Читать книгу Der neue Landdoktor Staffel 7 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 9

Оглавление

Bergmoosbach lag in einem weiten Tal am Fuße der Allgäuer Alpen. Das Dorf mit seinen restaurierten historischen Häusern, den weiten Wiesen und Feldern war ein beliebter Urlaubsort. Der zwischen sanften Hügeln eingebettete See mit seinem türkisfarbenen Wasser, dem Wildbach, der sich über einen Bergkamm in eine Klamm stürzte und ins Dorf hinunterrauschte, die Burgruine, die Wälder und das Moor mit seiner außergewöhnlichen Pflanzenwelt: Bergmoosbach hatte seinen Gästen viel Abwechslung zu bieten.

Auch der alljährliche Wanderwettbewerb, eine Veranstaltung unter der Leitung des Bergmoosbacher Alpenvereins, hatte in diesem Jahr wieder viele Teilnehmer angelockt. Bei den Seefelds war der Wettbewerb, wie in jedem Jahr, ein besonderes Thema. Das Wartezimmer in der Praxis des Bergmoosbacher Landarztes war zu dieser Zeit noch voller als sonst, da einige Teilnehmer kurz vor dem Wettbewerb das eine oder andere Wehwehchen behandeln ließen.

Das Haus der Seefelds lag gleich am Ortseingang, wenn man aus Richtung Mainingberg, der Nachbargemeinde, kam. Das weiße Gebäude mit den roten Dachschindeln stand auf einem sanft ansteigenden Hügel, und die mintgrünen Fensterläden waren schon von weitem zu sehen. Die prächtige alte Ulme im Hof beschattete gleichzeitig den Eingang des Hauses und den der Praxis, die in einem hell verklinkerten Anbau untergebracht war. Eine Treppe führte an der Wiese vorbei durch den Steingarten hinauf zur Terrasse.

Wie immer um die Mittagszeit, wenn das Wetter es zuließ, stand die Tür offen.

»Nimmt Herr Küster, dein Sportlehrer, in diesem Jahr auch wieder am Wanderwettbewerb teil?«, wollte Trau­del, die gute Seele im Hause Seefeld, von Emilia wissen, als sie an diesem sonnigen Spätsommertag eine Woche vor dem Wettbewerb in die Küche kam, um sich an den gedeckten Mittagstisch zu setzen.

»Ich glaube nicht, ihm geht es in letzter Zeit nicht so gut, deshalb habe ich ihm gerade heute erst geraten, dass er mal in Papas Sprechstunde geht«, sagte das Mädchen, dessen helle graue Augen in einem wundervollen Kontrast zu seinem rotbraunen Haar standen.

»War er denn bisher noch bei keinem Arzt?« Die rundliche Traudel pustete ihre grauen Löckchen aus dem Gesicht, zog die Küchenschürze aus, die sie über ihrem hellblauen Dirndl getragen hatte, und setzte sich zu Emilia an den Tisch.

»Lecker, Krautwickel mit Kräutersoße und Petersilienkartoffeln. Welch ein köstlicher Duft nach Senf, Majoran und Kümmel«, schwärmte Emilia und schaute auf die weißen Porzellanschüsseln, die auf dem Tisch standen.

»Was ist jetzt mit Herrn Küster, Spatzl? Hat er keinen Hausarzt?«, hakte Traudel nach.

»Ach so, ja, Herr Küster. Da er in den letzten Monaten öfter krankgeschrieben war, hat er vermutlich einen Arzt. Aber so, wie es aussieht, findet er wohl nicht den richtigen Weg, um ihm zu helfen. Als ihm vorhin in der Sportstunde wieder mal schwindlig wurde, habe ich ihm gesagt, dass Papa ein super Diagnostiker ist.«

»Ein super Diagnostiker? Das klingt nach Superheld«, entgegnete Sebastian Seefeld lachend, der in diesem Moment in die Küche kam.

»Stimmt, du hast etwas von einem Superhelden«, erklärte Emilia mit ernster Miene.

»Ich bin aber weder Superman vom Planeten Krypton, der die Erde retten wird, noch bin ich Batman, der in Gotham City auf Verbrecherjagd geht, oder einer der vielen anderen Helden, die das Gute in der Welt beschützen wollen.« Sebastian hatte bereits in der Praxis seine weiße Hose und das weiße Hemd gegen Jeans und Pulli getauscht und konnte sich gleich zu seiner Tochter und Traudel an den Tisch setzen.

»Für mich bist du ein Superheld. Ich bin deine Tochter, Papa. Du tust doch all diese Dinge für mich, die Superhelden so tun. Du beschützt mich, du verteidigst mich, du bist immer da, wenn ich dich brauche.«

»Hast du auch einmal so über mich gedacht, Sebastian?«, fragte Benedikt Seefeld, der den Vormittag auf dem Golfplatz verbracht hatte und über die Terrasse hereingekommen war. Er hatte schmunzelnd zugehört, welches Kompliment seine Enkelin seinem Sohn gerade gemacht hatte.

»Ehrlich gesagt, als Superheld habe ich dich nicht gesehen, aber du warst immer für mich da, wenn ich dich gebraucht habe, und du hast Traudel ins Haus geholt. Etwas Besseres hättest du nach Mutters Tod nicht für mich tun können«, versicherte Sebastian seinem Vater.

Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und Traudel, ihre Cousine und beste Freundin, hatte ihr versprochen, sich um ihn zu kümmern. Sie hatte ihm ihre ganze Liebe geschenkt und es nie versäumt, ihm von seiner Mutter zu erzählen. Sie hatte es verstanden, sie ihm so nahe zu bringen, dass er inzwischen das Gefühl hatte, sie gekannt zu haben.

»Traudel ist eben die allerbeste Mamomi auf der ganzen Welt«, sagte Emilia und kreierte, wie es Teenager in ihrem Alter gern taten, ein Kunstwort aus Mama und Omi.

»Mei«, seufzte Traudel, die so berührt von Sebastians und Emilias Worten war, dass sie mit den Tränen kämpfte.

»Wuff«, machte Nolan und lugte unter dem Tisch hervor, seinem Lieblingsplatz, sobald die Familie sich zum Essen dort versammelte.

»Seht ihr, unsere Superspürnase, der allerliebste Hund des Universums, stimmt auch zu«, verkündete Emilia und streichelte über den wuscheligen Kopf des Berner Sennenhundes.

»Gut, nachdem das nun mit den Superhelden und Superkräften geklärt ist, sollten wir uns dem Essen widmen, sonst wird es nichts mit dem Supergeschmack, weil es dann kalt ist«, erklärte Traudel, die sich wieder gefangen hatte.

»Ich stelle nur meine Tasche ab und wasche mir die Hände, dann bin ich bei euch«, sagte Benedikt und trug seine Golftasche in die Diele.

»Du hast also deinem Sportlehrer geraten, meine Sprechstunde zu besuchen«, kam Sebastian wieder auf den Ausgangspunkt des Gespräches zurück, als sich auch Benedikt zu ihnen gesetzt hatte und das Essen auf den Tellern verteilt war.

»Ich denke halt, dass er Hilfe braucht, sie aber nicht wirklich bekommt«, antwortete Emilia.

»Aber du weißt schon, dass ich im Gegensatz zu den Superhelden nicht unfehlbar bin?«

»Klar weiß ich das, aber du hast ein ausgezeichnetes Gespür, wenn es darum geht, die Ursache für die Beschwerden deiner Patienten zu finden. Das ist einfach Fakt, Papa«, erklärte Emilia voller Überzeugung.

»Ja, das ist Fakt«, stimmte Traudel ihr lächelnd zu und auch Benedikt nickte zur Bestätigung, dass auch er mit Emilias Einschätzung einverstanden war.

»Danke für euer Vertrauen«, antwortete Sebastian und sah lächelnd in die Runde.

»Immer wieder gern«, entgegnete Emilia und klopfte ihrem Vater auf die Schulter.

»Hallo, zusammen, ich wünsche euch einen guten Appetit«, sagte die junge Frau in dem hellroten Leinenkleid, die über die Terrasse in die Küche kam. Sie hatte langes braunes Haar, strahlend grüne Augen, und ihr erster Blick galt Sebastian.

»Hallo, Anna, setz dich zu uns. Oder hast du schon gegessen?«, fragte Traudel Anna Bergmann, die seit einiger Zeit mit Sebastian zusammen war.

»Nein, noch nicht. Ich komme gerade aus Augsburg.«

»Wie war der Vortrag in der Hebammenschule?«, wollte Sebastian wissen, nachdem Anna ihn mit einer zärtlichen Umarmung begrüßt hatte.

»Sie haben alle aufmerksam zugehört und anschließend Fragen gestellt. Ein gutes Zeichen dafür, dass sie sich wirklich für das Thema interessiert haben.«

»Es ging doch um die Frage, ob Hausgeburten generell von einem Arzt begleitet werden sollten, richtig?«, fragte Traudel, während sie einen Teller und Besteck für Anna holte.

»Ja, genau darum ging es. Es ist ein schwieriges Thema. Manche Hebammen sind inzwischen verunsichert. Trotzdem sind die meisten davon überzeugt, dass eine Hausgeburt durchaus noch zeitgemäß ist. Ein Arzt sollte allerdings im Notfall schnell erreichbar sein. Nicht überall funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Hebamme so gut wie bei uns. Ich weiß, dass Sebastian mir sofort beisteht, wenn ich Hilfe brauche.«

»Es gibt Kollegen und Kolleginnen, die von unserer Zusammenarbeit nicht gerade schwärmen, da ich kein Gynäkologe bin«, sagte Sebastian.

»Die haben doch keine Ahnung«, mischte sich Emilia ein. »Anna ist eine super Hebamme, und du hast als Chirurg in der Unfallklinik in Toronto gearbeitet. Was bitte will eine werdende Mutter mehr als so ein super Team, das dazu noch…«

»Das dazu noch?«, fragte Sebastian schmunzelnd, als Emilia kurz innehielt.

»O Mann, Papa, du weißt schon, was ich meine«, stöhnte sie.

»Du meinst, wir sind auch ein super Paar?«

»Ja, genau«, erklärte Emilia und nahm sich noch einen Krautwickel mit viel Soße.

»Wir sind ein super Paar?«, fragte Anna, als Emilia auch ihr einen Krautwickel auf den Teller legte.

»Ja, ungefähr so wie Superman und seine Verlobte Lois Lane, die haben auch gemeinsam dafür gesorgt, dass es den Menschen gut geht.«

»Unser Spatzl umgibt sich heute mit Superhelden. Angefangen hat es damit, dass sie Sebastian als super Diagnostiker bezeichnet hat«, fügte Traudel als Erklärung für Anna hinzu.

»Dem werde ich nicht widersprechen.«

»Das tut niemand von uns«, sagte Traudel und nickte dabei.

»Hat es einen bestimmten Grund, warum du seine Fähigkeiten in dieser Disziplin erwähnt hast?«, wollte Anna von dem Mädchen wissen, während sie sich die Krautwickel und die Petersilienkartoffeln schmecken ließ.

»Meinem Sportlehrer geht es nicht so gut. Ich habe ihm geraten, Papa aufzusuchen«, sagte Emilia und erzählte Anna von dem Vorfall am Vormittag in der Sportstunde.

»Ich hoffe, er folgt deinem Rat.«

»Ja, ich auch. Ich meine, dass er dauernd krank ist, kann nicht gesund sein oder?«, fragte sie mit verschmitztem Blick.

»Scherzkeks«, sagte Sebastian und verwuschelte Emilias Haar.

»O Mann, Papa, jetzt muss ich mich wieder kämmen«, entgegnete das Mädchen und schob die Hand ihres Vaters beiseite.

»Ich kann dich kämmen«, schlug Anna vor.

»O ja, bitte, ich lasse mich so gern kämmen. Mama hat mich immer gekämmt, wenn ich gerade mal unleidlich war. Es hat mich beruhigt. Du machst das auch ziemlich gut«, versicherte sie Anna.

Sie ist die Richtige und zwar für beide, dachte Traudel und betrachtete Anna mit einem liebevollen Lächeln.

*

Zwei Tage später betrat Kai Küster die Praxis Seefeld. Emilia hatte ihn darauf vorbereitet, dass die Praxis voll sein würde, aber mit so einem Andrang hatte er nicht gerechnet. Sogar in der großen hellen Empfangsdiele drängten sich die Patienten. Einige wollten nur ein Rezept abholen, die meisten aber wollten zum Herrn Doktor, wie er hören konnte.

»Ja, bitte, was kann ich für Sie tun?«, fragte die pummelige ältere Frau in dem gestärkten weißen Kittel, die hinter dem Tresen stand, als er an der Reihe war.

»Mein Name ist Kai Küster. Ich möchte gern zu Doktor Seefeld«, sagte er.

»Freilich, das wollen alle«, entgegnete Gerti Fechner, die langjährige Sprechstundenhilfe in der Praxis Seefeld. Sie betrachtete den sportlichen jungen Mann mit einem freundlichen Lächeln.

»Sei bitte super nett zu ihm«, hatte Emilia sie gebeten, als sie ihr erzählt hatte, dass ihr Sportlehrer vielleicht in den nächsten Tagen in die Praxis kommen würde.

Sie hatte den gut aussehenden Mann mit den hellen blauen Augen und dem dunklen Haar sofort erkannt. Emilia hatte ihn gut beschrieben. »Heute dauert es leider ein bissel länger. Suchen Sie sich einen Platz im Wartezimmer und lassen Sie sich gut unterhalten«, sagte Gerti, nachdem sie seine Versicherungskarte eingescannt und ihn in eine Liste eingetragen hatte.

»Danke«, antwortete Kai höflich, obwohl er sich wunderte, warum sie ihm gute Unterhaltung wünschte. Schließlich erwartete ihn keine Filmvorführung oder so etwas Ähnliches.

Ein paar Minuten später wusste er, was sie gemeint hatte. Er saß auf einem der blau gepolsterten Stühle in der Ecke des nicht allzu großen Wartezimmers. Es war der letzte freie Platz gewesen, als er hereingekommen war. Außer der jungen Frau auf dem Stuhl zu seiner Linken schienen sich alle zu kennen. Alle redeten miteinander, und schon nach kürzester Zeit wusste er, dass Egon Teuchtner, dem die Apotheke in Bergmoosbach gehörte, wegen einer Erkältung nicht an dem Wanderwettbewerb teilnehmen konnte. Xaver Talhuber, der Bergmoosbacher Bürgermeister, würde bald seinen 65. Geburtstag feiern, und Miriam Holzer, die schöne Erbin des Sägewerks, war mit ihrem Assistenten für vier Wochen nach Jamaika geflogen. Kai konnte gar nicht umhin, den Leuten zuzuhören, dazu saßen sie in diesem Zimmer zu dicht beieinander.

Diese Warterei besaß durchaus einen gewissen Unterhaltungswert, zumindest erfuhr man so einiges über das Dorf.

Die junge Frau in Jeans und T-Shirt, die neben ihm saß, hörte, genau wie er, nur zu. Er erwischte sich dabei, wie er sie beobachtete. Ihm gefiel ihr Lächeln, das sich hin und wieder zeigte, wenn wieder jemand etwas Neues aus dem Bereich des Tratsches erzählte. Eigentlich gefiel ihm alles an ihr. Ihre zierliche Gestalt, das dunkelblonde lange Haar, die grünen Augen. »Sie sind nicht von hier?«, wandte er sich ihr irgendwann zu.

»Nein, ich wohne in der Eifel. Ich bin wegen des Wanderwettbewerbs in Bergmoosbach«, antwortete sie ihm freundlich. »Da Sie außer mir der einzige sind, der sich nur aufs Zuhören beschränkt, gehe ich davon aus, dass Sie auch nicht in Bergmoosbach zu Hause sind. Sind Sie auch wegen des Wanderwettbewerbs hier?«

»Nein, bin ich nicht. Ich bin zwar nicht aus Bergmoosbach, aber ich wohne nur eine halbe Stunde entfernt. In der Nähe von Garmisch.«

»Ist Doktor Seefeld Ihr Hausarzt?«

»Ich bin das erste Mal hier. Auf Empfehlung seiner Tochter. Sie ist meine Schülerin.«

»Welches Fach?«

»Sport.«

»Echt? Ich bin Gymnastiklehrerin an einer Rehaklinik.«

»Das klingt nach harter Arbeit.«

»Das ist es nur manchmal. Meistens habe ich Spaß an meiner Arbeit. Sie doch hoffentlich auch.«

»Ja, ich gebe zu, das habe ich«, antwortete er lachend. »Kai Küster«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

»Britta Kaufmann«, sagte sie und legte ihre linke Hand in seine. »Ich habe heute Vormittag an der Gymnastikstunde im Hotel teilgenommen. Ich wage es kaum zu sagen, aber ich befürchte, ich habe mir dabei die Hand verstaucht, deshalb bin ich auch hier«, klärte sie ihn auf, warum sie ihn nicht mit der rechten Hand begrüßte. »Gymnastiklehrerin verletzt sich bei Wellnessgymnastik. Klingt nicht sehr professionell«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Freizeitsport eben«, entgegnete Kai und erwiderte ihr Lächeln.

»Stimmt, da ist die Aufmerksamkeit weniger hoch.«

»Ich nehme an, Sie sind in Begleitung nach Bergmoosbach gekommen.« Er hatte auf einmal den Wunsch, Britta näher kennenzulernen. Sollte sie aber bereits vergeben sein, würde er diese Idee sofort wieder fallen lassen.

»Richtig, ich bin in Begleitung«, sagte sie

»Das dachte ich mir schon«, entgegnete Kai enttäuscht.

»Meine beiden Freundinnen und ich haben uns als Dreierteam zum Wettbewerb angemeldet«, klärte Britta ihn auf, weil sie die Unterhaltung mit diesem charmanten jungen Mann gern fortsetzen wollte.

»Und wer wartet zu Hause auf Sie?«

»Auf meine beiden Freundinnen warten ihre Männer, die nicht viel vom Wandern halten und lieber ein paar Tage allein auf die Kinder aufpassen, statt ihre Frauen nach Bergmoosbach zu begleiten. Auf mich wartet meine Katze Isis, die gern auf dem Dach umherwandert. Ich habe eine Dachwohnung in einem der Fachwerkhäuser in Monreal.«

»Monreal? Von diesem Ort habe ich schon gehört. Er soll zu den schönsten in der Eifel gehören.«

»Ich denke, er ist der schönste überhaupt«, sagte Britta.

»In der Eifel oder in der Welt?«

»Die Welt besitzt so viele schöne Orte, da möchte ich mich ungern festlegen.«

»Welche Orte gefallen Ihnen denn besonders gut?«

»In den letzten Jahren habe ich meine Liebe für den afrikanischen Kontinent entdeckt. Ich war schon einige Male dort. Im letzten Jahr habe ich Kenia besucht.«

»Als Safaritouristin?«

»Nein, ich habe eine ehemalige Schulfreundin besucht, die dort für zwei Jahre an einer Kinderklinik arbeitet. Durch sie habe ich Kontakt zu den Einheimischen bekommen und vieles gesehen, was mir sonst verborgen geblieben wäre.«

»Ich war auch im letzten Jahr in Kenia. Ich habe einen jungen Mann besucht, den ich an der Sporthochschule kennengelernt habe. Er stammt aus Kenia und lebt jetzt wieder in seiner Heimat.«

»Waren Sie das erste Mal in Afrika?«

»Ich war schon einige Male dort. Mich fasziniert dieser Kontinent«, sagte er und erzählte ihr von seinen vorherigen Reisen nach Namibia und Südafrika.

Britta hörte ihm gebannt zu und sprach dann auch über ihre vergangenen Reisen an die Elfenbeinküste und nach Gambia. Von den anderen Gesprächen um sie herum bekamen sie nichts mehr mit, es gab nur noch sie beide. Es fiel ihnen nicht einmal auf, dass sich das Wartezimmer nach und nach leerte. Als Britta schließlich von Gerti aufgerufen wurde, bedauerte sie, dass sie jetzt schon an der Reihe war.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Küster. Unser Gespräch hat mir gefallen«, sagte sie und erhob sich von ihrem Stuhl.

»Wir könnten es doch fortsetzen. Um sieben im Biergarten zum Abendessen?«, schlug Kai vor, weil er Britta unbedingt wiedersehen wollte.

»Gut, dann um sieben im Biergarten, bis dahin«, sagte Britta und verabschiedete sich mit einem Lächeln von ihm, bevor sie das Wartezimmer verließ.

Egal, wie dieser Arztbesuch ausgeht, er hat sich schon gelohnt, dachte Kai. Als Britta kurz darauf mit einem Verband an ihrer rechten Hand die Praxis verließ, winkte er ihr noch einmal zu, als er sie in der Diele sah. Ein paar Minuten später wurde auch er von Gerti aufgerufen. Während der Unterhaltung mit Britta hatte er gar nicht mehr daran gedacht, warum er eigentlich hergekommen war. Vermutlich würde ohnehin nichts anderes herauskommen als bisher bei seinem Hausarzt, der ihn bereits mehrfach gründlich untersucht und ihm versichert hatte, dass ihm nur ein wenig Ruhe fehlte.

Er hatte vor einem Vierteljahr ein Haus gekauft und den Innenausbau fast komplett allein bewerkstelligt. Vermutlich hatte er sich dabei ein wenig übernommen, weil er die ganzen Arbeiten in kürzester Zeit durchgezogen hatte.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Herr Küster«, wurde er von Sebastian Seefeld freundlich begrüßt, der in der geöffneten Tür seines Sprechzimmers am Ende des Ganges auf ihn wartete.

»Emilia hat mir geraten, Sie aufzusuchen. Die Klasse macht sich Sorgen um mich, hat sie gesagt«, erzählte er ihm, als er ihm ins Sprechzimmer folgte.

»Dann sollten wir ihnen diese Sorgen nehmen. Bitte, nehmen Sie Platz«, sagte Sebastian und deutete auf den bequemen Lederstuhl vor seinem Schreibtisch, während er sich auf seinen Sessel hinter den Schreibtisch setzte. »Emilia hat mir erzählt, dass Sie unter Schwindelanfällen leiden.«

»Das ist richtig, hin und wieder wird mir offensichtlich grundlos schwindlig.«

»Leiden Sie auch unter Kopfschmerzen oder Gleichgewichtsstörungen?«

»Ja, auch. Ich war deshalb schon einige Male krankgeschrieben.«

»Wurde bei Ihnen schon ein CT gemacht?«

»Vor einigen Wochen. Kopf- und Halsbereich. Es war aber ohne Befund. Mein Kreislauf ist auch in Ordnung, alles ist bisher ohne Befund. Ich habe den Untersuchungsbericht aus dem Krankenhaus bei mir«, sagte Kai und reichte Sebastian die beiden Din A 4 Blätter, die er sich von seinem Hausarzt hatte geben lassen.

Während Sebastian den Bericht las, schaute Kai sich in dem Sprechzimmer um. Trotz der weißen Möbel wirkte es nicht steril, was an der Vitrine aus honigfarbenem Holz lag, in der alte Medizinbücher mit prächtigen Einbänden standen.

»Bevor wir alles Mögliche mit Ihnen anstellen, wäre es sinnvoll, wenn ich zuerst einen Blick auf die Untersuchungsergebnisse Ihres Hausarztes werfen könnte.«

»Ich kümmere mich darum.«

»Entschuldigen Sie mich, bitte«, bat Sebastian, als sein Handy läutete und der Name des Leiters der Bergwacht auf dem Display aufleuchtete. »Hallo, Kilian«, meldete er sich. »Alles klar, ich bin gleich da. Tut mir leid, Herr Küster, aber ich muss sofort los. Wir haben einen Rettungseinsatz oben an der Höhle. Lassen Sie sich einen Termin von Gerti geben, damit Sie beim nächsten Mal nicht wieder so lange warten müssen«, sagte er, während er mit ihm zusammen das Sprechzimmer verließ.

»Ja, mache ich, danke, Doktor Seefeld.«

»Einsatz?«, fragte Gerti, als Sebastian an ihr vorbeistürmte.

»Oben an der Höhle, sage bitte meinem Vater Bescheid, dass er sich um die Patienten kümmert, die noch im Wartezimmer sitzen. Und Herr Küster bekommt einen Termin.«

»Wird gemacht, pass auf dich auf!«, rief Gerti Sebastian noch nach. Sie hatte ihn schon als Kind gekannt und fühlte sich immer noch ein wenig verantwortlich für ihn. Du und Traudel, ihr seid wie die Glucken, wenn es um den jungen Seefeld geht, musste sie sich hin und wieder im Dorf anhören. Aber das störte weder sie noch Traudel.

»Ich bin gleich für Sie da«, wandte sich Gerti an Kai, während sie den Hörer des Haustelefons abnahm, um Benedikt zu bitten, die Sprechstunde zu übernehmen.

»Kein Problem, ich melde mich wegen eines Termins«, sagte Kai und verabschiedete sich mit einem freundlichen Kopfnicken von Gerti.

Offensichtlich fehlte ihm nicht wirklich etwas, nur ein wenig Ruhe, so wie sein Hausarzt gesagt hatte. Warum sollte er einem Arzt wie Sebastian Seefeld, der auch noch für die Bergwacht im Einsatz war, seine kostbare Zeit stehlen?

»Hallo, Herr Küster. Schön, dass Sie auf meinen Rat gehört haben«, sagte Emilia, die auf der weißen Holzbank unter der Ulme saß, als er in den Hof kam.

»Dein Vater ist wirklich sehr nett.«

»Ich weiß. Kann er Ihnen helfen?«

»Wir hatten nicht so viel Zeit. Ich war gerade im Sprechzimmer, als die Bergwacht anrief. Ich werde demnächst noch einmal vorbeikommen.«

»Das sollten Sie auf jeden Fall tun.«

»Hallo, Markus«, begrüßte Kai den großen schlanken Jungen mit dem weißblonden Haar, der aus der Garage neben der Praxis kam und ein Moped schob. Markus Mittner war eine Klasse über Emilia und ging auch zu ihm in den Sportunterricht. Es war kein Geheimnis, dass er und Emilia zusammen waren.

»Wie geht es Ihnen, Herr Küster?«, fragte Markus, während er die Lederjacke schloss, die er zu Jeans und T-Shirt trug.

