, der sich gedemütigt fühlt, würde sicher auch heute noch gern so einen Himmelsstier losschicken.«

»Gilgamesh hat ihn besiegt.«

»Klar, er war auch zu zwei Dritteln eine Gottheit.«

»Es heißt, der Verlauf dieser Geschichte orientiert sich an den Sternbildern. Die Sumerer besaßen schon ein recht modernes Verständnis von dem Stand der Sterne zur Erde.«

»Ischtar verkörperte die Liebesgöttin und konnte Gilgamesh doch nicht für sich gewinnen.«

»Liebe lässt sich eben nicht erzwingen. Nicht einmal von einer Liebesgöttin.«

»Liebe ist eben ein starkes Gefühl.«

»Eifersucht und Neid auch.«

»Willst du mir etwas Bestimmtes damit sagen?«, fragte Paula, als Kilian sich ihr zuwandte.

»Ich fürchte mich nicht vor dem Himmelstier«, sagte er und streichelte zärtlich über ihr Haar.

»Ich auch nicht«, flüsterte sie, als er sich über sie beugte.

»Weil die Liebe stärker ist«, sagte Kilian und dann küsste er sie.

*

Ramona hatte bis zwei Uhr in der Nacht angezogen in ihrem Wohnzimmer gesessen und darauf gewartet, dass ihr Handy läutete. Sie war bereit, sofort loszufahren, sobald Kilian anrief, um nach seinen Schlüsseln zu fragen. Sie hatte den Fernsehapparat eingeschaltet, konnte sich aber nicht richtig auf das Programm einlassen.

Ihr Blick glitt immer wieder durch das Zimmer mit dem weißen Ledersofa und der weißen Anbauwand. Beinahe so, als hoffte sie darauf, dass Kilian ihr irgendwie erscheinen würde, um ihr mitzuteilen, wo er sich gerade aufhielt. Aber natürlich passierte das nicht. Irgendwann war sie dann eingeschlafen. Als sie gegen acht Uhr am nächsten Morgen aufwachte, lag sie in einer unbequemen Stellung auf dem Sofa und fühlte sich wie gerädert.

»Was soll das?«, sagte sie laut, als sie auf ihr Handy schaute und weder einen verpassten Anruf noch eine SMS von Kilian vorfand. Offensichtlich wurde diese ganze Mühe, die sie sich am Tag zuvor gemacht hatte, nicht von Erfolg gekrönt.

Ihre vorgeschobene Arbeit im Büro, die Idee, noch einmal ins Büro zurückzumüssen, um an seinen Schlüssel zu gelangen, alles war so verlaufen, wie sie es geplant hatte. Dann dieser Schock, dass er versuchte, sich Paula anzunähern. Aber wenigstens hatte er so nicht mehr an seinen Schlüssel gedacht. Sie war absolut sicher, dass er sie anrufen würde, sobald er vor seinem Haus stand. Dass er es nicht getan hatte, war kein gutes Zeichen.

Sie war wütend und enttäuscht zugleich. Sie musste herausfinden, was da los war. Nachdem sie sich eine Weile unter die Dusche gestellt hatte, um wach zu werden, rief sie Kilian an.

»Ja, hallo?«, meldete er sich irgendwann mit verschlafener Stimme.

»Wo bist du? Wo hast du übernachtet?«

»Warte kurz. Ja, ich nehme ein Bier«, hörte sie ihn sagen. »Ich nehme an, du hast meine Schlüssel«, wandte er sich gleich darauf wieder an sie.

»Ja, habe ich. Hast du im Biergarten übernachtet?«

»Nein, bei Paula. Ramona?«, fragte er dann, als er sie schwer atmen hörte.

»Ich bin in einer Stunde im Café Höfner. Du kannst dir deine Schlüssel dort abholen«, sagte Ramona und beendete das Gespräch. »Mistkerl!«, rief sie und feuerte sämtliche Sofakissen durch das Zimmer. Wie konnte er ihr das antun? Was hatte diese Frau, was sie nicht hatte? Ich muss mich beruhigen. Wut ist ein schlechter Berater. Sie musste ihren Verstand einschalten, wenn sie Paula besiegen wollte.

*

»Ein wirklich interessantes Frühstück«, stellte Kilian fest, als er mit Paula in der Küche des Berghofes saß.

Auf dem rustikalen Kiefernholztisch standen Kaffee und Malzbier, Bratkartoffeln und Rühreier, würziger Allgäuer Käse, frische Butter und dunkles Brot.

»Möchtest du lieber etwas anderes?«, fragte Paula verunsichert, weil sie das Frühstück ganz nach ihrem eigenen Appetit ausgerichtet hatte und einfach davon ausgegangen war, dass Kilian damit einverstanden sein würde.

»Nein, ich möchte nichts anderes. Ich liebe Bratkartoffeln zum Frühstück.«

»Manchmal esse ich auch Suppe zum Frühstück.«

»Das klingt auch interessant. Wir sollten öfter miteinander frühstücken.«

»Weil ich mich nicht auf Brötchen, Käse und Marmelade beschränke?«

»Dass du es nicht tust, beweist, dass du außergewöhnlich bist.«

»Und das gefällt dir?«

»Ja, sehr«, antwortete er. Sie saßen nebeneinander auf der Eckbank, schauten sich an und jeder versank in den Augen des anderen. »Ich bin sicher, du wirst mich noch oft überraschen«, sagte er und küsste sie zärtlich auf die Wange. »Was wollen wir heute unternehmen?«, fragte er sie, während er sich sein Frühstück schmecken ließ.

»Am liebsten würde ich den Tag hier auf dem Hof verbringen. Mit dir in der Sonne liegen und über Gott und die Welt reden. Zu langweilig?«, fragte sie leise nach, als er nicht gleich antwortete.

»Nein, es ist ein wunderbarer Vorschlag«, sagte er, und sein Lächeln verriet ihr, dass er es ehrlich meinte. »Hör zu, ich gehe nach dem Frühstück ins Dorf, treffe mich dort mit Ramona und komme dann mit meinem Auto zurück.«

»Ich kann dich auch ins Dorf fahren.«

»Nein, das musst du nicht. Ich nehme die Abkürzung quer durch den Wald, dann bin ich in einer Viertelstunde unten am Rathaus. Du wirst mich also höchstens eine Stunde vermissen. Du wirst mich doch vermissen, oder?«, fragte er mit einem schelmischen Lächeln.

»Ja, ich werde dich vermissen, und ich werde mir Sorgen machen.«

»Warum?«

»Weil es Ramona nicht gefallen wird, wenn sie mitbekommt, dass…«

»Du meinst, dass wir jetzt zusammen sind?«, fragte er, als Paula nach einer Umschreibung suchte, weil sie sich nicht sicher war, ob sie es schon so direkt aussprechen sollte.

»Das wollte ich sagen«, stimmte sie ihm zu, und es gefiel ihr, wie selbstverständlich das bei ihm klang.­

»Du musst dir um Ramona keine Gedanken machen. Ich habe ihr nie irgendeinen Grund gegeben anzunehmen, dass aus uns mehr werden könnte. Ganz davon abgesehen, wäre es ohnehin mein Problem.«

»Sie könnte uns so etwas wie einen Himmelstier schicken.«

»Sie ist keine Liebesgöttin.«

»Richtig, aber eine eifersüchtige Frau ist äußerst fantasiebegabt, wenn sie auf Rache aus ist.«

»Sprichst du aus Erfahrung?«, fragte er sie verwundert.

»Nein, ganz und gar nicht. Eifersucht verbraucht unnötig Energie. Wenn jemand gehen möchte, dann soll er gehen. Ich ziehe mich in so einem Fall lieber zurück, bin ein bisschen traurig und fange mich dann irgendwann wieder.«

»Ramona hat, wie gesagt, keinen Grund, eifersüchtig zu sein.«

»Hoffen wir mal, dass sie das auch weiß.«

»Ich werde kein Geheimnis aus uns machen. Sie wird sich schon daran gewöhnen. Vielleicht werdet ihr ja irgendwann sogar noch Freundinnen.«

»Das wohl eher nicht, aber einen freundlichen Umgangston würde ich mir schon wünschen.«

»Ich denke, das wird sie hinbekommen.«

Paula nickte zustimmend, obwohl sie im Gegensatz zu Kilian nicht davon überzeugt war, dass diese Wunschvorstellung Wirklichkeit werden könnte. Als Kilian sich eine halbe Stunde später auf den Weg ins Dorf machte, stand sie noch eine ganze Weile in der geöffneten Haustür und schaute ihm nach. Hoffentlich findest du die richtigen Worte für Ramona, dachte sie, bevor sie die Tür schloss und in die Küche ging, um den Tisch abzuräumen.

*

Der Marktplatz mit seinem alten Kopfsteinpflaster und dem historischen Steinbrunnen war an diesem Morgen schon recht bevölkert. Die Berge streckten sich mit ihren mächtigen grauen Gipfeln an den stahlblauen Himmel und boten wie immer eine prächtige Kulisse für das Dorf mit seinen hübsch restaurierten Häusern und Gassen.

Die meisten Tische des Cafés Höfner, die draußen vor der Tür unter der mächtigen Krone einer Kastanie standen, waren besetzt. Einheimische und Urlaubsgäste kamen gerade am Sonntag gern schon am Vormittag hierher, um sich gleich zum Frühstück ein Stück von den köstlichen Kuchen oder Torten aus der familieneigenen Konditorei der Höfners zu gönnen.

Ramona hatte sich ein Stück Schokoladentorte und einen Cappuccino bestellt, in dem sie mit einem kleinen Löffel nachdenklich herumrührte, als Kilian an ihren Tisch kam.

»Schön, dass du da bist«, sagte sie und legte den Löffel beiseite. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug die Beine übereinander und strich über den Rock ihres taubenblauen Leinenkleides, bevor sie aufschaute und Kilian direkt in die Augen sah. »Setz dich«, bat sie ihn.

»Ich wollte mich eigentlich gar nicht länger aufhalten«, antwortete er.

»Verstehe, du hast es eilig. Willst du zurück zu ihr?«

»Ramona, bitte, mach es dir doch nicht selbst schwer.« Er entschied, sich doch einen Moment zu ihr zu setzen, um ihr klar zu machen, dass sie keinen Grund hatte, sich über irgendetwas aufzuregen.

»Du befürchtest also, ich könnte es mir schwer machen. Das heißt, du weißt, was ich für dich empfinde.«

»Wir haben nie darüber gesprochen.«

»Hätte es etwas geändert?«

»Nein. Es tut mir leid, Ramona, ich hatte nie vor, dir weh zu tun, und ich habe dir nie etwas vorgespielt, was unsere Beziehung betrifft.«

»Unsere Beziehung? Das klingt aufregend«, sagte Ramona und stach mit der kleinen Gabel in die Schokotorte. »Welche Art Beziehung ist das, die uns verbindet?«, fragte sie und schaute auf, während sie die mit Sahne und Eierlikör verfeinerte Schokotorte in ihrem Mund zergehen ließ.

»Ich denke, wir sind ein gutes Team, im Betrieb und bei der Bergwacht. Bisher bin ich davon ausgegangen, dass wir auch Freunde sind.«

»Freunde, ja, sicher, wir sind Freunde«, murmelte sie.

»Wir werden auch Freunde bleiben, wenn du das willst.«

»Mit dir befreundet zu sein, ist mir aber nicht genug.«

»Es muss reichen. Mehr kann ich dir nicht geben«, sagte er und legte seine Hand auf ihre. Sie tat ihm jetzt fast ein bisschen leid.

»Dann ist es wohl so, aber erwarte nicht von mir, dass ich dir jetzt Glück wünsche. Ich bin sicher, du triffst die falsche Wahl.« Sie zog ihre Hand zurück und sah ihn mit zornfunkelnden Augen an. »Du solltest mich nicht unterschätzen, Kilian, so schnell werde ich nicht aufgeben.«

»Finde dich damit ab, dass ich jetzt mit Paula zusammen bin.« Sein Mitleid war bereits wieder verflogen. »Meine Schlüssel.«

»Bitte sehr.« Ramona nahm den Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und knallte ihn so laut auf den Tisch, dass die Gäste an den anderen Tischen alle erstaunt aufsahen.

»Danke, ich hoffe, du beruhigst dich wieder«, sagte Kilian. Er erhob sich, nickte ihr noch einmal zu und verließ das Café.

»Du meine Güte, Schätzchen, was war denn los?«, erkundigte sich eine pummelige Blondine im zu engen roten Kostüm, die an einem der Nachbartische gesessen hatte und sich nun mit anteilnehmender Miene zu Ramona setzte.

»Dieses raffinierte Früchtchen«, schimpfte Ramona.

