Читать книгу Der neue Landdoktor Staffel 9 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 6
Оглавление»Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Frau Talhuber. Dieses Mittel hilft gegen den lästigen Reizhusten, und Sie werden besser schlafen können.« Mit diesen freundlichen Worten verabschiedete sich Sebastian Seefeld von der letzten Patientin dieses Tages und schloss hinter ihr die Tür. Der gutaussehende und sehr beliebte Landdoktor liebte seinen Beruf und schaute nicht nach der Uhr, wenn seine Patienten bei ihm waren, aber nun freute er sich sehr auf den Feierabend.
Seine Freundin Anna Bergmann, die im Umkreis von Bergmoosbach als Hebamme arbeitete, und er waren mit einem befreundeten Ehepaar verabredet. Sie wollten zum Landgasthof ›Zum Gamsbart‹ hinausfahren und dort eine rustikale Brotzeit genießen.
Anna war eine hübsche junge Frau mit sportlicher Figur, seidigen, dunklen Haaren und schönen grünen Augen. Sie kam eben mit ihrem Mountainbike in die Einfahrt des Doktorhauses, schob das Rad in den Garten und warf ihrem Liebsten mit Schwung die Arme um den Nacken. Ihre Augen leuchteten auf, als sie seinem liebevollen Blick begegneten.
»So, allen Babys und den Müttern geht es gut, heute Nacht gibt es keinen Storchenalarm, und bis morgen Abend habe ich noch nicht einmal Rufbereitschaft. Wir haben Zeit für uns«, sagte sie zufrieden.
»Dann lass uns gleich losfahren. Wir nehmen Rieke mit, ihr Mann ist gleich aus dem Wald zum ›Gamsbart‹ gefahren und reserviert uns Plätze«, antwortete Sebastian.
»Praktisch, wenn man mit dem Förster befreundet ist«, schmunzelte Anna.
Dessen Frau war die Tierärztin Rieke Wagenfurth, die ihre Praxis am Marktplatz hatte. Auch sie hatte verhältnismäßig pünktlich Feierabend machen können und erschien jetzt in der Einfahrt. »Guten Abend, ihr beiden«, rief sie fröhlich winkend zu ihren Freunden hinüber. »Wie schön, dass es mit unserer Verabredung klappt.«
Genauso, wie Sebastian Seefeld für menschliche Notfälle zur Verfügung stand, war Rieke immer für ihre tierischen Patienten da. Einen Abend gab es nicht oft, an dem beide Ärzte, die Hebamme und der Förster ungestört zusammen ausgehen konnten.
»Dann los, meine Damen«, sagte Sebastian und öffnete mit einer scherzhaften Verbeugung die Tür seines geländegängigen Wagens. »Genießen wir unseren Feierabend.«
Sie ließen das Dorf mit seinen malerischen Gassen und blumengeschmückten Häusern hinter sich und fuhren an satten Viehweiden vorbei, hinter denen das Wasser des Sternwolkensees in der Abendsonne schimmerte. Nachdem sie ein Waldstück durchquert hatten, kamen sie zu weiteren Ackerflächen und Weiden, die einen schönen Bauernhof in traditioneller Bauweise umgaben.
Die Schenke ›Zum Gamsbart‹ gehörte zum Hof der Familie Stübl und war ein beliebtes Ausflugsziel. Dort gab es keine Massentierhaltung, das Essen war schlicht, gesund und äußerst schmackhaft. Man saß an Tischen und Bänken im Schatten alter Eichen und Lindenbäume, es gab einen Bach mit klarem Wasser, und manchmal sorgten süße Katzen- oder Hundewelpen für das Entzücken der kleinen und großen Gäste. Der verwitwete Anton Stübl betrieb Hof und Wirtschaft gemeinsam mit seiner Tochter Katharina, von allen nur Kathi genannt, und zwei Angestellten. An zwei Tagen der Woche kam noch eine ältere Frau aus dem Dorf hinaus, die beim Saubermachen half. Sie hieß Notburga Krämser und wurde Burgl gerufen. Burgl arbeitete gut und gründlich, und trotzdem herrschte oft Gewitterstimmung auf dem Hof, wenn sie dort war. Die ältere Frau war griesgrämig, hatte an allen und allem etwas auszusetzen und war geübt darin, giftige Bemerkungen zu machen. Selbst Traudel, die gute Seele vom Doktorhaus, konnte nicht leugnen, dass Burgl eine boshafte Befriedigung darin fand, in ihren Mitmenschen etwas Schlechtes zu sehen und Unfrieden zu stiften.
Als sich die Freunde aus Bergmoosbach zu Riekes Mann Lorenz setzten, trat auch Burgel mit einer Maß an den Tisch und sagte zu Lorenz: »Hättest gar nicht früher kommen müssen, Förster. Seitdem es unten am Sternwolkensee dieses moderne Steg-Haus mit seinem albernen Namen gibt, kommen nicht mehr so viele Gäste wie früher heraus, es gibt immer freie Plätze.«
»Ja, dir auch einen schönen Abend, Burgl«, antwortete Lorenz friedfertig. Diese griesgrämige Frau mit ihrer ewigen Unzufriedenheit konnte ihm die freundliche Abendstimmung nicht verderben. »Nimmst du heute auch die Bestellungen auf oder sollen wir auf die Kathi warten?«
Burgls stechender Blick huschte von ihm zu einem neuen Gast hinüber, und sie runzelte missbilligend die Stirn. »Was will denn der Wendelin Deggendorf schon wieder hier?«, grummelte sie.
»Na, was wohl, seinen Feierabend genießen«, entgegnete Rieke mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. Sie hatte nicht so viel Geduld wie ihr Mann mit den Nörgeleien dieser schwierigen Frau. »Hallo, Wendelin, magst du dich zu uns setzen?«, rief sie zu ihm hinüber.
Der Mann schaute überrascht, dann erfreut zurück. »Komm, Streuner, gehen wir mit an den Tisch dort drüben«, sagte er zu seinem Hund, einer braun-schwarzen Promenadenmischung mit leuchtenden dunklen Augen, und setzte sich mit in die Runde.
Wendelin Deggendorf war ein mittelgroßer Mann mit kräftiger Statur, dem man seine Arbeit an frischer Luft ansah. Die Sonne hatte seine dunkelblonden Haare mit hellen Strähnen durchsetzt, und seine Haut war leicht gebräunt. Er trug Jeans und ein schlichtes weißen T-Shirt, darüber wegen der Abendkühle ein offenes blaues Holzfällerhemd, dessen Farbe gut zu seinen grau-blauen Augen passte.
»Als ob es hier nicht schon genug Hunde gibt, das ist eine Schänke und kein Tierheim«, knurrte Burgl vorwurfsvoll und stapfte Richtung Haus davon.
»Naja, wo sie recht hat, hat sie recht«, schmunzelte Sebastian und deutete auf die mittlerweile fünf Hunde, die sich versammelt hatten. Es waren die drei Tiere aus der Försterei, der Berner Sennenhund vom Doktorhaus und Streuner.
»Lassen wir sie im Rudel herumstromern. Sie kennen den Hof und die Umgebung und vor allen Dingen wissen sie sich zu benehmen«, antwortete die junge Tierärztin und entließ die Hunde mit einem Handzeichen. Streuner fragte sein Herrchen mit einem Blick um Erlaubnis und dann stob auch er freudig hinüber zu der großen Wiese, auf der seine Kumpel herumtobten.
»Grüß Gott, was kann ich euch denn heute Abend Schönes bringen?«, fragte eine freundliche Stimme. Eine junge Frau im brombeerfarbenen Dirndl, dessen Mieder mit winzigen Blüten bestickt war, trat zu ihnen an den Tisch. Ihre lockigen dunklen Haare waren zu einem weichen Knoten aufgesteckt. Haselnussbraune Augen leuchteten unter fein geschwungenen Brauen, und ihr Lächeln war offen und warmherzig. Kathi Stübl war eine hübsche junge Frau, die Lebensfreude ausstrahlte. Sie hatte eine zarte helle Narbe, die sich wie ein winziger Halbmond über ihrer Oberlippe erhob. Kathi hatte als kleines Mädchen einen heftigen Sturz mit ihrem Schlitten gehabt und sich am Mund verletzt. Die Narbe, die sie davongetragen hatte, verunstaltete sie nicht, sondern sie wirkte eher wie ein aparter, kleiner Schmuck.
Wenn Wendelin in Kathis lebhaftes Gesicht schaute, hatte er oft das Gefühl, dass sein Herz ins Stolpern geriet. Das hatte nichts mit der kleinen Narbe zu tun, sondern damit, dass sein Herz grundsätzlich seltsame Sprünge vollführte, wenn er Kathi begegnete. Wendelin versuchte tapfer, das zu ignorieren.
Er mochte ein wenig schlicht sein, aber er war keineswegs dumm und wusste, dass eine Frau wie Katharina Stübl für ihn unerreichbar war. Deshalb tat er so, als interessiere ihn die Speisekarte sehr viel mehr als ein Gespräch mit der hübschen Kellnerin, und er bestellte sein Essen und das Feierabendbier mit knappen Worten.