»Im Moment recht gut. Wir sehen uns«, verabschiedete Kai sich von seinen beiden Schülern und lief zur Straße hinunter, wo er seinen Wagen geparkt hatte.

»Wollen wir mal hoffen, dass dein Vater herausfindet, was ihm fehlt«, sagte Markus und setzte seinen Helm auf.

»Ich denke, Herr Küster hat gute Chancen auf Heilung, wenn er seine Hilfe in Anspruch nimmt.«

»Davon bin ich auch überzeugt. Was ist? Wollten wir nicht zu Doro?«

»Klar wollen wir«, sagte Emilia und setzte den Helm auf, der genau die gleiche rote Farbe hatte wie der von Markus.

»Viel Spaß bei deiner Freundin!«, rief Traudel, die über die Hecke schaute, die den Hof von der Wiese vor dem Haus trennte.

»Danke!«, antwortete Emilia und winkte ihr fröhlich zu, bevor sie sich auf den Sozius des Mopeds setzte.

»Ach ja, so jung und verliebt«, seufzte Traudel und schaute den beiden nach.

»Auch Menschen im reiferen Alter können sich noch verlieben«, sagte Benedikt, der über die Terrasse zur Praxis hinüberging.

»Freilich können Sie, aber es ist lange nicht so unbeschwert wie in jungen Jahren, weil der ältere Mensch zu viele Wenns und Abers mit sich herumträgt.«

»Das könnte man auch Erfahrung nennen, und die schadet nicht unbedingt. Im Gegenteil, sie kann uns vor einem falschen Schritt bewahren.«

»Oder uns dazu bringen, es mit der Liebe erst gar nicht mehr zu versuchen.«

»Die Gefahr besteht durchaus«, gab ihr Benedikt recht.

»Genug philosophiert, wenn du jetzt nicht in die Praxis gehst, besteht die Gefahr, dass die Patienten unruhig werden, und das würde unserer Gerti gar nicht gefallen.«

»Ich weiß, unruhige Patienten stören den geregelten Ablauf in ihrer Praxis«, entgegnete Benedikt augenzwinkernd und ließ Traudel allein.

Gerti war die Königin der Praxis und Traudel die Königin im Haus, und beide hatten etwas übrig für ihn, das war Benedikt durchaus bewusst. Bei Gerti war es nur eine kleine Schwärmerei, bei Traudel war es mehr, aber darüber dachte er ungern nach, weil das ihr Zusammenleben vielleicht komplizierte, und das wollte er nicht riskieren. Für Benedikt war alles gut so, wie es gerade war.

*

Britta und ihre Freundinnen Gundula und Ulrike hatten sich im Hotel Sonnenblick einquartiert. Das mehrstöckige Gebäude in bester Hanglage war im alpenländischen Stil erbaut. Alle Zimmer hatten Balkons mit gelb-weißen Markisen, und in den Blumenkästen blühten gelbe Geranien. Einige Hotelgäste hatten es sich auf den Liegestühlen im Garten bequem gemacht, lasen Zeitung oder dösten in der Mittagssonne, als Britta von ihrem Arztbesuch zurückkam.

Gundula und Ulrike hatten ihr eine Nachricht an der Rezeption hinterlassen, dass sie im Park des Hotels auf sie warteten. Es war ein wirklich schöner Park mit einem Springbrunnen, weißen Kieswegen, gepflegten Blumenbeeten und Rosenbüschen. Gundula und Ulrike saßen auf einer der weißen Holzbänke und reckten ihre Gesichter in die Sonne. Die kleine zierliche Gundula hatte ihr blondes Haar zu einem Knoten gebunden und trug das rosafarbene Dirndl, das sie sich am Vortag gekauft hatte. Die ein wenig stämmige Ulrike trug ein locker sitzendes schwarzes Leinenkleid und versuchte, ihre Pausbäckchen mit ihrem kinnlangen dunklem Haar zu verbergen. Sie telefonierte gerade mit ihrem Handy und beendete das Gespräch, als Britta sich näherte. »Was hat der Doc gesagt?«, wollte sie wissen und schaute auf den Verband an ihrer Hand.

»Es ist nur eine leichte Verstauchung. Ich soll die Hand ein paar Tage schonen, dann ist sie wieder in Ordnung.«

»Alles klar. Dieser Doktor Seefeld soll ja ein äußerst attraktiver Mann sein, wie man hier im Hotel hört«, sagte Gundula, als Britta sich neben sie auf die Bank setzte.

»Dem kann ich nur zustimmen«, entgegnete Britta.

»Was bitte soll dieses geheimnisvolle Schmunzeln? Hast du dich mit ihm verabredet?«, fragte Gundula verwundert, als Britta in sich hineinlächelte.

»Nein, nicht mit ihm.«

»Sondern mit wem?«, fragten Gundula und Ulrike wie aus einem Mund und sahen Britta gespannt an.

»Mit einem anderen attraktiven Mann.«

»Gibt es die hier im Angebot oder was?«, wollte Gundula wissen.

»Keine Ahnung, vielleicht.«

»Britta, nun erzähl schon. Wer ist es? Wo hast du ihn getroffen? Wo seid ihr verabredet?«, fragte Ulrike.

»Da ist doch die Journalistin deutlich herauszuhören. Immer diese wissbegierigen Sätze, die mit einem W beginnen.«

»Britta, bitte«, sagten Gundula und Ulrike.

»Also gut. Er heißt Kai und ist Sportlehrer. Ich habe ihn im Wartezimmer kennengelernt. Wir haben eine sehr interessante Unterhaltung geführt.«

»Das Wartezimmer als Paarbörse, das hat etwas«, sagte Gundula kichernd. »Ich meine, in unserem Reisebüro haben sich auch schon Leute kennengelernt. Einmal waren mein Mann und ich sogar Trauzeugen, weil sich das Brautpaar bei uns zum ersten Mal begegnet ist. Aber bei uns unterhalten sich die Leute über schöne Dinge wie Reisen und Erholung. In einer Arztpraxis wird doch nur über Krankheiten gesprochen. Das dient nicht gerade dazu, sich einander anzunähern.«

»In Bergmoosbach ist das anders«, widersprach Britta ihrer Freundin. »Das Wartezimmer der Praxis Seefeld ist eher eine Nachrichtenagentur und ein Bürgertreff. Ich habe dort einiges über das Dorfleben erfahren. Über Krankheiten hat da eigentlich niemand gesprochen. Vermutlich waren die Leute nur da, um ihrem Doktor mal die Hand zu schütteln und um ihn zu fragen, ob es ihm gut geht.«

»Aha, war dein Kai auch deshalb dort?«, fragte Ulrike.

»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, warum er dort war. Wir haben uns über andere Dinge unterhalten. Über unsere Berufe, die Eifel und Afrika. Er liebt diesen Kontinent ebenso wie ich«, erzählte Britta lächelnd.

»Und wann und wo seid ihr verabredet?«, hakte Gundula nach.

»Heute Abend um sieben im Biergarten.«

»Gleich zum Abendessen. Der Mann ist nicht auf Umwegen unterwegs«, stellte Ulrike fest.

»Wozu hätte er mich denn sonst einladen sollen?«

»Vielleicht erst einmal zum Kaffee.«

»Der Biergarten ist kein einsamer Ort. Wie ich gehört habe, ist dort immer ziemlich viel los.«

Britta wunderte sich über diese merkwürdigen Vorbehalte ihrer Freundin.

»Du erinnerst dich an die Reportage, die mein Mann im letzten Jahr in einem Reisemagazin veröffentlicht hat?«

»Du meinst die über die Frauen, die allein in den Urlaub fahren, sich in einen Einheimischen verlieben, für den sie aber nur ein Abenteuer sind«, sagte Britta.

»Richtig, daran solltest du bei einer Urlaubsbekanntschaft immer denken«, riet ihr Ulrike.

»Keine Sorge, ich bin nur zum Essen mit ihm verabredet. Und diese Verabredung werde ich genießen, ohne an irgendwelche Folgen zu denken.«

»Ich meine ja nur«, murmelte Ulrike.

»Journalisten im Doppelpack, da lauert immer irgendwo eine Gefahr«, sagte Gundula und klopfte Ulrike lachend auf die Schulter.

»Ihr habt recht, ich sollte meine journalistische Spürnase mal ruhen lassen«, seufzte Ulrike.

»Brav, Schätzchen«, sagten Britta und Gundula lachend.

»Gehen wir einen Kaffee trinken?«, fragte Britta.

»Sehr gern«, antworteten ihre beiden Freundinnen.

»Gut, dann gehe ich noch mal kurz auf mein Zimmer, mich nach dem Arztbesuch ein bisschen frisch machen. Wir treffen uns dann auf der Hotelterrasse.«

»Bis gleich«, sagte Gundula und schaute Britta nach. »Du hast gerade mit deinem Bruder telefoniert. Richtig?«, wandte sie sich Ulrike zu.

»Sie hat ihn verlassen. Er hat sich ganz verzweifelt angehört.«

»Dann weiß er jetzt wenigstens, wie sich das anfühlt. Nach dem, was er Britta angetan hat, kann ich ihn nicht wirklich bedauern. Einfach zu verschwinden und ihr nur eine SMS zu schreiben, dass es vorbei ist, das war echt unterste Schublade.«

»Er hat geglaubt, dass er diese Frau liebt.«

»Oder ihr Haus auf Ibiza oder ihren Reichtum.«

»Was auch immer es war, ihm ist klar geworden, dass er sie nicht wirklich geliebt hat. Er vermisst Britta und möchte sie gern zurückgewinnen.«

»Dazu ist es wohl zu spät.«

»Für die wahre Liebe ist es nie zu spät. Die beiden waren ein wundervolles Paar. So kann es doch auch wieder werden. Richard wird in den nächsten Tagen zurückkommen. Er hat bereits eine Wohnung in Monreal gemietet.«

»Träum weiter, Süße. Das wird nichts mehr mit Richard und Britta. Hast du gerade nicht richtig hingehört? Unsere Britta hat sich offensichtlich verliebt.«

»Ich bitte dich, Gundi, mehr als ein kleiner Urlaubsflirt wird sicher nicht daraus werden. Warte nur ab, sobald sie Richard wieder sieht und er sie um Verzeihung bittet, wird sie ihm vergeben.«

»Wunschdenken.«

»Er ist mein Zwillingsbruder, ich leide mit ihm.«

»Hör auf, Rieke, er ist erwachsen, er wusste, was er tat, als er Britta den Laufpass gab. Und jetzt ist sie endlich über ihn hinweg.«

»Wir werden sehen, was passiert«, erklärte Ulrike trotzig.

»Wann willst du ihr sagen, dass er zurückkommt?«

»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht sage ich ihr gar nichts und lade die beiden einfach gleichzeitig zu mir ein, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Du solltest sie nicht unvorbereitet aufeinander treffen lassen.«

»Mal sehen, wie ich es mache. Kann ich mich darauf verlassen, dass du erst einmal nichts zu ihr sagst?«

»Ich soll sie anlügen?«

»Wieso denn anlügen? Sie wird dich kaum nach Richard fragen. Warum solltest du sie anlügen?«

»Gut, ich halte mich raus, aber du solltest dir wirklich gut überlegen, was du tust.«

»Keine Sorge, sie liegen mir beide sehr am Herzen. Ich habe nicht vor, ihnen wehzutun.«

»Gut, dann gehen wir Kaffee trinken«, sagte Gundula. Was auch immer Ulrike und Richard planten, wie die Sache letztendlich ausging, das lag allein an Britta.

*

Der Biergarten der Brauerei war wie jeden Abend gut besucht. Die Tische und Bänke standen im Hof des roten Backsteingebäudes direkt neben dem Bach, in dem sich schon so mancher nach einem langen Abend abgekühlt hatte. Die Kellnerinnen in ihren dunkelroten Dirndln waren mit schwer beladenen Tabletts unterwegs oder hatten die Arme voller Maßkrüge, die sie zu den Tischen brachten.

Kai saß an einem der kleinen Vierertische, die direkt am Bachufer standen, als Britta den Biergarten betrat. Er winkte ihr fröhlich zu und kam ihr entgegen.

»Wie geht es deiner Hand?«, erkundigte er sich.

»Schon besser, es ist nur eine leichte Verstauchung.«

»Tut mir leid, ich glaube, ich habe Sie gerade geduzt«, entschuldigte sich Kai.

»Kein Problem, wir können gern beim Du bleiben«, sagte Britta. Für sie hatte es ganz selbstverständlich geklungen. Sie hatte sich nicht einmal etwas dabei gedacht. »Ist das eine Imkerei?«, wollte sie wissen, nachdem sie sich an ihren Tisch gesetzt hatten und sie das weiße Haus entdeckte, das auf der anderen Uferseite am Rande der Rapsfelder stand.

Es war ein Flachbau mit hohen Fenstern, und die Lüftlmalerei, die seine Fassade schmückte, zeigte einen Imker, der sich um einen Bienenstock kümmert.

»Die Imkerei gehört zur Brauerei. Sie verwenden ihren eigenen Honig für ihr Honigbier.«

»Honigbier habe ich bisher noch nie getrunken.«

»Dann hast du jetzt die Chance, es zu probieren. Möchtest du eins?«

»Ja, gern.«

»Irmi, zwei Honigbier, bitte«, wandte sich Kai an die ältere Bedienung, die gerade mit den Armen voller Maßkrüge an ihnen vorbeimarschierte.

»Geh her, ihr bekommt sie gleich. Die anderen können ruhig noch ein bissel warten, die haben schon ein recht ordentliches Quantum intus«, erzählte Irmi, die dienstälteste Bedienung der Brauerei Schwartz, und stellte zwei der gläsernen Maßkrüge auf ihren Tisch. »Soll’s auch was zum Essen sein?«, fragte sie.

»Ja, wir wollten etwas essen«, sagte Kai.

»Ist recht, ich komm dann gleich wieder«, antwortete Irmi und marschierte forsch weiter zu einem der langen Tische, an dem sie von einer Gruppe junger Männer schon sehnsüchtig erwartet wurde.

»Auf unseren ersten gemeinsamen Abend«, sagte Kai, als er den Maßkrug anhob.

»Dann gehst du davon aus, dass weitere folgen werden?«

»Ich hoffe es. Oder denkst du, dass ein Abend mit mir genug ist?«, fragte er lächelnd.

»Ich denke, ich könnte noch einen weiteren folgen lassen oder vielleicht auch zwei. Mal sehen.«

»Du meinst, wenn ich mich gut benehme, dann treffen wir uns wieder?«

»Wäre möglich.«

»So, was darf ich denn zum Essen bringen?«, fragte Irmi, die ihre Bierkrüge abgeladen hatte und wieder an ihren Tisch kam.

»Ich nehme die Schupfnudeln mit Paprika und Käse«, sagte Britta. Sie hatte inzwischen einen Blick auf die Schiefertafel mit den Tagesangeboten geworfen, die neben dem Eingang des Bräustübels hing.

»Für mich auch die Schupfnudeln«, schloss sich Kai an.

»In Ordnung, zweimal Schupfnudeln«, sagte Irmi und huschte in das rote Backsteinhaus, um in der Küche des Bräustübels ihre Bestellungen aufzugeben.

»Und jetzt probiere ich das Bier«, sagte Britta, als Kai sie anschaute und sein Blick sie auf einmal nervös machte.

»Wie schmeckt es dir?«, wollte er wissen, nachdem sie von ihrem Bier getrunken hatte.

»Echt gut«, sagte sie und trank gleich noch einen großen Schluck, bevor sie das Glas wieder auf den Tisch stellte. Was soll das denn?, dachte sie, als sie die SMS von Ulrike las, die auf ihrem Handy eintraf, das sie auf den Tisch gelegt hatte.

»Vorsicht, Alkohol macht gefügig«, hatte sie geschrieben.

Das bedeutete, sie musste sie beobachten, sonst hätte sie das mit dem Bier nicht wissen können.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Kai, als sich Britta plötzlich in alle Richtungen umsah.

»Wir werden beobachtet«, flüsterte sie.

»Wirklich? Und von wem?«, fragte er schmunzelnd.

»Von meinen neugierigen Freundinnen. Darf ich vorstellen, Gundula, das ist die zierliche Blonde, und die andere ist Ulrike«, sagte Britta, als sie die beiden auf der anderen Seite des Baches entdeckte. Sie saßen auf einem Felsen, der dort am Ufer lag, und schauten ganz unverblümt zu ihnen herüber.

»Vielleicht sind sie nur zufällig hier vorbeigekommen.«

»Das glaube ich eher nicht.«

»Dann gilt ihr Interesse mir?«

»So ist es.«

»Sie werden mich beurteilen.«

»Das werden sie auf jeden Fall tun, allerdings wird sich das allein auf dein Aussehen beschränken.«

»Wenn wir sie zu uns herüber bitten, dann könnten sie mehr über mich erfahren«, sagte Kai, als Britta den beiden winkte und sie fröhlich lachend zurückwinkten.

»Nein, auf keinen Fall. Ich werde sie nicht dafür belohnen, dass sie mir nachspionieren.«

»Wie eng seid ihr befreundet?«

»Wir kennen uns seit dem Kindergarten. Genau wie ich wohnen sie noch immer in Monreal.«

»Wenn du sagst, wo du wohnst, kommt es doch sicher hin und wieder vor, dass jemand glaubt, du kämst aus Montreal in Kanada. Ich meine, Monreal in der Eifel ist nicht unbedingt jedem bekannt.«

»Das ist sogar meistens so. Sogar Doktor Seefeld war heute Morgen plötzlich ganz nachdenklich, als ich ihm sagte, woher ich komme.«

»Seine verstorbene Frau stammte aus Montreal. Emilia ist in Kanada geboren und aufgewachsen. Sie und ihr Vater sind erst in diesem Jahr hierhergezogen«, klärte Kai Britta auf.

»Dann verstehe ich seine Reaktion. Manchmal bedarf es nur eines Wortes und deine ganze Welt steht wieder Kopf.«

»Ich nehme an, dass du so etwas in deinem Klinikalltag öfter erlebst.«

»Ja, das kommt schon vor, aber ich habe gelernt, mich dagegen abzuschotten. Meistens gelingt es mir auch.«

»Das ist Voraussetzung in allen Berufen, die mit kranken Menschen zu tun haben. Wer das nicht kann, der wird schnell unter dieser seelischen Belastung zusammenbrechen.«

»Ich weiß, aber manche Schicksale gehen mir doch nahe.«

»Trotzdem besuchst du in deinem Urlaub deine Freundin in Kenia, die vermutlich viel Trauriges in ihrem Berufsalltag erlebt.«

»Deshalb haben wir uns dort die wundervolle Landschaft mit ihren traumhaften Stränden angesehen, um uns daran zu erinnern, wie viel Schönes dieser Planet zu bieten hat.«

»Stimmt, die Landschaft ist unglaublich schön. Der Indische Ozean mit seinem türkisblauen Wasser und kilometerlangen weißen Sandstrände.«

»Eine Nacht unter freiem Himmel in der Serengeti. Über dir der grandiose Sternenhimmel, um dich herum all diese ungewohnten Geräusche.«

»Das Rufen der Buschbabys.«

»Buschbabys?«, fragte Irmi verwundert, die ihnen die Schupfnudeln brachte, die mit Petersilie und Schnittlauch dekoriert auf einem großen weißen Teller gereicht wurden.

»Buschbabys ist die Bezeichnung für eine Affengattung. Sie sind nicht viel größer als Katzen, gehören aber zu den Menschenaffen«, erklärte ihr Kai.

»Geh, und wegen ihrer Größe werden sie Buschbabys genannt?«

»Nein, sie werden so genannt, weil ihre nächtlichen Rufe wie das Weinen eines Kindes klingen.«

»Mei, das ist ja unheimlich. Ich denk, ich fahr lieber weiterhin an den Gardasee in Urlaub, da quaken in der Nacht höchstens die Enten. Einen guten Appetit wünsche ich«, verabschiedete sie sich und huschte zum nächsten Tisch.

»Irgendwann werde ich sicher auch den Gardasee oder ähnlich ruhige Gegenden als Urlaubsziel bevorzugen«, sagte Britta und schaute nachdenklich in die Ferne.

»Aber noch bist du auf Abenteuer aus.«

»Ja, das bin ich. Südamerika als Rucksacktourist bereisen, das würde ich absolut spannend finden.«

»Ich war vor vier Jahren in Chile und Argentinien.«

»Hat es dir gefallen?«

»Ja, sehr sogar. Ein halbes Jahr durch Südamerika zu reisen, das wäre ein Traum.«

»O ja, das wäre es«, sagte Britta und dann hörte sie ihm zu, was er über diesen Kontinent zu erzählen wusste. Danach kamen sie wieder auf ihre gemeinsame Vorliebe für Afrika zu sprechen und all die anderen Länder, die sie gern besuchen würden.

*

»Sieh mal, dort drüben am Bach, das ist doch Herr Küster«, machte Emilia Markus auf ihren Sportlehrer aufmerksam.

Markus übernahm zweimal in der Woche am frühen Abend den Lieferdienst für das Bräustübel und manchmal begleitete Emilia ihn.

Sie waren auf dem Weg, die letzte Lieferung für diesen Abend abzuholen, als Emilia auf Kai aufmerksam wurde.

»Er ist in Begleitung«, sagte Markus.

»Das sehe ich, Schlaumeier. Kennst du die Frau?«

»Nein, nie gesehen.«

»Die beiden scheinen sich prächtig zu verstehen.«

»Vielleicht kann sie ihn von seinen Schwindelanfällen heilen.«

»Okay, du hältst sie demnach für eine Wunderheilerin oder so etwas.«

»Nein, das nicht. Aber heißt es nicht, dass die Liebe Wunder vollbringen kann?«

»Doch, schon, aber in Herrn Küsters Fall würde ich doch eher auf die Fähigkeiten meines Vaters vertrauen.«

»Du hast recht, überlassen wir es deinem Vater. Aber ich denke, dass es Herrn Küster mit Sicherheit nicht schaden wird, wenn er sich verliebt.«

»Vermutlich ist sie aber eine Touristin. Das heißt, sie wird bald wieder fort sein.«

»Es liegt doch an ihm, was er daraus macht.«

»Na, ihr beiden, wen habt ihr denn im Blick?«, wollte Irmi wissen, die mit einem vollen Tablett aus dem Bräustübel kam.

»Weißt du, wer die Frau bei Herrn Küster ist?«, fragte Emilia.

»Nein, tut mir leid. Warum fragt ihr euren Lehrer nicht selbst?«

»Wir sind doch nicht neugierig«, entgegnete Emilia.

»Geh, natürlich nicht. Ihr seid nur am Wohle eures Lehrers interessiert«, erwiderte Irmi lachend.

»Stimmt genau«, sagte Emilia.

»Im Bräustübel warten sie übrigens schon auf euch. Die Lieferung geht an den Bürgermeister. Wenn euch etwas an seinem Wohl liegt, dann solltet ihr ihn nicht zu lange warten lassen. Er hat sicher mächtig Hunger.«

»Wir sind schon unterwegs«, sagte Markus, hakte sich bei Emilia unter und zog sie mit sich in das Gebäude der Brauerei.

*

»Ich werde auch beobachtet«, stellte Kai fest, dem Emilias und Markus‘ Interesse an ihm und Britta nicht entgangen war.

»Wird man dir später Fragen stellen? Über mich, meine ich?«

»Das müssen sie gar nicht. In Bergmoosbach spricht sich eine Neuigkeit schnell herum. Hallo, ihr beiden!«, rief Kai und winkte Markus und Emilia, die kurz darauf mit einer Styroporkiste wieder aus dem Bräustübel kamen.

»Schüler von dir?«, fragte Britta.

»Ja, beide.«

»Das sind deine Beobachter, nehme ich an.«

»Stimmt, das Mädchen ist übrigens Emilia, Doktor Seefelds Tochter.«

»Und der Junge ist ihr Freund?«

»Sie hat eine gute Wahl getroffen. Markus ist ein wirklich verantwortungsvoller Junge. Er hat noch drei jüngere Geschwister, und die Familie lebt von der Landwirtschaft. Seine Eltern können sich immer auf ihn verlassen. Trotzdem ist er ein ausgezeichneter Schüler und er ist Sänger in einer Band.«

»Mit der Band kann er die Mädchen sicher am meisten beeindrucken.«

»So ist es wohl. Als Teenager hätte ich auch gern in einer Band gespielt. Leider bin ich überhaupt nicht musikalisch. Ich habe versucht, die Mädchen mit sportlichen Leistungen zu beeindrucken, aber gegen einen Jungen, der mit einem Mikrophon oder einer Gitarre auf der Bühne steht, kann man einfach nicht punkten.«

»Ich gehe davon aus, dass du trotzdem von den Mädchen beachtet wurdest.«

»Es hat mich aber mehr Mühe gekostet.«

»Dann wusstest du den Erfolg auch zu schätzen.«

»Ich denke schon. Zumindest bin ich immer mehrere Wochen mit einem Mädchen zusammen gewesen. Später waren es dann Monate. Von meiner letzten Freundin habe ich mich erst nach einem Jahr getrennt oder sie sich von mir? So ganz sicher bin ich mir nicht mehr. Es war auf einmal einfach vorbei. Hast du schon eine ernsthafte Beziehung hinter dir?«

»Ich war zwei Jahre mit einem Mann zusammen, bis er sich eines Tages für eine andere entschied und mit ihr nach Ibiza ging. Er war Arzt an der Klinik, an der ich noch immer arbeite. Die Frau war eine Patientin, äußerst attraktiv und ziemlich vermögend.«

»Wie lange ist das her?«

»Ein halbes Jahr.«

»Bist du darüber hinweg?«

»Inzwischen schon. Es war alles recht kompliziert. Richard ist Ulrikes Zwillingsbruder. Sie hat mit mir gelitten und hat gleichzeitig versucht, seine Entscheidung zu akzeptieren.«

»Deine Freundschaft mit Ulrike ist darüber aber ganz offensichtlich nicht zerbrochen.«

»Worüber ich sehr froh bin. Die Liebe ist eben unberechenbar, und festhalten lässt sie sich auch nicht. Wenn ihr danach ist, dann geht sie, und wir müssen damit zurechtkommen«, seufzte Britta. »Die Klinik, an der ich arbeite, gehört übrigens einem Onkel von Ulrike und Richard. Er hat sich bemüht, nicht Partei zu ergreifen. Aber Richard ist sein Neffe, letztendlich wird er ihm verzeihen.«

»Hast du Angst davor, dich wieder neu zu verlieben?«

»Ich möchte eine Familie und ich möchte Kinder. Ich werde der Liebe mit Sicherheit eine neue Chance geben.«

»Das hört sich gut an«, sagte Kai und hielt ihren Blick fest.