»Von wem sprichst du?«

»Sie spricht von Paula, Simone, der Nichte vom Werner«, mischte sich eine hagere Frau im grauen Dirndl ein, die mit einer Tüte Brötchen aus der Bäckerei nebenan kam und gesehen hatte, wie Kilian kurz zuvor Ramonas Tisch verlassen hatte.

»Und woher weißt du das, Draxlerin?«, wollte Simone Windfang, die Kosmetikerin aus dem Hotel Sonnenblick, von Elvira Draxler, der zweiten Vorsitzenden des örtlichen Landfrauenvereins, wissen.

»Ich habe gerade gehört, wie die Wanda und die Kim sich in der Bäckerei unterhalten haben«, erzählte Elvira und blieb neben Ramona und Simone stehen. »Die von unserer Bergwacht haben sich gestern zum Grillen bei Seefelds getroffen. Zwischen der Paula und dem Kilian soll’s gefunkt haben.«

»Die Bergwacht? Geh, dann warst du doch auch dabei, stimmt’s?«, wandte sich Simone an Ramona.

»Würdet ihr bitte gehen? Ich möchte allein sein«, erklärte Ramona, während sie in ihrem Tortenstück herumstocherte und die beiden keines Blickes würdigte.

»Aber du brauchst doch jetzt ein bissel Trost. Als mir das neulich mit der Elo und Doktor Lieblich passiert ist, da hab ich mich nach tröstenden Worten gesehnt«, entgegnete Simone.

»Was ist denn das für ein Vergleich?«, wandte sich Ramona Simone kopfschüttelnd zu. »Ich habe Jahre meines Lebens geopfert, um Kilian alles recht zu machen. Du hast doch Doktor Lieblich vorher gar nicht gekannt. Du hast dich nur in sein attraktives Äußeres verguckt, und er hat der kleinen Bäuerin den Vorzug gegeben. Ende der Geschichte. Das ist kein Grund, um herumzuheulen.«

»Es hat aber wehgetan. Es tut immer weh, wenn man zurückgewiesen wird«, schniefte Simone und fischte ein Taschentuch aus der Jacke ihres Kostüms.

»Sei nicht albern, du wurdest nicht zurückgewiesen. Du wurdest gar nicht wahrgenommen.«

»Wie kannst du nur so gemein sein?« Wie immer, wenn sie sich aufregte, bekam Simone einen feuerroten Kopf, was ihr jedes Mal sehr unangenehm war. »Wer seine Freunde vergrault, ist irgendwann einsam«, sagte sie und ließ Ramona allein.

»Dir habe ich auch nichts weiter zu sagen«, fuhr Ramona Elvira an, die noch immer an ihrem Tisch stand.

»Ganz wie du meinst«, entgegnete Elvira schnippisch und marschierte mit ihrer Brötchentüte auf den Armen davon.

»Ich will einfach nur in Ruhe meine Torte essen«, sagte Ramona, als sich ihr erneut alle Blicke zuwandten. »Ist noch etwas?«, fragte sie in die Runde. »Geht doch«, murmelte sie, als alle sich abrupt abwandten und sich nicht weiter um sie kümmerten. Kilian wird schon noch merken, was er an mir hat, dachte sie. Bald würde er Paula vergessen. »Verdammt«, schrie sie auf, als sie mit ihren langen Fingernägeln an der Tischkante hängenblieb und der Nagel ihres rechten Zeigefingers so tief einriss, dass es höllisch wehtat.

*

Eine Stunde später war Kilian wieder auf dem Berghof. Er hatte zu Hause geduscht, sich umgezogen und war mit seinem Kleinbus zu Paula gefahren. Seine Begegnung mit Ramona war nicht gerade gut verlaufen, das war ihm klar. Vielleicht würde sie nun sogar daran denken, in der Werkstatt zu kündigen und die Bergwacht zu verlassen. Auch wenn er diesen Schritt bedauern würde, vermutlich wäre diese Entscheidung für alle Beteiligten letztendlich das Beste.

»Wie geht es Ramona?«, wollte Paula wissen. Sie trug ein langes smaragdfarbenes Kleid und saß auf der Schaukel, die ihr Onkel vor vielen Jahren auf der Wiese hinter dem Haus an dem Ast eines Birnenbaumes befestigt hatte.

»Sie braucht ein bisschen Zeit.«

»Das heißt, sie war sauer«, stellte Paula fest, als Kilian zu ihr kam und die Schaukel sanft anstieß.

»Sie wird sich beruhigen.« Er trat zur Seite, schaute zu, wie sich Paulas langes blondes Haar im Wind bewegte. Alles an ihr gefiel ihm, und er würde sich von niemandem ein schlechtes Gewissen einreden lassen, weil er sich in sie verliebt hatte.

So wie Paula es sich gewünscht hatte, verbrachten sie den Tag auf dem Hof ihres Onkels. Sie lagen auf einer Decke, die sie auf der Wiese ausgebreitet hatten, und schauten auf die Berge, die sich vor ihnen erhoben. Paula gestand ihm, dass sie mit ihrer Zustimmung erst einmal gezögert hatte, als ihre Freundinnen, die beide eine Ausbildung als Tierpflegerin aufweisen konnten, mit dem Vorschlag zu ihr kamen, gemeinsam eine Hundeschule auf dem Land zu eröffnen.

»Noch habe ich keine Ahnung, ob mir das Landleben auf Dauer überhaupt gefallen wird.« Sie hatte sich seitlich auf einem Arm abgestützt, spielte mit einem Gänseblümchen, das sie gepflückt hatte, und betrachtete Kilian.

»Was wirst du vermissen, wenn du hier lebst?«

»Einkaufsmöglichkeiten, Shoppen gehen, Theater und Museen, solche Dinge eben.«

»Das sind also die wichtigen Dinge in deinem Leben?«

»Nein, das sind nur die Möglichkeiten, die sich mir in einer Stadt bieten, wenn ich etwas unternehmen möchte.«

»Und was ist dir wirklich wichtig?«

»Meine Familie, meine Freunde, meine Arbeit mit den Hunden.«

»Das war es?«, fragte er, als sie innehielt.

»Das ist der Stand von vorgestern.«

»Und wie ist der aktuelle Stand?«

»Kilian, meine Familie, meine Freunde, meine Arbeit mit den Hunden«, sagte sie lächelnd.

»Würdest du mich für das Shoppen und die Museen aufgeben?«

»Nein, das würde ich nicht.« Sie küsste ihn zärtlich auf den Mund, setzte sich auf und zupfte die Blütenblätter des Gänseblümchens nacheinander aus, während sie leise vor sich her sprach: »Er liebt mich, er liebt mich nicht.«

»Glück gehabt«, sagte Kilian, als beim letzten Blütenblättchen »Er liebt mich« an der Reihe war.

»Ich habe mich wohl richtig entschieden. Das Gänseblümchen-Orakel ist mit mir einer Meinung.«

»Was deinen Erlebnishunger betrifft, wir liegen hier recht zentral. Eineinhalb Stunden bis nach München, ungefähr genauso lang ist die Strecke an den Bodensee oder nach Innsbruck. Außerdem sind wir in kürzester Zeit in Garmisch oder Oberstdorf.«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Du hast recht, hier gibt es viele Möglichkeiten. Ich bleibe«, verkündete sie lächelnd.

»Das wünsche ich mir mehr als alles andere«, sagte er und zog sie wieder zu sich auf die Decke.

Bis die Dunkelheit anbrach und es kühler wurde, blieben sie draußen auf der Wiese, tranken Tee und Malzbier und erzählten sich kleine und große Geschichten aus ihrem Leben. Als sie am Abend ins Haus gingen und sich in der Küche ein paar Sandwiches zum Abendessen machten, hatten sie beide das Gefühl, sich schon lange zu kennen.

»Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der mir gleich so vertraut war, wie du es bist«, sagte Paula, als sie sich an den Küchentisch setzten.

»Mir geht es genauso mit dir«, gestand ihr Kilian.

»Mein Onkel hat mich gefragt, ob ich bei ihm wohnen möchte, bis ich eine Wohnung in der Kreisstadt gefunden habe.«

»Wirst du das Angebot annehmen?«

»Ich weiß nicht. Mit dem Auto sind es zwar nur zwanzig Minuten, aber wenn im Winter Schnee liegt, wird es wohl schwierig werden, hier wegzukommen.«

»Im Winter könntest du unten im Dorf wohnen, wenn du bis dahin nichts Passendes gefunden hast.«

»Wo?«

»Zum Beispiel bei mir.«

»So weit sind wir noch nicht. Ich meine, dass wir zusammen wohnen sollten.«

»Bis zum Winter ist es noch eine Weile hin«, antwortete er lächelnd.

»Dann warten wir doch einfach ab, was passiert. Kilian.«

»Ja?«

»Ich glaube, ich möchte heute Nacht nicht allein sein.«

»Ich auch nicht«, sagte er und nahm sie in seine Arme.

*

Als Ramona am nächsten Morgen aufwachte, hatte sich das Nagelbett mit dem eingerissenen Nagel entzündet. Sie hatte die Wunde zwar desinfiziert und mit einem Pflaster verbunden, aber den Hausputz, den sie nach ihrem Treffen mit Kilian im Café Höfner veranstaltet hatte, um ihre Nerven zu beruhigen, hatte die Wunde gereizt. Trotzdem würde sie sich nicht krankmelden. Kilian sollte erst gar nicht auf die Idee kommen, dass sie sich zurückziehen würde.

Sie hatte beschlossen, sich erst einmal ganz normal zu verhalten. So, als sei nichts passiert. Sie würde ihre Arbeit erledigen, freundlich zu Kilian sein und Paula nicht erwähnen. In zwei Tagen war ihre Prüfung zur Hundetrainerin, danach würde sie sich bei der Bergwacht als Werners Nachfolgerin vorstellen. Sie war seit über zehn Jahren aktives Mitglied, wenn der Vorstand auch nur einen Funken Anstand besaß, würde sie den Vorzug vor Paula bekommen. Nachdem sie diese Hürde erst einmal überwunden hatte, würde ihr schon etwas einfallen, wie sie Paula und Kilian wieder auseinanderbrachte. Eine neue Beziehung ließ sich mit ein wenig Fantasie leicht beenden. Noch kannten sich die beiden nicht gut genug, um einander wirklich zu vertrauen. Aber zuerst musste sie ihren Finger verarzten lassen.

Als sie um halb neun in der Praxis Seefeld eintraf, saßen bereits einige Patienten im Wartezimmer. Sie musste um neun im Büro sein. Sie hatte keine Zeit, sich dazu zu setzen. »Hör zu, Gerti, ich muss dringend zur Arbeit. Könntest du dir vielleicht meinen Finger ansehen?«, wandte sie sich an die langjährige Sprechstundenhilfe der Seefelds.

»Er ist entzündet. Der Doktor sollte einen Blick darauf werfen«, sagte sie, nachdem Ramona das Pflaster kurz gelüftet hatte.

»Aber ich muss zur Arbeit«, betonte sie erneut und schloss das Pflaster wieder.

»Ich weiß, aber Sebastian ist nicht hier. Er macht noch Hausbesuche. Du wirst dich also gedulden müssen«, erklärte ihr die kleine rundliche Frau, die in ihrem gestärkten weißen Kittel hinter dem Tresen stand.

»Wann kommt er denn?«

»Geh, Ramona, was soll denn der Aufstand? Sag Kilian Bescheid, dass du später kommst, und dann ist es doch gut«, entgegnete Gerti.

»Du kannst es nicht verstehen.«

»Was kann ich nicht verstehen?«, fragte Gerti und sah die junge Frau an, die in ihrem gelben Kostüm noch eleganter als gewöhnlich aussah.

»Sie ist in Sorge, dass sie ihren Einfluss auf unseren Kilian verliert«, mischte sich die stattliche Frau in dem dunkelblauen Dirndl ein, die im Wartezimmer in der Nähe der geöffneten Tür zur Empfangsdiele saß und das Gespräch am Tresen verfolgte.

»Du hast doch keine Ahnung, Therese«, fuhr Ramona Therese Kornhuber, die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins, mit blitzenden Augen an.

»Freilich hab ich die. Ich hab heut Morgen die Simone und die Elvira in der Bäckerei getroffen«, antwortete Therese schmunzelnd und überprüfte den Sitz des festen Knotens, zu dem sie ihr graues Haar gebunden hatte. »Du und der Kilian, ihr habt euch wegen der Paula gestritten.«

»Wir haben uns nicht gestritten.«

»Ich glaub aber doch.«

»Was Tratschen eben so glauben«, zischte Ramona.