Auch die anderen hatten inzwischen ihr Abendbrot bestellt, ließen sich Bier oder leckere Saftschorlen schmecken und unterhielten sich. Dabei kam die Rede auch auf das Jagdschlösschen, das außerhalb Bergmoosbachs tief in den Wäldern lag.
Dieses sogenannte Jagdschlösschen war alles andere als ein kleines Schloss, sondern vielmehr eine solide, große Jagdhütte aus Holz, die auf einem Fundament aus Feldsteinen ruhte. Es gab einige kleinere Nebengebäude, einen steinernen Brunnen mit Pumpe und einen gemauerten Außenkamin. Das urige Anwesen war vor über hundert Jahren von einem Adligen erbaut worden, der es für sich und seine Gäste als Unterkunft für die Jagdzeit nutzte. Später ging es durch mehrere Hände und war schließlich an die Gemeinde verkauft worden. Man konnte das Haus zu besonderen Anlässen mieten, aber meistens stand es leer.
»Tja, das Jagdschlösschen«, sagte der Förster mit einem kleinen Seufzer. »Bisher macht es mehr Ärger, als dass es der Gemeinde etwas einträgt.«
»Hat es denn wieder neuen Ärger gegeben?«, erkundigte sich Anna besorgt. »Zum Glück sind die Einbrecher vom Frühling an den massiven Fensterläden gescheitert. Wollte wieder jemand hinein?«
»Das nicht, es hat sich wohl herumgesprochen, dass das sehr schwierig ist. Aber im Außenbereich ist allerhand losgewesen. Dort campieren oder randalieren immer wieder irgendwelche meist betrunkenen Idioten und lassen ihren Müll zurück. Wenn wir nicht einen so aufmerksamen Mitarbeiter wie Wendelin hätten, wären die Schäden unabsehbar. Vor zwei Tagen hat er einen Waldbrand verhindert.«
Alle Augen richteten sich auf den Mann, der leicht verlegen mit den Schultern zuckte. »Eigentlich war es ja der Streuner, der die betrunkenen Ruhestörer und ihr Feuer entdeckt hat«, sagte er.
»Jetzt sei mal nicht so bescheiden, Wendelin«, antwortete die Tierärztin resolut. »Wer hat denn das Feuer ausgetreten, das diesen Idioten außer Kontrolle geraten war, und hat dafür gesorgt, dass Polizei und Feuerwehr kamen? Bei der unglaublichen Trockenheit, die wir in diesem Sommer haben, war eine Brandwache unbedingt nötig, und die Fahrlässigkeit der Gruppe wird hoffentlich hart bestraft.«
Kathi war inzwischen wieder an den Tisch getreten, ohne dass Wendelin sie bemerkt hatte. Sie stellte die Bretter mit der Brotzeit ab und legte ihm unvermutet eine Hand auf die Schulter.
»Danke dir, Wendelin. Ein Waldbrand bei dieser Dürre und Hitze wäre kaum zu kontrollieren gewesen.« Ihr Gesichtsausdruck war ernst und gleichzeitig freundlich, und Wendelins Herz machte mal wieder einen dieser seltsamen Sprünge. Er lächelte, sagte aber nichts.
»Ich finde es gar nicht gut, dass das Haus immer wieder für lange Zeit leer steht. Die Zeiten haben sich geändert, viele Menschen scheinen dreister und verantwortungsloser geworden zu sein. Diese Probleme mit Vandalismus und Einbrüchen hatten wir doch früher nicht«, fuhr Kathi fort.
»Das hat sich der Gemeinderat sicher anders vorgestellt, als damals das Jagdschlösschen gekauft wurde«, stimmte Sebastian zu.
»Ist es denn jetzt wieder vermietet?«, fragte Anna. »Seit der Wandergruppe, die über Pfingsten dort gewesen ist, habe ich nichts über neue Besucher gehört.«
»Doch, gerade jetzt ist es wieder vermietet worden und zwar an einen gewissen Gisbert von Acker. Er ist ein Münchner Industrieller, der mit seinen Freunden jagen gehen will«, antwortete Lorenz und verzog leicht das Gesicht.
»Wahrscheinlich eine Gruppe reicher Hobbyjäger, die hier in der Gegend rumballern«, grollte seine Frau, die Tierärztin.
»Wie gut, dass wir dich haben, Förster, und dich, Wendelin«, sagte Kathi energisch und gab beiden einen kleinen, freundschaftlichen Klaps gegen die Schulter. »Ihr werdet diese Jagdgesellschaft schon im Auge behalten, gell?«
»Worauf du dich verlassen kannst!«, antwortete Wendelin nachdrücklich.
Der Blick ihrer dunklen Augen lag wie eine warme Berührung auf seinem Gesicht.
»Das tue ich«, erwiderte Kathi ernsthaft. Sie drehte sich schwungvoll um und ging mit raschen Schritten weiter zum nächsten Tisch.
Die Freunde unterhielten sich noch weiter über die neue Gästegruppe, die Dürre dieses Sommers und dann über andere, erfreulichere Themen. Allmählich senkte sich die Dämmerung über die Wälder, und über dem majestätischen Alpenpanorama im Hintergrund erhob sich die Mondsichel. Der Nachtwind brachte eine angenehme Kühle mit sich.
»Ich glaube, für uns wird es allmählich Zeit«, sagte Sebastian und legte seinen Arm um Anna. »Wir geben morgen ein Seminar an der Uniklinik über hausärztliche Versorgung im ländlichen Bereich und müssen früh los. Gute Nacht, alle miteinander.«
Das Paar brach auf, und kurze Zeit später verabschiedeten sich auch Lorenz und seine Frau Rieke. Wendelin blieb allein unter dem Lindenbaum zurück und hing schweigend seinen Gedanken nach.
Er neidete seinen verheirateten Freunden ihr Glück nicht, das sie als Paare gefunden hatten, und er war gern mit ihnen zusammen. Trotzdem fühlte er gerade nach einem schönen Treffen besonders stark, dass er allein war. Im Laufe der letzten Zeit war eine große Veränderung mit Wendelin Deggendorf geschehen, und er ging dem wirklichen Leben nicht mehr mit hohlen Sprüchen und blöder Angeberei aus dem Weg. So großkotzig er früher aufgetreten war, so ruhig und realistisch war er heute. Er wusste, dass sein Traum von Kathi nur ein Traum bleiben würde. Aber immerhin übersah sie ihn nicht und vorhin hatte sie sogar gesagt, dass sie sich auf ihn verlasse. Er nahm sich fest vor, sie nicht zu enttäuschen.
Wendelin blickte auf und bemerkte, dass es über seinen Grübeleien ganz dunkel geworden war. Fast alle anderen Gäste hatten ihre Plätze verlassen, und die meisten Tische waren bereits abgeräumt. Auch für Kathi würde der nächste Tag sehr früh beginnen, und es war an der Zeit, dass die Arbeit im Ausschank für heute endete. Rücksichtsvoll trug Wendelin sein Geschirr zur Spülküche hinüber, durch deren geöffnete Tür und Fenster Licht auf den Hofplatz fiel. Er hörte das Klappern von Geschirr und Burgls nörgelnde Stimme, die auf Kathi einredete. Der Mann wollte nur seinen Teller auf den Tisch neben der Tür stellen und wieder gehen, als er seinen Namen hörte. Zögernd blieb er stehen und lauschte den beiden Stimmen in der Spülküche.
»Und ich kann dich nur vor dem Wendelin warnen. Der ist und bleibt ein Aufschneider und Faulpelz mit dummen Ideen im Kopf«, sagte Burgl gerade.
»Du brauchst mich nicht zu warnen, weder vor dem Wendelin noch vor irgendeinem anderen. Ich bin eine erwachsene Frau und kann auf mich selbst aufpassen«, entgegnete Kathi mit klarer, kühler Stimme.