»Wohin soll denn deine nächste Reise gehen?«, fragte Britta, nachdem Irmi ihre Teller abgeräumt hatte und sie noch zwei Limonaden bestellten.

»Ich würde gern die Danakil-Wüste in Äthiopien besuchen.«

»Mutig, bis zu 50 Grad heiße Temperaturen, ein aktiver Vulkan und blubbernde Schwefelseen.«

»Und ein riesiger Salzsee, der zum Salzabbau genutzt wird. Es muss eine faszinierende Landschaft sein. Hast du noch nie daran gedacht, sie dir anzusehen?«

»Doch, habe ich.«

»Wirst du es irgendwann tun?«

»Vielleicht.«

»Ich ganz bestimmt.« Wenn ich jemals diese Schwindelanfälle loswerde, dachte Kai, weil er sich gerade wieder ganz merkwürdig fühlte.

»Geht es dir nicht gut?«, fragte Britta besorgt, als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, seine Hand in den Nacken legte und plötzlich ganz still war.

»Alles in Ordnung«, versicherte er ihr, als der Schwindel allmählich wieder nachließ. Er war erleichtert, dass es dieses Mal nur ein paar Sekunden gedauert hatte. Das machte ihm Hoffnung, dass er bald gar nicht mehr darunter leiden musste. »Es ist wirklich alles gut. Ich habe nur eine leichte Nackenverspannung«, beteuerte er, als sie ihn skeptisch anschaute.

»Der Sportlehrer mit Nackenverspannung, die Gymnastiklehrerin mit verstauchter Hand. Das hat etwas Amüsantes«, stellte sie lächelnd fest. »Ich möchte nicht wissen, was Doktor Seefeld darüber denkt«, sagte sie, weil sie davon ausging, dass Kai wegen seiner Nackenverspannung bei ihm war.

»Ich glaube, er hat in seinem Leben schon viel Kurioses erlebt. So schnell bringt ihn keiner mehr zum Staunen.«

»Geh, der Herr Sportlehrer vom Gymnasium.« Ein stattlicher Herr im grauen Lodenanzug und grünem Lodenhut auf dem Kopf war neben ihrem Tisch stehen geblieben, zwirbelte seinen grauen Schnauzbart und schaute Kai an. »Ich hab dich gar nicht auf der Teilnehmerliste gesehen. Nimmst du heuer nicht am Wanderwettbewerb teil?«, wollte er wissen.

»Ich setze mal aus.«

»Mei, ich weiß, für die hiesige Bevölkerung ist die Strecke keine Herausforderung mehr.«

»Dafür ist es ein Event für die Touristen. Davon hat das ganze Tal etwas, Herr Kornhuber.«

»Das ist wohl wahr. Nehmen Sie an unserem Wettbewerb teil?«, wandte er sich an Britta. »Maxl Kornhuber, Vorsitzender des Bergmoosbacher Alpenvereins«, stellte er sich vor.

»Britta Kaufmann. Ich bin sogar extra wegen des Wettbewerbes nach Bergmoosbach gekommen.«

»Und woher kommen Sie?«, fragte Maxl.

»Aus der Eifel.«

»Geh, das ist interessant. Ich habe einen Cousin, der wohnt in der Eifel. Ich darf doch?« Er deutete auf den Stuhl neben Britta und setzte sich hin, ohne ihre Antwort abzuwarten. »Interessante Landschaft. Ich war schon zum Wandern dort, von Aachen nach Trier«, sagte er und dann erzählte er den beiden von seinen Erlebnissen auf dieser Tour. Angefangen von den guten Hotels, bis hin zu seinen geliebten Schmetterlingsbeobachtungen, für die Maxl Kornhuber bekannt war.

»Ich werde mich jetzt auf den Heimweg machen. Ich habe mich für morgen früh zu einer Wanderung ins Moor angemeldet«, sagte Britta, als es bereits nach elf war und Maxl Kornhuber noch immer von seinen Erlebnissen in der Eifel berichtete.

»Das ist eine recht unterhaltsame Unternehmung. Da wünsche ich viel Spaß.«

»Danke, Herr Kornhuber.«

»Nein, ich habe dich eingeladen«, sagte Kai, als Britta Irmi bedeutete, dass sie zahlen wollte.

»So ist es recht, der junge Mann lädt das Madl ein. Dieses Gekasper um die Rechnung, das die jungen Leut alleweil veranstalten, weil ein jeder sich emanzipiert hat, das entbehrt doch jeder Romantik.«

»Freilich, Maxl, immer schön die alten Werte hochhalten.« Irmi, die mit gezückter Geldtasche an ihren Tisch kam, lachte laut auf und klopfte dem Vorsitzenden des Alpenvereins auf die Schulter. »Wenn du noch ein bissel eine Unterhaltung suchst. Im Bräustübel hocken noch einige Herrn vom Alpenverein beieinander.«

»Dann werd ich mich dazu hocken. Zu Hause wartet heut eh keiner auf mich. Die Therese ist auf Besuch bei Verwandten in München. Also dann, eine gute Nacht wünsch ich«, verabschiedete sich Maxl von Britta und Kai.

»Bist du mit dem Auto hier?«, fragte Kai, nachdem er die Rechnung bezahlt hatte und Irmi ihnen noch einen schönen Abend gewünscht hatte.

»Nein, ich bin zu Fuß unterwegs. Aber ich habe mit Gundula und Ulrike ausgemacht, dass sie mir ein Stück entgegenkommen, damit ich nicht den ganzen Weg allein im Dunklen zurücklegen muss. Ich werde sie gleich anrufen.«

»Das musst du nicht, ich bringe dich zum Hotel.«

»Wenn du das tun möchtest, gern. Die beiden wird es freuen, wenn sie nicht noch einmal raus müssen.«

»Zu Fuß hätte ich dich ohnehin nicht allein gehen lassen«, versicherte er ihr und legte seinen Arm behutsam um ihre Schultern, als sie zum Ausgang des Biergartens liefen.

*

»Wow, ein Oldtimer. Woher kenne ich dieses Modell?«, wunderte sich Britta, als sie auf das hellgraue Auto schaute, das unter einer Straßenlaterne parkte.

Die Karosserie erinnerte sie an einen zur Limousine umgeformten Porsche aus den 60er Jahren.

»Siehst du dir hin und wieder alte Filme an?«, fragte Kai lächelnd, während er ihr die Beifahrertür aufhielt.

»Ja, sehr gern sogar.«

»Auch James Bond Filme?«

»Genau, dieses Auto fuhr James Bond in den ersten Filmen.«

»Stimmt, offensichtlich haben wir auch die gleiche Vorliebe für alte Filme.«

»Es ist schon fast unheimlich, wie viele gemeinsame Interessen wir haben«, sagte Britta, als sie es sich neben Kai auf dem cremefarbenen Beifahrersitz bequem machte.

»Ich finde es unglaublich aufregend. Vielleicht finden wir noch mehr Gemeinsamkeiten. Ich meine, wenn wir uns das nächste Mal treffen«, sagte er und wandte sich ihr noch einmal zu, bevor er den Motor anließ.

»Möglich wäre es«, antwortete Britta leise, weil sein Blick sie auf einmal wieder nervös machte.

Mit dem Auto dauerte es nur fünf Minuten bis zum Hotel Sonnenblick. Die Straße vom Biergarten zur Apotheke hinauf, dann links am Marktplatz vorbei und nach dem Seefeldhaus den Waldweg entlang, der zum Hotel führte.

Das Hotel machte auch in der Nacht einen einladenden Eindruck. Die weißen Kieswege wurden von dem rosafarbenen Licht der winzigen Leuchtdioden beleuchtet, die in den Boden eingelassen waren. Die Fontäne des Springbrunnens erstrahlte in einem zarten Türkis, und die Blumenbeete, die zum weitläufigen Park des Hotels gehörten, wurden von dem silberfarbenen Licht der Lampen erhellt, die sich hinter dicht stehenden Hecken verbargen.

»In welchem Zimmer wohnt ihr?«, fragte Kai, nachdem er auf dem Parkplatz angehalten und Britta aus dem Auto geholfen hatte.

»Wir haben uns eine Suite im obersten Stockwerk geleistet. Gundula und Ulrike teilen sich das große Doppelbett, und ich habe das Schlafsofa im Wohnzimmer.«

»Aber die Tür steht offen, damit ihr euch vor dem Einschlafen noch unterhalten könnt. So wie früher, wenn ihr mit der Klasse auf Ausflugsfahrt wart.«

»Offensichtlich kennst du dich mit Frauen ziemlich gut aus.«

»Ich bin mit zwei älteren Schwestern aufgewachsen.«

»Dann hast du einiges an Erfahrung mit auf den Weg bekommen.«

»Ich denke schon. Du kannst meine Fähigkeiten testen, wenn du möchtest. Wir könnten uns morgen wieder treffen. Da du morgen Vormittag bereits eine Wanderung unternimmst, hast du sicher keine große Lust auf einen weiteren Spaziergang am Nachmittag. Wie wäre es mit einem Ausflug mit dem Auto? Ich würde dich gegen fünf im Hotel abholen.«

»Ich werde in der Lobby auf dich warten.« Sie zögerte erst gar nicht mit der Antwort, weil auch sie ihn unbedingt wiedersehen wollte.

»Dann bis morgen.«

»Bis morgen«, sagte sie und eilte davon, weil sie ihn am liebsten zum Abschied umarmt hätte, sich aber nicht traute, diesem Wunsch nachzugeben. Bevor sie die Lobby betrat, drehte sie sich noch einmal um. Kai lehnte an der Fahrertür seines Autos und schaute ihr nach. »Es war schön, mit dir zusammen zu sein«, flüsterte sie und schob die Tür zur Lobby auf.

Heller Teppichboden, Wandverkleidungen aus edlem Holz, ein offener Kamin, Sessel und Sofas mit goldfarbenem Stoff bezogen, Deckenstrahler und gedimmte Stehlampen. Wie schon in den Außenanlagen wurde auch im Innenbereich des Hotels Wert auf eine luxuriöse und farblich aufeinander abgestimmte Ausstattung gelegt. Die junge Hotelangestellte in dem blauen Kostüm, die hinter dem Empfangstresen stand, begrüßte sie freundlich und reichte ihr eine Notiz, die Gundula für sie hinterlassen hatte.

»Warten in der Bar auf dich«, stand auf dem Zettel.

Der Eingang zur Bar war nur ein paar Schritte von der Rezeption entfernt. Trotzdem war kaum etwas von drinnen zu hören. Erst als sie die Tür aufzog, wurde ihr klar, wie gut der Raum schallisoliert sein musste. Die Musik, das Stimmengewirr der zahlreichen Besucher hätte sonst auch die Nachtruhe der Hotelgäste in den unteren Stockwerken gestört.

Gundula und Ulrike saßen an der Bar und plauderten mit dem Barkeeper, einem jungen Mann Anfang zwanzig mit blonden Locken und hellen Augen.

»Ihr amüsiert euch?«, fragte sie die beiden, stellte sich hinter sie und legte jeder eine Hand auf die Schulter.

»Ja, das tun wir. Don unterhält uns prächtig«, erklärte Gundula. Sie hatte einen Cocktail mit Ananas vor sich stehen, rührte mit einem Strohhalm darin herum und trank dann einen großen Schluck davon. »Wir dachten uns schon, dass er dich nach Hause bringen wird, deshalb haben wir es uns hier gemütlich gemacht.«

»Woran habt ihr das festgemacht? Ich meine, dass er mich zum Hotel bringt.«

»Erst der Alkohol, danach Kuschelstunde im Auto, so ist das doch«, sagte Ulrike.

»So war es aber nicht. Kai war ganz Gentleman.«

»Ach so.«

»Was darf ich Ihnen bringen?«, wandte sich der Barkeeper an Britta.

»Sie nimmt auch so einen Ananas Pfirsich wie ich«, antwortete Gundula für Britta.

»Ja, in Ordnung«, sagte Britta, als Don sie kurz anschaute. Ihre beiden besten Freundinnen kannten eben ihren Geschmack.

»Setz dich zwischen uns und erzähle, wie es war«, bat Gundula und wechselte auf den freien Barhocker zur ihrer Rechten.

»Es war ein ziemlich langes erstes Treffen«, sagte Ulrike und fing Brittas Blick auf.

»Ja, und? Ich bin kein Teenager mehr, und du bist nicht meine Mutter.«

»Sei doch nicht gleich beleidigt. Es war doch nur eine Feststellung«, verteidigte sich Ulrike. »Ich mache mir eben Sorgen um dich. Erst gibt er dir Alkohol zu trinken, dann tauchst du nicht mehr auf. Da darf man doch mal nachfragen.«

»Du irrst dich wirklich in ihm. Er wollte euch sogar an unseren Tisch bitten, als ich ihm sagte, wer die beiden Spioninnen auf der anderen Bachseite sind.«

»Wirklich? Ich hätte mich gern dazu gesetzt. Er ist ein attraktiver junger Mann und offensichtlich sehr nett«, stellte Gundula fest, deren Augen verrieten, dass es nicht ihr erster Cocktail an diesem Abend war.

»Am ersten Abend sind alle nett, bis sie haben, was sie wollen, dann kennen sie dich nicht mehr«, erklärte Ulrike.

»Sprich nicht so von ihm, Rieke. So ist Kai nicht, ganz bestimmt nicht«, verteidigte Britta ihn.

»Duzt ihr euch schon?«, wollte Ulrike wissen.

»Ja, warum auch nicht? Wir sind doch ungefähr gleich alt.«

»Britta, ich bitte dich, sei doch nicht so naiv. Du glaubst doch nicht, dass der Mann ernsthaft an dir interessiert ist. Vielleicht geht er öfter in die Praxis Seefeld, um Touristinnen kennenzulernen. Ich meine, es ist schon ein origineller Ort, um mit einer Frau anzubandeln.«

»Rieke, bitte, es reicht, trink lieber noch einen Cocktail und lass Britta und ihren Sportlehrer in Ruhe«, mischte sich Gundula ein.

»Ich lasse niemanden, der mir etwas bedeutet, in sein Unglück rennen.«

»Du musst dir wirklich keine Sorgen um mich machen. Kai ist in Ordnung. Außerdem waren wir heute Abend gar nicht allein.«

»Wer hat euch denn gestört?«, fragte Gundula schmunzelnd.

»Maxl Kornhuber, der Vorsitzende des Bergmoosbacher Alpenvereins, hat sich zu uns gesetzt, als er hörte, dass ich aus der Eifel komme. Er war schon zum Wandern bei uns und inzwischen kenne ich wohl jede Wiese, an der er vorbeikam.«

»Unsere Eifel ist eben ein abenteuerlicher Landstrich, da gibt es nun einmal viel zu erzählen«, sagte Ulrike und bestellte sich noch einen Cocktail mit Banane und Mandarine. Offensichtlich hatte dieser Sportlehrer es weniger eilig, mit Britta einen Abend allein zu verbringen, als sie angenommen hatte.

Das wiederum könnte bedeuten, dass er vielleicht doch nicht nur auf einen kurzen Flirt aus war.

Sie musste diese Angelegenheit genau beobachten. Wenn es noch eine Chance für Richard gab, dann durfte dieser fremde Mann sie nicht zunichtemachen.

»Jetzt sei nicht mehr so mütterlich besorgt, Rieke. Ich verspreche, dass ich gut auf mich aufpassen werde«, sagte Britta und hob ihr Glas, um mit ihrer Freundin anzustoßen.

»Ich werde mich bessern«, erklärte Ulrike und wich Gundulas forschendem Blick aus.

»Auf die Freundschaft«, sagte Britta und stieß zuerst mit Ulrike und danach mit Gundula an.

Es war schon nach eins, als die drei schließlich die Bar verließen und auf ihr Zimmer hinaufgingen. Aber Britta fand, dass sich das Intermezzo an der Bar auf jeden Fall rentiert hatte. Auch Ulrike war wieder gut gelaunt. In ein paar Tagen, wenn sich herausstellen sollte, dass Kai mehr als nur einen Flirt suchte, wie Ulrike befürchtete, dann würde sie den beiden Kai vorstellen. Bis dahin wollte sie erst einmal alles einfach auf sich zukommen lassen.

»Ich denke, ich werde mich jetzt umdrehen und von ihm träumen«, sagte sie, als sie später auf dem bequemen Schlafsofa lag und sich in die weiche Steppdecke mit dem nach Lavendel riechenden weißen Bettbezug eingekuschelt hatte.

»Gute Nacht«, sagten Gundula und Ulrike und danach tuschelten sie noch eine Weile miteinander, aber das hörte Britta nicht mehr. Sie war schon ganz weit weg, irgendwo in Bergmoosbach unter dem weiten Sternenhimmel zusammen mit Kai.

*

Die Führung zum Bergmoosbacher Moor startete direkt am Hotel Sonnenblick. Lydia Draxler, die für den Tourismus in Bergmoosbach zuständig war, hatte die kleine Touristengruppe, zu der auch Britta und ihre Freundinnen gehörten, um sich versammelt und wies noch einmal alle darauf hin, dass sie unbedingt auf den befestigten Wegen bleiben sollten.

»Das Moor ist tückisch, das wissen Sie alle. Es zeigt sich in seiner ganzen Schönheit und nichts deutet auf die Gefahr hin, so als wollte es uns anlocken.«

»So wie eine schöne Frau, die einen Mann umgarnt, um an sein Vermögen zu gelangen«, erklärte ein sportlicher Mittfünfziger.

»Es geht auch durchaus umgekehrt. Der Mann umgarnt eine Frau zum selben Zweck«, entgegnete eine Frau Ende Vierzig, die im Gegensatz zu allen anderen Teilnehmern der Wanderung, die bequeme Hosen und Pullover trugen, im eleganten Hosenanzug erschienen war.

»Nun, das habe ich nicht nötig, ich bin vermögend«, wandte sich der Mittfünfziger der Dame zu.

»In diesem Fall stünde einer Verbindung zwischen uns nichts im Wege. Ich bin auch vermögend.«

»Das schafft Vertrauen, Verehrteste. Adalbert von Güstrow«, stellte er sich vor und reichte der eleganten Dame die Hand.

»Romina von Marenhaus«, antwortete sie mit einem entzückten Lächeln.

»Perfekt, dann neiden wir uns nicht einmal unsere Titel. Wir besitzen ja beide einen«, entgegnete Adalbert.

»Nachdem das geklärt wäre, könnten wir doch aufbrechen«, sagte Lydia, eine hübsche junge Frau mit großen blauen Augen.

»Wo geht es entlang?«, fragte Gundula, die zu Boden schaute, weil sie über die beiden, die sich ihres Vermögens versicherten, lachen musste.

»Ich gehe vor«, erklärte Lydia und bog in den sandigen Pfad ein, der gleich hinter dem Hotel in den Wald hineinführte.

»Mystisch«, flüsterte Britta, als sie durch den dichten Tannenwald liefen und die Sonnenstrahlen über den Boden streiften. Sie hatte sich bei Gundula untergehakt, während Ulrike sich ein Stück hinter die Gruppe zurückfallen ließ, weil ihr Handy läutete.

»Das ist heute Morgen schon der dritte Anruf, über den sie kein Wort verliert. Sonst erzählt sie uns doch immer, wer sie anruft und was los ist«, wunderte sich Britta. »Könnte es sein, dass sie jemanden kennengelernt hat? Ich meine, das wäre eine Erklärung dafür, dass sie mich wegen Kai so angeht, weil sie damit eigentlich sich selbst zurechtweist, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.«

»Das glaubst du doch nicht wirklich?«

»Du hast recht, Gundi, es war eine dumme Idee. Rieke liebt ihren Mann und ihre Familie.«

»Aber danach kommen wir beide.«

»Könnte sein«, entgegnete Britta lächelnd. »Vermutlich telefoniert sie mit ihrer Redaktion und will uns mit diesem Alltagskram nicht nerven.«

»So wird es wohl sein«, schloss sich Gundula Brittas Erklärung an. Und jetzt habe ich sie schon angelogen, dachte sie, weil sie wusste, dass Ulrike mit Richard telefonierte. Er war bereits auf dem Weg nach Monreal. »Vielleicht wollen die geheimnisvollen Sonnenstrahlen uns zeigen, wo wir einen Schatz finden, damit wir auch vermögend werden«, flüsterte sie, als Ulrike wieder zu ihnen kam, damit Britta sie nicht gleich auf ihre Telefonate ansprach.

»Du musst keinen Schatz mehr suchen. Dein Schatz sitzt zu Hause und wartet auf dich. Die wahre Liebe lässt sich mit Geld nicht aufwiegen. Das solltest du wissen«, entgegnete Ulrike.

»Du liebe Güte, du bist aber wieder gut drauf«, erwiderte Britta kopfschüttelnd. »Wirst du von deiner Redaktion genervt?«

»Meiner Redaktion?«

»Die Anrufe«, half ihr Gundula aus der Verlegenheit.

»Ach die, das ist jetzt wirklich kein Thema. Achten wir lieber darauf, dass wir nicht vom Weg abkommen. Das Moor ist gefährlich, wie wir gerade gehört haben«, sagte Ulrike und wich weiteren Fragen in Bezug auf ihre Anrufe aus.

Je näher sie dem Moor kamen, umso feuchter schien die Luft zu werden. Kleine Rinnsale plätscherten neben dem Fußweg durch den Wald, und es roch nach warmer Erde.

Nachdem sie eine Weile bergab gelaufen waren, traten sie aus dem Wald, heraus und die Moorwiesen breiteten sich im strahlenden Sonnenschein gelegen vor ihnen aus. Lydia führte sie zu dem Holzsteg, der mitten durch das Moor gebaut war, und erzählte von den Torfbauern, die in früheren Zeiten das Torf als Heizmaterial abgebaut hatten. »Außerdem ist das Moor eine Apotheke mit großem Angebot. Es gibt hier zahlreiche Heilpflanzen, die auch heute noch genutzt werden. Zum Beispiel die Moorkreuzblume. Sie hilft Menschen, die an Husten und Asthma leiden«, sagte sie und deutete auf eine Pflanze mit kleinen violetten Blüten.

»Das ist die Apotheke für Kräuterweiblein und Gesundbeter. Ich hoffe doch sehr, dass die örtliche Arztpraxis sich moderner Medikamente bedient«, sagte Romina, die inzwischen Seite an Seite mit Adalbert unterwegs war.

»Doktor Seefeld verordnet immer nur das, was seinen Patienten hilft und möglichst keinen Schaden anrichtet«, erklärte Lydia.

»Nebenwirkungen werden stets übertrieben. Das ist die Masche der Anhänger der sogenannten alternativen Medizin«, erwiderte Adalbert.

»Ich denke, es ist von Vorteil, wenn ein Arzt sich auf beiden Gebieten auskennt«, hielt Britta ihm entgegen.

»Unsinn, moderne Medikamente sind das Ergebnis langjähriger Forschungen. Sie sind die Zukunft.«

»So wie Sie reden, könnten wir annehmen, dass Ihnen ein Pharmakonzern gehört«, mischte sich Ulrike ein.

»Gut erkannt, meine Liebe, deshalb weiß ich auch, von was wir hier reden.«

»Vor allen Dingen wissen Sie, wie man es rechtfertigt, den Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ich habe neulich erst einen Artikel über einen Pharmakonzern geschrieben, in dem …«

»Auch das noch, eine von der Journalie. Sie sind doch immer auf der Suche nach einem Skandal. Ihnen und Ihresgleichen haben wir es doch zu verdanken, dass unser Ruf angeknackst ist«, erwiderte Adalbert aufgebracht.

»Verzeihung, könnten wir dann weitergehen oder haben Sie das Interesse an unserer Wanderung verloren?«, fragte Lydia, die verhindern wollte, dass diese Auseinandersetzung eskalierte.

»Kein Problem. Ich kann gut zwischen privat und geschäftlich trennen«, erklärte Adalbert und hakte sich bei Romina unter.

»Das kann ich auch«, sagte Ulrike und wandte sich den anderen Teilnehmern, drei jungen Frauen und zwei älteren Ehepaaren, mit einem bedauernden Achselzucken zu.

»Sie ist heute aber wirklich gefragt«, stellte Britta fest, als Ulrikes Telefon erneut läutete und sie sich wieder ein Stück zurückfallen ließ, um das Gespräch anzunehmen.

»Ja, so ist sie eben, unsere Ulrike, immer im Einsatz«, entgegnete Gundula und richtete den Blick nach vorn auf Lydia.

*

Zum Mittagessen waren die drei Freundinnen wieder in ihrem Hotel. Nach dem Essen setzten sie sich auf den Balkon ihrer Suite. Britta und Gundula lasen Zeitung. Ulrike hatte ihren Laptop auf dem Schoss und war im Internet unterwegs.

Gegen drei gingen sie hinunter zum Hotelpool. Weißer Marmor, Palmen, türkisfarbenes Wasser unter einem Glasdach.

In dieser luxuriösen Umgebung ließ es sich gut entspannen. Da die meisten Hotelgäste um diese Uhrzeit unterwegs waren, hatten sie den Poolbereich für sich allein.

»Ich muss mich umziehen. Kai wird bald hier sein«, sagte Britta, als sie kurz vor halb fünf auf die große Uhr schaute, die in der Halle hing.

»Wir bleiben noch ein bisschen oder was meinst du?«, wandte sich Ulrike an Gundula.

»Klar, wir bleiben noch«, stimmte sie Ulrikes Vorschlag zu. »Amüsiere dich gut, Britta«, sagte sie.

»Gib nicht zu viel von dir preis. Du kennst den Mann doch kaum«, sprach Ulrike wieder eine ihrer Warnungen aus.