»Tratschen?!«, rief Therese erbost und warf Ramona einen vernichtenden Blick zu.

»Wenn du zu mir willst, Ramona, dann geh schon mal vor ins Sprechzimmer, ich bin gleich bei dir«, sagte Sebastian, der in diesem Moment zur Tür hereinkam und die Situation sofort erfasste.

»Danke.« Ramona warf die Schultern zurück und marschierte hoch erhobenen Hauptes den Gang entlang, der zu Sebastians Zimmer führte.

»Aha, so geht das also hier? Ein bissel einen Aufstand proben und schon kommt man dran. Das hätte es bei deinem Vater nicht gegeben«, beschwerte sich Therese.

»Doch, hätte es. Notfälle gehen immer vor«, entgegnete Sebastian.

»Sie ist also ein Notfall, aha.«

»Reiß dich zusammen, Kornhuberin. Lass deine Wut auf die kleine Köster nicht an Sebastian aus«, sprang Gerti Sebastian gleich bei.

»Ja, genau, was gehst du denn ihn so an, wenn du dich über wen anders ärgerst?«, war aus dem Sprechzimmer zu hören, genau wie: »Du attackierst den Falschen, Frau Vorsitzende.«

»Schon gut, ich hab’s verstanden. Verzeihung«, murmelte Therese und sah Sebastian schuldbewusst an.

»Alles klar, bis nachher«, sagte Sebastian und verschwand erst einmal in dem Personalzimmer mit angeschlossenem Bad, um sich nach seinen Hausbesuchen für die Sprechstunde umzuziehen. Ramona ging es nicht gut, das hatte er gleich gesehen, aber vermutlich lag es nicht an dem Finger, den sie großzügig mit Pflaster beklebt hatte. Es hatte wohl eher etwas mit Paula zu tun. Der Grillabend bei ihm hatte allen gezeigt, dass Kilian sich zu Paula hingezogen fühlte.

Als er gleich darauf sein Sprechzimmer betrat, saß Ramona in dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und schaute auf die Vitrine aus honig­farbenem Holz, die dem Raum mit seinen weißen Möbeln Wärme verlieh.

»Dein Vater sammelt noch immer alte Medizinbücher?«, fragte sie und betrachtete die Buchdeckel der historischen Bücher, die in der Vitrine standen.

»Ja, das tut er, aber ich denke, wegen der Bücher bist du nicht hier.«

»Mein Finger ist entzündet«, sagte sie und öffnete das Pflaster.

»Okay, gegen Tetanus bist du geimpft«, stellte Sebastian fest, nachdem er sich ihre Patientenakte auf dem Computermonitor angesehen hatte. »Setz dich auf die Liege, ich sehe mir den Finger an.«

»Schlimm?«, fragte sie, als sie auf der Behandlungsliege saß und Sebastian ihre Verletzung mit einer Art Jodtinktur und Salbe behandelte.

»Nein, nicht schlimm. Ich verschreibe dir eine Salbe. Sollte es am Ende der Woche nicht besser sein oder zwischendrin schlimmer werden, kommst du bitte noch mal vorbei.«

»Weil man nie weiß, ob etwas schlimmer wird, auch wenn es erst einmal nicht so schlimm aussieht, richtig?« Sie rückte ihre Brille gerade, die ihr ein Stück von der Nase gerutscht war.

»Ich nehme an, wir sprechen jetzt nicht mehr von deinem Finger.«

»Nein, tun wir nicht.«

»Was genau ist passiert?«

»Kilian hat die Nacht auf dem Berghof verbracht. Es hat ihn nicht einmal Mühe gekostet, es mir zu gestehen.«

»Du musstest damit rechnen, dass dieser Tag irgendwann kommt«, sagte Sebastian. Er befestigte den Mullverband, den er um ihren Finger geschlungen hatte, mit einem Pflaster.

»Ich habe aber damit gerechnet, dass er sich mir zuwendet, dass er in mir die Frau sieht, die zu ihm gehört.«

»Gefühle lassen sich aber nicht erzwingen.«

»Diesen Spruch kenne ich.«

»Das ist also ein Spruch, interessant. Würdest du dich denn jemandem zuwenden, den du nicht liebst?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Aber Kilian soll es tun?«

»Ich weiß, dass Kilian mich lieben würde. Er sieht nur einfach nicht richtig hin. Für ihn bin ich nur seine Sekretärin, seine rechte Hand, die immer da ist und funktioniert. Er weiß doch gar nicht, wer ich wirklich bin. Aber das werde ich ändern.«

»Lass es gut sein, Ramona. Du musst Kilians Entscheidung akzeptieren.«

»Sie ist aber nicht gut für ihn.«

»Das ist allein seine Angelegenheit.«

»Davon bin ich nicht überzeugt.«

»Muss ich befürchten, dass du etwas Dummes tust?«, fragte Sebastian, als Ramona sich von der Liege erhob und mit funkelnden Augen in Richtung Berghof schaute.

»Ich werde ganz bestimmt nichts Dummes tun, ich werde mir meine nächsten Schritte ganz genau überlegen. Ich wünsche dir noch einen schönen Tag, Sebastian, danke für deine Zeit«, sagte sie und verließ das Sprechzimmer.

Hoffentlich fängt sie sich bald wieder, dachte Sebastian und ging zu seinem Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, bevor er den nächsten Patienten aufrief.

*

Sie macht nicht den Eindruck, als würde der Ärger weitergehen, dachte Kilian, als er Ramona auf dem Weg zu einem Kunden im Hof begegnete. Sie begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln, so, als wäre nichts zwischen ihnen vorgefallen.

»Was ist passiert?«, fragte er sie, als er ihren verbundenen Finger sah.

»Nur ein kleines Missgeschick, nichts von Bedeutung. Ich kümmere mich jetzt erst einmal um die Bestellungen für die Werkstatt und telefoniere mit den Kunden, die noch auf eine Terminvereinbarung mit uns warten«, sagte sie.

»In Ordnung. Ich bin auf der Baustelle in Partenkirchen.«

»Bist du zum Mittagessen zurück? Wir könnten doch heute mal wieder alle zusammen in den Biergarten gehen.«

»Ich denke, ich werde es nicht rechtzeitig schaffen.«

»Alles klar, bis dahin«, verabschiedete sie ihn und verschwand im Haus.

Wie es aussieht, hat die Vernunft gesiegt, sie hat sich beruhigt, dachte Kilian erleichtert und stieg in seinen Werkstattbus.

»Du und ich, wir gehören zusammen«, murmelte Ramona, die am Fenster des Büros stand und dem Werkstattbus mit Kilian am Steuer nachschaute.

Sie winkte den beiden jungen Männern freundlich zu, die in ihren grauen Werkstattanzügen über den Hof liefen. Außer diesen beiden ausgebildeten Elektrikern beschäftigte Kilian noch einen Schreiner und einen Elektroinstallateur, alle fleißige zuverlässige Mitarbeiter. Aber bei ihr liefen die Fäden zusammen. Sie war diejenige, auf die sich alle verließen. Dass sie sein Unternehmen zusammenhielt, das musste Kilian doch etwas bedeuten. Er konnte doch annehmen, dass eine ganz normale Angestellte sich derart anstrengen würde, um seinen Erfolg zu sichern.

Eigentlich bin ich doch längst so etwas wie die Chefin in diesem Betrieb, dachte sie, und in diesem Gefühl wollte sie sich heute ein wenig sonnen. Sie würde die Jungs aus der Werkstatt, wie sie Kilians Angestellte nannte, heute auf Geschäftskosten zum Mittagessen einladen. Schließlich kümmerte sie sich ja auch um die Finanzen und die Buchhaltung. »Ich kümmere mich um alles, ohne mich geht es nicht«, murmelte sie und setzte sich an ihren Schreibtisch.

*

Kilian konnte die Baustelle in Partenkirchen schneller verlassen, als er es vorausgesehen hatte. Die Begehung der im Bau befindlichen Reihenhaussiedlung, die er als Elektriker betreuen sollte, war problemlos verlaufen. Der zuständige Bauleiter und er waren auf keine Hindernisse gestoßen. Er würde in ein paar Tagen mit seiner Arbeit dort anfangen können.

Als er kurz nach zwölf in Bergmoosbach eintraf, fuhr er zuerst zum Hundetrainingsplatz. Die Trainingsstunde am Montag dauerte bis halb zwölf. Bis alle gegangen waren, vergingen immer noch ein paar Minuten. Er sehnte sich nach Paula. Vielleicht hatte er Glück und traf sie noch auf dem Trainingsgelände an. Er wollte einfach nur ein paar Minuten mit ihr verbringen und sie in seine Arme nehmen, bevor er in die Werkstatt fuhr, um seine Unterlagen über die neue Baustelle zu vervollständigen.

Er hatte Glück. Paula wollte gerade in ihr Auto steigen, das sie unter dem Laubdach einer Birke abgestellt hatte, als er auf den Parkplatz einbog. Nur ein paar Minuten sind zu wenig, dachte er, als sie sich zu ihm umdrehte, einen Zweig der Birke zur Seite schob, der ihren Blick behinderte, und lächelte.

»Hallo, Kilian, ich freue mich, dich zu sehen«, sagte sie, als er aus seinem Wagen stieg und zu ihr kam.

»Ich habe dich vermisst. Hast du Lust, mit mir essen zu gehen?«, fragte er sie und nahm sie in seine Arme.

»Sehr gern. Wie wäre es mit dem Biergarten?«

»Gute Idee.«

»Entschuldige, bitte, das ist mein Onkel«, sagte sie, als ihr Handy läutete und sie auf das Display schaute. »Fahr doch schon mal vor und suche uns einen Platz, ich komme gleich nach.«

»Mache ich, bis gleich«, sagte er und stieg wieder in seinen Wagen. Bevor er losfuhr, wandte er sich Paula noch einmal zu, betrachtete die hübsche junge Frau in der roten Jeans und dem weißen Pullover, die am Kofferraum ihres Autos lehnte und mit den Spitzen ihres blonden Haares spielte, während sie telefonierte. Ihm wurde ganz warm ums Herz, als sie aufschaute und ihm winkte, bevor er den Parkplatz verließ. Ich bin verliebt, so verliebt, wie ich es noch nie war, dachte er.

»Du bist also fest entschlossen?«, wollte Paula sich vergewissern, dass ihr Onkel sich seines Entschlusses, den er ihr soeben verkündet hatte, auch wirklich sicher war.

»Ja, ich bin sicher, Paula. Ich will in Zukunft nicht mehr so an Termine gebunden sein. Außerdem…«

»Außerdem was?«, hakte Paula nach, als er innehielt.

»Nun, es ist so, ich habe jemanden kennengelernt«, gab er ein wenig schüchtern zu.

»Du hast also einen Kurschatten«, entgegnete Paula lächelnd.

»Als Schatten würde ich sie nicht bezeichnen. Sie ist schon ganz real.«

»Wie heißt sie?«

»Gerda.«

»Und wo wohnt Gerda?«

»In der Nähe von Ulm.«

»Etwa eine Stunde von hier.«

»Deshalb können wir uns ja auch in Zukunft häufiger treffen und etwas zusammen unternehmen. Sie mag Hunde. Bärchen und sie kommen wunderbar miteinander aus.«

»Onkel Werner, ich freue mich für dich. Und, ja, ich würde deine Nachfolge bei der Bergwacht gern antreten.«

»Hin und wieder komme ich aber noch zum Training, so ganz kann ich mich noch nicht verabschieden.«

»Aber ja, ich kann immer noch etwas von dir lernen. Obwohl Ramona meint, ich tauge nicht zur Trainerin.

»Unsinn, Kind, Ramona hat ein anderes Problem mit dir.«

»So, welches denn?«, fragte sie überrascht. Bisher hatte sie ihrem Onkel noch nichts von sich und Kilian erzählt.