»Ha, das möchte ich sehen«, giftete Burgl. »Du hast nicht einmal gemerkt, wie oft sich der Wendelin in letzter Zeit hier herumtreibt. Wer weiß, was der im Kopf hat, dieser verhinderte Playboy und eingebildete Casanova.«
Unwillkürlich musste Kathi lachen, sowohl über die altmodischen Worte, als auch über die seltsamen Gedanken der älteren Frau. »An Wendelin erinnert nun wirklich nichts an einen Playboy. Ich frage mich, wo du deine Augen hast, Burgl. Wendelin ist ein völlig durchschnittlicher Mann, an dem nichts besonders auffällt, und sein Benehmen ist doch eher zurückhaltend. Außerdem ist er keineswegs ein Faulpelz, sondern er macht die Ausbildung zum Forstwirt, und Lorenz Breitner verlässt sich blind auf ihn.«
»Zum Waldarbeiter hat es der Wendelin Deggendorf also gebracht«, stellte Burgl gnadenlos fest. »Und weißt du noch, welche großen Töne er früher gespuckt hat? Welche glänzenden Karrieren vor ihm liegen? Und dann ist er mittellos und abgebrannt wieder hier in Bergmoosbach angekrochen gekommen, mit seinem spillerigen Pferdeschwanz und dem knallgelben Hemd, in dem er aussah wie ein fetter Kanarienvogel. Konnte froh sein, dass er bei den Holzers in der alten Arbeiterhütte unterschlüpfen durfte, sonst wäre er auf der Straße gelandet, der feine Herr.«
»Jetzt hörst du aber auf, so gehässig über den Wendelin zu reden!«, befahl Kathi streng. »Ja, er ist früher ein unangenehmer Typ gewesen und, ja, weder sein Auftreten noch sein Aussehen waren besonders sympathisch. Aber er hat sich geändert und ist ein netter Kerl geworden. Ich will nichts Unfreundliches mehr über ihn hören.«
»Ha!«, machte Burgl noch einmal und schaute die junge Frau aus schmalen Augen an. »Du legst dich ja mächtig ins Zeug für diesen Verlierer. Ist er etwa dein heimlicher Liebster?«
»Nein, das ist er nicht, und er interessiert mich nicht als Mann«, erwiderte Kathi kühl. »Ich finde nur, dass jeder Mensch eine zweite Chance verdient und dass es falsch und ungerecht ist, wenn du so bösartig über Wendelin redest.«
»Einmal Taugenichts, immer Taugenichts«, trumpfte Burgl auf und knallte eine gusseiserne Pfanne auf das Abtropfbrett.
Wendelin hatte mehr als genug gehört. Lautlos stellte er das Geschirr ab und ging zu seinem Fahrrad hinüber. Streuner folgte ihm auf dem Fuß, und sein Blick klebte an Herrchens Gesicht. Er spürte genau, dass sein Mensch traurig war.
»Komm, Streuner, fahren wir heim«, sagte Wendelin leise. Der treuherzige Blick des Tieres tat ihm gut, und dankbar kraulte er ihn hinter den seidigen Ohren. »Wenn es auch nur eine Hütte für Wanderarbeiter ist und auf dem Gelände des Sägewerks steht, ist es doch unser Zuhause, gell?«
Streuner kuschelte sich unter Wendelins Hand und fiepte begeistert. Etwas getröstet stieg der Mann aufs Rad und bog in den abschüssigen Waldweg ein, der an der Försterei vorbei zum Dorf führte.
Wendelin fuhr langsam, um keines der nachtaktiven Tiere zu gefährden, die ihm über den Weg laufen konnten. Sein Hund trabte zuverlässig neben ihm her. Der Mann konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken wieder zu dem Gespräch in der Spülküche zurückkehrten.
Dass Burgl so gehässig über ihn gesprochen hatte, traf ihn nicht besonders. Er wusste, dass die alte Frau bei aller Boshaftigkeit nicht ganz Unrecht hatte: Er war ein unangenehmer Typ mit großspurigem Auftreten und ein totaler Versager gewesen, der es seinen Mitmenschen nicht leicht machte. Sein Leben war völlig den Bach hinunter gegangen, er lebte von der Hand in den Mund. Und an allem waren natürlich immer nur die anderen schuld, niemals er selbst. Sein Aussehen war genauso unmöglich wie sein Auftreten, und kaum jemand wollte etwas mit ihm zu tun haben.
Dann spielte er seinem ehemaligen Schulkameraden Kaspar, der krank geworden war, übel mit, und diese Sache hätte böse enden können. Zum Glück ging alles gut aus, und Wendelin erlitt einen heilsamen Schock. Zum ersten Mal stellte er sich seiner Verantwortung und lernte, wie gut das tat. Er bekam kleine Jobs und gewann allmählich wieder festen Boden unter den Füßen.
Später begegnete er dem getretenen, vernachlässigten, gequälten jungen Streuner, der ihn vom ersten Augenblick an liebte und ihm bedingungslos vertraute. Und er lernte die energische Tierärztin Rieke kennen, die ihm ohne Zögern die Verantwortung für den armen Hund übertrug und die niemals daran zweifelte, dass er es gut machen würde.
Das war der Wendepunkt in Wendelins Leben. Er liebte Streuner ebenso innig wie der Hund ihn und er tat alles, damit es das Tierchen gut hatte. Wendelin wurde freundlich, fleißig und zuverlässig. Er bekam eine feste Anstellung beim Forstamt und lebte ein gesundes Leben an frischer Luft. Ebenso wie er sein großspuriges Auftreten verlor, verlor er auch sein schwammiges Äußeres. Er sah jetzt sauber und kräftig aus, trug einen modischen Haarschnitt und kleidete sich unauffällig.
Das war alles gut und schön, und es brachte ihm neue, echte Freunde ein, aber was hatte seine heimliche Liebe vorhin über ihn gesagt? Er sei völlig durchschnittlich, nichts falle an ihm besonders auf, und sie sei an ihm als Mann überhaupt nicht interessiert.
Das klang nun leider ganz und gar nicht nach Märchenprinz, und wider alle Vernunft hoffte ein Zipfel seines Herzens ja doch, dass Kathi eines Tages in ihm ihren Liebsten erkennen würde und …
Ein lautes Krachen und Knacken links neben ihm im Gebüsch ließ Wendelin aus seinen einsamen Gedanken auffahren. War ein größeres Tier im Anmarsch, vielleicht ein Reh oder gar ein Wildschwein? Auch Streuner war abrupt stehen geblieben und witterte angespannt in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Er stieß ein warnendes Knurren aus.
»Moment, nur keine Panik. Hier ist keine Gefahr im Anzug, nur ein verirrter Wanderer!«, rief eine männliche Stimme, und der Lichtkegel einer Taschenlampe flammte auf. Es raschelte gewaltig in der dichten Böschung seitlich des Weges, dann teilte sich das Laub, und ein Mann drängte sich zwischen den Zweigen und Brombeerranken hindurch. »Guten Abend!«, grüßte er forsch.
Der Unbekannte mochte in Wendelins Alter sein, ungefähr Anfang Vierzig. Er war mittelgroß, schlank und trug modische, sehr teure Outdoor-Bekleidung. Sein Haar, das unter dem edel zerknitterten Schlapphut herausschaute, war blond, und er hatte braune Augen, die Wendelin fast ein wenig herausfordernd musterten. Auf dem Rücken trug er einen großen Rucksack.
»Sie sind vom Weg abgekommen? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Wendelin.
»Vielleicht. Ich, ich suche diesen Weg, der in südliche Richtung nach Bergmoosbach führt und in nördliche zu diesem Hof ›Zum Gamsbart‹, antwortete der Mann. Er redete wieder sehr forsch, wirkte aber gleichzeitig seltsam abgelenkt.
»Den haben Sie gefunden. Es ist genau der Weg, auf dem wir stehen«, antwortete Wendelin.
»Na, fantastisch«, antwortete der Mann. »Und in welcher Richtung liegt das Dorf?«
»Hier entlang«, erwiderte Wendelin und wies nach links. »Sie haben noch ein ganzes Stück zu gehen und müssen einige Mal abbiegen. Werden Sie sich zurechtfinden oder wollen wir zusammen gehen? Ich will auch nach Bergmoosbach.«
»Nein, vielen Dank, es passt schon«, antwortete der Wanderer hastig. »Ich habe ja die Navigation durch mein Handy, nur war das nutzlos, als ich mich im Unterholz verfranst hatte.«
»Was haben Sie denn so weit abseits gemacht? Sie wissen schon, dass Sie sich besonders während dieser Hitzeperiode und der erhöhten Waldbrandgefahr nur auf den Wanderwegen aufhalten sollten?«, erinnerte Wendelin ihn.
»Sind Sie hier der Förster?«, fragte der Mann zurück. Es klang lauernd.
»Nein, aber ich arbeite für das Forstamt«, erwiderte Wendelin ruhig. »Und ich muss Sie nicht extra darauf aufmerksam machen, dass Sie bei Ihrer Nachtwanderung unter gar keinen Umständen irgendwo ein Lagerfeuer entzünden dürfen?«
»Natürlich nicht! Auf die Idee würde ich niemals kommen«, lautete die empörte Antwort.
Wendelin nickte bedächtig, ohne den Fremden aus den Augen zu lassen. »Dann ist es ja gut«, antwortete er. »Ich wünsche Ihnen einen sicheren Heimweg. Servus.«
»Ich Ihnen auch, und danke, dass Sie mir den Weg gewiesen haben.« Der Mann setzte sich mit energischen Schritte Richtung Bergmoosbach in Bewegung.
Wendelin überholte den Mann nach wenigen Metern, nickte ihm zu und fuhr weiter. Als er sich wenig später noch einmal umdrehte und zurückblickte, war der Weg hinter ihm leer. Der Mann war ebenso plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.
»Seltsamer Vogel«, sagte Wendelin zu Streuner, »was der wohl im Wald zu suchen hat?«
Streuners gebellte Antwort hörte sich ebenso skeptisch an, wie die Stimme seines Herrchens geklungen hatte.