»Wenn ich heute Abend zurück bin, werde ich ihn schon wieder ein wenig besser kennen«, antwortete Britta lächelnd. »Macht’s gut, ihr beiden«, sagte sie, nachdem sie sich mit einem Handtuch abgetrocknet und den weißen Frotteebademantel über ihren Bikini angezogen hatte. Sie schlüpfte in ihre gelben Badeschuhe und schlang im Gehen ein kleines Handtuch um ihr Haar. Sie fragte sich erneut, was eigentlich mit Ulrike los war. So wie sie sich gerade aufführte, das widersprach allem, was sie ihr nach der Trennung von Richard geraten hatte.

»Du musst lächeln, Britta, damit die Liebe sich dir wieder zeigt. Auch wenn daraus nur ein kurzer Flirt wird, nimm dieses kleine Glück an. Du musst dich endgültig von Richard lösen, sonst wirst du immer trauriger werden«, hatte sie stets wiederholt.

Jetzt befolgte sie ihren Rat, aber das schien ihr ganz offensichtlich nicht zu gefallen. Egal, ich werde diesen Flirt, oder was auch immer das ist, annehmen, dachte sie. Seitdem sie Kai begegnet war, fühlte sie sich wie auf Wolken gebettet, und das war ein wunderbares Gefühl.

*

»Schon wieder telefonieren«, seufz­te Gundula, die sich auf dem Rücken im Wasser treiben ließ.

Gleich nachdem Britta gegangen war, hatte Ulrike den Pool verlassen. Sie hatte es sich auf einer Liege bequem gemacht und ihr Handy aus der Tasche ihres Bademantels gezogen.

»Ich habe zwei Anrufe von ihm verpasst. Wenn ich mich jetzt nicht gleich bei ihm melde, denkt er noch, er geht mir mit seinem Kummer auf die Nerven.«

»O Mann, Rieke, er ist kein Kind mehr. Er wird schon damit zurechtkommen, wenn du nicht alle fünf Minuten mit ihm telefonierst.« Gundula schwamm zum Rand des Pools, hielt sich direkt vor Ulrikes Liege fest und sah ihre Freundin an, die einen schwarzen Badeanzug trug, der ihre kleinen Problemzonen verdeckte.

»Er ist aber in keiner guten Verfassung, Gundi«, verteidigte Ulrike ihre Telefonate. »Richie, tut mir leid, ich habe das Telefon nicht gehört. Ich war gerade im Pool«, sagte sie, als ihr Bruder sich meldete. »Echt? Das ist großartig. Ja, ich denke, das solltest du tun. Es wird alles gut werden. Geh du erst einmal zu den Eltern und bleib heute Abend bei ihnen. Sie werden glücklich sein, dich zu sehen. Morgen besprechen wir dann, wie du es am besten anstellst. Ja, bis dann.«

»Was ist los?«, fragte Gundula, nachdem Ulrike das Gespräch beendet hatte.

»Er ist schon in Monreal.«

»Verstehe, das war wohl die Nachricht, die du großartig findest.«

»Ja, schon, ich freue mich, dass er wieder zu Hause ist. Und stell dir vor, unser Onkel hat ihm bereits wieder eine Stelle in der Rehaklinik zugesagt. Er und Britta werden also wieder zusammen arbeiten.«

»Ob sie das wirklich gut findet, wird sich noch herausstellen. Aber okay, sei es drum. Was willst du morgen mit ihm besprechen?«, wollte Gundula wissen, die Ulrikes flackernden Blick bemerkt hatte. Ein deutliches Zeichen, dass ihr etwas äußerst unangenehm war.

»Richie plant, nach Bergmoosbach zu kommen. Er will Britta so schnell wie möglich wiedersehen.«

»Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie ihn wiedersehen will.«

»Doch, das will sie. Wir wissen beide, wie sehr sie Richie geliebt hat. Ich bin sicher, sie liebt ihn noch immer. Sie muss ihn nur sehen, dann wird sie diesen Sportlehrer sofort vergessen«, behauptete Ulrike.

»Gönne ihr doch dieses Glück, das sie gerade erlebt.«

»Du meinst, Richie soll nicht herkommen?«

»Ja, genau, das meine ich.«

»Aber die Begegnung mit Richie würde sie vor einer weiteren Enttäuschung bewahren.«

»Ach ja?«, entgegnete Gundula, und ihre Miene verriet, dass sie davon nicht überzeugt war.

»Der Sportlehrer sucht doch nur ein Abenteuer. Sobald er hat, was er will, interessiert er sich nicht mehr für sie.«

»Und du glaubst, ein Mann, der sie wegen einer anderen Frau verlassen hat und sich erst wieder an sie erinnert, nachdem er selbst verlassen wurde, dieser Mann könnte Britta davon überzeugen, dass er es ernst mit ihr meint?«

»Richie und Britta kennen sich bereits ihr ganzes Leben lang, und sie lieben sich. Das ist eine Liebe für die Ewigkeit. Richie war nur von dieser Frau verblendet. Sie hat es verstanden, ihm einzureden, dass er Britta nicht mehr liebt. Du darfst nicht vergessen, dass sie zehn Jahre älter ist als er«, verteidigte Ulrike ihren Bruder.

»Du redest es dir schön, Rieke. Fakt ist, dass Richie das große Abenteuer gesucht hat, und für dieses Abenteuer hat er Britta geopfert. Ich glaube nicht, dass sie ihn zurückhaben will.«

»Angenommen, er wäre hier, wenn ihr klar wird, dass dieser Kai nur mit ihr gespielt hat, dann bekäme er seine Chance. Ich meine, der andere ist nur eine flüchtige Begegnung in ihrem Leben. Richie dagegen ist die Liebe ihres Lebens. Sie wird ihm eine zweite Chance geben.«

»Du bist also fest davon überzeugt, dass er sie nicht gleich wieder für eine Frau mit Haus auf irgendeiner Insel verlassen würde?«

»Du hättest ihn hören sollen. Er bereut zutiefst, was er getan hat.«

»Du solltest Britta auf diese Begegnung vorbereiten.«

»Nein, das würde nur den alten Kummer über ihn wieder aufwärmen. Sie muss ihn sehen, um ihm zu verzeihen. Welche Frau kann seinem Charme schon widerstehen?«, entgegnete Ulrike lächelnd.

»Ich weiß nicht, ob das richtig ist, ihr nichts von seiner Rückkehr zu sagen.«

»Gib ihnen die Chance, wieder zu diesem Traumpaar zu werden, das sie einmal waren. Bitte, Gundi, verrate uns nicht.«

»Meinetwegen, ich sage nichts. Ich hoffe nur, dass diese Aktion nicht unsere Freundschaft mit Britta zerstört.«

»Warum sollte das denn passieren? Wir sorgen dafür, dass sie wieder glücklich wird. Das ist kein Grund, uns die Freundschaft zu kündigen. Du solltest nicht weiter über den Sportlehrer nachdenken, Gundi. Ich kenne niemanden, der im Urlaub unter den Einheimischen, egal wo, die Liebe seines Lebens gefunden hat.«

»Das schließt aber nicht aus, dass so etwas passieren kann.«

»Du und Britta, ihr seid verträumte Seelen. Die Wirklichkeit ist aber kein Traum. In der Wirklichkeit machen Menschen Fehler. Wer seine Fehler ehrlich bereut, der sollte seine zweite Chance bekommen«, antwortete Ulrike und lehnte sich in ihrem Liegestuhl zurück.

Mal sehen, wer am Ende siegt. Der Traum oder die Wirklichkeit, dachte Gundula. Sie legte sich wieder aufs Wasser und schaute auf die zarten Schäfchenwolken, die über den blauen Himmel zogen. Eine davon sah aus wie eine Braut in einem wundervollen Kleid.

*

Eine halbe Stunde später fuhr Britta mit dem Lift in die Lobby hinunter. Sie trug ihr Lieblingskleid, das weiße mit dem zarten Lavendelmuster. Das Oberteil war schmal geschnitten, hatte einen rechteckigen Ausschnitt und lange Ärmel. Der leicht ausgestellte Rock umspielte ihre Knie. Ihr Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Weil sie nicht wusste, wohin es gehen sollte, hatte sie ihre dunkelblauen Ballerinas angezogen. So war sie auch auf einen Spaziergang bestens vorbereitet.

Kai wartete schon auf sie. Er saß auf dem Sofa gegenüber der Rezeption und schaute in ihre Richtung, als sie den Aufzug verließ. Ihr Herz klopfte schneller, als sich ihre Blicke trafen und er aufstand. Der junge Sportlehrer in der dunklen Hose und dem hellen Poloshirt gefiel ihr noch genauso gut wie am Tag zuvor.

»Ich hoffe, du musstest nicht zu lange auf mich warten«, sagte sie, als er sie mit einer freundschaftlichen Umarmung begrüßte.

»Nein, ich bin gerade erst eingetroffen. Das Kleid steht dir wirklich gut«, sagte er und ließ seinen Blick über sie gleiten.

»Danke«, erwiderte sie leise und senkte den Blick, weil sie das Gefühl hatte, gleich rot zu werden.

»Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, alles gut«, sagte sie und schaute wieder auf.

»Dann können wir los?«

»Und wohin?«

»Einer meiner Freunde hat vor einiger Zeit die Glasbläserei seiner Familie in Oberstdorf übernommen. Ein Restaurant gehört auch dazu. An manchen Abenden kann man ihm und seinen Angestellten bei der Arbeit zusehen. Heute ist so ein Abend. Ich würde dich gern dorthin einladen.«

»Das klingt spannend.«

»Dann machen wir uns auf den Weg«, sagte er und legte seinen Arm um ihre Schultern.

Britta genoss die Fahrt auf dem Beifahrersitz des schönen alten Autos und betrachtete die Landschaft, die an ihnen vorbeizog. Die Berge erschienen ihr wie Beschützer, die über die Alpentäler mit ihren idyllischen Dörfern und Städtchen wachten. Die Gipfel mit ihren kahlen Felsen, die Gletscher mit ihren vereisten Spitzen, es war ein beeindruckendes Panorama, das sich ihr zeigte.

»Die Skiflugschanze«, sagte Kai, als sich vor der Kulisse des Nebelhorns der nach hinten geneigte Turm erhob, der als Anlauf für die Skispringer diente.

»Wie hoch ist der Turm?«, fragte Britta und schaute auf das respekteinflößende Bauwerk mit den beiden halbrunden Aussichtsplattformen.

»Der Turm ist 72 Meter hoch. Auch wenn ich wirklich sportbegeistert bin, auf die Idee, von dort oben auf Skiern abzufahren, um mich dann ins Nichts zu stürzen, bin ich nie gekommen.«

»Aber ich bin sicher, du hast schon Dinge getan, für die du dich überwinden musstest.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte er und sah sie kurz an.

»Weil es zu dir passt. Was war es?«, hakte sie nach, als er lächelte.

»Mein erster Fallschirmsprung. Ich hätte den Fallschirm am liebsten wieder abgelegt.«

»Sagtest du nicht gerade, du seist nicht so verrückt, dich ins Nichts zu stürzen?«

»Nicht mit Skiern.«

»Dafür aber aus einer Höhe von mehreren Kilometern.«

»Sobald der Fallschirm aufgeht, ist alles gut.«

»Und vorher?«

»Adrenalin pur«, antwortete Kai mit einem jungenhaften Lächeln, in das sich Britta sofort verliebt hätte, wäre das nicht schon längst passiert.

Ulrike hat recht, ich muss mich zusammenreißen. Ich habe ihn doch gerade erst kennengelernt, ich sollte ein bisschen zurückhaltender sein, was meine Gefühle betrifft. Andererseits, Richard hatte sie gekannt, solange sie zurückdenken konnte, trotzdem war es nicht gut gegangen.

»Wofür hast du deine Ängste überwinden müssen?«, wollte Kai jetzt von ihr wissen.

»Es war während einer Theateraufführung in der Schule. Wir hatten eine moderne Fassung von Hänsel und Gretel einstudiert, mit Gesangseinlagen. Während der Proben hat das bei mir auch prima funktioniert. Als ich dann auf der Bühne stand und die Zuschauer sah, bekam ich plötzlich keinen Ton heraus. Mir ist der Schweiß ausgebrochen, und ich dachte, dass ich mich gleich ganz fürchterlich blamiere.«

»Was hast du getan?«

»Ich habe die Augen zugemacht und mir gewünscht, ohnmächtig zu werden. Ich wollte einfach nur noch weg. Aber der Junge, der den Hänsel gespielt hat, kannte meinen Text ebenso gut wie seinen. Er hat angefangen, meinen Text zu singen, und ich habe dann einfach mitgesungen.«

»Dann war er wohl ein verlässlicher Partner.«

»Er hat mich gerettet.«

»Wie alt wart ihr damals?«

»Sechzehn. Aber ehrlich gesagt, denke ich nicht so gern an dieses Ereignis zurück. Wie weit ist es noch bis zur Glasbläserei?«

»Wir sind in fünf Minuten dort.«

Britta sah wieder aus dem Fenster, betrachtete die malerischen Häuser, die die Straßen von Oberstdorf säumten. Lüftlmalereien, hin und wieder auch geschnitzte Holzfiguren schmückten die Fassaden. Farbenprächtige Blumen in Balkonkästen und neben den Haustüren hießen Einheimische und Urlaubsgäste willkommen.

Auch wenn sie es gar nicht wollte, fühlte sie sich Richard auf einmal wieder ganz nah. Er hatte damals den Hänsel in diesem Theaterstück gespielt und ihr geholfen, die Aufführung nicht zu sprengen.

Damals auf dieser Bühne hatte sie ihn zum ersten Mal mit anderen Augen angesehen. Vielleicht war das sogar der Moment gewesen, der dafür gesorgt hatte, dass sie sich ein paar Jahre später in ihn verliebte.

Er war nach der Schule nach Hamburg gegangen, um dort zu studieren. Ihm gefiel das Großstadtleben, und er kam nur noch selten nach Hause. Sein Onkel überredete ihn irgendwann, in seiner Klinik anzufangen. Schon an seinem ersten Tag dort half er ihr, einen aufgebrachten Patienten zu beruhigen, der ihre Gymnastikübungen als Tortur bezeichnete. In diesem Moment hatte er ihr Herz wohl endgültig erobert.

»Dieser Junge, der dir aus der Verlegenheit geholfen hat, das war Ulrikes Bruder, habe ich recht?«, fragte Kai, der sich ihr kurz zuwandte, aber gleich wieder auf die Straße schaute.

»Wie kommst du darauf?«, wunderte sie sich, dass er es sofort erraten hatte.

»Dein Blick, als du von deinem Retter von damals sprachst, hat mir gezeigt, dass er dir viel bedeutet hat. Nach dem, was du mir erzählt hast, gehe ich davon aus, dass ihr zusammen zur Schule gegangen seid.«

»Gut kombiniert.«

»Ich bin Lehrer und ich habe ge­lernt, Stimmungen einzuschätzen und Schlüs­se daraus zu ziehen. Ich unterrichte Teenager, die testen gern ihre Grenzen aus.«

»Im Sportunterricht sollen sie das doch auch.«

»Ich unterrichte auch Geologie in der Oberstufe. Ein Fach, das die meisten Schüler als Pausenstunde einstufen und gern verschlafen.«

»Wie motivierst du sie?«

»Ich suche mir die heraus, denen bereits die Augen zufallen, und frage sie nach ihrer Meinung zum aktuellen Thema. Was sie daran nervt oder warum sie glauben, dass ihnen das Wissen darüber nichts nützt. Bisher habe ich es jedes Mal geschafft, eine lebhafte Diskussion in der Klasse anzustoßen. Am Ende der Stunde hatte ich ihnen genau den Stoff vermittelt, den ich mir vorgenommen hatte.«

»Diese Unterrichtsmethode stelle ich mir anstrengend vor.«

»Nein, eigentlich nicht. Meine Schüler beschäftigen sich mit dem Lehrstoff, und in den Arbeiten, die ich schreiben lasse, ist die Note vier eine absolute Ausnahme. Die meisten schneiden wesentlich besser ab. Das ist jede Anstrengung wert.«

»Und deine Kollegen fragen sich, wie du das machst.«

»Inzwischen nicht mehr. An unserer Schule ist es glücklicherweise so, dass erfolgreiche Modelle kopiert werden. Wir sind da«, sagte er, als er gleich darauf in einen Waldweg einbog, kurz nachdem sie Oberstdorf durchquert hatten.

Britta war froh, dass sie endlich angekommen waren. Der Besuch der Glasbläserei würde sie wieder an die Zukunft denken lassen.

Richard gehörte zu ihrer Vergangenheit.

Ihre Erinnerung an ihn durfte ihre Gegenwart nicht beeinflussen.

Die Glasbläserei lag am Rande eines dichten Tannenwaldes. Es gab dort ein zweistöckiges Wohnhaus aus dunklen Holzbohlen mit gelben Fensterläden und eine angebaute Scheune aus hellem Holz. Über dem Eingangstor der Scheune hing ein aus Glas gefertigtes Schild mit dem Namen des Besitzers. Auf der Wiese hinter dem Anwesen, die als Parkplatz diente, standen schon einige Autos, vorwiegend mit außerbayerischen Kennzeichen.

Britta staunte über die Einrichtung der Glasbläserei, als sie die Scheune gleich darauf betraten. Die glühenden Öfen und die Werkbänke, an denen die Handwerker saßen, um die erhitzten Gläser zu kühlen und fertigzustellen, standen auf einem steinernen Podest, das ungefähr ein Drittel des Innenraumes ausmachte. Der Rest des Raumes war mit Dielen ausgelegt und mit rustikalen Holztischen und Stühlen eingerichtet. An den Wänden waren Vitrinen mit fertiggestellten Glaskunstwerken aufgereiht. Dunkle Dachbalken, die in die hohe Decke eingezogen waren, sorgten für eine gemütliche Atmosphäre. Die Küche und die Sanitäranlagen waren in einem weiß getünchten Steinhaus ein paar Schritte von der Scheune entfernt untergebracht.

Junge Mädchen in schwarzen Röcken und weißen Blusen und junge Männer in schwarzen Hosen und weißen Hemden brachten Essen und Getränke über den Hof herein. Die Gäste schlenderten währenddessen an den Vitrinen entlang oder saßen bereits an den Tischen und sahen zu, wie die Glasbläser das erhitzte Glas aus den Öfen holten und mit Hilfe ihres Atems zu wundervollen fragilen Gegenständen formten.

»Willst du dich erst ein wenig umsehen, bevor wir uns einen Platz suchen?«, fragte Kai.

»Ja, sehr gern«, sagte Britta und begann auch gleich mit ihrem Rundgang.

Gläser, Schalen, Kannen und zierliche Figürchen. Die Auswahl der zum Verkauf stehenden Kunstwerke war groß.

»Sieh mal, die Figur sieht aus wie ein Buschbaby«, stellte Britta erstaunt fest, als sie das ganz in weißem Glas erschaffene affenartige Figürchen entdeckte, das kaum größer als eine Streichholzschachtel war. »Wie kommt eine Glasbläserei mitten in Bayern darauf, sich mit einem nachtaktiven Tier zu befassen, das die meisten Menschen nie in freier Natur zu sehen bekommen?«

»Ich habe es dort gesehen.«

»Sie haben es gemacht?« Britta sah die junge Frau in dem weißen Overall verblüfft an. Sie war sehr hübsch, hatte große dunkle Augen und schwarzes Haar, das sie in einem attraktiven Durcheinander hochgesteckt hatte.

»Ich hatte das Glück, so ein Tierchen während einer Nachtwanderung zu beobachten, als ich ihn bei seiner vorletzten Reise nach Kenia begleitet hatte. Hallo, Kai, schön, dich mal wieder hier zu sehen. Ich hörte, du warst in diesem Jahr wieder in Kenia«, wandte sie sich ihm zu und sah ihm tief in die Augen.

»Ja, ich war wieder dort. Aber was machst du hier? Wolltest du nicht eine Werkstatt im Schwarzwald übernehmen?«

»Mein Bruderherz hat mich überredet, bei ihm einzusteigen. Das mit dem Restaurant läuft echt gut, und er hat auch einige neue Kunden dazu gewonnen. Ich bin also wieder zu Hause angekommen. Willst du mir deine Begleitung nicht vorstellen?«

»Britta Kaufmann, Marlene Leitner«, machte Kai die beiden Frauen miteinander bekannt.

»Sind Sie aus der Gegend?«, wollte Marlene von Britta wissen.

»Nein, aus der Eifel.«

»Abenteuerliche Landschaft. Ich meine, die Vorstellung, dass es dort noch Vulkane gibt, die jederzeit ausbrechen können.«

»Der letzte große Ausbruch fand vor 12.900 Jahren statt.«

»Trotzdem könnte der nächste schon morgen sein.«

»Könnte, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich.«

»Das Unwahrscheinliche hinterlässt aber stets den größten Eindruck, nicht wahr?«

»Doch, schon«, antwortete Britta, während Marlene sie ungeniert musterte.

»Hallo, mein Freund, schön dich zu sehen.« Ein junger Mann mit dunklen Locken, der den gleichen Overall wie Marlene trug, war die Treppe des Podests heruntergekommen und reichte Kai die Hand.

»Grüß dich, Tom. Eine gute Idee, das mit dem Restaurant.«

»Allerdings, es übertrifft meine Erwartungen. Tom Leitner, Marlenes Bruder«, stellte er sich Britta vor.

»Britta Kaufmann«, antwortete sie höflich.

»Wir wollen euch nicht länger aufhalten. Wir sehen uns noch ein bisschen um«, sagte Kai und nahm Britta an die Hand.

»Ja, macht das. Wir können nachher noch ein bisschen plaudern«, verabschiedete sich Tom mit einem freundlichen Lächeln.

»Wer ist sie?«, hörte Britta Tom seine Schwester fragen.

»Nur ein Feriengast«, antwortete Marlene.

Nur ein Feriengast, das bedeutete wohl, dass sie genau wie Ulrike davon überzeugt war, dass Kai sie vergessen würde, sobald sie Bergmoosbach verlassen hatte. Sollen sie doch glauben, was sie wollen, dachte Britta, als sie Kai von der Seite anschaute und dieses wundervolle Kribbeln im Magen verspürte, das ihr verriet, wie gut er ihr gefiel.

Nach ihrem Rundgang suchten sie sich einen Platz in der Nähe des Podestes und sahen zu, wie Tom, Marlene und drei weitere Glasbläser ihr Handwerk ausübten. Währenddessen trafen weitere Gäste ein, und bald waren alle Plätze besetzt.

»Ich nehme einen Käse-Gemüseauflauf«, sagte Britta und klappte die in blaues Kunstleder gebundene Speisekarte wieder zu, die vor ihr auf dem Tisch lag.

»Einmal Gemüseauflauf und einmal den Braten mit Kartoffelsalat«, gab Kai ihre Bestellung bei einem jungen Mädchen auf. »Was möchtest du trinken?«, wollte er von Britta wissen.

»Eine Zitronenlimonade.«

»Zwei Zitronenlimonaden, bitte«, wandte er sich an die Kellnerin, die sich für ihre Bestellung bedankte und gleich hinüber zur Küche eilte.

»Ist Marlene deine Ex?«, stellte ihm Britta nun die Frage, die sie seit ihrer Begegnung mit der jungen Frau quälte. Marlenes Bemerkung, sie sei nur ein Feriengast, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

»Marlene und ich waren zusammen, das stimmt. Aber wie gesagt, wir sind nicht böse aufeinander, es war eines Tages einfach vorbei.«

»Bist du sicher, dass sie das genauso sieht?«

»Ich hoffe es.« Kai schaute zu Marlene, die ein fertiges Glas in die Höhe hielt und den Applaus des Publikums genoss. Als sie sich ihm zuwandte, sah er schnell zur Seite. Er war sich plötzlich nicht mehr sicher, was sie wirklich für ihn empfand.

»Wo würdest du starten, wenn du als Rucksacktourist durch Südamerika reisen würdest?« Britta spürte, dass sie ihn wegen Marlene verunsichert hatte. Sie wollte ihn ablenken, damit er nichts Grübeln geriet.

»Ich würde in Venezuela starten, über Brasilien und Bolivien nach Chile reisen. Dort bis nach Feuerland hinunter, über Argentinien wieder nordwärts nach Uruguay und von dort nach Hause.«

»Eine interessante Reiseroute«, sagte sie und lies sich von ihm ausführlich erzählen, was er sich unterwegs ansehen würde.

Auch während des Essens sprachen sie über diese mögliche Reise. Erst als Tom sich irgendwann zu ihnen setzte und auch Marlene dazu kam, beendeten sie dieses Thema und unterhielten sich über die Glasbläserei.

Marlene verhielt sich nun auch ganz zurückhaltend gegenüber Kai, so als wär sie inzwischen wirklich nur gute Freunde.

Das Licht der rustikalen Hängelampen und die großen Windlichter, die auf den Tischen standen, sorgten für ein zauberhaftes Ambiente. Britta saß Kai gegenüber, und es wurde ihr jedes Mal ganz warm ums Herz, sobald sie ihn ansah.

Später, als sie und Kai aufbrachen und sich von Tom und Marlene verabschiedeten, drückte Marlene Britta eine kleine rote Schachtel in die Hand. »Es ist Zeit loszulassen«, flüsterte sie ihr zu und umarmte sie freundschaftlich.

»Könnte es sein, dass du in ihr mehr siehst als die Touristin, die Kai bald wieder vergessen hat?«, wunderte sich Tom, nachdem Kai und Britta gegangen waren.

»Was denkst du denn?«

»Ich glaube, er ist dabei, sich ernsthaft zu verlieben.«

»Genau das glaube ich auch, nachdem ich die beiden länger zusammen gesehen habe«, stimmte Marlene ihm zu. »Ich werde mich wohl nach einem anderen umschauen müssen«, seufzte sie und hakte sich bei ihrem Bruder unter.

»Ich bin sicher, dass das nicht allzu schwierig für dich sein wird«, entgegnete er lächelnd und schaute auf die beiden elegant gekleideten jungen Männer, die gerade den Hof überquerten und Marlene mit offensichtlicher Bewunderung betrachteten.

»Aber ich werde nichts überstürzen. Immerhin wird derjenige mit Kai mithalten müssen.«

»Du musst nur richtig hinsehen, dann klappt das schon, Schwesterchen«, sagte Tom und hauchte Marlene einen Kuss auf die Wange, bevor sie wieder in die Scheune hineingingen.