»Kilian interessiert sich für dich, das wird ihr nicht gefallen. Und ehe du mich fragst, woher ich das weiß, er hat sich bei mir erkundigt, ob du einen Freund hast. Er dachte, ich merke es nicht, aber ich kenne ihn lange genug. Ich weiß, wenn er nervös wird, und bei dieser Frage war er nervös.«

»Er hat mir erzählt, dass er über dich herausfinden wollte, ob ich eine feste Beziehung habe.«

»Wenn er dir das gestanden hat, dann bedeutet das wohl, dass mittlerweile etwas zwischen euch ist.«

»Stimmt, ich treffe mich auch gleich wieder mit ihm.«

»Paula, das ist eine gute Entwicklung. Ihr beide passt zusammen. Ich freue mich für euch, aber tue mir bitte den Gefallen und gib ein wenig darauf Acht, was Ramona so tut.«

»Kilian meint, sie wird sich schon damit abfinden.«

»Ich hoffe, dass ihr das schnell gelingt. Sie ist ziemlich versessen auf Kilian, weißt du. Es wird ihr nicht leicht fallen zurückzustecken. Kilian hat das nie so mitbekommen, aber sie hat sich hin und wieder bei mir ausgeweint. Immer dann, wenn Kilian mit einer anderen Frau ausgegangen ist. Sie hat an keiner ein gutes Haar gelassen.«

»Sie lästert auch jetzt schon über mich, dann wird sie es eben noch eine Weile länger tun. Aber irgendwann wird ihr das langweilig werden.«

»Ja, sicher, Kind, so wird es sein. Und jetzt geh zu ihm und grüße ihn von mir.«

»Das mache ich, danke, Onkel Werner.«

»Ich melde mich wieder, bis dann, meine Kleine.«

»Ich wünsche dir noch viel Spaß und einen schönen Gruß an Gerda«, sagte Paula und beendete das Gespräch. Auch wenn ihr Onkel sie noch einmal eindringlich vor Ramona gewarnt hatte, sie würde sich von dieser Frau nicht verunsichern lassen. Es war an ihr, die Situation zu akzeptieren.

*

Der Biergarten im Hof der Brauerei Schwartz, einem rot verklinkerten Gebäudekomplex, lag zwischen dem Eingang des hauseigenen Bräu­stübels und dem Ufer des Wildbaches, der aus den Bergen ins Tal rauschte. Alte Kastanien mit mächtigen Kronen beschatteten die Tische und Bänke, die wie immer um die Mittagszeit gut besetzt waren.

Paula entdeckte Kilian am Ende eines Tisches, der von einigen Wanderern belagert wurde. Sie wünschte den sportlich gekleideten Damen und Herren einen guten Appetit, bevor sie sich auf den Platz gegenüber von Kilian setzte.

»Nette Leut, die Bergmoosbacher«, hörten sie und Kilian einen der älteren Herren zu den anderen sagen.

»Du bist schon eine von uns«, flüsterte Kilian und betrachtete sie mit einem zärtlichen Lächeln.

»Damit komme ich gut klar. Die meisten Bergmoosbacher sind liebenswert«, entgegnete sie.

»Liebenswert, soso.«

»Okay, nicht auf derselben Stufe liebenswert, wie du es für mich bist«, fügte sie lachend hinzu und streichelte seine Wange.

»Das beruhigt mich«, sagte Kilian, umfasste ihre Hand und küsste sie sanft.

»Was darf ich euch bringen?«, fragte die Bedienung, die zu ihnen an den Tisch kam. Die freundliche ältere Frau in dem dunkelroten Dirndl zückte einen Block, an dem ein Bleistift befestigt war, um ihre Bestellung aufzunehmen. »Da schaut ihr, ihr modernen Preußen, ihr. Statt eines Minicomputers, der gleich mit der Kasse verbunden ist, gibt’s hier noch Bleistift und Papier«, wandte sich Irmi, die dienstälteste Kellnerin, an die Teilnehmer der Wandergruppe, die sie interessiert anschauten.

»Deshalb kommen wir her«, entgegnete ein Mann in grauer Lodenweste und kurzärmeligen weißen Hemd.

»Dann genießt euren Aufenthalt«, sagte Irmi schmunzelnd. »Also, was soll’ sein?«, wollte sie von Paula und Kilian wissen.

»Auf jeden Fall etwas mit den hausgemachten Semmelknödeln. Die habe ich neulich schon einmal versucht. Sie waren köstlich«, sagte Paula.

»Semmelknödel mit Pilzrahmsoße und Salat«, schlug Irmi vor.

»Klingt gut.«

»Dazu Honigbier?«

»Gern, aber alkoholfrei.«

»Für mich das Gleiche«, schloss sich Kilian an.

»Bier auch ohne?«, hakte Irmi nach.

»Ja, bitte.«

»Ist recht«, sagte Irmi und marschierte zum nächsten Tisch, um weitere Bestellungen aufzunehmen.

»Was ist?«, fragte Kilian, als Paula auf ihre Armbanduhr schaute.

»Ich muss in zwei Stunden in der Hundeschule sein. Wir haben heute Tag der Offenen Tür. Wir hoffen, dadurch noch mehr Aufmerksamkeit zu gewinnen.«

»Das bekommt ihr ganz bestimmt hin, ihr habt doch ohnehin schon einige Kunden gewonnen. Wenn die mit eurer Arbeit zufrieden sind, dann werden sie euch weiterempfehlen.

»Wir werden uns bemühen, sie zufrieden zu stellen.«

»Die Hunde lieben und respektieren dich, mehr geht nicht.«

»Ich hoffe, das reicht.«

»Aber ja. Hunde lassen sich nicht allein mit Worten überzeugen, sie spüren, wer du bist.«

»Sieh an, sie spüren es also.«

»Ramona?« Kilian schaute verblüfft auf, als sie ihre Hand auf seine Schulter legte.

»Ihr habt wohl nur noch Augen füreinander, sonst hättet ihr unsere Ankunft sicher bemerkt«, entgegnete Ramona und gab sich freundlich.

»Eure?«

»Die Kollegen sind auch hier. Ich dachte, es ist wieder einmal Zeit, sie zum Mittagessen einzuladen. Das ist dir doch recht?«

»Aber ja, natürlich«, stimmte Kilian ihr zu.

»Jungs, dort drüben ist noch ein freier Tisch für euch.« Sie deutete auf einen der Vierertische, die direkt am Bachufer standen. »Ich quetsche mich hier noch dazu«, erklärte sie und blieb hinter Kilian stehen.

»Kommen Sie nur her, junge Frau, ich mach Platz«, sagte der Mann von der Wandergruppe, der neben Kilian saß.

»Vielen Dank«, bedankte sich Ramona, als er auch gleich ein Stück zur Seite rückte und ihr die Möglichkeit bot, sich zwischen ihn und Kilian auf die Bank zu setzen.

Zuerst war die Wut wieder in ihr hochgekocht, als sie ihn und Paula dort hatte sitzen sehen. Zu ihr hatte er doch gesagt, dass seine Mittagspause ausfiele. Aber wie es aussah, war es ihm mit Paula ernst. Da sie diese Konkurrentin nicht so einfach wieder loswerden konnte, hatte sie beschlossen, sich ihr freundschaftlich zu nähern. So würde sie mehr über sie erfahren und den Punkt finden, an dem sie verwundbar war. »Alles klar auf der Baustelle?«, wandte sie sich zuerst an Kilian.

»Sie kommen dort gut voran. Wie es aussieht, sind sie genau im Zeitplan.«

»Super, und bei dir? Alles gut gelaufen auf dem Trainingsplatz?«, wollte sie von Paula wissen. Klappt doch, dachte sie, als ihr sogar ein Lächeln gelang.

»Wir hatten Spaß, und es waren alle zufrieden mit ihren Ergebnissen.«

»Ich glaube, ich war nicht gerecht mit meiner Kritik an deinen Lehrmethoden. Tut mir echt leid. Ich sehe ja auch, dass die Hunde dich mögen, wie Kilian gerade so treffend festgestellt hat. Wollen wir noch einmal von vorn anfangen?«, fragte Ramona und streckte Paula ihre Hand hin.

»In Ordnung«, erklärte sich Paula einverstanden und reichte ihr die Hand.

»Das ist eine nette Geste«, bedankte sich Kilian bei Ramona.

»Wir müssen doch miteinander auskommen«, erklärte Ramona mit gönnerhafter Miene. Als Irmi das Essen für Paula und Kilian brachte, bestellte sie auch für sich Knödel mit Pilzen und dazu einen Limonade. Sie wunderte sich, dass Kilian, der sonst tagsüber nie Alkohol anrührte, schon mittags Bier trank. Aber offensichtlich ist das bei ihr normal, dachte sie. Als er gestern Morgen auf dem Berghof war und sie mit ihm telefoniert hatte, ging es doch auch schon darum, ob er ein Bier zum Frühstück wollte. Vielleicht hatte sie Paulas Schwachstelle bereits gefunden. Wenn sie dem Alkohol mehr zugeneigt war, als sie sollte, dann würde sich daraus mit Sicherheit etwas konstruieren lassen, was sie in Kilians Augen untragbar machte. »Ich bin gespannt, wie die Prüfung am Freitag ausgeht. Denkst du, dass es alle schaffen werden?«, fragte sie und gab sich äußerst interessiert.

»Ich gehe davon aus«, sagte Paula.

»Ich habe vor, mir die Prüfung anzusehen.«

»Herzlich willkommen«, entgegnete Paula freundlich.

»Welche Aufgaben müssen unsere Hunde denn bewältigen?«, fragte Ramona und hörte aufmerksam zu, was Paula darauf antwortete.

Paula war noch ein wenig skeptisch und fragte sich, ob Ramona es mit ihrem Freundschaftsangebot wirklich ernst meinte, als sie sich eine Stunde später voneinander verabschiedeten, die anderen zur Werkstatt fuhren und sie sich auf den Weg zur Hundeschule machte. Andererseits sollte sie ihr nicht von vornherein mit Misstrauen begegnen. Jeder hatte eine zweite Chance verdient.

*

»Ich muss morgen früh gleich zu unserer Baustelle nach Augsburg. Es könnte sein, dass es länger dauert und ich dort übernachte«, eröffnet Kilian Paula am Abend vor der Prüfung der zukünftigen Rettungshunde.

Sie hatten es sich wieder auf dem Bett auf dem Dachboden des Berghofes gemütlich gemacht und schauten an den nächtlichen Sternenhimmel.

»Das heißt, du wirst bei meiner ersten Prüfung für die Bergwacht nicht dabei sein?«

»Doch, ich werde dabei sein. Es könnte nur sein, dass ich ein paar Minuten später komme.«

»Ich möchte dich wirklich gern dabei haben.«

»Ich weiß, obwohl ich absolut davon überzeugt bin, dass alles glatt laufen wird. Benedikt Seefeld hat mir mehrfach versichert, dass alle bestens vorbereitet sind.«

»Das hoffe ich, allerdings ist Nolan schon eine Ausnahme. Er weiß immer genau, was zu tun ist. Er kann eine Gefahr erahnen und handelt dann auch dementsprechend.«

»Berner Sennenhunde sind für ihre Intelligenz bekannt.«

»Nolan ist auch unter dieser Rasse etwas Besonderes.«

»Vielleicht liegt es daran, dass er ausgesprochen behütet aufwächst. Irgendjemand in seiner Familie ist immer für ihn da.«

»Das spielt auf jeden Fall eine Rolle. Er fühlt sich vollkommen akzeptiert, und durch seinen engen Kontakt zu Menschen kann er unsere Verhaltensweisen besonders gut einschätzen.«

»Nolan hat noch einen unschätzbaren Vorteil. Er ist nicht nur auf eine Person bei der Bergwacht fixiert. Wir können ihn mit Benedikt, Sebastian oder Anna losschicken, sie sind alle mit ihm vertraut und er mit ihnen.«

»Die Seefelds und Nolan passen eben gut zusammen.«

»Und wir? Passen wir auch zusammen?«, fragte Kilian und nahm sie in seine Arme.

»Ich finde schon«, sagte sie und küsste ihn zärtlich.

Seit ihrer ersten gemeinsamen Nacht auf dem Berghof hatte sie keine Nacht mehr allein verbracht. Kilian war jeden Abend nach Werkstattschluss zu ihr gekommen, und sie hatte für sie beide gekocht. Danach waren sie spazieren gegangen oder hatten draußen auf der Wiese den Sonnenuntergang betrachtet. Am aufregendsten aber waren die Stunden, die sie auf dem Dachboden verbrachten und über ihre Träume und Wünsche sprachen.

»Ich glaube, inzwischen ist sogar Ramona der Meinung, dass wir gut zusammen passen.«

»Du glaubst, sie meint es wirklich ernst mit ihrem Friedensangebot, das sie mir im Biergarten gemacht hat?«

»Ja, ich denke schon. Gestern hatte sie sich einen Tag frei genommen und sehr geheimnisvoll getan. Möglicherweise hat sie sich mit jemandem getroffen.«

»Das wäre großartig.«

»Vor allen Dingen für sie. Und jetzt denken wir nicht mehr an Ramona.«

»Oder die Liebesgöttin, die dir den Himmelsstier schickt, den du bekämpfen sollst.«

»Nein, auch nicht an sie«, sagte Kilian und dann küsste er sie voller Leidenschaft.