Ohne weitere Begegnungen erreichte Wendelin sein Zuhause, eine schlichte Hütte auf dem Hofplatz des Sägereibesitzers Holzer. Es war eine sehr einfache Unterkunft, aber auch die hatte seit Streuners Einzug eine bemerkenswerte Veränderung erfahren. Sie war sauber und aufgeräumt, anstelle der alten Pritsche stand dort jetzt ein hübsches Bettsofa, es gab farbige Kissen, eine Lampe, die heimeliges Licht verbreitete, und sogar mehrere Tontöpfe mit duftenden Kräutern und Lavendel.
Wendelin ließ sich auf das Sofa fallen, streckte gemütlich die Beine von sich und spielte noch eine Runde mit seinem Hund. Streuner liebte es, Tricks zu lernen. Jetzt war er mit Feuereifer dabei, Wendelins Handy zu suchen und es ihm zu bringen. Auch seinem Herrchen machten diese Spiele großen Spaß, aber heute Abend war der Mann nicht ganz bei der Sache. Seine Gedanken schweiften ab und waren bei dem Unbekannten, den sie getroffen hatte.
»Das war nicht nur ein Nachtwanderer, der vom Weg abgekommen ist«, sagte er nachdenklich zu Streuner. »Was hat er tatsächlich im Wald gemacht? Irgendetwas stimmt nicht an seiner Geschichte, aber ich weiß nicht, was es ist.«
Der Hund kümmerte sich wenig um Wendelins halblautes Gemurmel. Er forderte ganz energisch, dass sich sein Herrchen mehr auf das gemeinsame Spiel konzentrierte. Lächelnd tat Wendelin ihm den Gefallen und übte noch einmal: »Such mein Handy!« Es machte auch ihm großen Spaß, und er war sehr stolz auf seinen klugen Hund. Niemals wäre ihm der Gedanke gekommen, dass aus diesem Spiel einmal bitterer Ernst werden könnte.
*
Wendelins Instinkt hatte ihn nicht getrogen.
Bei dem angeblich harmlosen Nachtwanderer handelte es sich um Gisbert von Acker, der das Jagdschlösschen gemietet und etliche Freunde zur Jagd eingeladen hatte. Da er ein sehr schlechter Schütze war, konnte er nicht die Trophäen vorweisen, mit denen er geprahlt hatte. Er hatte begonnen, Fallen auszulegen, was brutal, hinterhältig und grundsätzlich verboten ist. Ein Tier, das sich in der Falle verfing, war zu grausamen Schmerzen verurteilt, ehe es langsam und qualvoll verendete. Zu recht wurde Wilderei mit Geld- oder auch Freiheitsstrafen geahndet.
Natürlich wusste Gisbert von Ackern das, aber das Risiko gehörte für ihn dazu. Als er auf Wendelin getroffen war, hatte er bereits zwei Fallen ausgelegt und die dritte noch im Rucksack. Im ersten Augenblick erschrak er, aber dann war Gisbert sicher, dass der andere Mann keinen Verdacht geschöpft hatte, denn Wendelin wirkte auf ihn ausgesprochen harmlos. Er stellte die letzte Falle auf, tarnte sie mit Laub und Zweigen und kehrte zur gemieteten Hütte zurück.
Weshalb das Gebäude Jagdschlösschen genannt wurde, war ihm ein Rätsel. Die Hütte war solide gebaut und sehr geräumig, rustikal eingerichtet und mit bescheidenem Komfort ausgestattet. Es gab einen gemauerten Kamin und zusätzliche Heizkörper, die ebenso wie Herd, Kühlschrank und einige Lampen mit Gas betrieben wurden. Die Gasflaschen waren in einem gut gesicherten Schuppen untergebracht. Es gab noch das Außen-WC, Holz- und Werkzeugschuppen und einen gemauerten Raum, in dem das Wild zerlegt wurde. Schön war der mit alten Schieferplatten gepflasterte Hof mit seinem gemauerten Außenkamin und der rustikalen Sitzgruppe unter alten Eichen.
Allerdings hatte Gisbert weniger die Schönheit dieses Ortes im Sinn als dessen Abgeschiedenheit. Von den eingeladenen Männern hatten nicht alle einen Jagdschein, und man wollte sich nicht allzu genau auf die Finger schauen lassen. Außerdem hatte sich Gisbert für seine Gäste eine besondere Überraschung einfallen lassen, die illegal und gefährlich war. Einen misstrauischen Förster auf den Fersen konnte er sich absolut nicht leisten. Seine Gäste würden morgen anreisen, und es war gut, dass sie hier draußen unbeobachtet blieben.
Einen Haken hatte das ganze allerdings, hier draußen gab es keine Hausangestellten, keinen Lieferservice, weder Spül- noch Waschmaschine, noch nicht einmal fließendes heißes Wasser. Für Sauberkeit, Ordnung und die Mahlzeiten war er als Gastgeber persönlich verantwortlich. Da das für Gisbert nicht infrage kam, würde er sich jemanden suchen müssen, der sich ums Haus und das Wohl der Gäste kümmerte.
Hungrig starrte Gisbert auf den Tisch, auf dem nur Brotreste und ein angetrocknetes Stückchen Käse lagen, die er nicht abgeräumt hatte. Es war höchste Zeit, dass jemand herkam und für duftende Schmorgerichte, saubere Weingläser und frisch bezogene Betten sorgte. Gleich morgen würde er sich darum kümmern müssen.
*
An Wendelins nächstem Arbeitstag wollte er in einen bestimmten Waldabschnitt gehen, der nach dem letzten Sturm noch nicht freigegeben war, und dort den Abtransport des Windbruchs vorbereiten. Er freute sich an der klaren Morgenstimmung, der Stille, die nur von den Vogelstimmen unterbrochen wurde, und dem herb-süßen Duft des Waldes. Sein Hund lief neben ihm her, witterte mal links, mal rechts und vergewisserte sich immer wieder mit einem Blick, dass Herrchen auch in der Nähe war.
Plötzlich blieb Streuner stehen, spitzte die Ohren und lauschte sehr aufmerksam in Richtung des Unterholzes. Wendelin wurde aufmerksam und strengte ebenfalls seine Ohren an. Und dann hörte er es: ein klagendes Winseln und heiseres Bellen, das nicht von einem Hund stammte. Es klang herzzerreißend schmerzvoll und erschöpft.
»Streuner, das klingt, als ob es jemandem sehr schlecht geht«, sagte Wendelin besorgt. Vorsichtshalber befestigte er eine lange Leine am Hundehalsband und ging in die Richtung, aus der die jammervollen Laute gekommen waren. Streuner zog ihn vorwärts und wies ihm den Weg durchs Dickicht.
Und in einer steinigen Mulde, die mit Blättern und abgestorbenen Ästen gefüllt war, entdeckten sie einen jungen Fuchs, der in einer Falle gefangen war. Wendelin wurde blass vor Zorn. Wer konnte einem wehrlosen Tier so etwas antun! Wie lange das Tier hier gefangen saß und Höllenqualen litt, mochte er sich gar nicht vorstellen.
Rasch zog er sein Holzfällerhemd aus dickem Flanell aus und streifte seine Arbeitshandschuhe über. Entschlossen näherte er sich dem jungen Tier, das offensichtlich am Ende seiner Kräfte war und panisch um sich schnappte. Wendelin schauderte. Er sah, dass beim Zuschnappen des Eisens ein Stein mit hochgeschleudert worden war, der zufällig mit zwischen die Zähne geriet und so ein völliges Zuschlagen der Falle verhindert hatte. Sonst wäre das Bein des Fuchses glatt durchtrennt worden, und er wäre verblutet, so hing verletzt fest.
»Armer Kleiner, ich weiß nicht, ob dir das tatsächlich geholfen hat«, murmelte Wendelin voller Mitgefühl. Wieviel Schmerz und Angst musste dieses Geschöpf ausgehalten haben! »Ich werde jetzt zusehen, dass dir so schnell wie möglich geholfen wird.«
Der Fuchs wehrte sich mit dem Mut der Verzweiflung gegen diese neue vermeintliche Bedrohung, aber Wendelin griff ihn sicher und wickelte ihn rasch in das dicke Hemd. Der Flanellstoff und seine Arbeitshandschuhe schützten den Mann gegen die nadelscharfen Reißzähne des jungen Räubers, aber Wendelin musste nicht nur den tobenden Fuchs festhalten, sondern auch noch die Falle öffnen. Dabei verletzte er seinen Arm an den Metallzähnen der Falle und begann sofort zu bluten.
Wendelin fluchte. Er hatte keine Hand frei und kein Verbandszeug, um die Blutung zu stoppen. »Dann muss es eben so gehen, du bist jetzt wichtiger«, murmelte er zu dem strampelnden Bündel in seinen lädierten Armen. »Auf geht’s zum Doktor.« Mit Streuner dicht auf den Fersen machte sich der Mann auf den Weg zum Jeep, mit dem er während der Arbeit unterwegs war. Im Auto konnte er seinen Arm verbinden; der Fuchs war inzwischen so geschwächt, dass er den Kampf um seine Freiheit fast aufgegeben hatte. Das Bündel auf dem Beifahrersitz zuckte nur noch leicht.