*

Nachdem sie den Parkplatz verlassen hatten und den Waldweg zur Straße entlangfuhren, klappte Britta das beleuchtete Handschuhfach auf und öffnete die kleine Schachtel, die Marlene ihr gegeben hatte.

»Was ist es?«, fragte Kai, der sich über diese Geste seiner Ex-Freundin gewundert hatte.

»Sie hat mir das Buschbaby geschenkt.« Britta schaute verblüfft auf die kleine Glasfigur, deren Augen sie direkt anzublicken schienen.

»Hat sie etwas dazu gesagt?«

»Sie hat gesagt, dass es Zeit sei loszulassen.«

»Damit meint sie es offensichtlich ernst.«

»Es ist eine große Geste, was die Beziehung zu dir betrifft. Deshalb verstehe ich nicht ganz, warum sie mir dieses Geschenk macht. Woher will sie wissen, dass ich es verdient habe? Sie hat mich heute das erste Mal gesehen.«

»Sie geht offensichtlich davon aus, dass du die Richtige für mich bist.«

»Aber sie hat doch mitbekommen, dass wir uns erst kennengelernt haben.«

»Es soll Paare geben, die haben geheiratet, nachdem sie sich erst ein paar Stunden kannten.«

»Ja, in Las Vegas, nach einer Nacht an der Bar. Das böse Erwachen am nächsten Tag miteingeschlossen.«

»Vielleicht nicht bei allen. Es könnte doch sein, dass sich wirklich hin und wieder zwei Menschen treffen, die spüren, dass sie zusammengehören. Oder kannst du dir nicht vorstellen, dass es so etwas gibt?« Kai hatte angehalten und sah sie direkt an.

»Doch, das kann ich mir vorstellen. Aber ich würde sicher nicht gleich zum Traualtar mit ihm gehen.«

»Ja, vielleicht sollte dieser Schritt länger überlegt werden, das mag sein, aber nicht alles bedarf einer langen Phase des Nachdenkens.«

Er legte seine Hand in ihren Nacken und betrachtete sie zärtlich, bevor er sich über sie beugte und sie küsste.

Es fühlt sich richtig an, dachte Britta und ließ es geschehen. »Ich denke, wir sollten weiterfahren«, sagte sie lächelnd, als sie sich wieder voneinander lösten und sie das Hupen hinter ihnen wahrnahm.

Kai schaute in den Rückspiegel, öffnete danach das Fenster in der Fahrertür und schaute nach hinten: »Danke für Ihre Geduld!«, rief er und startete den Motor.

»Das waren fünf Autos, denen wir den Weg versperrt hatten«, stellte Britta kichernd fest, als sie sich noch einmal umdrehte, nachdem sie auf die Hauptstraße eingebogen waren.

»In Las Vegas haben sie zwei Trauzeugen, aber wir haben etwa ein Dutzend Zeugen unseres ersten Kusses«, erklärte Kai schmunzelnd. »Ich denke, das ist ein vielversprechender Anfang.«

»Und unvergesslich dazu«, sagte Britta und schaute auf die Berge, die ihr unter dem nächtlichen Sternenhimmel noch gewaltiger als bei Tag erschienen. »Ob wir uns auch begegnet wären, wenn wir nicht beide am selben Nachmittag die Praxis von Doktor Seefeld aufgesucht hätten?«, fragte sie leise und sah zu Kai hinüber.

»Da ich in diesem Jahr nicht am Wanderwettbewerb teilnehme und nicht jeden Tag in Bergmoosbach etwas zu erledigen habe, bin ich mir nicht sicher.«

»Aber es hätte passieren können.«

»Das schon. Mein Brot kaufe ich in der Bäckerei Höfner, und wenn ich schon mal dort bin, gehe ich meistens auch in Fannys Laden und in die Drogerie.«

»Und im Biergarten bist du auch hin und wieder.«

»Stimmt.«

»Das heißt, es könnte auch vom Schicksal geplant gewesen sein, dass wir uns begegnen.«

»Wenn das Schicksal es geplant hat, dann war es ein guter Plan, uns im Wartezimmer von Doktor Seefeld nebeneinander zu platzieren. Stell dir vor, wir wären uns in der Drogerie begegnet, dann hätten wir einander vielleicht gar nicht wahrgenommen. Und wenn doch, über was hätten wir gesprochen?«, fragte er lächelnd.

»Über Haarshampoo und Zahnpasta oder so etwas. Wenn es so bestimmt war, dann hätten wir das schon gemeistert.«

»Du glaubst an diese Art von Bestimmung?«

»Nein, eigentlich nicht, aber die Vorstellung, dass es so sein könnte, finde ich echt romantisch.«

»Dann stellen wir es uns doch einfach so vor.«

»Ja, das sollten wir tun«, sagte Britta und steckte das gläserne Buschbaby in ihre Handtasche.

Während der Fahrt zurück nach Bergmoosbach erzählten sie sich gegenseitig amüsante Episoden aus ihrem Alltag. Die Generationskonflikte, die Kai in der Schule ständig zu bewältigen hatte, und Brittas Kampf mit unmotivierten Patienten. Als sie schließlich auf den Parkplatz des Hotels Sonnenblick einbogen, waren sie beide bester Laune.

»Wie lange wirst du noch in Bergmoosbach sein?«, wollte Kai wissen, als er Britta aus dem Wagen half.

»Am Sonntag nach dem Wanderwettbewerb werden wir abreisen.«

»Wir sollten die Zeit bis dahin nutzen.«

»Das heißt?«, fragte sie, als er sie in seine Arme nahm.

»Für mich heißt das, dass wir uns morgen wieder sehen sollten.«

»Wann?«

»Meistens komme ich erst so gegen halb drei aus der Schule. Morgen muss ich noch eine Arbeit korrigieren. Sagen wir, ich bin wieder so um fünf bei dir im Hotel. Wenn das für dich in Ordnung ist.«

»Das ist es«, antwortete sie lächelnd.

»Ich werde dich vermissen«, sagte er und küsste sie zärtlich. Er hätte den Abend gern noch länger ausgedehnt, aber da er am nächsten Morgen zur ersten Stunde in der Schule sein musste, konnte er sich das nicht erlauben. Erst recht nicht in seinem derzeitigen labilen Gesundheitszustand.

»Bis morgen, Kai«, verabschiedete sie sich von ihm, winkte ihm noch einmal zu und verschwand in der Lobby des Hotels.

»Bitte nicht«, flüsterte Kai, als ihn wieder einer dieser unangenehmen Schwindelanfälle überfiel. Er musste sich eine ganze Weile an seinem Autodach abstützen, bevor es ihm gelang, in seinen Wagen zu steigen. Es ist leichtsinnig, mit dem Auto herumzufahren, solange diese Sache nicht geklärt ist, dachte er. Bisher hatte er immer rechtzeitig während eines Schwindelanfalls anhalten können. Aber darauf durfte er sich nicht verlassen. Nächste Woche, wenn Britta wieder in der Eifel ist, werde ich einen Termin mit Doktor Seefeld vereinbaren, dachte er. Und sobald mit ihm alles in Ordnung war, würde er Britta besuchen. Vorausgesetzt, dass sie ihn wiedersehen wollte.

*

Gundula und Ulrike waren an diesem Abend bereits auf ihrem Zimmer. Sie hatten das Licht gedimmt, saßen in ihren Schlafanzügen, Gundula in einem aus weißer Baumwolle mit Erdbeermuster und Ulrike in einem aus dunkelblauem Satin, auf dem Sofa im Wohnzimmer. Vor ihnen auf dem Tisch standen Salzstangen, Kräcker und eine Flasche Rotwein. Sie hatten das Fernsehgerät eingeschaltet und gaben sich Mühe, so zu tun, als wären sie in den Krimi vertieft, der gerade lief.

»Und wie war es?«, fragte Ulrike und schaute nur kurz auf, als Britta ins Zimmer kam.

»Wir waren in einer Glasbläserei.«

»Aha, Touristenprogramm, nehme ich an«, stellte Ulrike fest und sah wieder auf den Bildschirm. »Du liebe Güte, nun lauf schon!«, feuerte sie den Schauspieler an, der offensichtlich einen Polizisten spielte, der einen Einbrecher verfolgte.

»Zur Glasbläserei gehört auch ein Restaurant. Wir haben dort gegessen, und ich habe Kais Ex-Freundin kennengelernt. Ihr und ihrem Bruder gehört die Glasbläserei.

»Er hat dir seine Ex vorgestellt?«, fragte Gundula verblüfft und wandte sich Britta mit großen Augen zu.

»Zuerst dachte ich, sie sei mir feindlich gesinnt, aber ich habe mich geirrt. Das hat sie mir geschenkt.« Britta setzte sich zu den beiden aufs Sofa und zeigte ihnen die kleine Glasfigur.

»Was ist das für ein Tier?«, wollte Gundula wissen.

»Ein Buschbaby. Marlene hat es gemacht, weil es sie an eine gemeinsame Reise mit Kai nach Kenia erinnert.«

»Und warum schenkt sie es dir?«, fragte Ulrike erstaunt.

»Ich denke, weil ich jetzt für sein Glück verantwortlich bin.«

Sie ahnte, was Marlene bewogen hatte, ihr dieses Geschenk zu machen. Es sollte nicht nur das Symbol dafür sein, dass sie Kai losgelassen hatte, es sollte sie auch daran erinnern, dass es nun an ihr war, ihn glücklich zu machen. Was ich auch tun werde, sollte aus uns etwas Dauerhaftes werden, dachte sie.

»Vielleicht verfolgt sie auch ein ganz anderes Ziel.«

»Das da wäre?«

»Es könnte doch sein, dass die beiden sich noch nahestehen. Dass sie dir diese Figur schenkt, soll ihm bewusst machen, dass er sie endgültig verliert, wenn er sich nicht schnell wieder auf sie besinnt.«

»Die beiden sind schon seit einigen Monaten getrennt. Ich denke nicht, dass sie auf mich gewartet hat, um ihm mitzuteilen, was sie noch für ihn empfindet«, widersprach Britta Ulrikes Vermutung.

»Was bedeuten schon ein paar Monate der Trennung, wenn zwei Menschen sich schon lange kennen und füreinander bestimmt sind. So eine Trennung ist manchmal vielleicht sogar unumgänglich, damit sich jemand darüber klar wird, wie sehr er den anderen liebt.«

»Es kommt aber recht selten vor, dass ein Paar, das sich trennt, wieder zusammen findet. Ich kenne keines.«

»Ich schon. Journalisten sind oft unterwegs, lernen oft neue Menschen kennen und fallen auf den Reiz des Neuen herein. Dann kommt das Erwachen und das Hoffen darauf, dass der andere die Größe besitzt, einen Fehler zu verzeihen.«

»Sprichst du jetzt von dir?«, fragte Britta erstaunt.

»Das würde ich auch gern wissen«, schloss sich Gundula Brittas Frage an.

»Unsinn, ich bin eine treue Seele«, beteuerte Ulrike ihren Freundinnen, während sie an drei Salzstangen gleichzeitig knapperte.

»Im Gegensatz zu deinem Bruder«, entgegnete Britta. »Ich bin dann mal kurz im Bad«, sagte sie und ließ die beiden allein.

»Der Schuss ging wohl nach hinten los«, flüsterte Gundula, nachdem die Badtür hinter Britta zugefallen war.

»Wieso? Was meinst du?«, fragte Ulrike mit unschuldigem Augenaufschlag.

»Also bitte, mir musst du nichts vormachen. Du wolltest Britta doch gerade darauf vorbereiten, dass sie Richard verzeihen soll. Weil er zu schwach war, sich gegen den Reiz des Neuen zu wehren.«

»Aber genau so war es doch. Er ist aufgewacht, Gundi. Er bereut seinen Fehler zutiefst.«

»Ja, vielleicht. Aber was passiert, wenn ihm die nächste fremde Schönheit den Geist verwirrt?«

»Ich hoffe, dass so etwas nicht mehr passiert.«

»Ein attraktiver junger Arzt in einer Rehaklinik ist ständig neuen Reizen ausgesetzt. Ich meine, es ist kein Krankenhaus, in dem alle den ganzen Tag im Bett liegen. Die Damen stylen sich, sie gehen abends aus und treffen den Herrn Doktor in einer Bar und…

»Lass es gut sein, Gundi. Er weiß, dass er das nicht noch einmal bringen kann.«

»Britta scheint Kai aber wirklich gern zu haben.«

»Mag sein. Aber was ist von einem Mann zu halten, der eine Frau gleich bei ihrer zweiten Begegnung seiner Ex-Freundin vorstellt?«

»Ich denke nicht, dass das der Grund war, warum er mit ihr zur Glasbläserei gefahren ist. Vermutlich findet er das Ambiente dort einfach nur interessant.«

»Egal wie, er meint es nicht ernst mit ihr, dabei bleibe ich«, entgegnete Ulrike und nahm sich gleich eine Handvoll Salzstangen, weil dieses Gespräch ihre Nerven strapazierte. Sie wollte doch so gern, dass ihr Bruder und Britta wieder ein Paar wurden. Es durfte einfach nicht sein, dass dieser fremde Mann zwischen den beiden stand.

»Alles gut bei euch?«, fragte Britta, die in ihrem scharlachroten Satinschlafanzug aus dem Bad kam.

»Ja, alles ganz wunderbar«, antwortete Ulrike. »Möchtest du auch ein paar Salzstangen?«, fragte sie und hielt Britta das Glas hin, in dem die Salzstangen steckten.

»Danke, nein, aber ein Glas Wein würde ich nehmen.«

»Dann komm her«, forderte Gundula sie auf und deutete auf den Platz neben sich. »Wollen wir uns noch den Gruselfilm ansehen, der im Anschluss an den Krimi gesendet wird?«, fragte sie.

»O ja, bitte, mit Augen zuhalten, wenn es zu spannend wird. So wie früher, als wir noch Kinder waren«, stimmte Britta Gundulas Vorschlag zu.

»Ich bin auch dabei«, erklärte Ulrike, die noch ein Weinglas aus der Vitrine neben der Minibar geholt hatte. »Auf unseren Mädelurlaub«, sagte sie, nachdem sie Britta von dem Wein eingeschenkt hatte, den sie von zu Hause mitgebracht hatte.

»Triffst du dich morgen wieder mit ihm?«, fragte Gundula, nachdem sie miteinander angestoßen hatten.

»Ja, wir sind verabredet«, antwortete Britta.

»Der Film fängt an, hört auf zu quatschen.« Ulrike wollte jetzt erst einmal nicht mehr an diesen Sportlehrer denken, der drohte, ihre Pläne zu durchkreuzen.

»Alles klar, gruseln wir uns«, kicherte Gundula und legte sich ein Kissen auf die Knie, das sie sich im Notfall schnell vor die Augen halten konnte.

*

Zwei Tage vor dem Wanderwettbewerb gönnten sich Anna und Sebastian nach einer gemeinsamen Hausgeburt auf einem Aussiedlerhof ein Stück Kuchen im Café Höfner. Sie saßen an einem Tisch unter dem mächtigen Laubdach der alten Kastanie und schauten dem Treiben auf dem Marktplatz zu.

»Hat Herr Küster eigentlich inzwischen einen Termin in der Praxis vereinbart?«, fragte Anna leise, sodass nur Sebastian es hören konnte. Sie vertrauten einander bedingungslos, und das schloss mit ein, dass sie sich auch über ihre Patienten austauschen konnten, ohne befürchten zu müssen, dass dritte davon erfuhren.

»Gerti hat mir noch nichts davon gesagt. Demnach hat er es wohl nicht getan.«

»Vielleicht geht es ihm wieder gut. Ich meine, nachdem, was Emilia so erzählt, scheint sich sein Leben verändert zu haben.«

»Okay, ich ahne, was du meinst«, entgegnete Sebastian schmunzelnd, als er Annas Blick folgte.

Kai und Britta standen Hand in Hand vor dem Steinbrunnen, dem Mittelpunkt des Marktplatzes, und schauten auf den aus Stein gemeißelten Bären, der als Wasserspeier diente.

»Eine neue Liebe ist sicher gut für ihn, aber ich bezweifle, dass sie die Ursache für sein Unwohlsein beseitigt. Im Gegensatz zu seinem Hausarzt glaube ich nicht, dass seine Beschwerden rein psychisch bedingt sind. Kai Küster ist ein selbstbewusster junger Mann, der sich nicht alles gleich zu Herzen nimmt.«

»Wie auch immer, im Moment sieht er glücklich aus.«

»Und ich? Sehe ich auch glücklich aus?« Sebastian setzte seine Sonnenbrille ab und sah in Annas Augen, diese wundervollen grünen Augen, in denen er so gern versank.

»Du bist der Mann, den ich liebe. Ich hoffe doch sehr, dass dieses Leuchten in deinen Augen bedeutet, dass du mit mir glücklich bist«, entgegnete sie flüsternd.

»Ja, ich bin glücklich«, sagte er, legte seinen Arm um sie und küsste sie zärtlich.

»Mei, so verliebt möcht ich auch noch mal sein«, seufzte Therese Kornhuber, die erste Vorsitzende des Landfrauenvereins. Sie stand gegenüber des Cafés vor dem Haus der Draxlers und unterhielt sich mit Elvira, ihrer Stellvertreterin bei den Landfrauen, die aus dem Fenster im ersten Stock schaute.

»Lass das bloß nicht deinen Herzallerliebsten hören«, entgegnete Elvira amüsiert.

»Sag’s ihm halt nicht«, entgegnete die stattliche Therese, die wie gewöhnlich ein Dirndl trug. Dieses Mal in einem blassen Orange, das ihr graues zu einem dicken Zopf geflochtenes Haar ein wenig farblos erscheinen ließ.

»Schau, da ist noch einer verliebt«, sagte Elvira, eine hagere Frau im mausgrauen Dirndl, und sah zum Brunnen hinüber.

»Geh, der Sportlehrer vom Gymnasium aus der Kreisstadt. Ich kenn das Madl gar nicht.«

»Könnt eine Touristin sein«, mutmaßte Elvira. »Vielleicht eine, die wegen des Wanderwettbewerbs hier ist.«

»Der Herr Sportlehrer nimmt aber heuer nicht daran teil. Ich habe die Liste vom Alpenverein eingesehen.«

»Hat der Maxl dir wieder Einblick gewährt?«, fragte Elvira schmunzelnd.

»Die Teilnehmer sind kein Geheimnis nicht«, entgegnete Therese. »Wenn ich noch ein bissel jünger wär, dann würd ich auch mit um den Sieg wandern.«

»Therese, hör auf, wir zwei haben unseren Zenit überschritten. Das mit der Liebe ergibt nichts Neues mehr, und wirklich Schritt halten können wir mit den Jungen auch nicht mehr.«

»Klingt ein bissel traurig«, seufzte Therese. »Wie wär’s mit einem Seelentröster? Ein Schnapserl vielleicht?«

»Komm hoch, du altes Weiberl«, entgegnete Elvira lachend und verschwand vom Fenster, um Therese die Haustür zu öffnen.

*

»Hallo, Doktor Seefeld, hallo, Frau Bergmann«, begrüßte Kai Sebastian und Anna, als er und Britta wenig später ins Café Höfner kamen und sich an einen Nachbartisch setzten.

»Hallo, Herr Küster, Frau Kaufmann«, begrüßte Sebastian die beiden. »Wie geht es Ihrer Hand?«, fragte er Britta, die inzwischen keinen Verband mehr trug.

»Ich habe so gut wie keine Schmerzen mehr«, versicherte sie ihm, was auch der Wahrheit entsprach.

»Dann steht Ihrer Teilnahme am Wettbewerb nichts mehr im Weg.«

»Stimmt, ich fühle mich topfit«, sagte Britta lächelnd.

»Sie sind dabei geblieben, dieses Mal nicht teilzunehmen?«, wandte sich Sebastian an Kai.

»Ehrlich gesagt, für uns Einheimische ist dieser Wettbewerb auch keine wirkliche Herausforderung.«

»Das ist allerdings wahr. Der Alpenverein sollte sich in Zukunft mehr einfallen lassen, als unsere üblichen Spaziergänge in die Strecke einzubauen«, gab Sebastian ihm recht.

»Ich muss los, Sebastian. Die Schwangerschaftsgymnastik beginnt in einer Viertelstunde«, sagte Anna.

»Geh nur, ich kümmere mich um die Rechnung. Ich muss dann ohnehin auch los. Vater wartet sicher schon sehnsüchtig darauf, dass ich die Sprechstunde wieder übernehme. Er will doch zur Antiquitätenmesse nach Garmisch. Kommst du nachher zum Abendessen zu uns?«

»Möchtest du, dass ich komme?«

»Ich möchte auch, dass du bleibst«, raunte er ihr zu, bevor sie sich mit einem Kuss von ihm verabschiedete. »Auf Wiedersehen, Herr Küster, Frau Kaufmann«, wandte sich Anna den beiden noch einmal freundlich zu und eilte über den Marktplatz zum Haus mit der Apotheke. Im ersten Stock darüber war ihre Praxis und unter dem Dach ihre gemütliche kleine Wohnung.

Kurz nachdem Anna gegangen war, brach auch Sebastian auf und verabschiedete sich von Britta und Kai. Er verkniff sich jede Frage nach seinem Befinden, weil er nicht wusste, ob er Britta etwas von seinen Beschwerden erzählt hatte.

»Die beiden passen gut zusammen, schon rein äußerlich«, stellte Britta fest, die zuerst Anna nachgeschaut hatte und nun Sebastian mit ihrem Blick verfolgte.

»Du meinst, so gut wie wir?«, entgegnete Kai mit seinem jungenhaften Lächeln, das Britta so gut gefiel.

»Ich hoffe, dass es so ist«, antwortete sie.

Sie hatte inzwischen das Gefühl, Kai schon lange zu kennen. In den letzten Tagen hatten sie viel miteinander unternommen. Sie waren zur Burgruine und zum Wasserfall hinaufgewandert, hatten die Höhle oberhalb der Ruine besucht und waren mit dem Ruderboot auf dem Sternwolkensee unterwegs gewesen. Abends hatten sie im Biergarten oder in einem der Restaurants in der Gegend gegessen. Aber jetzt ging die Zeit mit ihm zu Ende. In drei Tagen würde sie wieder nach Hause fahren.

»Ich würde gern heute Abend für dich kochen«, sagte Kai, während sie den Kirschkuchen aßen, den sie sich bestellt hatten. »Morgen werden wir uns vermutlich nicht sehen, weil ich die 12 b zur Klassenfahrt nach Salzburg begleiten werde. Ich denke, dass wir erst am späten Abend zurück sein werden. Und übermorgen ist der Wettbewerb.«

»Du denkst an eine Art Abschiedsessen?«

»Nein, ich denke an ein romantisches Essen mit Kerzen und einem guten Wein«, sagte er und betrachtete sie zärtlich. »Falls du zusagst, werde ich dich gegen sieben abholen.«

»Gib mir deine Adresse, ich nehme mir ein Taxi.«

»Es würde mir nichts ausmachen, dich abzuholen.«

»Ich weiß, aber so gefällt es mir besser. Ich möchte sehen, wie du mir die Tür öffnest und mich hereinbittest.«

»Das heißt, du wirst kommen?«

»Ich bin schon sehr gespannt auf deine Kochkünste.«

»Ich werde mir große Mühe geben, dich nicht zu enttäuschen.«

»Du wirst mich nicht enttäuschen, Kai«, sagte sie und sah in seine Augen.

*

»Und da willst du hingehen? Das kann nicht dein Ernst sein. Er weiß doch, dass du in drei Tagen wieder fort sein wisst. Ein bisschen Spaß und keine weiteren Verpflichtungen. Darauf läuft es doch hinaus.« Ulrike sah Britta kopfschüttelnd an, nachdem sie ihr und Gundula von Kais Einladung erzählt hatte.

Sie saßen auf dem Balkon ihrer Suite, hatten es sich auf den Liegestühlen bequem gemacht und ließen sich die abendliche Sonne ins Gesicht scheinen. Hatte Ulrike sich in den letzten Tagen mit ihren Vorbehalten gegen Kai ein wenig zurückgehalten, machte sie Britta ihre Bedenken nun wieder eindeutig klar.

»Ich gehe.« Gundula huschte ins Zimmer, als das Telefon läutete. »Ja, hallo, ein Gespräch für mich? Wer ist es denn? Ja, nehme ich an«, hörten Britta und Ulrike sie sagen und dann sahen sie sie mit dem Telefon ins Nachbarzimmer gehen.

»Sie hat wohl auch Geheimnisse«, murmelte Ulrike.

»Was heißt auch? Ich verheimliche euch doch nichts.«

»Wer weiß«, entgegnete Ulrike mit skeptischer Miene.

»Was ist denn nur mit dir los, Rieke? Ich bin kein Teenager mehr, der vor dem bösen Verführer gewarnt werden muss. Ich bin erwachsen, ich weiß, was ich tue. Und ob du es hören willst oder nicht, ich habe mich in Kai verliebt, und ich bin ziemlich sicher, dass er das Gleiche für mich empfindet.«

»Bitte, Britta, geh heute Abend nicht zu ihm. Ich will nicht, dass du etwas bereuen musst«, redete Ulrike weiter auf sie ein.

»Egal, was du sagst, ich werde zu ihm gehen«, erklärte Britta fest entschlossen.

»Okay, es reicht. Ich denke, ihr beendet diese Diskussion. Ihr werdet euch sonst noch böse streiten«, mischte sich Gundula ein, die wieder auf den Balkon zurückkam. »Jede von uns hat schon Dinge getan, die die anderen nicht wirklich nachvollziehen konnten. Zum Beispiel habt ihr beide nie verstanden, warum ich meinen Hans geheiratet habe und in sein Reisebüro eingestiegen bin, statt weiterhin als Stewardess durch die Welt zu reisen.«

»Stimmt, das haben wir nicht verstanden«, gab Ulrike zu, »aber inzwischen haben wir deinen Hans richtig liebgewonnen«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Es war eine Herzensentscheidung, die sollten wir Britta auch zutrauen. Ich meine, sie wird wissen, wer der Richtige für sie ist.«

»Verzeih, Gundi, das klingt, als würde sie bereits planen, diesen Kai zu heiraten«, entgegnete Ulrike verblüfft.