*

Aber Kilian und Paula hatten sich geirrt, was Ramonas Einsicht betraf. Sie war noch längst nicht davon überzeugt, dass die beiden zusammengehörten. Im Gegenteil, sie hatte die letzten Tage damit verbracht, einen Plan zu entwickeln, um Paula aus Kilians Leben zu verbannen. Und sie hatte sich an ihrem freien Tag auch nicht mit einem Mann getroffen, an dem sie interessiert war. Sie war nach München gefahren, um ihre Prüfung zur Hundetrainerin abzulegen. Mit Hilfe ihrer Freundin Inge, die in der Prüfungskommission saß, hatte sie die Prüfung bestanden. Und jetzt würde Paula ihre Prüfung verlieren.

Dass Kilian nach Augsburg musste und über Nacht bleiben würde, das war eine wunderbare Fügung des Schicksals für Ramona. Sie war am Vormittag zur letzten Trainingsstunde vor der Prüfung zum Trainingsplatz gegangen und hatte sich ganz offiziell für Paulas gute Arbeit bedankt. Eine Geste, die auch Benedikt Seefeld ein anerkennendes Nicken entlockte.

Sie war sicher, dass sie Paula und auch alle anderen Hundeführer von ihrer Wandlung zur guten Freundin überzeugt hatte. Dass die Hunde wie immer auf Abstand zu ihr gingen und Nolan sogar die Ohren anlegte und sich fest an Benedikt drückte, hatte ihr nur ein mitleidiges Grinsen entlockt. Würde sie ihm und den anderen Hunden einen Befehl erteilen und ihn nachdrücklich genug formulieren, würden sie schon alle folgen. Gehorchen gehörte schließlich zur Natur des Hundes.

Am Abend, nachdem sie die Werkstatt abgeschlossen hatte, war die Zeit für ihren großen Auftritt gekommen. Mit zwei Flaschen Prosecco und drei Flaschen Wein im Gepäck machte sie sich auf den Weg zum Berghof. Falls Paula ein Alkoholproblem hatte, dann würde sie dieses Laster jetzt entlarven, und falls nicht, dann war sie darauf vorbereitet, es so aussehen zu lassen.

»Hallo, Ramona, was kann ich für dich tun?«, fragte Paula arglos, als Ramona wenig später mit einer Flasche Prosecco im Arm vor ihrer Tür stand.

»Ich bin hier, weil ich mit dir auf unsere neue Freundschaft und einen guten Verlauf der morgigen Prüfung anstoßen möchte«, erklärte Ramona mit unschuldigem Augenaufschlag. »Ich störe doch nicht?«, gab sie sich besorgt und schaute auf die leichte Leinenhose und das weite T-Shirt, das Paula trug. Offensichtlich hatte sie sich schon auf einen Abend auf dem Sofa eingerichtet.

»Nein, du störst nicht, komm rein«, sagte Paula und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. »Aber ich sollte lieber keinen Alkohol trinken. Ich vertrage ihn nicht so gut. Ich mache uns lieber einen Tee, wenn dir das recht ist.«

»Du verträgst keinen Alkohol? Aber im Biergarten neulich hast du doch Bier getrunken«, stellte Ramona fest.

»Das Bier war alkoholfrei. Ich mag Bier sehr gern, aber nur Malzbier oder alkoholfreies.«

»Okay, kein Problem, aber wenigstens ein Gläschen Prosecco wirst du doch mit mir trinken, danach gehen wir zum Tee über. Einverstanden?«

»Hast du schon zu Abend gegessen?«

»Nein, ich bin von der Werkstatt gleich zu dir gekommen.«

»Dann iss doch mit mir. Ich wollte mir gerade Sandwiches machen. Danach lasse ich mich dann zu einem Glas Prosecco überreden.«

»Klingt super.«

»Gut, dann gehen wir in die Küche«, sagte Paula und ging voraus.

Sie stellte Toastbrot, Käse, Salat, Wurst und Soßen auf den Tisch und bereitete eine Kanne Ingwertee zu. Dass Ramona sie besuchte, überraschte sie zwar, aber sie ging davon aus, dass sie in friedlicher Absicht gekommen war und ihr wirklich nur Glück für den nächsten Tag wünschen wollte.

Nachdem sie gegessen und gemeinsam den Tisch abgeräumt hatten, gingen sie ins Wohnzimmer, und Ramona nahm auf dem grünen Sofa Platz. Paula holte zwei Sektgläser aus dem Wohnzimmerschrank und setzte sich auf den Sessel gegenüber Ramona. Wie schon in der Küche während des Essens sprachen sie auch jetzt über das Training der Hunde. Paula war erstaunt, wie viel Fachwissen Ramona offensichtlich über das Verhalten der Rettungshunde besaß.

»Du kennst dich wirklich gut aus, das war mir bisher nicht bewusst«, gab sie ehrlich zu, nachdem Ramona die beiden Gläser mit Prosecco gefüllt hatte.

»Leider werde ich öfter unterschätzt«, seufzte Ramona. »Ich gehe davon aus, dass dir so etwas nicht passiert. Ich meine, dass dich jemand falsch einschätzt.«

»Ich weiß nicht, wie mich fremde Leute einschätzen. Wichtig ist mir vor allen Dinge, wie mich die Menschen einschätzen, die mir etwas bedeuten.«

»Sicher, das ist uns wohl allen am wichtigsten«, stimmte Ramona ihr zu. »Trinken wir auf die Freundschaft«, sagte Ramona und hob ihr Glas.

»Es würde mich wirklich freuen, Ramona, wenn wir beide in Zukunft gut miteinander auskämen«, versicherte Paula der Frau, die ihr bis vor Kurzem betont ablehnend gegenübergestanden hatte.

»Wir werden ganz bestimmt miteinander auskommen«, antwortete Ramona. Das kann gar nicht anders ausgehen, weil du bald nicht mehr hier sein wirst, dachte sie. »Schmeckt dir der Prosecco nicht?«, fragte sie, als Paula nur an ihrem Glas nippte und es gleich wieder hinstellte.

»Doch, schon, aber wie gesagt, ich muss vorsichtig sein. Ich vertrage nicht viel.«

»Jeder hat eben seine eigenen Grenzen.« Und meine hast du überschritten, Schätzchen, dachte sie. Aber wie es aussah, hatte sie sich wohl geirrt, was Paulas Alkoholkonsum betraf. Sie musste auf Plan B zurückgreifen. »Du, Paula, würde es dir etwas ausmachen, mir noch einen Kaffee zu machen, bevor ich nach Hause fahre?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

»Kein Problem, ich bin gleich wieder da«, sagte sie und ging in die Küche hinüber.

Kaum hatte sie das Wohnzimmer verlassen, fischte Ramona das Fläschchen mit den K.O.-Tropfen, die sie sich in München von einer Bekannten hatte besorgen lassen, aus ihrer Handtasche. Mit zitternden Fingern, weil ihr nicht wohl bei dem war, was sie gerade tun wollte, öffnete sie es, schüttete einige Tropfen davon in Paulas Glas, fünf mehr, als sie eigentlich zunächst vorgehabt hatte, aber sicher war sicher. Sie wird es überleben, beruhigte sie sich, als sie das Fläschchen wieder einsteckte.

»Bitte sehr«, sagte Paula, die gleich darauf wieder hereinkam und ein kleines Tablett mit einem weißen Porzellanbecher gefüllt mit Kaffee, einem Zuckerdöschen und einem Milchkännchen auf den Tisch stellte.

»Vielen Dank, aber das eine Glas trinkst du noch mit mir. Wir wollten doch auf die Prüfung morgen anstoßen. Komm, setz dich neben mich«, forderte sie Paula auf.

»Also dann, auf morgen«, sagte Paula, setzte sich zu Ramona aufs Sofa und nahm dieses Mal einen großen Schluck aus dem Sektglas. Sie behielt es auch gleich in der Hand und nippte immer wieder daran, während Ramona ihr erzählte, wie gut Kilians Werkstatt lief und dass er sich auch weiterhin auf sie verlassen konnte.

»Was ist? Du siehst auf einmal so müde aus?«, gab sich Ramona besorgt, als Paula plötzlich das Glas sinken ließ und nach hinten wegkippte.

»Das ging ja schnell«, murmelte Ramona, nahm ihr das Glas aus der Hand und stellte es auf den Tisch. Sie hatte fast ein bisschen Mitleid mit Paula, die ihr jetzt völlig hilflos ausgeliefert war. Aber sie hatte nun einmal die besseren Karten in diesem Spiel, das würde Paula akzeptieren müssen.

Sie legte ihr die Beine vorsichtig auf das Sofa und bettete sie einigermaßen bequem. Danach spülte sie Paulas Glas, um die Spuren des Betäubungsmittels zu beseitigen. Die Kaffeetasse und das Glas, das sie benutzt hatte und nur zur Hälfte ausgetrunken hatte, ließ sie auf dem Tisch stehen. Sie stellte das von Paula benutzte Glas in den Schrank zurück, nahm ein neues Sektglas und ein Weinglas heraus und platzierte sie beide auf dem Tisch vor Paula. Nachdem sie das erledigt hatte, holte sie die drei Flaschen Wein und die zweite Flasche Prosecco aus ihrem Auto. Sie öffnete alle Flasche, füllte das Weinglas zur Hälfte mit Weißwein und goss Prosecco in das Sektglas, leerte den Inhalt der Flaschen in den Ausguss in der Küche und stellte die leeren Flaschen auf den Tisch. Danach riss sie die Tüte mit Salzstangen auf, die sie in der Küche entdeckt hatte, und verstreute den Inhalt auf dem Tisch, dem Sofa und dem Boden.

»So, wie es aussieht, wirst du morgen früh einen mächtigen Kater haben. Ganz schön unverantwortlich von dir, dich vor einer wichtigen Prüfung so zulaufen zu lassen. Du solltest dieses Problem unbedingt in den Griff bekommen«, murmelte Ramona, während sie ihr Werk betrachtete.

Morgen früh würden alle auf dem Trainingsplatz vergeblich auf Paula warten. Kilian würde dann zum Berghof fahren, um nach ihr zu sehen, und mit Sicherheit würde es ihm nicht gefallen, wie er seinen unschuldigen Engel vorfinden würde.

Sie würde ihm dann erzählen, dass sie Paula am Abend auf ein Glas Prosecco eingeladen hatte, um ihr Glück zu wünschen. Danach sei sie gleich wieder nach Hause gefahren. Sie würde sich lautstark Vorwürfe machen, dass sie mit ihrem Besuch Paula zum Trinken animiert hatte, ohne zu ahnen, dass dies einen gewaltigen Rückfall für sie zur Folge haben würde.

»Das brauchst du morgen nicht«, sagte sie laut und nahm Paulas fast leeres Handy aus der Ladestation, die in der Küche auf dem Fensterbrett stand. Mit einer heimlichen Trinkerin würde Kilian sich ganz bestimmt nicht einlassen, davon war Ramona fest überzeugt, als sie wenig später den Berghof verließ.

*

Paula hatte keine Ahnung, wieso sie auf dem Sofa lag, als sie am nächsten Morgen zu sich kam. Sie hatte schreckliche Kopfschmerzen, und ihr war schwindlig.

Was hat das zu bedeuten?, fragte sie sich, als sie die leeren Flaschen auf dem Tisch und die überall verstreuten Salzstangen sah. Ihr fiel ein, dass Ramona am Abend bei ihr war und sie ihr irgendwann einen Kaffee gekocht hatte.

»Schon kurz nach neun«, flüsterte sie erschrocken, als sie auf die Wanduhr schaute, die über der Tür zur Diele hing. Um zehn sollte die Prüfung für die Rettungshunde stattfinden. Sie musste sich beeilen, wenn sie rechtzeitig auf dem Trainingsplatz sein wollte.

Gleich nachdem sie sich mühsam aufgerichtet hatte, sackte sie wieder zusammen. Sie brauchte mehrere Anläufe, bis es ihr gelang, sich ins Bad zu schleppen. Sie hoffte, dass eine längere Dusche ihr helfen würde, wieder klar zu denken. Aber es funktionierte nicht. Schon allein das Anziehen fiel ihr schwer. Nachdem es ihr endlich gelungen war, in ihre Jeans und den weißen Pulli zu schlüpfen, brühte sie sich eine Tasse Kaffee auf, trank ihn in kleinen Schlucken und zog ihre halbhohen Schnürschuhe und ihre gelbe Wetterjacke an.

»Nein, nicht das auch noch«, flüsterte sie entnervt, als sie ihr Handy einstecken wollte und sah, dass der Akku leer war. Sie steckte es in die Ladestation, so musste sie es erst gar nicht mitnehmen.