Zum Glück war Wendelin nicht tief draußen in den Wäldern gewesen und erreichte die Praxis der Tierärztin in verhältnismäßig kurzer Zeit. Rieke und ihre Mitarbeiterin waren ebenso entsetzt wie Wendelin, als er den armen Fuchs übergab und berichtete, wie er ihn gefunden hatte.
»Eine Falle!«, knurrte Rieke, und ihre grünen Augen schossen Blitze. »Wenn wir den erwischen …«
Die Untersuchung zeigte, dass der Fuchs einen bösen Bruch seines Oberschenkels erlitten hatte und die Wunde bereits großflächig entzündet war. Wendelin schluckte. »Wirst du …, du wirst ihn doch nicht …«, stammelte er.
»Ich versuche alles, um ihn zu retten«, antwortete Rieke energisch. »Ich lege ihn gleich schlafen, säubere und richte das Bein, und für den Rest des Tages bleibt er hier am Tropf. Er bekommt Schmerzmittel, ein Antibiotikum und viel zu trinken. Ich kann nichts versprechen, aber ich glaube ganz fest, dass er eine Chance hat. Abends nehme ich ihn mit hinaus zum Forsthaus auf die Wildtierstation.«
»Danke, Rieke!«, sagte Wendelin sehr erleichtert. Er traute der Tierärztin eine Menge zu, sie würde den Kleinen bestimmt durchbringen.
»Aber, Wendelin, du weißt, dass eigentlich du zuerst zum Arzt gemusst hättest, nicht wahr? Dein Arm ist bei der Rettungsaktion verletzt worden, und damit ist nicht zu spaßen«, sagte Rieke ernst zu ihm.
»Weiß ich doch, aber der Kleine hing wer weiß wie lange in der Falle. Für ihn war es doch viel wichtiger als für mich, dass die Schmerzen aufhören«, antwortete Wendelin treuherzig.
Rieke seufzte und gab ihm einen liebevollen Schubs Richtung Tür. »Ab mit dir zu Sebastian«, sagte sie. »Ich ruf dich nachher an und sag Bescheid, wie es dem Fuchs geht. Aber vorher melde ich dich beim Landdoktor als Notfall an, damit du sofort angenommen wirst.«
Erleichtert verließ Wendelin die Tierarztpraxis, überquerte den Marktplatz und machte sich auf den Weg zur Praxis des Landdoktors. Dort erwartete man ihn, und seine Wunde am Arm konnte sofort versorgt werden.
»Wie gut, dass der Fuchs Sie nicht gebissen hat, das wäre trotz der Tetanusimpfung eine ernste Sache«, sagte Sebastian erleichtert.
Die Fleischwunde wurde sehr sorgfältig gesäubert und verbunden, der Impfschutz kontrolliert, und Sebastian lieh Wendelin ein sauberes weißes T-Shirt, damit er nicht auch noch nach Hause zum Umziehen musste.
»Ich bin sehr froh, dass Sie die Falle entdeckt haben«, sagte der Landdoktor ernst. »Diese Art des Jagens ist besonders abscheulich und obendrein gefährlich. Man stelle sich vor, ein ahnungsloser Wanderer oder ein spielendes Kind tappt in so eine Falle! Wir müssen unbedingt etwas unternehmen.«
»Das werden wir«, antwortete Wendelin grimmig. »Unser Förster weiß schon Bescheid. ich treffe mich gleich mit Lorenz und der Polizei, und dann besprechen wir, was als nächstes zu tun ist. Wahrscheinlich ist das hier nicht die einzige ausgelegte Falle gewesen.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden. Wenn wir helfen können, sind wir mit dabei.« Sebastian entließ seinen Patienten mit einem kräftigen Händedruck.
»Danke, Doktor. Servus, bis übermorgen zum Verbandswechsel.« Wendelin verließ das Sprechzimmer und trat an die Anmeldung, um seine Versicherungskarte vorzulegen. Er musste einmal tief durchatmen, als er sah, dass Kathi dort stand und sich mit den beiden Sprechstundenhilfen unterhielt.
Sie trug einen kurzen hellblauen Jeansrock, ein weißes Trägershirt mit blauen Punkten und hatte ihre dunklen Locken im Nacken mit einem grünen Tuch zusammengebunden. An ihrem schmalen Handgelenk leuchtete ein Armband aus grünen Glassteinen, und ihre kurzen Fingernägel waren brombeerfarben lackiert. Wie so oft verschlug ihr Anblick Wendelin die Sprache.
Sie begrüßte ihn unbefangen und freundlich, und als sie seinen Verband sah, erkundigte sie sich mitfühlend nach seiner Verletzung. Wendelin erzählte kurz von der Falle, und Kathi schnappte vor Empörung nach Luft.
»Was für eine bodenlose Gemeinheit!«, grollte sie. »Der darf nicht ungestraft davonkommen, den müsst ihr erwischen, der Lorenz, du oder die Polizei.«
»Wir treffen uns gleich und schauen, was wir tun können«, gelang es Wendelin zu antworten.
Kathis Gesichtszüge wurden weich. »Ich drücke die Daumen, dass dein kleiner Fuchs es schafft. Du sagst mir Bescheid, gell? Und komm doch heut Abend zu uns auf den Hof, deine Brotzeit geht aufs Haus.« Ihr Lächeln war aufrichtig und warm. Ganz kurz legte sie ihre Hand auf seinen gesunden Arm und drückte ihn freundschaftlich. »Gute Besserung, Wendelin. Ich muss jetzt schnell weiter und meine Einkäufe erledigen, das Rezept für den Papa ist fertig.« Sie nahm das Papier, das Helferin Caro über den Tresen reichte, verabschiedete sich mit einem freundlichen Servus und lief leichtfüßig hinaus.
Wendelin erledigte seinen Papierkram und konnte noch immer nicht ganz glauben, dass Kathi ihn gebeten hatte, heute Abend in den Ausschank zu kommen. Er lächelte so versunken, dass er nicht bemerkte, wie sich eine andere Frau an den Tresen schlängelte und neben ihm aufbaute.
»So, da haben wir also einen Wilderer im Dorf«, bemerkte Burgl mit säuerlicher Genugtuung. »Eine Schande ist das!«
»Nein, ein Verbrechen«, entgegnete Wendelin ernst. »Und wir werden alles tun, um dem Kerl das Handwerk zu legen.«
»Du auch?«, fragte Burgl und musterte ihn aus schmalen Augen. »Dann mal viel Glück. Das werden die anderen brauchen.«
Wendelin tat so, als habe er ihre gehässigen Worte nicht gehört und verabschiedete sich aus der Praxis. Burgl schaute ihm missmutig hinterher, dann wandte sie sich an die beiden Frauen hinter dem Tresen. »Habt ihr auch gehört, dass Kathi Wendelin für heute Abend in den ›Gamsbart‹ eingeladen hat? Na, da wird sich der Papa aber freuen, ausgerechnet der Tagedieb Wendelin! Und verletzt will er sich haben, weil er einen Fuchs aus dem Fangeisen geholt hat? Schmarrn! Ich sag euch was«, Burgl sprach jetzt so laut, dass alle anderen im Wartezimmer sie hören konnten, »könnte doch sein, dass der Wendelin selbst der Fallensteller ist. Wenn er das Wildbret verkauft, hat er ein paar Euro mehr in der Tasche, und bei ihm sitzt das Geld doch immer locker. Das muss es auch, wenn er sich jetzt an die Kathi heranmacht. Sie kann ihn ja nicht immerzu einladen.«
Gerti Fechner, die wie eine Generalin über den Anmeldebereich wachte, räusperte sich drohend. »In dieser Praxis wird nicht getratscht, und erst recht werden keine falschen Behauptungen aufgestellt!«, sagte sie sehr energisch.
So schnell ließ sich Burgl nicht den Wind aus den Segeln nehmen. »Anstatt dem Wendelin seine rührende Geschichte zu glauben, sollten wir uns alle daran erinnern, wie er früher gewesen ist«, entgegnete sie herausfordernd.
Gerti schnappte sich eine der Lesemappen, die im Wartebereich auslagen, und drückte sie Burgl in die Hand. »Du magst doch sicher viel lieber draußen auf der Bank unter unserer Ulme warten als hier im warmen Zimmer«, sagte sie mit blitzenden Augen und schob die Frau Richtung Tür. »Wir sagen dir gern Bescheid, wenn du an der Reihe bist.«
Burgl war so überrascht, dass sie ausnahmsweise keine Worte fand und sich schweigend unter das grüne Blätterdach setzte und ihren Gedanken nachhing. Für sie war und blieb Wendelin ein Taugenichts und sie würde schon dafür sorgen, dass seine unrühmliche Vergangenheit nicht zu schnell in Vergessenheit geriet.