»So weit sind wir noch nicht. Diesen Punkt können wir erst einmal hinten anstellen. Ich gehe mich jetzt umziehen«, sagte Britta und erhob sich von ihrem Liegestuhl. »Und bitte, Rieke, streite dich jetzt nicht mit Gundi, nur weil du dich um mein Seelenheil sorgst«, wandte sie sich lächelnd an Ulrike, bevor sie den Balkon verließ.

»Ich kann nicht zulassen, dass ihre Beziehung zu diesem Kai noch enger wird«, flüsterte Ulrike Gundula zu.

»Was willst du dagegen unternehmen?«

»Ich habe die Sache ganz offen mit Richard besprochen. Er wird morgen hier eintreffen.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch, ist es. Sie muss ihn sehen, dann wird alles wieder gut werden. Wenn ich nur wüsste, was ich tun kann, um sie daran zu hindern, heute Abend zu dem Sportlehrer zu gehen.«

»Vergiss es, du kannst sie nicht daran hindern. Und morgen gehst du erst einmal zu Doktor Seefeld. Es klingt, als würdest du eine Erkältung ausbrüten«, stellte Gundula fest, als Ulrike, so wie schon den ganzen Tag, husten musste und ihre Stimme immer heiserer klang.

»Eine Erkältung wäre gar nicht schlecht. Das würde bedeuten, dass wir unsere Teilnahme an dem Wettbewerb absagen müssen. Die Zugfahrt nach Hause wäre unter diesen Umständen ziemlich anstrengend für mich. Aber da Richard mit dem Auto herkommt, ist das kein Problem. Wir packen unsere Sachen, und sobald er hier eintrifft, steigen wir ins Auto und fahren nach Hause.«

»Nein, das tun wir nicht«, entgegnete Gundula.

»Aber es wäre die Lösung.«

»Ich bin hier, weil ich diesen Wettbewerb gewinnen will. Und wenn das nicht klappt, dann sollte es wenigstens einer der ersten Plätze sein.«

»Wir haben aber ein höheres Ziel. Brittas Glück. Ideal wäre es, wenn du morgen auf der Rückfahrt nach Monreal das Steuer übernimmst und ich mich auf den Beifahrersitz setze. Richard und Britta platzieren wir auf die Rückbank, damit sie miteinander reden können. Du wirst sehen, noch bevor wir in Monreal ankommen, werden die beiden sich miteinander ausgesöhnt haben.«

»Ich weiß zwar nicht, was ihr die ganze Zeit zu tuscheln habt, aber sollte es um mich gehen, dann könnt ihr euch jetzt wieder in normaler Lautstärke unterhalten. Ich habe mir gerade ein Taxi bestellt. Wie sehe ich aus?«, fragte sie und wandte sich dabei an Gundi.

»Aufregend schön«, antwortete Gundi mit einem anerkennenden Kopfnicken.

Das moosgrüne schmal geschnittene Kleid passte ganz wundervoll zu ihrem dunkelblonden Haar, das sie an diesem Abend offen trug. Der zartgrüne Lidstrich und der braune Mascara ließen ihre grünen Augen geheimnisvoll leuchten.

»Wann wirst du zurück sein?«, fragte Ulrike, die sich in diesem Moment wünschte, dass ihr Bruder schon da wäre und Britta sehen könnte.

»Ehrlich gesagt, Rieke, ich weiß es nicht. Aber du solltest etwas gegen deinen Husten unternehmen. Bis dann, ihr beiden, ich wünsche euch einen schönen Abend«, verabschiedete sie sich. Kai hatte ihr gerade ein Foto auf ihr Handy geschickt, das ihn mit Kochschürze in seiner Küche zeigte. Sie wollte einfach nur noch zu ihm.

»Vielleicht solltest du deinem Bruder sagen, dass er besser nicht herkommt. Ich gehe nämlich davon aus, dass er eine Enttäuschung erleben wird, schon allein wegen des Puddings«, sagte Gundula, nachdem die Zimmertür hinter Britta zugefallen war.

»Des Puddings?«, fragte Ulrike erstaunt.

»Sagte ich Pudding?«

»Ja, sagtest du.«

»Was ich manchmal so daher rede«, entgegnete Gundula schmunzelnd.

»Wie auch immer, du solltest dir über Richards Vorgehensweise keine Gedanken machen. Er weiß schon, was er tun muss, um Britta von seinen ernsten Absichten zu überzeugen.«

»Wenn du meinst.« Gundula schaute an den Horizont, der sich allmählich rot verfärbte und auch die Gipfel der Berge in rotgoldenes Licht tauchte. Im Gegensatz zu Ulrike war sie davon überzeugt, dass Richard keine Chance mehr bei Britta haben würde. Dazu war sie viel zu verliebt in Kai, und er offensichtlich auch in sie.

*

Britta blieb einen Augenblick stehen und schaute sich um, nachdem sie vor Kais Haus aus dem Taxi gestiegen war. Kai hatte ihr erzählt, dass er in einem idyllischen kleinen Dorf zwischen Bergmoosbach und Garmisch wohnte. Er hatte recht, es war idyllisch und ziemlich überschaubar.

Ein Bauernhof am Ortsanfang und ein zweiter am Ende des Dorfes, ein paar hübsche Einfamilienhäuser mit großen Gärten rund um die Kirche herum, die sich in der Mitte des Dorfes erhob. Das war schon alles, bis auf die sogenannte Neubausiedlung, in der Kai wohnte. Das waren drei Reihenhäuser auf einer Wiese, die nur durch einen Schotterweg mit der Dorfstraße verbunden waren. Die Häuser hatten rote Eingangstüren, rote Dachschindeln und rot gestrichene Gartenzäune. Im Dorf nannte man sie liebevoll »die roten Drillinge«.

»Gefällt es dir hier?«, fragte Kai lächelnd, der in hellem Poloshirt und eleganter dunkler Hose die Tür öffnete, weil er das Taxi gehört hatte.

»Auf jeden Fall ist es eine absolut ruhige Lage«, antwortete Britta und lief durch den mit bunten Blumen bepflanzten Vorgarten zur Haustür.

»Ganz so ruhig ist es sonst nicht. In den beiden anderen Häusern wohnen Familien mit Kindern. Sie sind aber beide zurzeit verreist.«

»Das heißt, wir sind ganz allein hier draußen?«

»So ist es. Traust du dich jetzt nicht mehr, hier zu bleiben?«

»Doch, ich traue mich«, antwortete sie, als er zur Seite trat, um sie ins Haus zu lassen.

Das untere Stockwerk war bis auf das Gästebad komplett offen gestaltet und sparsam möbliert. Helles Parkett, weiße Wände und eine Einbauküche mit weißen Lackfronten in L-Form. Eine Fernsehecke mit einem großen Sofa aus dunklem Leder, weiße Regale mit Büchern, eine Vitrine mit Geschirr und einige moderne Gemälde. Vor dem bodentiefen Fenster zum Garten hin stand ein runder Esstisch mit vier bequemen Polsterstühlen, den Kai bereits für das Abendessen gedeckt hatte.

Weißes Porzellan, schöne Gläser, ein Strauß gelber Röschen in einer Glasvase und eine Schüssel mit grünem Salat standen dort.

»Von innen wirkt das Haus um einiges größer, als ich es von außen vermutet hätte.«

»Innere Größe zu besitzen, empfinde ich als etwas Positives.«

»Ja, ich auch«, stimmte Britta ihm zu und wich seinem Blick aus, der sie so in Aufregung versetzte, dass ihre Augenlider zu zucken begannen. »Es duftet köstlich«, sagte sie und schaute zum Herd, der direkt unter einem der Fenster zur Vorderseite stand.

»Rate, was es ist«, forderte er sie auf.

»Keine Ahnung.«

»Schließe die Augen. Wonach genau riecht es?«, fragte er sie und stellte sich neben sie.

»Pfeffer, Muskatnuss, Kümmel«, zählte sie alles auf, was ihr bei diesem Duft in den Sinn kam.

»Großartig, was noch?«

»Hm, ich denke, Zimt und Kokosnuss.«

»Britta, das ist genial«, sagte Kai und küsste sie auf die Wange.

»Ich habe die Zutaten erraten?«, fragte sie erstaunt und öffnete ihre Augen.

»Nimm schon mal am Tisch Platz und lass dich überraschen«, bat er sie.

Britta wählte einen Stuhl, der es ihr erlaubte, auf die Berge zu sehen, deren Gipfel in rotem Licht der Abendsonne zu glühen schienen. Nur noch wenige Minuten und es würde dunkel sein.

»Du hast Pilau gekocht«, staunte sie, als er kurz darauf einen Keramiktopf auf den Tisch stellte, in den er den afrikanischen Eintopf gefüllt hatte, den er für sie beide zubereitet hatte.

»Erbsen, Karotten, Reis, Tomaten, Zwiebeln, Kokosnussmilch, gebratenes Fleisch. Ich hoffe, ich habe nichts vergessen«, sagte er und verteilte das Essen auf die beiden großen Teller, die auf dem Tisch standen.

»Es ist perfekt«, lobte Britta seine Kochkünste, nachdem sie von dem Eintopf und dem Salat versucht hatte, den sie in ein Salatschälchen gefüllt hatte.

Alles ist perfekt, dachte sie, als er die Kerzen anzündete und sie ihn im Schein des wärmenden Lichtes betrachtete.

Eine Weile sprachen sie über den Wettbewerb, und Britta erzählte ihm, dass Gundula fest auf einen der ersten Plätze hoffte. »Sie hat für morgen sogar noch eine Trainingswanderung geplant«, erzählte sie Kai, als sie später zusammen den Tisch abräumten und das Geschirr in die Spülmaschine räumten.

»Dafür brauchst du viel Energie. Ich denke, mein Dessert wird dir diese Energie verschaffen.«

»Bananen-Kokospudding mit Mango. Das ist mein Lieblingsdessert. Wenn ich in Köln zum Einkaufen bin, gehe ich nur wegen dieses Puddings in ein afrikanisches Restaurant. Aber das konntest du nicht wissen«, sagte sie und schaute ihn verblüfft an, als sie sich wieder an den Tisch setzten.

»Nein, das konnte ich nicht wissen. Das stimmt«, antwortete er lächelnd.

»Wie hast du es herausgefunden? Warte, der Anruf vorhin im Hotel, als Gundi flüsternd ins andere Zimmer verschwunden ist. Das warst du, richtig?«

»Stimmt, ich dachte mir, dass sie sicher über deine Lieblingsdesserts Bescheid weiß.«

»Du hast ausdrücklich nach Gundi verlangt, soweit ich das mitbekommen habe. Warum nicht nach Ulrike?«

»Weil du in den letzten Tagen weitaus häufiger von ihr als von Ulrike erzählt hast.«

»Das ist dir aufgefallen?«

»Ja, schon.«

»Danke.«

»Für was?«

»Dass du wirklich zuhörst.«

»Es ist der einfachste Weg, einen Menschen kennenzulernen.«

»Stimmt«, sagte sie. Sie nahm einen Löffel von dem Pudding in den Mund und aß ein Stück Mango dazu. Die Verbindung zwischen der zarten Nuss und der herben Süße der Frucht war ein betörendes Geschmackserlebnis.

Sie fand es erstaunlich, dass Kai etwas aufgefallen war, was ihr selbst bis eben gar nicht bewusst gewesen war. Dass sie Ulrike wegen ihre ständigen Warnungen, sich nicht mit Kai einzulassen, fast gänzlich aus ihren Gesprächen mit ihm ausgeklammert hatte. »Wenn ich mir die Berge wegdenke und nur die Sterne betrachte, dann könnte ich fast glauben, ich sei in einem Restaurant an der Küste des indischen Ozeans«, sagte sie.

»Wäre es nicht schön, wir wären wirklich dort?«

»Wir könnten das Rauschen des Ozeans hören.«

»Und nach dem Essen am Strand spazieren gehen.«

»Barfuß durch den Sand und uns vom Wind streicheln lassen.«

»Ich kann es mir sehr gut vorstellen, Britta.«

»Ich kann es mir auch vorstellen.«

»Wir könnten so tun, als wäre es so.«

»Und wie?«

»Komm, ich zeige es dir.« Er stand auf, holte eine Flasche Wein und zwei Gläser aus einem Küchenschrank, hielt alles geschickt mit einer Hand fest und löschte die Kerzen auf dem Tisch. Danach reichte er Britta seine andere Hand. Mit klopfendem Herzen ging sie mit ihm die Treppe in den ersten Stock hinauf. Er führte sie in sein Arbeitszimmer mit dem großen Schreibtisch und den deckenhohen Bücherregalen. »Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte er und öffnete die Tür zum Balkon.

»Kai, das ist fantastisch.« Verblüfft schaute sie auf die meerblauen Fliesen des Balkons, als er die Lichter einschaltete, die in die aus weißem Stein gemauerte Balkonbrüstung eingelassen waren.

In jeder Ecke des Balkons stand eine breit gefächerte Palme in einem erdfarbenen Kübel. In der Mitte des Balkons mit dem Blick in den Himmel stand ein Sofa aus hellem Rattan, dessen Sitzfläche tief genug war, um die Beine hochzulegen, sobald man sich in die vielen Kissen in leuchtend bunten Farben zurücklehnte, die an der Rückenlehne aufgereiht waren.

»Setz dich und lass dich verzaubern«, sagte er. »Möchtest du ein Glas Wein?«, fragte er sie, nachdem sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte und er den Wein und die Gläser auf einem Tischchen neben sich abgestellt hatte.

»Ja, ich trinke ein Glas Wein. Eine wundervolle Farbe«, stellte sie fest, als er ihr das Glas mit dem dunklen Rotwein reichte. Sie schwenkte das Glas behutsam hin und her, damit sich das Bouquet entfalten konnte. Dann ließ sie den Duft auf sich wirken.

»An was erinnert dich der Duft?«, wollte Kai wissen, der sie fasziniert beobachtete.

»Schwarze Johannisbeeren, Schokolade und Kaffee«, sagte sie und wandte sich ihm lächelnd zu. »In der Eifel werden einige der besten Rotweine Deutschlands angebaut. Eines dieser ausgezeichneten Weingüter gehört dem Bruder meiner Mutter. Von ihm habe ich gelernt, wie man einen guten Wein zu schätzen lernt.«

»Ich könnte dir stundenlang zusehen, wie du den Duft des Weines auf dich wirken lässt.«

»Dann solltest du zur nächsten Weinlese zu uns in die Eifel kommen.«

»Vielleicht werde ich das tun.« Bitte nicht jetzt, dachte er, als sich plötzlich wieder alles um ihn drehte.

»Ich würde es schön finden«, sagte sie und schaute an den Himmel.

»Besser so?«, fragte er.

»Ja«, flüsterte sie, als er das Licht mit einer Fernbedienung ausschaltete und nur noch das Licht der Sterne den Balkon erhellte. »Die Sterne scheinen von hier aus gesehen zwar anders angeordnet, aber es ist dennoch derselbe Himmel mit denselben Sternen.«

»Zum Beispiel das Sternbild des Schützen. Es steht von uns aus gesehen um einiges südlicher als über Kenia«, sagte er, während er innerlich aufatmete, weil der Schwindel wieder verschwunden war.

»Warum erwähnst du gerade das des Schützen?«

»Weil du am 1. Dezember im Zeichen des Schützen geboren wurdest.«

»Du interessierst dich für Astrologie?«

»Nein, für dich, Britta.« Er stellte sein Glas beiseite und nahm auch ihr behutsam das Glas aus der Hand, um es auf den Tisch zu stellen. »Könntest du dir vorstellen, mit mir gemeinsam durch Südamerika zu reisen, Britta?« Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie zärtlich an sich.

»Ich glaube, ich kann mir gerade alles vorstellen.«

»Alles?«, fragte er und küsste sie auf ihr Haar.

»Ja, alles.«

»Auch, dass du heute Nacht bei mir bleibst?«

»Ja, auch das.«

»Du weißt, dass ich mich in dich verliebt habe.«

»Ja, Kai, das weiß ich«, sagte sie, als er sich über sie beugte. In diesem Moment wollte sie nicht mehr nachdenken, sie sehnte sich so sehr nach seinen Zärtlichkeiten. Ich bin mehr als verliebt in dich, dachte sie, als er sie endlich küsste.

*

»Du hast auf dem Sofa übernachtet«, wunderte sich Britta, als sie am nächsten Morgen ins Hotel zurückkam und Gundula noch in die Decke eingehüllt auf dem Sofa lag und sie verschlafen anschaute. Es war erst kurz nach halb neun.

Kai musste um neun in der Schule sein und hatte sie vorher zum Hotel gebracht.

»Ulrike hat es bös erwischt. Ihr Husten ist gestern Abend noch schlimmer geworden. Ich wollte mich nicht anstecken. Insofern war es ganz praktisch, dass du es vorgezogen hast, auswärts zu übernachten. So wie du strahlst, gehe ich davon aus, dass es schön bei ihm war«, stellte Gundula lächelnd fest, nachdem sie sich aufgerichtet hatte.

»Ich bin so verliebt, Gundi«, sagte Britta und setzte sich zu ihr.

»Was ich dir von Herzen gönne, Schätzchen«, entgegnete Gundula und nahm Britta liebevoll in den Arm. »Er sieht übrigens nicht nur gut aus, wie ich bereits bei eurem ersten Rendezvous im Biergarten feststellen konnte, er hat auch eine wundervolle Stimme«, sagte sie.

»Er hat mir erzählt, dass er mit dir telefoniert hat.«

»Ich fand es total süß, dass er mich nach deinem Dessert gefragt hat. Der Mann lässt sich etwas einfallen, um dir eine Freude zu machen. Wie war der Pudding?«

»Köstlich.«

»Ich denke, das wäre heute deine Antwort auf alle Fragen, wenn es um die letzte Nacht geht.«

»Könnte schon sein«, antwortete Britta lächelnd. »Wo ist eigentlich Rieke? Schläft sie noch?«, fragte sie und schaute auf die angelehnte Tür zum Schlafzimmer.

»Nein, sie ist vor einer Viertelstunde mit dem Taxi zur Praxis Seefeld gefahren. Sie hat die ganze Nacht kaum geschlafen, so sehr hat sie ihr Husten geplagt.«

»Das heißt, sie wird vermutlich morgen gar nicht am Wettbewerb teilnehmen können.«

»So wird es ausgehen. Doktor Seefeld müsste schon Zauberkräfte besitzen, wenn er sie für den Wettbewerb noch fit machen würde.«

»Ich denke schon, dass er Zauberkräfte besitzt, aber nicht unbedingt welche, die einen Husten über Nacht verschwinden lassen.«

»Du sprichst von seiner Ausstrahlung auf uns Frauen, nehme ich an.«

»Ja, allerdings.«

»Okay, dein Kai scheint diese Ausstrahlung aber auch zu besitzen, wie wir bereits festgestellt haben.«

»Ulrike scheint ihn wohl gerade deshalb für einen Blender zu halten, der er es gar nicht ernst mit mir meinen kann.«

»Sie wird schon noch einsehen, dass sie sich geirrt hat. Hast du schon gefrühstückt?«

»Wir haben nur einen Kaffee getrunken. Die Zeit war heute Morgen ein wenig knapp.«

»Alles klar. Was hältst du davon, wenn wir uns das Frühstück aufs Zimmer bestellen?«

»Gute Idee. Was ist mit Rieke?«

»Wir wissen ja nicht, wann sie zurückkommt.«

»Okay, dann bestelle ich zweimal Frühstück, während du dich anziehst.«

»Aber mit allem. Ich meine, Spiegeleier und Toast und so etwas.«

»Sowieso, ich habe heute auch mächtigen Hunger«, sagte Britta.

Zwanzig Minuten später saßen die beiden auf dem Balkon der Suite und ließen sich das Frühstück schmecken, das ihnen ein freundlicher Kellner gebracht hatte.

Gundula wollte noch mehr von Brittas Abend mit Kai wissen, und Britta erzählte ihr von seinem Vorschlag, mit ihm gemeinsam durch Südamerika zu reisen.

»Ich an deiner Stelle würde nicht lange zögern. Nimm dir eine Auszeit und erlebe dieses Abenteuer mit ihm.«

»Genau das habe ich vor.«

»Was hast du vor?«, fragte Ulrike, die unbemerkt von den beiden auf den Balkon gekommen war.

»Du bist schon zurück? Das ging aber schnell«, stellte Gundula fest und sah ihre Freundin an, die einen dicken Schal zu ihrem luftigen Leinenkleid trug.

»Schon? Ich war doch gut zwei Stunden fort. Sieh mal auf die Uhr«, sagte sie.

»Oops, schon nach zehn«, sagte Gundula, als sie auf ihre Armbanduhr schaute. »Was hat Doktor Seefeld gesagt?«

»Ich habe mir eine Bronchitis gefangen. Mit dem Wandern wird es nichts. Ich soll für ein paar Tage jede Anstrengung meiden. In der Apotheke war ich auch schon«, sagte sie und wedelte mit der Papiertüte mit dem Aufdruck ›Teuchtner – Apotheke‹.

»Komm, setz dich zu uns. Wir bestellen dir auch Frühstück aufs Zimmer«, schlug Britta ihr vor.

»Ja, unbedingt, ich habe Hunger.«

»Ich mach das«, sagte Gundula.

»Schöne Nacht gehabt?«, wandte sich Ulrike an Britta, während Gundula im Zimmer mit dem Roomservice telefonierte.

»Ja, schon«, antwortete Britta und nippte an ihrem Kaffee. Sie hoffte, dass Ulrike ihr nicht gleich wieder Vorwürfe machte.

»Na dann«, sagte Ulrike und schaute nachdenklich an den Horizont.

Offensichtlich hat sie sich mit den Tatsachen abgefunden, dachte Britta. »Was hat Doktor Seefeld dir verschrieben?«, fragte sie, um das eisige Schweigen zu durchbrechen, das plötzlich zwischen ihnen herrschte.

»Tropfen und Saft. Aber Ruhe ist wohl das Wichtigste. Wie es aussieht, werden wir wohl nicht an diesem Wettbewerb morgen teilnehmen.«

»Du vielleicht nicht, aber wir schon«, sagte Gundula, die wieder auf den Balkon kam.

»Du vergisst, wir haben uns als Dreiergruppe angemeldet.«

»Na und, dann kommen wir eben nur zu zweit.«

»Es sind aber nur Dreierteams zugelassen. Wegen der Sicherheit, heißt es. Frei nach der alten Regel, einer von dreien kommt immer durch.«

»Wessen Regel ist das?«, fragte Gundula.

»Vermutlich die des örtlichen Alpenvereins.«

»Das werde wir ja sehen.«

»Warte, ich habe eine Idee«, bremste Britta Gundula, die schon in die Rezeption hinuntergehen wollte, um sich zu erkundigen, an wen sie sich wenden konnte, um ihre Teilnahme zu klären.

»Die wäre?«, fragte Gundula, als Britta sie am Arm festhielt.

»Ich werde Kai fragen, ob er uns begleitet. Er hat sich für den diesjährigen Wettbewerb nicht angemeldet, weil er die Strecke zu gut kennt und sie keine Herausforderung für ihn ist.«

»Echt? Das heißt, wenn du ihn dazu bringst, mit uns zu kommen, dann wären wir möglicherweise sogar ein bisschen im Vorteil.«

»Wenn er die Strecke kennt, dann bedeutet das nicht, dass ihr beiden Eifelkletterer ebenso schnell vorwärts kommt wie er«, meldete sich Ulrike begleitet von einem erneuten Hustenanfall zu Wort.

»Egal wie es ausgeht, ich fahre heute noch nicht nach Hause«, erklärte Gundula.

»Wer hat denn gesagt, dass wir heute nach Hause fahren?«, fragte Britta verwundert.

»Niemand, sie denkt wohl, weil ich krank bin, will ich nach Hause«, half Ulrike Gundula aus der Verlegenheit, ehe es ihr einfiel, Britta von Richards baldiger Ankunft in Bergmoosbach zu erzählen.

»Ich rufe Kai an«, sagte Britta und zückte ihr Handy.

»Hallo, Britta, hast du etwas im Auto vergessen?«, fragte Kai, als er sich gleich meldete.

»Nein, ich habe ein Problem. Das heißt, Gundi und ich haben ein Problem. Ulrike ist krank und kann morgen nicht am Wettbewerb teilnehmen. Wir sind also nur zu zweit. Ich dachte, vielleicht könntest du uns begleiten. Der Alpenverein besteht doch offensichtlich auf Dreiergruppen.«

»In Ordnung, ich komme mit. Wann soll ich da sein?«

»Um zehn Uhr.«

»Alles klar, bis dann. Entschuldige, aber ich muss jetzt Schluss machen. Wir steigen gerade in den Bus, ich muss darauf achten, dass keiner zurückbleibt.«

»Ich wünsche dir einen schönen Tag, Kai. Und danke.«

»Ich freue mich auf dich«, sagte er und beendete das Gespräch.

»Er kommt mit, richtig?«, fragte Gundula und sah Britta abwartend an.

»Richtig«, antwortete Britta.

»Super, dann gehen wir jetzt ein bisschen trainieren.«

»Gib mir zwei Minuten«, sagte Britta und verließ den Balkon, um ihr Kleid gegen Jeans und T-Shirt zu tauschen.

»Musstest du mir das antun?«, fuhr Ulrike Gundula im Flüsterton an.

»Ich tue dir gar nichts an. Wir sind hier, um an dem Wettbewerb teilzunehmen.«

»Aber nicht mit ihm.«

»Rieke, bitte, hör endlich auf. Nicht Britta und ich sind die Träumerinnen. In diesem Fall bist es du. Freue dich darüber, dass Britta glücklich ist, und belasse es dabei«, raunte sie ihr zu.

»Glaube mir, ich denke nur daran, dass sie glücklich wird.«

»Hoffentlich.«

»Ich bin so weit!«, rief Britta.

»Ich komme. Ruhe dich aus, Rieke, gute Besserung«, verabschiedete sich Gundula.

»Tschüss, Rieke!«, hörte Ulrike Britta noch rufen, dann fiel die Tür ins Schloss.

Ulrike klappte einen der Liegestühle auf, legte sich in die Sonne und zückte ihr Handy, um ihren Bruder anzurufen. »Wo bist du?«, fragte sie ihn, als er sich meldete.

»In zwei Stunden bin ich bei euch.«

»Ich freue mich auf dich, bis dahin«, sagte sie und beendete das Gespräch.