Als sie gleich darauf zur Scheune lief, um ihr Auto zu holen, wurde ihr wieder so schwindlig, dass sie sich an der Scheunenwand abstützen musste. Wenn ihr so etwas passierte, während sie hinter dem Steuer saß, dann konnte das schlimme Folgen haben.

Wenn sie heil im Tal ankommen wollte, war es wohl besser, den Fußweg zu nehmen. Die frische Luft würde ihr mit Sicherheit gut tun und die Spuren der Nacht vertreiben, einer Nacht, an deren Verlauf sie sich immer noch nicht erinnern konnte. Um doch noch rechtzeitig auf dem Trainingsplatz zu sein, nahm sie die Abkürzung durch den Wald.

Die Sonne stand noch nicht hoch genug, damit das Tageslicht durch die Spitzen der dicht stehenden Tannen auf den Waldboden fallen konnte. Nur vereinzelte Lichtstrahlen streiften dann und wann durch die Äste. Sie war den steilen Weg aber schon einige Male gelaufen und kam zunächst gut vorwärts.

Als ihr wieder schwindlig wurde, lehnte sie sich gegen den Stamm einer Tanne und versuchte, ruhig zu atmen. Sie lauschte dem Gezwitscher der Vögel, die sich oben in den Bäumen eingerichtet hatten, und atmete den Duft des Waldes ein. Der moosige erdige Geruch hatte bisher immer eine beruhigende Wirkung auf sie ausgeübt.

Der direkte Weg ist heute zu steil für mich, dachte Paula und beschloss, zur Straße zurückzulaufen. Sie ging dicht an den Bäumen entlang, weil ihr immer wieder schwindlig wurde. Als sie irgendwann hochschaute, um zu sehen, wie weit sie noch von der Straße entfernt war, erschrak sie. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie stets bergauf in Richtung Straße gelaufen war, aber von der Straße war nichts zu sehen. Sie befand sich inmitten von dicht stehenden Tannen. Der einzige Weg, um aus dem Wald schnellstmöglich herauszufinden, führte steil bergab ins Tal hinunter.

Sie war kaum ein paar Schritte gegangen, als ihr erneut der Kreislauf wegsackte. Sie wollte gerade nach Halt suchen, als sie über einen umgestürzten Baumstamm stolperte. In ihrem benebelten Zustand gelang es ihr nicht, sich abzufangen. Sie stürzte, schlug mit dem Kopf gegen den Baumstamm und verlor das Bewusstsein.

*

»Keine Sorge, sie wird gleich da sein«, beruhigte Ramona währenddessen die Hundeführer, die mit ihren Hunden auf den Beginn der Prüfung warteten.

Auch einige Damen vom Landfrauenverein hatten sich eingefunden, um sich die Prüfung anzusehen. Sie saßen auf Klappstühlen neben der Wiese und hatten sich Kaffee und belegte Brötchen mitgebracht. Sie genossen die Sonne und das Treiben auf dem Platz und ließen sich ihr Frühstück schmecken.

Ramona, die vor allen anderen auf dem Trainingsgelände eingetroffen war, hatte gleich die Leitung der Veranstaltung übernommen, hatte jeden Teilnehmer begrüßt und erklärt, dass Kilian und Paula auf dem Weg zu ihnen seien.

»Moment, das ist Kilian«, sagte sie, als ihr Handy läutete und Benedikt Seefeld ihr gerade vorgeschlagen hatte, die Prüfung zu verschieben.

»Ramona, ist Paula schon auf dem Trainingsplatz? Ich habe schon mehrfach versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie meldet sich nicht. Allerdings ist die Ver­bindung auch gerade ziemlich schlecht«, hörte sie Kilian sagen.

»Nein, sie ist noch nicht hier, aber ich denke, sie wird gleich eintreffen. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Ja, bitte.«

»Hallo, du bist kaum zu verstehen«, sagte sie, als sie nur noch ein Rauschen wahrnahm.

»Sag ihr, sie möchte bitte mit der Prüfung schon anfangen. Ich komme ein bisschen später, Stau«, hörte sie ihn nur noch sagen, bevor das Gespräch abbrach.

»Leute, wir fangen mit der Prüfung an. Kilian und Paula kommen später«, verkündete sie gleich darauf. Das war ihre Chance, es allen zu beweisen.

»Wer soll die Prüfung leiten?«, fragte Benedikt skeptisch, der beruhigend über Nolans Kopf streichelte, als Ramona sich ihnen näherte.

»Ich werde sie leiten, bitte sehr.« Stolz präsentierte sie Benedikt die Urkunde, die sie aus ihrer Handtasche holte und die bewies, dass sie die Prüfung zur Hundetrainerin bestanden hatte.

»Du willst die Prüfung abnehmen?«, fragte Timo Läutner, der neben Benedikt stand, während Nolan und Annika sich verliebt anschauten und immer wieder mit ihren Schnauzen berührten.

»Das werde ich auch in Zukunft tun. Schließlich habe ich diese Prüfung gemacht, um mein Wissen der Bergwacht zur Verfügung zu stellen«, erklärte sie selbstbewusst. Den geplanten Ablauf der Prüfung hatte Paula Kilian schon vor zwei Wochen gemailt. Er lag ausgedruckt auf seinem Schreibtisch. Sie hatte sich eine Kopie gemacht, und außerdem hatte sie am Abend zuvor noch einmal mit Paula darüber gesprochen. Sie war also bestens vorbereitet.

»Kilian hat noch gar nicht erwähnt, dass du dich um diesen Posten beworben hast«, entgegnete Timo.

»Sind Überraschungen nicht mehr erlaubt?«, fragte Ramona augenzwinkernd. »Seid ihr nun einverstanden, dass ich die Prüfung abnehme oder nicht?«, wandte sie sich an die Teilnehmer.

»Zeige uns, was du gelernt hast«, sagte Benedikt, und die anderen Teilnehmer schlossen sich seiner Entscheidung an. »Wir können das Experiment jederzeit abbrechen, wenn es nicht gut läuft«, raunte er Timo zu.

»Alles klar, Doktor Seefeld«, antwortete er leise.

Benedikt wunderte sich zwar darüber, dass Kilian kein Wort von Ramonas Absichten, das Training der Hunde zu übernehmen, hatte verlauten lassen, aber andererseits waren weder er noch Paula zur Prüfung erschienen. Ramona dagegen war da.

»Wir fangen mit der Unterquerung des Stangenparcours an«, verkündete Ramona und forderte die Hundeführer auf, ihr mit den Hunden zu folgen. Sie fühlte sich großartig, als alle sie plötzlich als Respektsperson sahen und auf ihr Kommando hörten.

Aus den Augenwinkeln heraus sah sie, dass auch Sandra inzwischen eingetroffen war. Die junge Fotografin vom Bergmoosbacher Tagblatt war mit Tobias Meier, dem Sohn des Verlagsinhabers, verheiratet. Wenn sie von ihrer Arbeit überzeugt war, dann würden das alle in der Zeitung lesen, und Kilian würde stolz auf sie sein. Während Paula sich dem Alkohol hingab, setzte sie ihre Fähigkeiten zum Wohle der Bergwacht ein.

Sie war froh, dass sie ihre figurbetonte Jeans und den schmalen hellen Pullover angezogen hatte, so würde sie auf den Fotos, die Sandra von ihr aufnahm, ungemein attraktiv aussehen.

*

Als Kilian eine Viertelstunde später das Trainingsgelände erreichte, herrschte dort bereits ein wüstes Durcheinander. Die Hunde tobten über den Platz.

Nolan und Annika waren sogar außerhalb des Geländes. Sie lagen neben Traudel, die mit den Landfrauen gekommen war, im Gras und teilten sich ein Würstchen, das Traudel ihnen spendiert hatte.

»Was ist denn hier los?«, wollte er von Benedikt wissen, der mit den anderen Hundeführern zusammen stand. Alle waren inzwischen von den Landfrauen mit Kaffee und belegten Brötchen versorgt worden.

»Wir mussten die Prüfung leider abbrechen«, sagte Benedikt.

»Wieso denn das? Paula war doch gut vorbereitet«, wunderte sich Kilian.

»Wieso Paula? Ist sie nicht bei dir?«, fragte Benedikt ihn verwundert.

»Nein, wer hat das behauptet?«

»Ramona. Sie hat auch versucht, die Prüfung abzuhalten. Sie hat doch gestern ihre Prüfung zur Hundetrainerin abgelegt. Das wusstest du doch alles, oder etwa nicht?«, wollte Timo wissen.

»Nein, das wusste ich nicht. Wo ist Ramona?«

»Hinter dem Bungalow«, sagte Timo.

»Danke.«

Kilian fragte sich, warum Paula nicht erschienen war. Hatte sie diese Aktion vielleicht sogar mit Ramona abgesprochen, damit sie sich gegenseitig ihrer neuen Freundschaft versicherten? »Kannst du mir erklären, was du hier angerichtet hast?«, fuhr er sie an, als er sie neben dem Bungalow im Gras sitzen sah.

Sie hatte die Knie angezogen und hielt sie mit ihren Armen umfasst, während sie ins Leere starrte. »Ich habe nur helfen wollen. An mich solltest du deine Vorwürfe nicht richten«, verteidigte sie sich. Sie hatte gehofft, dass er sie für ihre Leistung loben würde, stattdessen hatte sie versagt. Das war ein Rückschlag, mit dem sie nicht gerechnet hatte. »Vermutlich haben die Hunde mich nicht für voll genommen, weil ich mit dieser Verletzung hier herumgelaufen bin«, sagte sie und schaute auf ihren Finger, den sie von Sebastian hatte behandeln lassen und den sie zur Sicherheit für die Prüfung mit einem Pflaster verbunden hatte, um sich keine weitere Entzündung einzufangen.

»Dein Finger ist längst verheilt, außerdem lassen sich zukünftige Rettungshunde nicht von einer kleinen Wunde verunsichern. Dann müssten sie erst gar nicht zu einem Einsatz antreten.«

»Wie auch immer, ich bin doch nur eingesprungen, weil Paula nicht aufgetaucht ist. Ich wollte wirklich nur helfen«, fügte sie hinzu, als Kilian sie anschaute.

»Du hast also auch nichts von Paula gehört?«

»Nein, sage ich doch. Wohin willst du?!«, rief sie ihm nach, als er davonstürmte.

»Zum Berghof.«

»Ich komme mit«, sagte sie und folgte ihm.

»Die Prüfung muss verschoben werden!«, rief Kilian den wartenden Hundeführern im Vorbeilaufen zu.

»Ist etwas mit Paula?«, wollte Benedikt wissen.

»Nein, alles gut, wir melden uns bei euch«, erklärte Ramona und beeilte sich, Kilian einzuholen. Die Chance, mit ihm gemeinsam zum Berghof zu fahren, durfte sie sich nicht nehmen lassen. Da sie darauf vertraute, dass Paula keine Ahnung hatte, wie der letzte Abend verlaufen war, konnte sie Kilians Fantasie genau mit den Vermutungen füllen, die sich bei ihm in Bezug auf Paula verfestigen sollten.

»Das heißt, wir gehen erst mal nach Hause?«

»So ist es, mein Junge«, sagte Benedikt und klopfte Timo freundschaftlich auf die Schulter.

*

»Was ist denn hier los gewesen?« Kilian schaute entsetzt auf die leeren Flaschen und die Unordnung, die er im Wohnzimmer des Berghofes vorfand. Paula hatte ihm inzwischen einen Schlüssel überlassen, damit er jederzeit ins Haus konnte.

»Tut mir echt leid«, sagte Ramona, die neben ihm stand und so tat, als sei sie ebenso geschockt über diesen Anblick wie er.

»Was tut dir leid?«, wollte Kilian wissen, als sie ihn schuldbewusst ansah.

»Dass ich gestern Abend mit dem Prosecco hier aufgekreuzt bin. Ich konnte doch nicht ahnen, was ich damit auslöse«, seufzte sie.

»Was genau meinst du?«

»Ich bitte dich, Kilian, das ist doch wohl klar. Ihre angebliche Abneigung gegen Alkohol und jetzt das? Ich würde sagen, sie hat den Kampf verloren, und ich dumme Nuss habe mit dazu beigetragen. Sie wollte ja erst nichts trinken, aber ich habe sie quasi überredet. Aber woher hätte ich wissen sollen….«

»Du hältst sie für eine Alkoholikerin?«, fragte Kilian und starrte auf die leeren Flaschen und die zerwühlten Kissen auf dem Sofa.