*
Den ganzen Tag über hatte Wendelin bei der Waldarbeit ein mulmiges Gefühl. Es war nicht auszuschließen, dass der Wilderer weitere Fallen ausgelegt hatte. Niemand konnte wissen, wo vielleicht schon das nächste Tier in Not geraten war. Außerdem hatte der Mann große Angst um seinen Hund. Er konnte nur inständig hoffen, dass Streuner instinktiv einen Bogen um eine Falle machte.
Ein wenig beruhigte ihn das Wissen, dass der Förster bereits eine Gemeindeversammlung einberufen hatte. Sie hofften auf freiwillige Helfer, die mit auf die Suche nach den heimtückischen Fangeisen gingen.
Und dann war da natürlich noch der Abend. Zum ersten Mal hatte Kathi ihn ausdrücklich gebeten, zum ›Gamsbart‹ zu kommen. Konnte man das eine richtige Verabredung nennen? Wohl kaum, aber es war besser als nichts.
Als Wendelin abends zum Hof kam, sah er, dass etliche Plätze belegt waren. Kathi, heute in einem hellblauen Dirndl mit dunkelblauer Schürze, lief eilig zwischen der Küche und dem gemütlichen Hofplatz hin und her. Als Kathi ihn sah, ging sie mit einem freundlichen Lächeln auf ihn zu.
»Wendelin, schön, dass du da bist. Heute haben wir gut zu tun, aber nachher setze ich mich noch zu dir. Magst du dich drüben unter die Linde zum alten Landdoktor und Traudel setzen? Der Lorenz kommt nachher auch noch auf einen Sprung vorbei«, sagte sie und wies auf einen Tisch, an dem ein älteres Paar saß.
Wendelin setzte sich mit dazu und wurde freundlich begrüßt. Benedikt Seefeld war der pensionierte Landdoktor und der Vater Sebastians, vor seinem Sohn hatte er in Bergmoosbach praktiziert. Die hübsche, ein wenig rundliche ältere Frau mit den warmherzigen dunklen Augen war Traudel Bruckner, seit Jahrzehnten die gute Seele im Doktorhaus.
Traudel schaute Wendelin mitfühlend an und sagte: »Die Nachricht ist wie ein Lauffeuer durchs Dorf gegangen, dass wir es mit einem Fallensteller zu tun haben. Wie geht es deinem Arm, Wendelin, und was macht der gerettete Fuchs?«
»Mein Arm ist gut versorgt und das Füchslein auch«, antwortete der Mann sichtlich erleichtert. »Die Tierärztin hat mich vorhin angerufen. Er ist jetzt auf der Wildtierstation im Forsthaus, und es geht ihm überraschend gut. Rieke meinte, er ist ein kleiner Kämpfer und wird es schaffen.«
Der ehemalige Landdoktor schaute ihn freundlich an. »Es scheint, als ob Sie sich mehr um den Fuchs sorgen als um Ihre eigene Verletzung. Sie sollten den Biss eines Wildtieres nicht unterschätzen, das kann gefährlich werden.«
»Aber der Fuchs hat mich doch gar nicht gebissen, ich habe mich an der Falle verletzt«, antwortete Wendelin leicht irritiert.
Benedikt und Traudel mussten lachen. »Du kennst doch unsere Buschtrommeln«, kicherte Traudel. »Du kannst es dir aussuchen: entweder hat dich ein tollwütiger Fuchs gebissen oder das Fangeisen hat dir glatt den Unterarm durchschlagen.«
Dass inzwischen auch gemunkelt wurde, Wendelin habe sich an seiner eigenen Falle verletzt, verschwieg sie freundlicherweise.
Wendelin grinste. »Nein, so dramatisch ist es nicht gewesen.«
Der Hauch eines fruchtig-herben Parfums streifte ihn, und mit Schwung setzte sich Kathi neben ihn auf die Bank. »So, zwei Minuten nehme ich mir«, sagte sie und lächelte ihn an. Die kleine, perlmuttfarbige Mondsichel schien auf ihrer schön geschwungenen Oberlippe zu tanzen. »Sag doch, wie es dem Fuchs geht und was ich euch Schönes bringen kann.«
Wendelin berichtete von Riekes Anruf und danach bestellte er Tiroler Gröstl und ein alkoholfreies Bier, Traudel und Benedikt entschieden sich für Apfelhendl. Kathi notierte die Bestellungen und fragte dann nach der Gemeindesitzung. »Sie ist am Donnerstag? Das passt gut, da haben wir unseren Ruhetag, der Papa und ich können beide kommen. Und hier oben in der Nähe des Hofes halten wir die Augen offen.«
Vom Fahrweg klangen Motorengeräusche herauf, zwei schwere Geländewagen bogen auf den Parkplatz ein und hielten so sportlich, dass der Kies aufspritzte. Sechs Männer in teurer Freizeitkleidung sprangen heraus und gingen mit dynamischen Schritten zu einem freien Tisch hinüber.
Kathi sagte mit einem amüsierten Grinsen: »Die Jungs haben dafür gesorgt, dass ihre Ankunft in den teuren Wagen nicht zu übersehen war. Wetten, dass da sofort nach der Bedienung gerufen wird?«
Und tatsächlich – es hatten sich noch nicht einmal alle hingesetzt, als auch schon einer mit fordernder Stimme: »Bedienung!« verlangte.
Kathi blinzelte Wendelin zu: »Was hab ich gesagt?«
Wendelin schaute zu der Gruppe hinüber, die sich lautstark unterhielt, und runzelte leicht die Stirn. »Den einen kenne ich, der ist mir gestern Abend als verirrter Wanderer über den Weg gelaufen.«
»Hm«, machte Benedikt, »er sieht eigentlich nicht so aus wie ein Mann, der gern auf Nachtwanderung geht.«
»Dasselbe habe ich gestern auch gedacht«, erwiderte Wendelin langsam.
»Ich schaue ihn mir mal genauer an, aber vorher bringe ich euch eure Getränke«, sagte Kathi und ging mit schwingendem Dirndl zum Haus zurück, ohne sich um den nächsten auffordernden Ruf zu kümmern. Diese Männer mussten dringend an ihren Manieren arbeiten.
Erst als sie Wendelins Tisch mit Getränken versorgt hatte, ging sie weiter zum Nachbartisch, begrüßte die Gäste und überreichte die rustikale Speisekarte. »Grüß Gott, die Herren, was kann ich Ihnen zu trinken bringen?«
Gisbert lehnte sich auf der Bank zurück, musterte sie eingehend und sagte dann mit einem breiten Grinsen: »Weil Sie so hübsch sind, sage ich jetzt mal nichts dazu, dass Sie uns so lange haben warten lassen.«
»Da habe ich ja richtig Glück gehabt«, antwortete Kathi trocken und schaute ihm gerade in die Augen. Sie konnte gut mit Gästen umgehen, die sich herausfordernd benahmen.
Gisbert musste lachen. »Gute Antwort«, sagte er. »Bringen Sie uns für den Anfang für jeden eine Maß.«
Für den Anfang? Kathis Blick huschte zu den schweren Geländewagen hinüber, und sie beschloss, die Getränkebestellungen dieser Runde besonders im Auge zu behalten.
Gisbert hatte ihren Blick bemerkt und schmunzelte. »Sie denken an den Heimweg? Nein, wir sind keine gewissenlosen Verkehrsrowdys, die sich betrunken hinters Steuer setzen. Meine Freunde und ich sind hier auf einem Jagdausflug, und das setzt voraus, dass wir verantwortungsbewusst handeln, nicht wahr?« Ihm war sehr wichtig, nicht unangenehm aufzufallen, schon gar nicht irgendeiner Polizeistreife, die nachts unterwegs war.
»Ein Jagdausflug? Haben Sie das Jagdschlösschen gemietet?«, fragte Kathi interessiert.
Der Mann in der gut geschnittenen Wildlederjacke nickte. »Ich habe meine Freunde eingeladen. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Mein Name ist von Acker. Gisbert von Acker.« Er sagte das mit genau derselben Betonung, mit der sich der Schauspieler in den berühmten Agentenfilmen vorstellt: mein Name ist Bond. James Bond.
Kathi verkniff sich ein Grinsen. »Waidmanns Heil!«, antwortete sie und fügte ernst hinzu: »Wenn Sie unterwegs sind, passen Sie gut auf! Wir haben hier zur Zeit jemanden, der Fangeisen auslegt.«
»Unglaublich, welche gewissenlosen Menschen es gibt!«, erwiderte Gisbert mit gespielter Empörung. »Wie sind Sie denn auf die Fallen aufmerksam geworden?«
»Durch Zufall«, erwiderte Kathi ausweichend. Sie hatte nicht vor, diesem Fremden Wendelins Geschichte auf die Nase zu binden.