*

Gundula hatte Britta zu einer Wanderung zum Wasserfall überredet. Um sich nicht zu verausgaben, da sie ihre Kräfte für den nächsten Tag brauchten, hatten sie sich viel Zeit gelassen, eine lange Pause am Ziel eingelegt, um dann schließlich gemütlich ins Tal hinunter zu spazieren. Als sie am späten Nachmittag wieder im Hotel eintrafen, fanden sie eine Nachricht von Ulrike auf ihrem Zimmer.

»Bin unterwegs, treffen uns um sieben zum Abendessen im Restaurant. Habe einen Tisch am Fenster zur Terrasse hin reservieren lassen«, stand auf dem Zettel, der an der Tür des Badezimmers hing.

»Was heißt unterwegs? Sie sollte sich doch ausruhen.« Gundula nahm den Zettel ab und legte ihn auf die Kofferablage neben der Tür.

»Wir könnten sie auf ihrem Handy anrufen und sie fragen, wo sie ist. Oder wir trauen ihr einfach zu, dass sie weiß, was sie sich zumuten kann«, entgegnete Britta.

»Du hast recht, sie ist erwachsen.«

»Und ich könnte ein Stündchen Schlaf vertragen.«

»Das glaube ich dir gern. Es war schon ein bisschen eigennützig von mir, dich nach der letzten Nacht auf so eine Tour zu schicken«, entschuldigte sich Gundula mit einem unschuldigen Augenaufschlag.

»Schon gut, ich hätte ja nicht mitgehen müssen.«

»Ich setze mich mit einem Buch auf den Balkon. Wann soll ich dich wecken?«

»Um halb sieben«, sagte Britta. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen, legte sich aufs Sofa und zog die leichte Baumwolldecke über sich. Keine fünf Minuten später war sie eingeschlafen.

»Was ist?!«, rief sie erschrocken und schoss hoch, als das Telefon läutete, das auf dem Tisch neben dem Sofa lag. »Hallo«, meldete sie sich verschlafen.

»Britta, wo bleibt ihr?«, hörte sie Ulrike sagen.

»Wie viel Uhr ist es denn?«

»Gleich halb acht.«

»Echt? Tut mir leid, ich bin eingeschlafen. Und Gundi wohl auch«, stellte sie fest, als sie auf den Balkon schaute und Gundula mit dem Buch auf dem Bauch im Liegestuhl liegen sah. »Wir sind in einer Viertelstunde unten«, sagte sie und legte auf.

»Entschuldige, ich bin wohl auch eingeschlafen«, stellte Gundula fest, die Britta hatte reden hören und sich aus ihrem Liegestuhl erhob.

»Das war Rieke. Es ist schon halb acht«, sagte Britta.

»Dann sollten wir uns wohl umziehen.«

»Ja, allerdings, das sollten wir.«

»Du bist doch in der Lage, Rieke einiges zu verzeihen oder?« Gundula sah Britta an, als sie eine Viertelstunde später in den Lift stiegen.

»Was genau soll ich ihr denn verzeihen? Diese unbegründeten Vorbehalte gegen Kai?«

»Auch, aber ich dachte, so ganz generell eben.«

»Ich habe keine Ahnung, worauf du hinaus willst, aber wenn es dich beruhigt, ja, ich kann ihr einiges verzeihen«, sagte Britta und schob die langen Ärmel ihres leuchtend blauen Kleides ein Stück nach oben.

»Vielleicht hätte ich dir raten sollen, statt dieses figurbetonten Kleides und der hübschen Pumps einen weiten Pullover und eine Latzhose anzuziehen. Obwohl egal, darin würdest du vermutlich auch noch gut aussehen«, seufzte Gundula und vergrub ihre Hände in den Taschen der weißen Stoffhose, die sie zu einem schwarzen Seidenpulli trug.

»Gundi, was ist denn nur los? Hat es etwas mit dieser Flüsterei zwischen dir und Rieke zu tun?«, fragte Britta, als sie gleich darauf das Restaurant betraten.

Es war gut besucht und es gab kaum noch freie Plätze. Der rote Teppichboden, die Tische und Stühle aus Kiefernholz, der grüne Kachelofen in der Mitte des Raumes und die Kerzen auf den Tischen schufen eine gemütliche Atmosphäre.

»Ich konnte es nicht verhindern«, flüsterte Gundi, als sie sich den Tischen am Fenster näherten. Sie spürte, wie Britta beinahe erstarrte, als sie den attraktiven jungen Mann in dem eleganten dunklen Jackett erkannte, der neben Ulrike saß. Er war groß und schlank, hatte helles stufig geschnittenes Haar und dunkle Augen.

»Was will er hier?«, fragte Britta mit bebender Stimme.

»Das sollen er und Rieke dir erklären. Bleib einfach stark«, sagte Gundula und hakte sich bei ihr unter.

Am liebsten hätte Britta auf dem Absatz kehrtgemacht, um das Restaurant auf der Stelle wieder zu verlassen. Aber das würde Richard glauben lassen, dass sie immer noch darunter litt, was er ihr angetan hatte. Diesen Triumph werde ich dir nicht gönnen, dachte sie. Sie holte tief Luft, setzte ein freundliches Lächeln auf und ging tapfer weiter.

»Überraschung«, verkündete Ulrike freudestrahlend, als Britta und Gundula ihren Tisch erreichten.

»Das lässt sich nicht leugnen. Dich hätte ich hier wirklich nicht erwartet«, sagte Gundula, als Richard sich von seinem Platz erhob, erst ihr kurz die Hand reichte und sich dann Britta zuwandte.

»Eine wirklich nette Überraschung. Wie geht es dir?«, fragte Britta und hielt seinem Blick stand, während er ihre Hand umfasste.

»Gerade jetzt geht es mir wirklich gut«, antwortete er und streichelte mit seinen Fingern zärtlich über ihre Hand.

»Das freut mich«, sagte Britta, entzog ihm ihre Hand und setzte sich auf den freien Platz neben Gundula, die gegenüber von Ulrike saß.

»Tut uns echt leid, dass wir verschlafen haben. Habt ihr schon bestellt?«, fragte Gundula.

»Nein, wir haben auf euch gewartet«, sagte Ulrike.

»Dann wollen wir mal sehen, was es gibt«, erklärte Gundula und schlug genau wie Britta die Speisekarte auf.

Britta entschied sich für den Räucherlachs mit Blattspinat. Gundula schloss sich ihrer Wahl an, während Ulrike und Richard eine Fischplatte für zwei Personen bestellten.

»Könntet ihr euch nicht vielleicht doch vorstellen, dass ihr diesen Wettbewerb sausen lasst und dass wir morgen früh alle zusammen nach Hause fahren? Ich meine, Richard ist mit dem Auto da, das wäre mir in meinem Zustand ohnehin angenehmer, als mit der Bahn zu fahren«, versuchte Ulrike, die beiden erneut zu einer gemeinsamen Heimfahrt zu überreden.

»Keine Chance«, entgegnete Gundula.

»Und was sagst du?«, wandte sich Ulrike an Britta.

»Ich habe nicht vor, Gundula den Tag zu verderben.«

»Dann brechen wir eben nach dem Wettbewerb auf. Oder wollt ihr unbedingt mit dem Zug fahren?«

»Lass uns doch erst einmal den Wettbewerb gewinnen«, sagte Gundula.

»Sieh an, die junge Dame hat sich bereits zur Gewinnerin gekürt«, sagte Adalbert von Güstrow, der mit Romina von Marenhaus am Nachbartisch saß. Er im eleganten Anzug, sie im eleganten Kostüm.

»Ich werde mit einem erfahrenen Team unterwegs sein, das wird sich am Ende auszahlen«, antwortete Gundula schmunzelnd.

»Nur nicht größenwahnsinnig werden«, murmelte Adalbert und wandte sich wieder Romina zu.

»Offensichtlich nehmen die Leute diesen kleinen Wettbewerb richtig ernst«, wunderte sich Richard.

»Das kannst du dir wohl nicht vorstellen, dass jemand etwas ernst nimmt«, fuhr Gundula ihn an.

»Gundi, bitte, was soll das?«, mischte sich Ulrike sofort ein.

»Wie gefällt dir das Leben auf Ibiza?«, wandte sich Britta mit einem freundlichen Lächeln an Richard, damit Gundula Zeit hatte, sich wieder zu beruhigen.

»Es hat mir nie wirklich gefallen«, antwortete Richard und sah ihr direkt in die Augen.

»Das heißt?«

»Ich bin zurück in Monreal. Ich habe bereits eine Wohnung, und ich werde wieder in der Klinik arbeiten.«

»Ist das so?« Britta spürte ihr Herz schneller schlagen, als er erneut ihren Blick festhielt. Für einen Moment ließ sie sich wieder von seinem Charme einfangen.

»Es tut mir wirklich unendlich leid, wie ich mich dir gegenüber benommen habe.«

»Wie du siehst, habe ich es überstanden.«

»Jetzt lasst uns erst einmal über etwas anderes reden«, unterbrach Ulrike die beiden, als das Essen gleich darauf serviert wurde.

»Über was denn?«, fragte Gundula mit blitzenden Augen. Sie machte sich die heftigsten Vorwürfe, dass sie Britta nichts von Ulrikes Vorhaben gesagt hatte. Sie sah, wie ihre Hände zitterten, als sie das Besteck aufnahm, das auf der Serviette neben ihrem Teller lag. Und was sie noch mehr ärgerte, war die Tatsache, dass Richard es auch bemerkte.

»Unser Onkel hat beschlossen, die Klinik zu modernisieren, und Richard soll ihm während der Planung beratend zur Seite stehen«, erzählte Ulrike.

»Wir werden mit allen Mitarbeitern sprechen und uns ihre Vorschläge anhören«, wandte Richard sich an Britta.

»Gute Idee.«

»Was den Gymnastikbereich betrifft, werde ich meinem Onkel vorschlagen, dass du in Zukunft die Leitung der Abteilung übernimmst.«

»Danke für dein Vertrauen. Aber darüber sollten wir ein anderes Mal sprechen.«

»Bleib, Britta, ich möchte gern noch über einiges mit dir reden«, sagte Richard, als Britta von ihrem Stuhl aufstand.

»Ich bin aber auf einmal sehr müde. Seid mir nicht böse, ich muss mich hinlegen, sonst wird Gundi morgen keine Freude an mir haben.« Britta konnte sich nicht länger zusammennehmen. Diese Begegnung mit Richard ließ sie nicht so kalt, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie wollte sich nicht an all den Kummer, den er ihr bereitet hatte, erinnern, und sie wollte mit ihm schon gar nicht ihre berufliche Zukunft planen. Sie konnte sich im Moment auch überhaupt nicht vorstellen, ihm wieder jeden Tag in der Klinik zu begegnen.

»Bleib doch noch, wir wollten noch ein Dessert bestellen«, versuchte auch Ulrike, sie aufzuhalten.

»Ich glaube nicht, dass sie hier Bananen-Kokosnusspudding haben.«

»Nein, aber…«

»Lass es gut sein, Rieke«, bat Gundula, als Britta zum Ausgang des Restaurants eilte.

»Geh ihr nach, lade sie zu einem Cocktail in die Bar ein und erzähle ihr, was du fühlst«, forderte Ulrike ihren Bruder auf, der Britta verdutzt nachschaute.

»Du hast recht, ich habe schon viel zu viel Zeit verloren.«

»Diese Begegnung tut ihr nicht gut«, sagte Gundula, als Richard Britta folgte.

»Abwarten«, entgegnete Ulrike.

Richard holte Britta kurz vor dem Lift ein. Er war davon ausgegangen, dass es einfacher sein würde, sie zurückzugewinnen. Nicht dass er erwartet hätte, sie würde ihm gleich in die Arme fallen, aber dass sie einfach ging, ohne sich anzuhören, was er ihr zu sagen hatte, das überraschte ihn. Vielleicht war dieser Mann, mit dem sie sich in den letzten Tagen getroffen hatte, doch mehr als ein harmloser Flirt, wie Ulrike behauptet hatte. »Bitte, Britta, gib mir fünf Minuten«, bat er sie, als sie schon auf den Knopf drücken wollte, um den Lift zu holen.

»Hier ist niemand außer uns. Was also willst du mir sagen?« Sie hatte sich kurz in der Lobby umgesehen. Bis auf die junge Frau in dem blauen Kostüm, die am Empfangstresen stand, waren sie allein.

»Ich will, dass du weißt, dass ich zutiefst bereue, was ich getan habe. Es war ein Fehler fortzugehen. Ich habe diese Frau nie wirklich geliebt, das ist mir inzwischen längst klar geworden. Du bist die Frau, die ich liebe. Ich bitte dich, uns eine zweite Chance zu geben, Britta.«

»Hat sie dich verlassen?«

»Wir haben nicht zusammengepasst«, sagte er und senkte kurz den Blick.

»Das heißt, die Dame hat sich ein neues Spielzeug gesucht. Das tut sicher weh, aber da musst du jetzt durch. Tut mir leid für dich, aber wir haben keinen Einfluss darauf, was das Schicksal mit uns anstellt«, sagte Britta und drückte auf den Liftknopf. Mit genau diesen Worten hatte sich Richard vor einem halben Jahr von ihr verabschiedet. Sie hatte sie bis heute nicht vergessen.

»Britta, bitte, sei nicht so hart.«

»Mach das mit deinem Schicksal aus«, antwortete sie, als der Lift anhielt. Es war genug, sie wollte und konnte sich nicht länger mit ihm auseinandersetzen. »Gute Nacht, Richard«, sagte sie und stieg in den Lift.

»Wo ist sie?«, wollte Ulrike wissen, die ein paar Minuten später zusammen mit Gundula in die Lobby kam und Richard an einer Säule gegenüber des Lifts lehnen sah.

»Es gestaltet sich schwierig«, sagte er und betrachtete die Spitzen seiner teuren Lederschuhe.

»Gib ihr ein bisschen Zeit. Wie du wohl bemerkt hast, machst du sie nervös, und das, mein Lieber, ist ein gutes Zeichen. Wir drei könnten doch noch in die Bar gehen«, schlug sie vor.

»Du solltest wohl eher ins Bett gehen«, sagte Gundula, als Ulrike wieder einen Hustenanfall bekam.

»Ich nehme ein paar Tropfen, die unterdrücken den Husten für eine Weile. Während des Essens hatte ich doch Ruhe. Ein Cocktail geht schon«, antwortete sie, während sie das Fläschchen mit den Tropfen aus ihrer Handtasche nahm, das ihr Sebastian verschrieben hatte.

»Dann geht eben in die Bar. Ich gehe zu Britta. Ich bin auch müde«, erklärte Gundula und stieg in den Lift, den gerade einige Hotelgäste verlassen hatten.

»Gundi will mir offensichtlich nicht verzeihen«, stellte Richard fest, als sich Ulrike bei ihm unterhakte und sie beide zur Bar gingen.

»Darüber musst du dir keine Gedanken machen. Sobald Britta dir verzeiht, ist auch für Gundi alles wieder gut.«

»Aber dieser andere Mann, dieser Sportlehrer…«

»Setze deinen Charme ein, und er ist bald Geschichte«, versicherte ihm Ulrike und zog die Tür zur Hotelbar auf.

*

»Ich nehme an, du bist nicht wirklich müde«, stellte Gundula fest, weil Britta noch auf dem Balkon war, als sie in die Suite kam.

Sie hatte sich mit einer Decke auf einen Liegestuhl gesetzt und starrte auf die Berge, die sich gegen den Nachthimmel streckten. »Die Begegnung mit Richard hat mich aufgewühlt«, gab sie zu.

»Rieke wollte nicht, dass ich es dir sage. Sie hofft so sehr darauf, dass ihr wieder zusammenkommt«, sagte Gundula und setzte sich auf den Liegestuhl neben Britta. »Du bist ihre Freundin und sie liebt ihren Bruder.«

»Ich werde ihr diese Sache nicht nachtragen, keine Sorge.«

»Echt nicht?«

»Versprochen.«

»Gut, dann bin ich beruhigt. Soll ich schon mal das Sofa herrichten? Ich denke, du wirst es heute mit mir teilen müssen, damit ich mich nicht doch noch bei Rieke anstecke.«

»Alles klar, ich bleibe noch ein paar Minuten hier draußen. Danach können wir uns noch einen Film ansehen, bis uns die Augen zufallen.«

»So machen wir es«, sagte Gundula und ging ins Zimmer. Sie war froh, dass Britta verstehen konnte, warum Ulrike diese Begegnung arrangiert hatte.

Britta dachte kurz daran, Kai anzurufen, ließ es dann aber, weil er ihr gesagt hatte, dass er erst gegen Mitternacht zu Hause sein würde, und unterwegs mit seiner Klasse wollte sie ihn nicht stören. Sie versuchte, Richard aus ihren Gedanken zu vertreiben, aber es gelang ihr nicht, dazu kannte sie ihn einfach schon zu lange. Sie musste lächeln, als sie sich plötzlich daran erinnerte, wie sie im Kindergarten im Sandkasten gespielt hatten und sich gegenseitig die Sandförmchen weggenommen hatten. Richard gehörte zu ihrem Leben, sie konnte ihn nicht herauslöschen. Sie musste ihm irgendwann irgendwie verzeihen.

*

Kai hatte den Wecker auf halb neun gestellt. Er wollte noch in Ruhe frühstücken, bevor er sich auf den Weg nach Bergmoosbach machte. Der Klassenausflug nach Salzburg war glücklicherweise ohne Zwischenfälle verlaufen. Alle waren pünktlich bei Abfahrt des Busses von ihrer Stadtbesichtigung zurück gewesen. Er freute sich darauf, Britta gleich zu sehen. Dass sie morgen schon nach Hause fahren würde, gefiel ihm gar nicht. Er hatte sie gestern schon den ganzen Tag vermisst. Wenn sie sich auch weiterhin sehen wollten, dann lief das auf viele Stunden auf der Autobahn oder im Zug hinaus. Er war bereit dazu, das auf sich zu nehmen, und hoffte, dass sie es auch war.

Nach dem Frühstück in der Küche wollte er im Keller seine Wanderschuhe holen. Er ging die Treppe hinunter und zog die Kellertür auf. Kaum hatte er den Raum betreten, wurde er von einem heftigen Schwindelanfall überrascht. Er konnte sich nicht mehr aufrecht halten und fasste ohne darüber nachzudenken an den alten Stahlschrank mit den Aktenordnern. Ich hätte ihn an der Wand befestigen sollen, dachte er, als er ins Wanken geriet. Er versuchte noch, sich in Sicherheit zu bringen, aber alles in seinem Kopf drehte sich. Er wusste nicht wohin.

»Bitte nicht«, flüsterte er, als der Schrank scheppernd umfiel und ihn zu Boden riss. Das letzte, woran er dachte, war, dass sein Handy oben im Wohnzimmer lag, er keine Hilfe rufen konnte und Britta nun vergeblich auf ihn warten würde.

*

Die Wanderer, die sich für den Wettbewerb angemeldet hatten, trafen sich auf der Wiese vor dem Napoleonhügel. Es hieß, dass Napoleon 1806 auf der Durchreise nach München auf dieser Erhebung im Grenzgebiet zwischen Bergmoosbach und seiner Nachbargemeinde Mainingberg gestanden haben soll, weil er die Milchstraße betrachten wollte. Beweise dafür gab es nicht, nur Gerüchte, aber die beiden Gemeinden wollten gern an diese Gerüchte glauben.

Der Alpenverein hatte eine Tribüne am Fuße des Hügels aufgebaut und überreichte dort die Sticker, die die Teilnehmer des Wettbewerbs tragen sollten. Für jede Dreiergruppe gab es Sticker mit einer eigenen Nummer. Gegen zehn hatten alle Teilnehmer ihre Sticker abgeholt. Britta und Gundula steckten sich die runden gelben Sticker mit der Nummer 17 an ihre Pullover, die sie zu Jeans und Wanderschuhen trugen. Die Allwetterjacken, die sie wie alle Teilnehmer der 30 Teams auch dabei hatten, hatten sie sich wegen der angenehm warmen Temperaturen im Tal um die Taille gebunden.

Auf der Wiese herrschte Volksfeststimmung. Es hatten sich viele Zuschauer eingefunden, die den Start verfolgen wollten. Die Brauerei Schwartz hatte einen Getränkestand aufgebaut und die Bäckerei Höfner verkaufte belegte Brötchen. Wanda, die junge Musiklehrerin aus der Bergmoosbacher Grundschule, und einige ihrer Kolleginnen sorgten für die Unterhaltung der Kinder, deren Eltern an der dreistündigen Wanderung teilnehmen wollten und keinen Babysitter gefunden hatten.

Wanda baute mit ihnen Musikinstrumente aus Dosen und Schachteln, die anderen lasen den Kinder vor, ließen sie mit Kasperpuppen spielen oder passten auf, dass sie sich nicht verletzten, wenn sie in der Hüpfburg herumtobten, die die Gemeinde zur Verfügung gestellt hatte.

Auch Emilia und ihre Freundin Doro waren in Begleitung von Nolan zum Napoleonhügel gekommen, um einen Bericht für ihre Schülerzeitung über den Wettbewerb zu verfassen.

»Ich mache schon mal ein paar Fotos«, sagte Doro, ein hübsches Mädchen mit streichholzkurzem Haar, das wie immer ganz in Schwarz gekleidet war.

»Okay, ich werde die Leute nach ihrem Befinden befragen«, sagte Emilia. Sie nahm ihr Handy aus der Jeanstasche und schaltete das Mikrophon ein. Der offizielle Start war für halb elf geplant, bis dahin konnte sie noch einige Interviews aufnehmen.

Alle wussten, dass nicht die schnellste Gruppe am Ende den Sieg davon tragen würde, sondern die, die unterwegs alle Aufgaben erfüllte, die auf einem Zettel aufgelistet waren. Den bekamen die Teilnehmer allerdings erst überreicht, wenn sie die Startlinie, die mit einem roten Flatterband gekennzeichnet war, überschritten.

»Wo bleibt er?«, fragte Gundula ungeduldig, als sie auf ihre Armbanduhr schaute und von Kai immer noch nichts zu sehen war. »Ich denke, du solltest ihn anrufen, Britta, und fragen, wo er bleibt.«

»Gut, mache ich. Hoffentlich hat er nicht verschlafen«, entgegnete Britta verunsichert.

»Wenn es so ist, dann sind wir wohl draußen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass wir auf die Schnelle noch einen Ersatz für ihn finden.«

»Probleme?«, fragte Ulrike, die zusammen mit Richard in der Nähe des Starts stand und ihre beiden Freundinnen beobachtete.

»Kai ist noch nicht da«, sagte Gundula, nachdem sie zu ihnen gegangen war, damit nicht alle Teilnehmer gleich mitbekamen, dass sie ihn vermissten.

»Das wundert mich nicht. Ich habe es Britta prophezeit.«

»Damit meinst du was?«, fragte Gundula.

»Das weißt du genau. Und natürlich ist mir klar, dass es dir nun unangenehm ist, dass ich recht behalten habe.«

»Rieke hat diesen Mann offensichtlich als einzige von euch durchschaut. Dabei wäre es nicht schwer gewesen. Es ist ganz normal, dass attraktive junge Männer in ausgewiesenen Urlaubsgebieten nur ihren Spaß mit Touristinnen haben wollen«, mischte sich Richard mit einem triumphierenden Grinsen ein.

»Auf diesem Gebiet bist du Experte, das ist richtig«, entgegnete Gundula schnippisch.

»Jetzt lass Richard doch mal außen vor, Schätzchen«, sagte Ulrike. »Britta ist nach der letzten Nacht nicht mehr interessant für Kai. So läuft das eben«, erklärte Ulrike.

»Das will ich aber nicht glauben. Was ist, was hat er gesagt?«, fragte Gundula, als Britta bald darauf zu ihnen kam.

»Er meldet sich nicht. Ich habe es mehrfach auf seinem Handy und auf seinem Festnetz versucht.«

»Da habt ihr es. Dich hat er so weit bekommen, wie er wollte. Jetzt ist die nächste an der Reihe«, sagte Ulrike.

»Ich könnte für ihn einspringen«, schlug Richard vor.

»Eine wundervolle Idee«, sagte Ulrike. »Oder wir fahren jetzt gleich nach Hause.«

»Ja, vielleicht wäre das das Beste«, stimmte ihr Britta mit trauriger Miene zu. Wie hatte sie sich denn nur so in Kai täuschen können? Warum hatte er denn nicht wenigstens mit irgendeiner Ausrede abgesagt, wenn er sie nicht begleiten wollte?

»Ich hatte euch gewarnt. Dieser Sportlehrer wollte nur seinen Spaß mit dir haben. Er wird sich nicht mehr bei dir melden, glaube mir«, betonte Ulrike erneut.

»Sie sprechen jetzt aber nicht von Kai Küster oder?«, mischte sich Emilia ein, die einen Teil des Gespräches mitbekommen hatte, während sie nach neuen Interviewpartnern Ausschau hielt.

»Doch, genau von ihm. Er gehört zu dieser Sorte Mann, der eine Frau niemals vertrauen sollte«, erklärte Ulrike und hakte sich bei Richard unter.

»Das ist Unsinn. So ist er nicht«, verteidigte Emilia ihren Sportlehrer.

»Ach ja? Er hat meiner Freundin versprochen, sie auf dieser Wanderung zu begleiten, aber er ist weder hier noch hat er abgesagt. Wenn sie ihn anruft, dann geht er nicht ans Telefon. Er ist auf dem Rückzug. Etwas anderes kann ich aus diesem Verhalten nicht schließen. Woher kennst du den Mann überhaupt?«, wollte Ulrike wissen.

»Er ist unser Sportlehrer«, klärte Doro sie auf. Sie hatte auch gehört, dass Kais Name fiel, und wollte jetzt wissen, was los war.

»Ich bin für dich da, Britta. Lass uns hier verschwinden«, redete Richard auf sie ein und legte seinen Arm um ihre Schultern.

»Denk nach, Britta. Richard kennst du schon so lange. Willst du ihm diesen einen Fehltritt nicht verzeihen?«, fragte Ulrike und sah sie an.

»Eigentlich will ich erst einmal nur hier weg«, sagte Britta, die inzwischen mit den Tränen kämpfte.

»Und der Wettbewerb?«, fragte Gundula.