»Ich denke, sie hat versucht, es in den Griff zu bekommen, und gestern nach meinem Besuch hat die Sucht sie wieder überwältigt. Wenn ich es doch nur geahnt hätte. Es tut mir so leid.«

»Schon gut, vielleicht ist alles ja ganz anders. Vielleicht hatte sie nach dir noch Besuch oder es ist jemand hier eingebrochen. Paula!«, rief Kilian, weil ihm diese Erklärung weitaus einleuchtender erschien. »Paula, bist du hier?!«, rief er erneut und stürmte hinauf zum Dachboden. Nach ein paar Minuten hatte er alle Zimmer durchsucht und lief hinaus zur Scheune. »Verdammt, wo ist sie? Das Auto steht noch hier.«

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Ramona, die ums Haus herumgelaufen war, um nach Paula zu suchen. Allmählich wurde auch ihr ein wenig mulmig. Sie war davon ausgegangen, dass sie und Kilian Paula mit Brummschädel und zerknirscht im Haus antreffen würden; dass sie jetzt fort war, war durchaus besorgniserregend. Wenn sie sich mit diesem Kater, der außer Kopfschmerzen auch Kreislaufbeschwerden zur Folge haben konnte, auf den Weg ins Dorf gemacht hatte, dann konnte ihr wer weiß was zugestoßen sein. »Möglicherweise wollte sie einen Spaziergang machen, was in diesem Zustand, in dem sie sich vermutlich befindet, wohl keine gute Idee ist«, sagte sie nachdenklich.

»Wäre sie zu einem Spaziergang aufgebrochen, hätte sie ihr Handy mitgenommen. Das steckt aber in der Ladestation in der Küche, wie ich vorhin gesehen habe.«

»Wir sollten uns auf die Suche nach ihr machen. Wen rufst du an?«, fragte sie, als Kilian sein Handy zückte.

»Sebastian. Vielleicht ist sie auch mit einem Taxi zu ihm gefahren, weil es ihr nicht gut ging.«

»Möglich wäre es«, stimmte sie ihm zu. Wenn sie sich vorstellte, wie Paula sich am Morgen gefühlt haben mochte, dann konnte es durchaus sein, dass sie bei Sebastian Hilfe suchen wollte.

»Hallo, Sebastian«, meldete sich Kilian, als der junge Arzt den Anruf auf seinem Handy entgegennahm.

»Gibt es einen Einsatz, Kilian?«, fragte Sebastian, der es gewohnt war, dass seine Freunde ihn nur in Notfällen während der Praxissprechstunden auf seinem Handy anriefen.

»Ich weiß es noch nicht. Es kommt darauf an, ob du etwas von Paula gehört hast.«

»Nein, tut mir leid, das habe ich nicht. Mein Vater ist gerade nach Hause gekommen. Er hat mir bereits erzählt, was auf dem Trainingsplatz los war und dass Paula nicht aufgetaucht ist.«

»Sebastian, hör zu, glaubst du, dass Paula ein Alkoholproblem hat?«

»Nein, der Gedanke ist mir noch nicht gekommen. Warum fragst du danach?«

»Ramona und ich sind gerade auf dem Berghof«, sagte er und erzählte ihm, was sie vorgefunden hatten und welcher Verdacht sich auch ihm gerade aufdrängte. War es nicht merkwürdig, dass Paula immer wieder ihre Abneigung gegen alkoholische Getränke betont hatte? Vielleicht, weil sie sich selbst stets aufs Neue klar machen musste, dass sie sich von diesen Getränken fernzuhalten hatte.

»Hör zu, Kilian, macht euch schon mal auf die Suche. Ich werde meinen Vater bitten, die Sprechstunde zu übernehmen und komme dann gleich zum Berghof.«

»Danke, Sebastian. Er wird gleich da sein, wir gehen schon mal los«, wandte sich Kilian an Ramona, nachdem er sein Handy wieder eingesteckt hatte.

»Sicher doch, machen wir«, sagte sie und folgte ihm.

*

Sebastian war nach dem Telefonat mit Kilian sofort ins Haus hinübergegangen, um seinen Vater zu bitten, die Sprechstunde weiterzuführen. Benedikt saß in der Küche über seine Zeitung gebeugt, die er sofort zur Seite legte, um seinem Sohn zuzuhören.

»Ich denke, er täuscht sich.« Benedikt wollte Kilians Verdacht, Paula könnte dem Alkohol verfallen sein, nicht zustimmen, nachdem Sebastian ihm kurz geschildert hatte, was auf dem Berghof los war.

»Ich denke auch, dass er sich täuscht. Bis später, ich werde sie bei ihrer Suche unterstützen, vielleicht braucht Paula auch ärztlich Hilfe«, sagte Sebastian, nachdem er seine weiße Hose gegen eine Jeans getauscht und feste Schuhe angezogen hatte.

»Wer braucht Hilfe?«, wollte Anna wissen, die mit Traudel aus dem Kräutergarten kam. Sie hatte ihre Hausbesuche für diesen Tag bereits hinter sich und hatte frische Kräuter für ihre Küche bei Traudel abgeholt.

»Paula ist nicht auffindbar«, antwortete Sebastian.

»Was heißt das?«

»Wenn du Zeit hast, komm mit, dann erzähle ich dir alles auf dem Weg zum Berghof.«

»Ich komme mit.« In ihrer Jeans und den halbhohen festen Schnürschuhen war sie für eine Suchaktion dort oben richtig angezogen.

»Nolan und ich kommen auch mit«, erklärte Emilia, die auf der Terrasse über ihren Mathematikhausaufgaben brütete.

»Also dann, los«, sagte Sebastian, nachdem auch Emilia ihre Wanderschuhe zu ihrer Jeans angezogen hatte.

»Ich bin dann drüben«, sagte Benedikt und streichelte Traudel über das Haar, bevor er das Haus verließ.

»Mei, hoffentlich ist dem Madl nichts passiert«, seufzte Traudel, als sie dem blauen Geländewagen mit Sebastian am Steuer nachsah, der zur Straße hinunterfuhr. »Ach, Benedikt«, murmelte sie und strich über ihren Kopf, genau an der Stelle, an der Benedikt sie zuvor berührt hatte.

*

Sebastian parkte seinen Wagen vor dem Berghof und telefonierte mit Kilian, während er, Anna und Emilia ausstiegen.

»Da sie auf der Straße ins Dorf nirgendwo zu sehen war, haben sie die Abkürzung durch den Wald abgesucht, aber es gibt keine Spur von ihr«, teilte Sebastian den beiden mit, nachdem er Nolan aus dem Kofferraum geholfen hatte.

»Es könnte doch auch sein, dass sie gar nicht ins Dorf wollte und den Berg hinauf ist«, gab Emilia zu bedenken.

»So wie es aussieht, würde ich eher davon ausgehen, dass sie zum Trainingsgelände hinunter wollte. Sie wollte vielleicht zu Fuß gehen, weil sie sich die Fahrt mit dem Auto nicht zugetraut hat«, entgegnete Sebastian.

»Wenn es ihr so schlecht ging, Papa, wie Kilian vermutet, warum ist sie dann nicht einfach zu Hause geblieben?«

»Vielleicht dachte sie, die frische Luft hilft ihr.«

»Oder sie konnte einfach nicht klar denken«, sagte Anna, die Emilia und Nolan den Vortritt ließ, als sie das Waldstück betraten, in dem Kilian Paula vermutete.

»Ja, auch das wäre möglich«, stimmte Sebastian ihr zu.

»Such Paula!«, forderte Emilia Nolan auf, der seinen Kopf auch in alle Richtungen drehte, seine Ohren aufstellte und die Nase in die Luft hielt.

»Das sieht nicht gut aus«, sagte Anna leise, als Nolan gemütlich weitertrottete. Ein deutliches Zeichen dafür, dass er nichts Interessantes wahrgenommen hatte.

Ein paar Minuten später trafen sie auf Kilian und Ramona, die den Weg aus dem Dorf wieder hinaufgestiegen waren. Sebastian war schon bei einigen schwierigen Einsätzen der Bergwacht mit Kilian unterwegs gewesen, aber so verzweifelt, wie er gerade aussah, hatte er ihn noch nicht erlebt.

»Danke, dass ihr hier seid und dass ihr Nolan mitgebracht habt«, sagte er und streichelte den Hund.

»Das heißt, ihr habt immer noch keine Spur von ihr?«, fragte Sebastian.

»Nichts«, sagte Kilian.

»Okay, dann teilen wir uns auf. Du und Ramona, ihr durchsucht das Waldstück links des Weges, wir übernehmen die andere Seite. Sollten wir sie in einer halben Stunde nicht gefunden haben, rufen wir Verstärkung«, erklärte Sebastian.

»Alles klar«, stimmte Kilian ihm zu. »Finde sie, Nolan, du kannst das«, sagte er und drückte den Hund noch einmal liebevoll an sich.

»Wuff, wuff, wuff!«, machte Nolan, der ganz offensichtlich spürte, dass plötzlich alle Hoffnungen auf ihm ruhten.

*

Paula war schon vor einiger Zeit wieder zu sich gekommen. Aber sie hatte es nicht geschafft, sich aufzurichten, und irgendwann war sie vor Erschöpfung wieder eingenickt. Sie hoffte darauf, sich irgendwann besser zu fühlen, dann würde sie sich auf den Weg machen. Die tiefen Laute des Hundegebells aber drangen jetzt durch den dichten Tannenwald und weckten sie auf.

»Nolan, hier bin ich! Nolan!«, rief sie, weil sie ihn sofort an seinem Bellen erkannt hatte. Aber so sehr sie sich auch bemühte, ihre Stimme erschien ihr viel zu schwach, um von irgendjemandem gehört zu werden. Wenn sie mich nicht finden und ich vielleicht an einer Vergiftung leide und gar nicht mehr richtig zu mir komme, dann war es das, dachte sie und versuchte erneut, sich aufzurichten. Ein weiterer Schwindelanfall zwang sie dazu aufzugeben. »Nolan, mein Freund, Nolan, hörst du mich?!«, rief sie so laut sie konnte.

Emilia war mit Nolan schon ein Stück vorausgegangen, während Anna und Sebastian noch mit Kilian und Ramona die Strecke absprachen, die sie gehen wollten.

»Was ist? Hast du etwas gehört?«, fragte Emilia den Hund, als er plötzlich stehen blieb und den Kopf drehte.

»Wuff«, machte er und stob los.

»Papa, kommt alle her! Ich glaube, Nolan hat etwas entdeckt!«, rief Emilia, und dann folgte sie dem Hund zwischen den eng stehenden Bäumen hindurch, immer mit dem Blick nach unten, um nicht über eine Wurzel oder einen Ast zu stolpern.

»Wuff, wuff«, bellte Nolan erneut und verschwand tiefer im Wald.

»Nolan, warte auf mich!«, rief Emilia.

»Wuff«, hörte sie ihn bellen und gleich darauf war sie bei ihm. Emilia war der Mensch, der bei ihm an erster Stelle stand. Wenn sie nach ihm rief, dann war er da.

»Okay, dann weiter, such Paula«, forderte sie ihn auf und folgte ihm. Gleich darauf sah sie Paula neben einem umgestürzten Baum liegen und eilte zu ihr, während Nolan Paula aufgeregt beschnupperte.

»Du hast mich gehörte, danke, Nolan, du bist der Allerbeste«, sagte Paula und streichelte über den Kopf des Tieres.

»Was ist passiert? Wie geht es dir?«, fragte Emilia und kniete sich neben Paula.

»Ehrlich gesagt, habe ich auf beide Fragen keine richtige Antwort. Mein Kopf fühlt sich irgendwie leer an. Ich kann mich kaum noch an die letzten Stunden erinnern.«

»Tut mir echt leid, aber du wirst dich bestimmt bald besser fühlen. Papa ist auch hier, er wird gleich nach dir sehen«, versicherte Emilia ihr, als sie sah, dass die anderen inzwischen auch eingetroffen waren.

»Paula, was ist mit dir?«, fragte Kilian besorgt, der zuerst bei ihr war.

»Ich glaube, ich bin über den Baumstamm gestolpert. Warst du oben ihm Haus?«, fragte sie ihn und sah ihn mit glasigen Augen an.

»Ja, das war ich«, sagte er und schaute verunsichert zur Seite.

»Das hast du gut gemacht«, lobte Emilia ihren Hund und erhob sich, damit Kilian und ihr Vater sich um Paula kümmern konnten.

»Was hat sie gesagt?«, erkundigte sich Ramona bei Emilia.

»Sie kann sich nicht richtig erinnern, was passiert ist«, antwortete Emilia und sah zu, wie ihr Vater Paula untersuchte. Sie abtastete, sie abhörte und ihren Blutdruck überprüfte. »Nein, nicht daran denken«, sagte sie und legte ihren Arm um Annas Schultern, als sie das Zucken um ihre Mundwinkel wahrnahm. So wie Paula gerade dalag, das erinnerte auch Emilia an den Unfall, der Anna fast das Leben gekostet hatte, als sie vor einigen Monaten von einem Lastwagen angefahren wurde, weil sie ein Kind, das mit seinem Rädchen auf die Straße geraten war, gerettet hatte. Schon damals war Emilia klar geworden, wie sehr ihr Vater Anna liebte.