»Eine unangenehme Sache«, sagte einer seiner Freunde verärgert. »Das kann uns glatt den Spaß an der Jagd verleiden. Ich will doch nicht irgendwo in eine Falle tappen.«
Wirst du auch nicht, du Trottel, dachte Gisbert zähneknirschend, ich weiß doch, wo sie sind. Laut sagte er: »Müssen wir uns Sorgen machen? Wird vor dem Betreten der Wälder gewarnt?«
»Nein, Sie können zur Jagd gehen. Försterei und Polizei haben die Sache im Griff«, antwortete Kathi. »Sie sind sehr wachsam.«
Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Gisbert genervt, ich muss die Fallen so schnell wie möglich verschwinden lassen. »Nun, davon lassen wir uns unseren Spaß jedenfalls nicht verderben«, sagte er laut. »Genießen wir das Essen und die charmante Bedienung.«
Im Laufe des Abends musste Kathi noch oft für diese Gäste zwischen Küche und Hofplatz hin und her gehen. Sie aßen reichlich und tranken noch mehr Alkohol, zuerst Bier, dann etliche Obstbrände. Rasch waren sie und die schlagfertige Bedienung beim Du angelangt. Es wurde immer später, und zum Schluss waren die sechs Hobbyjäger die einzigen Gäste außer Wendelin, zu dem sich Kathi setzte, wenn die Zeit es erlaubte.
»Sie haben viel getrunken und sind nicht gerade leise«, stellte Wendelin fest.
»Einige von ihnen sind ziemliche Maulhelden und geben an«, schmunzelte Kathi. »Man muss sie halt zu nehmen wissen, dann geht’s schon. Dieser Gisbert kann sogar ganz charmant sein.«
»So?«, sagte Wendelin nur. So albern es auch sein mochte, er konnte den Nadelstich der Eifersucht nicht unterdrücken, der ihn bei Kathis Worten durchfuhr.
Als ob sie seine Gefühle bemerkt hatte, versetzte sie ihm einen sanften Rippenstoß. »He, du glaubst doch nicht etwa, dass ich diesen Gisbert von Acker ernst nehme? Ich meine, als Mann, für den ich mich tatsächlich interessiere?«, fragte sie.
»Weiß ich doch nicht«, murmelte Wendelin unbehaglich, »ich habe keine Ahnung, welchen Typ Mann du gut findest.«
»Auf jeden Fall keinen Angeber«, kam die prompte Antwort. »Und niemanden, der nicht mit Alkohol umgehen kann. Wenn die Kerle jetzt glauben, sich noch hinters Steuer setzen zu können, dann sorge ich dafür, dass hinter der nächsten Wegbiegung Gregor Leutner auf sie wartet.«
»Du würdest glatt die Polizei rufen«, stellte Wendelin bewundernd fest.
»Aber sicher«, erwiderte sie resolut. »Warten wir mal ab, wie sie sich gleich verhalten. Ich glaube, sie sind in Aufbruchsstimmung.«
Am anderen Tisch begann tatsächlich eine Diskussion darüber, ob man noch fahren könne oder nicht. Gisbert überraschte Kathi damit, dass er ein rigoroses Fahrverbot aussprach und sie fragte, ob sie ein Großraumtaxi rufen könne. Die junge Frau war angenehm überrascht, und der Mann stieg in ihrer Achtung. Dass Gisbert sich nicht aus Vernunftgründen so entschieden hatte, konnte sie nicht ahnen. Er wollte nur auf keinen Fall unliebsames Aufsehen erregen.
»Ein Großraumtaxi müssten wir aus der Kreisstadt rufen, und das würde viel zu lange dauern, bis es hier ist«, erklärte Kathi. »Ich mache euch einen anderen Vorschlag. Ihr verteilt euch auf zwei Wagen, und ein Freund und ich fahren euch zum Jagdschlösschen raus.«
Es gab Gemurre unter den Männern, aber schließlich ließen sie sich in Kathis Auto und Wendelins urigen Jeep verfrachte. »Danke, dass du beim Transport hilfst«, sagte Kathi leise zu Wendelin. »Du hast was gut bei mir.«
Ehe er darauf antworten konnte, fuhr sie schon los. Wendelin folgte ihr über den Fahrweg und holprige Waldwege, die schließlich auf der Lichtung endeten, auf der die geräumige Hütte stand.
Während der Fahrt schwieg er und versuchte, das angetrunkene Gerede seiner drei Mitfahrer zu überhören. Sie beschwerten sich über sein unbequemes Fahrzeug, das tatsächlich ein alter, klappriger Jeep und kein geländegängiges Luxusauto war.
»Ihr könnt gern zur Hütte laufen«, bot Wendelin an und trat auf die Bremse. »So weit ist es gar nicht mehr, ihr müsst euch nur vor den Wildschweinen in acht nehmen. Die verstehen keinen Spaß, wenn Fremde durch ihr Revier laufen.«
Das wirkte, und das Gemecker hörte auf. Stattdessen wurde jetzt lauthals überlegt, welche Frauen man noch zu dieser Jagdpartie einladen könne. »Das geht ja gar nicht, dass nur der Gisbert seinen Spaß hat«, dröhnte es vom Rücksitz. »Habt ihr mitbekommen, wie er sich an die hübsche Bedienung rangemacht hat? Die Kleine ist auch richtig knackig in ihrem Dirndl. Wetten, dass sie nach dieser Woche zu seiner Trophäensammlung gehören wird?«
Die Männer feixten und machten anzügliche Bemerkungen, und Wendelin hätte am liebsten jedem einzelnen eins aufs Maul gegeben. Auf der Lichtung legte er eine unsanfte Bremsung hin, welche seine Mitfahrer kräftig durchrüttelte, und stieg mit grimmiger Miene aus. Sein erster Blick galt Kathi, hatte sie sich auch solch dummes Gerede anhören müssen?
Die junge Frau wirkte nicht wütend, sondern amüsiert. Sie beobachtete einen Freund Gisberts, der sich auf die Kühlerhaube ihres Wagens stützte und lauthals schimpfte: »Verdammte Dunkelheit! Mensch, Gisbert, mach endlich die Außenbeleuchtung an!«
»Es gibt hier keine Außenbeleuchtung«, erwiderte Gisbert und versuchte, im Licht der Autoscheinwerfer den richtigen Schlüssel zu finden.
»Hier gibt es überhaupt keinen Strom«, fügte Kathi mit leisem Vergnügen hinzu. Sie konnte sich nur über diese Leute amüsieren, die sich vor der Reise nicht genug über ihre Unterkunft informiert hatten.
»Gisbert, du Blödmann, das hättest du uns vorher sagen müssen!«, beschwerte sich jetzt lauthals einer der anderen Männer.
»Ihr habt die Gaslichter, Petroleumlampen und Kerzen, das dürfte wohl reichen«, sagte Wendelin.
»Gaslicht? Die Lampen funktionieren mit Gas? Ja, in welchem Jahrhundert lebt ihr Leute denn hier?«, stöhnte jetzt der Mann, der vorhin so abfällig über Kathi geredet hatte.
Wendelin hielt es kaum noch aus. Nicht eben freundlich nahm er Gisbert den Schlüssel ab, öffnete die Tür und entzündete die Gaslampen, sodass jetzt weiches Licht durch die Fenster nach außen fiel.
»Ah, ein Mann der Tat«, höhnte einer der Angetrunkenen.
»Ohne den ihr hier offensichtlich nicht zurechtkommt«, erwiderte Kathi scharf und warf einen besorgten Blick auf das Jagdschlösschen. »Werden ihr mit dem Gas klarkommen oder jagt ihr am Ende das ganze Haus in die Luft?«
Gisbert fand sie absolut hinreißend, wie sie dort im warmen Lampenlicht stand, die Hände in die Hüften stemmte und mit empörten Blicken um sich schaute. Ihr Temperament und Selbstbewusstsein gefielen ihm.
Plötzlich hatte er eine Idee.
»Selbstverständlich kommen wir mit dem Gas zurecht, aber trotzdem fehlt uns etwas sehr Wichtiges«, sagte er freundlich und zeigte dieses besondere Lächeln, das schon etliche Frauen unwiderstehlich gefunden hatten. »Ich wünsche mir für diese Woche nach der Jagd auch Ruhe und Bequemlichkeit, ein behagliches Haus, leckeres Essen, frisch bezogene Betten und dergleichen. Hast du Lust, während dieser Zeit als Haushälterin für uns zu arbeiten? Du hättest geregelte Arbeitszeiten, und ich zahle ein sehr gutes Gehalt.« Er nannte eine großzügige Summe und wartete.
Kathi schaute ihm genau in die Augen. »So viel ist meine Arbeit auch wert«, antwortete sie kühl. »Aber da sie hier unter erschwerten Bedingungen stattfindet, erwarte ich das Doppelte.«
Damit hatte Gisbert nicht gerechnet, aber ihre Haltung imponierte ihm. Er streckte ihr seine ausgestreckte Hand entgegen. »Abgemacht, schlag ein!«
Kathi schüttelte den Kopf. »Setz einen vernünftigen Arbeitsvertrag auf und bring ihn morgen früh mit, wenn ihr eure Autos abholt. Wenn alles in Ordnung ist, unterschreibe ich, und mittags stehen Hirschragout und Knödel auf eurem Tisch.«
»Einverstanden.« Gisberts Lächeln wuchs in die Breite.