»So, jetzt ist es gut. Herr Küster hat Sie mit Sicherheit nicht versetzt«, wandte sich Emilia an Britta. »Wenn er sich nicht meldet, dann gibt es dafür sicher einen Grund. Versuchen Sie doch noch mal, ihn anzurufen«, bat sie Britta.

»Gut, mache ich«, erklärte sie sich einverstanden, aber auch dieses Mal hatte sie keinen Erfolg.

»Okay, ich habe eine Idee«, sagte Emilia und rief die Nummer ihres Vaters in ihrem Handy auf. »Papa, bist du noch mit Anna in Garmisch zum Einkaufen?«, fragte sie, als Sebastian sich meldete.

»Wir sitzen gerade in einem Café. Ist dir noch etwas eingefallen, was wir dir mitbringen sollen?«, wollte Sebastian wissen.

»Nein, es geht um Herrn Küster. Er wollte um zehn am Napoleonberg sein, aber er ist nicht aufgetaucht, und er meldet sich weder auf seinem Handy noch auf dem Festnetz. Es könnte doch sein, dass ihm etwas passiert ist. Ich meine, in seinem Zustand könnte das doch sein. Würdet ihr beide zu ihm fahren und nach ihm sehen«, bat sie ihren Vater mit besorgter Stimme.

»Wir fahren sofort hin. Wie ist die Adresse?«

»Ich schicke sie dir.«

»Wir melden uns, sobald wir etwas wissen«, versicherte ihr Sebastian und beendete das Gespräch.

»Was heißt in seinem Zustand?«, wollte Britta wissen, die genau zugehört hatte, was Emilia gesagt hatte.

»Gleich«, sagte Emilia, während sie ihrem Vater Kais Adresse schickte.

»Wir werden ihr sagen, was mit ihm los ist. Sonst glaubt sie wirklich noch, dass er sie versetzt hat und verschwindet mit diesem arroganten Grinser«, raunte Emilia Doro zu, während sie Richard ansah.

»Kommen Sie, wir gehen ein paar Schritte«, wandte sich Doro an Britta.

»Macht ihr nur keine Hoffnungen, dann wird das Erwachen umso schlimmer«, sagte Ulrike, als Doro und Emilia Britta in ihre Mitte nahmen.

»Wir wollen nur mit ihr reden«, sagte Emilia.

»Also, was ist los?«, fragte Britta, als sie weit genug von den anderen entfernt waren, dass sie nicht mehr hören konnten, was sie sagten.

»Kai Küster ist im Moment nicht wirklich gesund«, klärte Emilia sie auf und erzählte ihr von den Schwindelanfällen, unter denen er litt.

*

»Was machen wir jetzt?«, sagte Sebastian, nachdem sie an Kais Tür geläutet hatten und er sich nicht meldete.

»Wir machen es wie im Film. Da gehen sie immer ums Haus herum und meistens finden sie ein offenes Fenster oder eine unverschlossene Terrassentür«, antwortete Anna lächelnd.

»Du weißt eben immer einen Rat«, sagte Sebastian lächelnd und küsste sie auf ihr Haar.

»Da haben wir doch Glück«, stellte Anna fest, als sie in den Garten gingen und die Terrassentür tatsächlich offen war.

»Herr Küster! Hallo!«, rief Sebastian, als sie das Wohnzimmer betraten und niemand sahen.

»Wie du weißt, suchen sie in Filmen nun im ganzen Haus nach der vermissten Person«, sagte Anna.

»Und wenn er gar nicht da ist?«

»Dann hätte er doch die Tür nicht offen gelassen. Außerdem liegt sein Handy auf dem Esstisch und sein Auto steht vor der Garage.«

»Es könnte auch sein, dass er da ist, aber nicht gestört werden möchte«, wandte Sebastian ein.

»Ja, vielleicht, aber das werden wir ja gleich wissen.«

»Gut, dann sehen wir nach.« Sebastian stellte seinen Arztkoffer neben der Treppe ab und ging in den ersten Stock hinauf, während Anna einen Blick in das Gästebad warf.

»Und irgendeine Spur?«, fragte sie, als sie auch in den ersten Stock hinaufging und Sebastian gerade aus dem Schlafzimmer kam.

»Nein, nichts«, sagte er, »und einen Dachboden gibt es hier nicht«, stellte er mit einem Blick auf die hohe Decke fest.

»Aber einen romantischen Balkon.« Anna schaute auf die meerblauen Fliesen und die Palmen vor dem Arbeitszimmer.

»Wir sind nicht zu einer Hausbesichtigung hier, mein Schatz.«

»Ich weiß. Aber jetzt bleibt nur noch der Keller.«

»Wollen wir hoffen, dass er nicht abgeschlossen ist.«

Nachdem sie noch einmal nach Kai gerufen hatten, liefen sie die Treppe zum Kellereingang hinunter.

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Sebastian, als er versuchte, die Tür aufzudrücken, sie sich aber kaum bewegte. »Herr Küster! Sind Sie da irgendwo?!«, rief er.

»Ich höre etwas«, flüsterte Anna, als sie eine leise Stimme vernahm.

»Herr Küster! Kai! Hier ist Sebastian Seefeld«, rief Sebastian. Er wusste von seinen Notfalleinsätzen bei der Bergwacht, dass Menschen in Gefahrensituationen eher auf ihren Vornamen hörten.

»Doktor Seefeld, ich kann nicht aufstehen. Sie werden die Tür auch nicht frei bekommen«, hörten sie Kai sagen.

»Gibt es einen anderen Zugang zum Keller?«

»Das Fenster an der Garagenseite, aber es ist vergittert.«

»Kein Problem. Ich bin gleich bei Ihnen. Bleib bei ihm, sprich mit ihm«, wandte sich Sebastian an Anna.

»Für einen Einbruch bin ich ohnehin falsch angezogen«, sagte sie und schaute auf ihr enganliegendes hellblaues Leinenkleid. »Herr Küster, was ist passiert?«, rief sie durch den schmalen Türschlitz, der sich ihnen als einzige Verbindung in den Keller anbot.

»Ein Schwindelanfall«, hörte sie ihn sagen.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Doktor Seefeld ist gleich bei Ihnen«, beruhigte sie ihn. »Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, jedenfalls spüre ich keine.«

»Erzählen Sie mir, was genau passiert ist«, bat Anna ihn, um sich zu vergewissern, dass er bei Bewusstsein war.

Sebastian brauchte nicht länger als fünf Minuten, um das Gitter vor dem Kellerfenster mit einem Brecheisen zu entfernen.

Danach schlug er die Scheibe des Fensters ein und öffnete es. Es war nicht das erste Mal, dass er durch ein Kellerfenster in ein Haus eindringen musste, um den Bewohnern zu helfen, die sich auf anderem Weg nicht befreien konnten. Feuer, Hochwasser, Erdrutsche, er hatte schon alles erlebt.

»Doktor Seefeld, ich bin echt froh, Sie zu sehen«, sagte Kai, als Sebastian sich durch das schmale Fenster zwängte und sicher auf seinen Beinen landete.

»Das glaube ich Ihnen gern, dass Sie sich über meinen Besuch freuen«, antwortete Sebastian, der mit einem kurzen Blick die Lage einzuschätzen versuchte.

Kai lag bis zur Taille unter einem Stahlschrank. Wie es aussah, waren einige Aktenordner zwischen den Boden und den Stahlkanten des Schrankes eingeklemmt. Mit ein bisschen Glück hatte Kai Küster keine größeren Verletzungen. »Haben Sie Schmerzen?«, fragte er ihn, während er die Aktenordner, die aus dem Schrank herausgefallen waren, zur Seite legte.

»Nicht wirklich, aber ich konnte mich trotzdem nicht befreien. Dieser verdammte Schrank hat sich irgendwie zwischen Tür und Wand verhakt.«

»Gibt es hier unten einen Wagenheber?«

»Nein, der ist in der Garage.«

»Okay, die Tür steht offen. Wo genau ist er?«

»Auf der Werkbank.«

»Anna, geh bitte in die Garage und hole den Wagenheber!«, rief Sebastian durch die Kellertür.

»Alles klar!«, antwortete sie.

»Frau Bergmann ist auch hier?«

»Wir waren gerade in Garmisch. Emilia hat sich Sorgen um sie gemacht, weil sie nicht zum Wanderwettbewerb gekommen sind. Sie hat uns gebeten, nach Ihnen zu sehen.«

»Ich hoffe, das kann ich wieder gutmachen.«

»Der Wagenheber!«, rief Anna durch das Kellerfenster.

»Ich hole ihn!«, antwortete Sebastian. »Bevor ich den Schrank aufrichte, muss ich wissen, wie es darunter aussieht.«

»Weil sich etwas in meinen Körper gebohrt haben könnte, was ich aber erst spüre, sobald ich mich bewege?«

»Sie liegen unter einem Stahlschrank, da sollten wir vorsichtig sein.«

»Gut, dann sehen wir nach. Würden Sie Frau Bergmann bitten, Britta Bescheid zu geben? Sonst denkt sie noch, ich hätte sie versetzt. Ich wollte doch für ihre kranke Freundin einspringen, die nicht am Wettbewerb teilnehmen kann.«

»Ich habe gehört, was er gesagt hat. Ich wollte Emilia ohnehin jetzt anrufen. Sie wartet doch auf unsere Nachricht«, erinnerte Anna Sebastian daran, dass sie Emilia Bescheid geben wollten, sobald sie Kai gefunden hatten. »Soll ich dir vorher noch den Arztkoffer holen?«

»Ich sehe erst mal nach, was los ist, aber bleib in Rufweite«, bat er sie und nahm den Wagenheber entgegen, den sie ihm durch das Fenster reichte.

*

»Hallo, Anna, was ist mit Herrn Küster?«, fragte Emilia, als ihr Handy endlich läutete. »Und wie geht es ihm? Echt? Dann spielt Papa mal wieder den Helden? Ja, ja, ich weiß, er spielt ihn nicht. Er ist ein Held«, antwortet sie lachend. »Pass gut auf die beiden auf«, sagte sie und beendete das Gespräch.

»Was ist mit Kai?«, wollte Britta wissen, die mit Doro und Emilia auf einer Bank am Feldrand saß und bisher nicht einmal Gundula erzählt hatte, was sie von Emilia erfahren hatte. Sie schämte sich dafür, dass sie sich von Ulrikes Gerede hatte beeinflussen lassen, und hatte sich genau wie Emilia und Doro große Sorgen um Kai gemacht.

»Kai hatte einen Unfall«, sagte Emilia und erzählte Britta und Doro, was sie von Anna erfahren hatte.

»Ich danke euch beiden, dass ihr mich aufgehalten habt. Ich werde jetzt zu ihm fahren«, sagte Britta.

»Ihre Freundin ist offensichtlich schrecklich traurig, dass sie nicht am Wettbewerb teilnehmen kann«, sagte Emilia.

Gundula, die die Wanderung inzwischen abgehakt hatte, saß niedergeschlagen neben Ulrike und Richard im Gras und wartete darauf, dass Britta sich endlich entschied, ob sie nach Hause fahren oder noch bleiben wollte.

»Warum gehen wir nicht mit ihr? Nolan wird uns schon sicher ans Ziel bringen«, schlug Doro vor.

»Super Idee, dann können wir als Teilnehmer über den Wettbewerb in der Schülerzeitung berichten. Ich sage gleich Herrn Kornhuber Bescheid.«

»Das ist wirklich großartig, dass ihr das machen wollt, aber solltet ihr nicht vorher eure Eltern fragen, ob sie es euch erlauben?«, wandte Britta verunsichert ein.

»Diese Wandertour haben wir schon unzählige Male gemacht. Sie ist echt keine Herausforderung für Einheimische«, sagte Doro. »Aber ich gebe meiner Mutter kurz Bescheid, damit sie weiß, wo ich bin.«

»Und ich rufe Anna an«, entschied Emilia und zückte ihr Handy.

»Das wollt ihr echt tun?«, freute sich Gundula, als die Mädchen ihr vorschlugen, sie auf der Wanderung zu begleiten.

»Kein Problem. Wir melden uns an, gehen Sie schon mal zum Start. Es dürfte gleich losgehen. Grüßen Sie Kai von uns«, bat Emilia, als sie sich noch einmal zu Britta umdrehte, bevor sie mit Doro zur Tribüne des Alpenvereins eilte.

»Wir sehen uns«, sagte Gundula, küsste Britta auf die Wange und folgte den Mädchen.

»Er hat mich nicht versetzt. Er hatte einen Unfall«, wandte sich Britta an Ulrike und Richard, die aufgestanden waren und sie abwartend anschauten.

»Das bedeutet?«, fragte Ulrike.

»Das bedeutet, dass ich jetzt zu ihm fahre, und es bedeutet, dass es keine zweite Chance für dich gibt«, erklärte sie und sah Richard direkt an.

»Das ist endgültig?«

»Ja, ist es, aber es bedeutet nicht, dass wir uns in Zukunft aus dem Weg gehen müssen. Vielleicht werden wir sogar wieder Freunde. Und ich bin ganz sicher, dass du bald wieder eine Frau treffen wirst, in die du dich unsterblich verliebst«, sagte sie lächelnd.

»Falls ich über dich hinwegkomme.«

»Das schaffst du«, versicherte ihm Britta und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

»Du bist mir nicht böse, dass ich versucht habe, euch wieder zusammen zu bringen?« Ulrike war endlich bereit, Brittas Entscheidung zu akzeptieren.

»Wir bleiben Freundinnen. Und jetzt muss ich los, mir ein Taxi suchen.«

»Wir können dich fahren, nicht wahr, Ulrike?«

So gern Richard Britta noch hatte, irgendwie fühlte er sich nun auch erleichtert. Weil dieser Druck, den Ulrike aufgebaut hatte, nun vorbei war. Und vielleicht hatte Britta ja recht, und schon bald…

»Sicher, wir fahren sie«, stimmte Ulrike ihm zu.

*

»Wenn es keine Fremdkörper gibt, die Sie verletzt haben, und ich Ihnen genügend Raum verschaffen kann, dann versuchen Sie, vorsichtig unter dem Schrank hervorzurutschen. Alles klar?«, fragte Sebastian, nachdem er die günstigste Stelle für den Wagenheber gesucht und ihn angesetzt hatte.

»Ja, alles klar«, sagte Kai. Er versuchte, ruhig zu atmen, während Sebastian mit Hilfe des Wagenhebers den Aktenschrank langsam anhob.

»Ich denke, da ist nichts.«

Sebastian stellte den Wagenheber fest und legte sich auf den Boden, um unter den Schrank zu blicken. »Sieht alles frei aus. Ich hebe den Schrank noch ein paar Zentimeter an, und dann raus da unten.« Er sprang auf und hob den Schrank weiter an.

»Das müsste reichen.« Kai versuchte, seine Beine zu bewegen. Als er kein Hindernis spürte, stützte er sich nach hinten auf seine Hände ab, holte tief Luft und befreite sich aus seiner misslichen Lage. »Danke«, sagte er, richtete sich zum Sitzen auf und bewegte seine Zehen.

»Sieht gut aus«, stellte Sebastian fest, der ihn beobachtete.

»Mir tut auch nichts weh«, sagte Kai und ehe Sebastian etwas sagen konnte, war er aufgestanden.

»Machen Sie langsam«, bat Sebastian ihn, während er versuchte, den Schrank aufzurichten, um die Tür freizumachen.

»Es geht mir gut«, versicherte ihm Kai, der sofort mitanpackte und mit ihm gemeinsam den Schrank wieder an die Wand stellte.

»Ist Ihnen immer noch schwindlig?«, fragte Sebastian.

»Nein, im Moment nicht.«

»Gut, dann gehen wir nach oben, und ich sehe nach, ob sie das Malheur auch wirklich unverletzt überstanden haben.«

»Hallo, Frau Bergmann«, begrüßte Kai Anna, die auf der Treppe auf sie wartete.

»Offensichtlich haben Sie alles gut überstanden«, stellte sie lächelnd fest.

»Dank eines Arztes, der weiß, wie man sich Zugang zu einem Haus verschafft.«

»Das Medizinstudium allein reicht eben heutzutage nicht mehr aus, um den Alltag als Landarzt zu meistern«, entgegnete Sebastian lächelnd. »Hatten Sie in letzter Zeit eine Infektionskrankheit?«, fragte er Kai, als sie im Wohnzimmer waren und Kai sich auf das Sofa legte, damit er ihn untersuchen konnte.

»Bis auf die Malaria, die ich mir vor einem halben Jahr in Kenia eingefangen habe, die aber inzwischen ausgeheilt ist, war da nichts. Jedenfalls nichts, von dem ich wüsste«, erzählte Kai, nachdem Sebastian ihn abgehört hatte und seine Beine und Hüften abgetastet hatte.

»Malaria? Welche Medikamente haben Sie genommen?« Sebastian wurde sofort hellhörig.

»Die Packung liegt noch in der obersten Schublade der Vitrine.«

»Darf ich nachsehen?«, fragte Anna.

»Ja, bitte.«

Anna holte die Packung, in der noch einige Tabletten lagen, und gab sie Sebastian. »Dachte ich es mir doch«, sagte er.

»Was ist?«, fragte Kai und sah Sebastian gespannt an.

»Ich denke, wir haben die Ursache für Ihre Schwindelanfälle gefunden.«

»Die Malaria? Ich dachte, sie sei ausgeheilt.«

»Nicht die Malaria. Das Medikament. Es verursacht bei einigen Patienten starken Schwindel, auch noch Monate, nachdem es bereits abgesetzt wurde.«

»Das heißt, meine Beschwerden sind Nebenwirkungen des Medikamentes?«

»So ist es.«

»Warum hat mir das mein Hausarzt nicht gesagt?«

»Die meisten erkennen den Zusammenhang nicht. Das liegt daran, dass längst keine Spuren des Medikamentes mehr im Körper nachgewiesen werden können. Trotzdem gibt es diese physischen Auswirkungen.«

»Werde ich auf Dauer damit leben müssen?«

»Nein, in ein paar Wochen wird es vorbei sein. Trotzdem würde ich sie gern noch einmal gründlich untersuchen, um andere Ursachen auszuschließen. Wenn Sie mir versprechen, gleich am Montag in die Praxis zu kommen, verzichte ich auf eine Einweisung ins Krankenhaus. Sollten sie sich allerdings in den nächsten Stunden unwohl fühlen, dann melden Sie sich sofort bei mir oder im Krankenhaus.«

»Das mache ich«, versprach Kai und setzte sich auf.

»Ich denke, das ist Frau Kaufmann«, sagte Anna, als es an der Haustür läutete.

»Britta? Das würde bedeuten, sie haben keinen Ersatz für mich gefunden und konnten nicht am Wettbewerb teilnehmen.«

»Sie wollte das sicher auch gar nicht mehr. Was ihre Freundin Gundula betrifft, die ist dabei. Emilia hat vorhin noch einmal angerufen. Sie, Doro und Nolan bilden ein Team mit ihr«, erzählte Anna, während sie zur Haustür ging.

»Kai, wie geht es dir?«, fragte Britta aufgeregt, die gleich darauf hereinstürmte, vor Kai stehen blieb und ihn mit bangem Blick anschaute.

»Mir geht es gut.«

»Emilia hat mir von diesen Schwindelanfällen erzählt. Warum hast du mir denn nichts davon gesagt?«

»Ich wollte nicht krank sein.«

»Aber du musst das untersuchen lassen.«

»Doktor Seefeld hat die wahrscheinliche Ursache gefunden. Es wird bald vorbei sein.«

»Was ist es? Und was genau ist vorhin passiert?«

»Ich denke, wir lassen Sie jetzt mal allein. Gute Besserung, und heute würde ich keine Wanderung mehr unternehmen«, sagte Sebastian. »Erlauben Sie mir, dass ich Emilia über die wahrscheinliche Ursache der Schwindelanfälle aufkläre? Sie wird mich sicher danach fragen.«

»Es kann jeder wissen, der danach fragt.«

»Nun, jedem werde ich es nicht erzählen«, versicherte ihm Sebastian.

»Ich passe auf ihn auf«, versprach Britta. »Vielen Dank, dass Sie sich um ihn gekümmert haben«, sagte sie, als sie Anna und Sebastian noch zur Tür brachte.

»Kein Problem, das ist unser Job«, entgegnete Sebastian.

»Viel Glück, mit allem, was sie beide sich vorgenommen haben«, sagte Anna und hakte sich bei Sebastian unter.

»Was haben sie sich denn vorgenommen?«, fragte Sebastian leise, nachdem Britta die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

»Ich denke, sie hoffen auf eine gemeinsame Zukunft.«

»Woran machst du das fest?«

»An der Art, wie sie sich ansehen«, antwortete sie lächelnd und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

*

Britta hatte erst einmal einen Kräutertee für Kai und sich zubereitet, um ihrer beider Nerven zu beruhigen. Danach hatte sie sich zu ihm aufs Sofa gesetzt und sich von ihm erzählen lassen, was es genau mit den Schwindelanfällen auf sich hatte und wie es zu dem Unfall am Morgen gekommen war.

»Das heißt, diese Anfälle werden ganz verschwinden?«, vergewisserte sie sich noch einmal, nachdem sie alles gehörte hatte.

»So ist es.«

»Du wirst dich aber auf jeden Fall nächste Woche von Doktor Seefeld untersuchen lassen?«

»Ja, das werde ich tun. Ich muss wieder ganz fit sein, wegen der längeren Autofahrten, die ich demnächst unternehmen werde.«

»Wohin willst du denn?«

»In die Eifel«, antwortete er lächelnd.

»Was die Eifel betrifft, da gibt es auch Neuigkeiten«, sagte sie und erzählte ihm von Richards Rückkehr und was er und seine Schwester geplant hatten.

»Du bist dir ganz sicher, dass es mit dir und ihm endgültig vorbei ist?«, wollte Kai wissen und hielt ihren Blick fest.

»Ja, ich bin absolut sicher. Ehrlich gesagt, ich würde am liebsten auch in der Klinik kündigen.«

»Weil du ihm nicht jeden Tag begegnen willst?«

»Nicht nur deshalb.«

»Sondern warum?«

»Weil ich mir wünsche, dich öfter zu sehen. Nicht nur alle vierzehn Tage.«

»Ein ehemaliger Schulfreund von mir leitet eine Rehaklinik hier ganz in der Nähe. Ich könnte ihn fragen, ob es dort eine Stelle für dich gibt.«

»Ja, das wäre wundervoll, aber etwas für später.«

»Was kommt vorher?«

»Wir könnten unsere Südamerikareise planen. Ich meine, sobald diese Nebenwirkungen des Medikamentes vollständig verschwunden sind. Was hältst du von dieser Idee?«

»Ich liebe diese Idee und ich liebe dich, Britta«, sagte er, nahm sie in seine Arme und küsste sie.

*

Auf der Tribüne des Alpenvereins am Fuße des Napoleonhügels wurden am späten Nachmittag die Sieger des Wanderwettbewerbs gekürt. Den ersten und zweiten Platz belegten drei Ehepaare aus Saarbrücken. Sie hatten ihren eigenen kleinen Wettbewerb Männer gegen Frauen ausgetragen. Die Frauen hatten gewonnen. Auf dem dritten Platz landete Gundulas Team. Wie alle anderen erhielten sie einen Pokal. Für Gundula gab es noch eine Flasche Sekt, für Emilia und Doro jeweils eine Flasche alkoholfreies Honigbier und für Nolan eine Wurst.

Nach der Siegerehrung hielten sich Teilnehmer und Schaulustige noch eine Weile auf der Wiese auf und wurden von der Brauerei Schwartz und der Bäckerei Höfner bestens versorgt. Auch Sebastian und Anna waren inzwischen auf der Wiese eingetroffen und saßen mit Emilia, Doro und Gundula auf einer Decke, die Sebastian aus dem Auto geholt hatte, auf der Wiese. Ulrike und Richard hatten Bergmoosbach bereits verlassen. Gundula hatte beschlossen, gemeinsam mit Britta den Zug zu nehmen. Schließlich hatten sie in den letzten Tagen einiges erlebt und es gab viel zu erzählen.

»Das heißt, diese Tabletten haben so starke Nebenwirkungen, dass sie noch monatelang anhalten, obwohl das Medikament längst abgesetzt wurde?«, fragte Emilia noch einmal nach, nachdem Sebastian ihnen erzählt hatte, woran Kai Küster litt. Ihr und Doro, weil er ihr Lehrer war, und Gundula, weil sie sich um Britta und ihn sorgte.

»Schon wieder diese übertriebene Angst vor Nebenwirkungen. Typische Laiengespräche eben«, sagte Adalbert, der mit Romina im Arm an ihnen vorbeispazierte. Mit ihr und einer anderen vornehmen Dame hatte er den zehnten Platz des Wettbewerbs belegt.

»Laien?!«, entgegnete Emilia mit funkelnden Augen. »Sie haben doch überhaupt keine Ahnung. Weder von den Menschen, die Sie vor sich haben, noch von Medikamenten.«

»Wen habe ich denn vor mir?«, fragte Adalbert grinsend.

»Den besten Arzt und die beste Hebamme der Welt«, erklärte Emilia.

»Gehen Sie doch einfach weiter, Herr von Güstrow«, sagte Gundula.

»Keine Umgangsformen«, zischte Romina.

»Dorfbewohner eben«, sagte Adalbert und dann zogen sie davon.

»War ich unhöflich?«, fragte Emilia in die Runde.

»Nein, nur ehrlich«, antwortete Anna.

»Wuff«, machte Nolan und schmiegte sich an Emilia.

»Also dann, trinken wir auf die Ehrlichen auf dieser Welt«, sagte Doro und nahm einen Schluck aus der kleinen Flasche mit dem alkoholfreien Honigbier.

»Auf die Ehrlichen«, stimmte Sebastian ihr zu, und dann stießen sie alle mit Honigbier an.

*

Ein paar Tage später stand fest, dass Kai tatsächlich nur unter den Nebenwirkungen des Medikamentes litt. Nachdem Sebastian ihm noch einmal versichert hatte, dass die bald überwunden waren, setzte er sich in den Zug und fuhr nach Monreal, um mit Britta ihre erste gemeinsame große Reise zu besprechen.

Der neue Landdoktor Staffel 7 – Arztroman

Подняться наверх