»Was ist mit ihr?«, fragte Kilian, nachdem Sebastian seinen Arztkoffer wieder geschlossen hatte.

»Ich denke, sie ist mit ein paar Schürfwunden davongekommen. Wir bringen sie aber trotzdem in die Praxis, damit ich sie genauer untersuchen kann, oder wir rufen einen Krankenwagen, falls dir das lieber ist«, wandte er sich an Paula.

»Nein, bitte erst zu dir«, bat Paula. Sie konnte sich wieder an die leeren Weinflaschen auf dem Wohnzimmertisch im Berghof erinnern. Sie ahnte, wie das auf Kilian gewirkt haben musste. »Ich möchte, dass du mein Blut auf Alkohol untersuchen lässt«, bat sie ihn.

»Kann ich machen. Erwartest du ein bestimmtes Ergebnis?«

»Da ich mich an nichts erinnern kann, weiß ich nicht, was ich erwarten soll.«

»Wir reden später darüber«, sagte er und half Kilian, sie vom Boden aufzuheben. »Kannst du laufen?«, fragte er Paula, als sie wieder auf ihren eigenen Füßen stand.

»Ich versuche es«, sagte sie.

»Das geht schon, komm, stütz dich auf mich«, bot Ramona sich an und ging zu Paula. Sie musste wissen, ob sie sich an irgendetwas erinnerte, was sie in Schwierigkeiten brachte.

»Schon in Ordnung, ich mache das«, erklärte Kilian und nahm Paula auf seine Arme.

»Danke für dein Angebot, Ramona«, sagte Paula freundlich.

»Gern doch«, antwortete Ramona. »Musst du ihm auch noch die letzte Kraft aussaugen«, murmelte sie, nachdem sie sich ein paar Meter hatte zurückfallen lassen. Dass er Paula auf seinen Armen durch den Wald trug, machte sie rasend vor Eifersucht.

»Ich dachte, du hättest dich mit Paula inzwischen angefreundet«, sagte Anna, die gehört hatte, was Ramona gesagt hat.

»Ja, habe ich auch, ich mache mir halt immer Sorgen um Kilians Gesundheit. Er arbeitet doch so viel«, rechtfertigte sie sich für ihre Bemerkung.

»Ja, sicher, das tut er«, stimmte Anna ihr zu, aber Ramonas Erklärung hatte sie nicht wirklich überzeugt. Ganz offensichtlich hatte sie sich noch längst nicht damit abgefunden, dass Paula und Kilian ein Paar waren.

*

In der Praxis nahm Sebastian Paula Blut ab, untersuchte ihren Kopf mit dem Ultraschallgerät, ob sie auch keine inneren Verletzungen davongetragen hatte, und hörte sie noch einmal gründlich ab.

»Ich denke, du bist auf dem Weg der Besserung«, sagte er, da auch ihr Kreislauf sich inzwischen stabilisiert hatte.

»Du kannst dich also wirklich nicht erinnern, was gestern passiert ist, nachdem Ramona gegangen war?«, erkundigte sich Kilian erneut, der an der Fensterbank in Sebastians Sprechzimmer lehnte, während Paula auf der Untersuchungsliege saß und Sebastian noch einmal ihren Puls fühlte.

»Ich kann mich nicht einmal daran erinnern, wann sie gegangen ist. Und ja, ich weiß, was ihr über die leeren Flaschen denkt, die im Wohnzimmer stehen.«

»Gut, dann verzeih mir, wenn ich dich jetzt etwas frage, was dir vielleicht unangenehm ist, da ich auch nicht wirklich davon ausgehe, dass es so ist«, sagte Sebastian.

»Du willst wissen, ob ich ein Alkoholproblem habe«, nahm Paula es ihm ab, die Frage auszusprechen.

»Hast du?«

»Nein, im Gegenteil, ich vertrage Alkohol nicht gut, das heißt nicht, dass ich nie ein Glas trinken würde, aber eben nur zu besonderen Anlässen.«

»Gestern mit Ramona hast du etwas getrunken«, sagte Kilian.

»Ja, aber nur ein Glas Prosecco. Nicht genug, um in diesem halb ohnmächtigem Zustand aufzuwachen, in dem ich mich heute Morgen befunden habe.«

»Hast du eine andere Erklärung dafür?«, wollte Sebastian wissen.

»Was ist denn da los? Wieso führt Nolan sich denn so auf?«, fragte Kilian erstaunt, als er aus dem Fenster schaute.

Ramona, Anna und Emilia saßen auf der Bank unter der Ulme und warteten auf das Ergebnis von Paulas Untersuchung. Nolan, der gerade noch friedlich in der Sonne gelegen hatte, war aufgesprungen, als Ramona ihre Handtasche öffnete und ein Taschentuch herausnahm. Er hatte sich sofort auf die Handtasche gestürzt und zerrte daran.

»Lass los! Was soll denn das?!«, schimpfte Ramona, als Nolan nicht losließ.

»Nolan, aus!«, rief Emilia, die noch nie erlebt hatte, dass er sich so aufführte.

»Nolan!«, rief nun auch Anna, weil er zum ersten Mal nicht auf Emilia hörte.

»Nolan, aus!«, schaltete sich Sebastian ein, der nach draußen geeilt war, nachdem auch er aus dem Fenster geschaut hatte. Er packte Nolan an seinem Halsband, um ihn zu bändigen.

»Gib sie mir, sei brav«, redete Sebastian auf den Hund ein, der Ramona inzwischen die Tasse entrissen hatte.

»Danke«, sagte Kilian, als Nolan die Tasche direkt vor seinen Füßen fallen ließ. »Was ist da drin, Ramona? Was hat Nolan gerade so aufgeregt?«, wollte er wissen.

»Bin ich Hundeversteher?«, entgegnete sie schnippisch.

»Nein, eigentlich nicht«, sagte Kilian, »aber trotzdem, du gestattest?« Er wartete ihre Antwort erst gar nicht ab und schaute in die Handtasche. Er war sicher, dass Nolan nicht ohne Grund auf die Tasche losgegangen war. »Wozu brauchst du die?« Er zog das Fläschchen mit den K.O.-Tropfen aus einem Seitenfach der großen Tasche.

»Keine Ahnung, was das ist«, sagte Ramona und schaute zu Boden.

»Ach nein? Ich denke, Sebastian sollte Paulas Blut auf Rückstände dieses Medikamentes prüfen lassen. Brav, Nolan, das hast du gut gemacht«, lobte er den Hund, der sich wieder ganz friedlich hingehockt hatte.

Er hatte seine Mission erfüllt.

»Er wird keine Rückstände finden«, erklärte Ramona grinsend.

»Ich bin mir nicht sicher. Die Tropfen lassen sich zwar nur wenige Stunde im Blut nachweisen, aber die Dosis, die Paula abbekommen hat, muss ziemlich hoch gewesen sein. Es könnten sich also durchaus noch Spuren in ihrem Blut finden lassen«, sagte Sebastian.

»Wow, du hast ihr das Zeug eingeflößt, um sie dann als Alkoholikerin dastehen zu lassen. Ein echt fieser Plan, dessen Erfolg Nolan wohl zunichte gemacht hat«, stellte Emilia fest und sah Ramona kopfschüttelnd an.

»Ich dachte, wir wollten Freundinnen sein«, sagte Paula, die mittlerweile auch im Hof war.

»Wir können keine Freundinnen sein. Du hast mein Leben zerstört. Du hast mir alles genommen.« Ramona war von der Bank aufgestanden und warf Paula einen vernichtenden Blick zu. »Warum bist du nicht einfach auf deinem Sofa liegengeblieben, statt eine Rettungsaktion zu provozieren?«, fuhr sie Paula an. So wie es aussah, war es sinnlos, ihre Tat zu leugnen. Das Fläschchen mit den Tropfen sprach für sich selbst, den Rest konnten sich alle zusammenreimen.

»Vielleicht hättest du mir eine Nachricht hinterlassen sollen, dass ich mich in der Nacht sinnlos betrunken habe und du für mich die Prüfung übernimmst«, antwortete Paula. Kilian hatte ihr auf der Fahrt zur Praxis kurz geschildert, was auf dem Trainingsgelände passiert war. »Vielleicht hätte ich dir geglaubt und mich für deine Hilfe bedankt. Andererseits, nein, ich denke, ich hätte mich nicht bedankt, weil ich es nicht geglaubt hätte.«

»Und was jetzt? Willst du mich anzeigen oder so etwas?«, fragte Ramona und baute sich vor Paula auf.

»Pst«, machte Anna, als Emilia schon Luft holte, um sich einzumischen. »Lass es Paula entscheiden«, raunte sie ihr zu.

»Nein, ich werde dich nicht anzeigen. Ich denke, es reicht, dass du unter dir selbst leidest.«

»Ich bin eigentlich ganz zufrieden mit mir. Werde glücklich mit ihm, ich gehe. Für immer«, fuhr sie Kilian mit funkelnden Augen an und lief mit hoch erhobenem Kopf die Einfahrt hinunter.

»Sie kommt einfach so davon. Immerhin wollte sie dich als alkoholabhängig hinstellen und dich vor Kilian madig machen«, sagte Emilia und schaute Paula ungläubig an.

»Konnte sie denn einen von euch davon überzeugen, dass es so ist?«, fragte Paula in die Runde. »Dich vielleicht?«, wandte sie sich an Kilian.

»Ich gebe zu, ich habe kurz gezweifelt und darüber nachgedacht, wie ich dir helfen könnte.«

»Aber jetzt bist du froh, dass du mir in dieser Beziehung nicht behilflich sein musst?«

»Ja, schon, aber ich hätte dich auch nicht aufgegeben, wenn du ein Problem hättest, weil ich dich liebe und zwar genauso, wie du bist«, sagte Kilian und nahm Paula zärtlich in seine Arme.

»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie ihm ins Ohr und schmiegte sich an ihn.

»Wuff«, machte Nolan und sah Emilia mit großen Augen an.

»Aber ja, du hast heute jede Menge Streicheleinheiten verdient. Du hast alles geregelt. Du hast Paula gefunden, Ramona überführt und dafür gesorgt, dass Paula und Kilian glücklich sind. Du bist der Held des Tages«, sagte sie, hockte sich neben ihn und umarmte ihn.

»Brombeerkuchen?!«, rief Traudel über die Hecke hinweg, die den Hof von der Terrasse vor dem Haus trennte.

Und natürlich nahmen alle ihre Einladung an.

Auch Benedikt kam kurz darauf dazu, als die Praxis wie jeden Freitag gegen Mittag schloss.

Paula ging es zusehends besser, und sie war froh, dass sie die Sache so gut überstanden hatte. Für Nolan aber wurde es ein ganz besonderer Tag. Paula war der Meinung, dass er mit seiner erfolgreichen Suche nach ihr bewiesen hatte, dass er zum Rettungshund taugte. Sie erklärte, dass er somit seine Prüfung bereits bestanden hatte und dass er seine Urkunde in der nächsten Woche erhalten würde.

»Wir werden aber trotzdem zur Prüfung kommen«, sagte Benedikt. »Ich denke, dass er Annika gern mit seiner Anwesenheit zeigen würde, dass er auch an ihren Erfolg glaubt.«

»Ja, die Liebe eben, jetzt hat sie auch Nolan erwischt. Die Liebe und Bergmoosbach, das gehört einfach zusammen«, erklärte Emilia lächelnd und nahm sich noch ein Stück Brombeerkuchen, das sie sich zufrieden mit der Welt, so wie sie war, schmecken ließ.

*

Zwei Wochen später kehrte Paulas Onkel aus der Kur zurück und brachte seine Freundin mit, die eine Weile auf dem Berghof wohnen würde, um sich die Gegend anzusehen. Paula nahm Kilians Angebot an und zog zu ihm. Sie würde ihm auch bei den Büroarbeiten helfen, bis er eine neue Assistentin oder einen Assistenten gefunden hatte. Ramona war nach ihrer Entlarvung bei den Seefelds nicht mehr aufgetaucht. Sie hatte ihre Stelle schriftlich gekündigt und war nach München gegangen. Die Prüfung der zukünftigen Rettungshunde, die Paula ein paar Tage nach dem verpatzten Versuch von Ramona ansetzte, verlief für alle Hunde erfolgreich.

Der neue Landdoktor Staffel 7 – Arztroman

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