Wendelin konnte sich mit seiner Meinung kaum noch zurückhalten. Kathi war selbstbewusst und stark, aber sie sollte jetzt Tag für Tag hier draußen arbeiten, allein? Unter Männern, die in ihr eine Trophäe sahen? Er wollte gerade protestieren, als einer von Gisberts Freunden fragte: »Wie hast du dir das eigentlich mit den erlegten Tieren gedacht, Kumpel? Wer soll sich um die kümmern? Von mir kannst du das nicht erwarten, ich habe immer einen Jagdgehilfen. Wen hast du dafür engagiert?«
Darum hatte sich Gisbert noch nicht gekümmert, ihm waren andere Dinge wichtiger gewesen. Als er jetzt die fragenden Blicke seiner Freunde bemerkte, musste er sich auf die Schnelle etwas einfallen lassen.
»Das wollte ich vor Ort regeln«, sagte er rasch und klopfte Wendelin kumpelhaft auf die Schulter. »Und ich glaube, wir haben den richtigen Mann gefunden. Was hältst du davon, in dieser Woche für uns zu arbeiten? Du kümmerst dich um unsere Waffen, die Trophäen und so weiter. Als Forstwirt kennst du dich hier im Wald gut aus, das ist ein Vorteil für uns. Ich zahle gut; was sagst du?«
Wendelin schluckte eine ehrliche Antwort hinunter und antwortete stattdessen: »In Ordnung, ich komme als Jagdgehilfe zu euch raus.«
»Dann sehen wir uns also morgen«, sagte Gisbert und hieb ihm noch einmal auf die Schulter. »Servus, ihr zwei, und auf gute Zusammenarbeit.«
Kathi und Wendelin stiegen in ihre Autos und fuhren hinter einander über die schmalen Pfade, bis sie zum Hauptweg kamen, an dem sie sich trennen mussten. Beide hielten an, und Wendelin ging zu Kathis Wagen hinüber. Sie hatte ihr Fenster ganz geöffnet und schaute ihm aufmerksam entgegen.
»Wendelin, du kannst Gisbert nicht ausstehen und die anderen Männer auch nicht. Weshalb hast du den Job angenommen?«, fragte sie ganz direkt.
Er holte tief Luft. »Sie sind respektlos, und ich traue ihnen nicht über den Weg. Ich wollte nicht, dass du mit dieser Bande allein hier draußen bist«, antwortete er aufrichtig.
»Du meinst, mich beschützen zu müssen?«, sagte sie mit einem leisen Lächeln.
Wendelin schüttelte den Kopf. »Nein, um dir in deinem Alltag zu helfen.«
»Du bist noch netter, als ich bisher dachte«, antwortete sie weich. »Gute Nacht, Wendelin, komm gut heim. Wir sehen uns morgen Abend bei der Gemeindeversammlung.«
»Nacht, Kathi«, murmelte Wendelin. Er wartete, bis ihre Rücklichter hinter einer Wegbiegung verschwunden waren, dann fuhr auch er nach Hause. In Gedanken plante er, wie er seine Arbeit für das Forstamt und die Beschäftigung bei Gisbert unter einen Hut bringen konnte. Er wusste, dass Förster Lorenz Breitner sich auf ihn verließ, und hatte nicht vor, ihn zu enttäuschen und seine eigentliche Arbeit zu vernachlässigen. Wendelin hoffte, dass Lorenz Verständnis dafür hatte, dass er sich auch um die Freizeitjäger kümmerte.
Im Jagdschlösschen kehrte langsam Ruhe ein. Die Männer waren in die schmalen Betten gefallen, von denen keines den gewohnten Luxus bot. Die Hütte hatte einen mit Gauben ausgebauten Dachraum, in dem sich mehrere Schlafkammern befanden. Sie waren klein, rustikal und gemütlich.
Gisbert wartete, bis alles dunkel war, dann stieg er leise fluchend in seine Gummistiefel, nahm den Rucksack und seine große Taschenlampe und verließ leise die Hütte. Er musste unbedingt die anderen Fallen holen, ehe sie entdeckt wurden und man sie möglicherweise auf ihn zurückführen konnte. Auch seine Gäste durften nichts davon wissen, dass er seinem Jagdglück auf diese hinterhältige Art hatte nachhelfen wollen. Warum musste dieser Wendelin auch eine der Fallen entdecken und solch einen Wirbel darum veranstalten! Nach der ersten Begegnung auf dem Waldweg gestern Nacht hatte er ihn für einfältiger und leicht zu beeinflussen gehalten. Man würde abwarten müssen, wie er sich in dieser Woche machte. Vielleicht würde er bei der besonderen Überraschung, die Gisbert geplant hatte, Schwierigkeiten machen, aber auch dafür gab es Möglichkeiten. Entweder gab es einen guten Extralohn, damit er mitmachte, oder vorher einen Fußtritt zur Entlassung.
Zufrieden mit sich und seinen Plänen, versenkte Gisbert die letzte Falle wieder in seinem Rucksack und ging zum Jagdschlösschen zurück. Den Rucksack verstaute er in einer Ecke des Schuppens unter einem alten Sack und ging dann ins Bett. Er wollte wenigstens noch ein paar Stunden Schlaf haben, ehe der neue Tag mit einem Frühstück begann, um das er sich selbst kümmern musste. Bei dem Gedanken an einen Kaffee ohne die gewohnte astronomisch teure, blitzende Espressomaschine tat er sich selbst leid. Es war tatsächlich höchste Zeit, dass Kathi hier Einzug hielt und sich um diese lästigen Dinge kümmerte.
*
Die Bürgerversammlung fand abends im großen Gemeindesaal der Kirchengemeinde statt. Es waren viele Einheimische gekommen und auch aufgeregte Touristen, die sich in den Wäldern nicht mehr sicher fühlten und teilweise lautstark den Verlust ihrer Urlaubsqualität beklagten. »Leute, bleiben wir doch bitte beim Thema!«, verschaffte sich der Förster energisch Gehör. »Dass diese Fallen gefährlich sind, steht außer Frage, aber es ist ja nicht so, als wären unsere Wälder damit geradezu gespickt.«
»Woher wollen Sie das denn wissen?«, rief eine Frau aufgeregt dazwischen. »Mein Mann und ich sind extra zum Wandern hergekommen und verlangen Sicherheit! An jeder beliebigen Stelle im Unterholz kann so ein Ding versteckt sein, die sieht man doch gar nicht.«
Lorenz bemühte sich, ruhig und freundlich zu bleiben. »Wir tun, was wir können, und außerdem möchte ich Sie daran erinnern, dass Sie im Unterholz nichts zu suchen haben. Um die Tier- und Pflanzenwelt zu schützen, sollen sich Besucher nur auf den Waldwegen aufhalten und nicht wahllos durchs Gebüsch streifen. Wir haben ein großes Netz von Wanderwegen, die auch durch abgelegene Gebiete führen. Jeder kann die Natur genießen, ohne kreuz und quer durchs Dickicht zu brechen.«
»Dann sind Sie sicher, dass auf den Wegen keine Fallen lauern?«, fragte ein anderer Tourist.
»So sicher, wie auf den Wegen auch kein Jäger mit geladenem Gewehr auf der Lauer liegt«, antwortete Lorenz und blickte mit ruhigem Gesicht in die Menge.
Ein älterer Bauer räusperte sich umständlich. »Ich verstehe nicht so ganz, weshalb sich alle so aufregen. Wilderei und ab und zu einen Fallensteller haben wir doch immer schon mal gehabt, das geht auch wieder vorüber.«
»Dabei handelte es sich um Schlingen, und das ist schon schlimm genug, aber jetzt geht es um Fangeisen«, antwortete Wendelin aufgebracht. »Weißt du, welche Qualen das für ein Tier bedeutet, wenn es dort hineingerät?«
»Das sagt der Richtige«, meldete sich ein dunkelhaariger Mann in Wendelins Alter und schaute ihn geringschätzig an. »Wer hat denn früher unsere Hühner und Enten mit vergorenen Kirschen gefüttert, nur um zu sehen, wie sie betrunken über den Hof torkelten?«
Wendelin senkte beschämt den Kopf. Es ließ sich nicht leugnen, dass er dem Federvieh seines Klassenkameraden Stefan Bitterfeld diesen üblen Streich gespielt hatte. Unbewusst suchte sein Blick Kathis Reaktion, und er staunte. Sah er das richtig? Sie schien sich das Lachen zu verbeißen?
»Wenn wir schon dabei sind, uralte Geschichten auszugraben, mein lieber Stefan, dann kenne ich einen Bub, der versucht hat, Afras Katze einen Knallfrosch an den Schwanz zu binden«, sagte plötzlich eine resolute Frauenstimme. Sie gehörte zu Traudel, die den Mann ruhig und fest anschaute.
Stefan verstummte und setzte sich wieder hin.
Wendelin fühlte sich durch Traudels Zuspruch gestärkt und fuhr fort: »Es geht uns darum, dass wir Waldstücke möglichst systematisch absuchen, und dazu brauchen wir viele Leute. Wer von euch könnte sich daran beteiligen?«
Bürgermeister Talhuber und Benedikt Seefeld gingen mit gutem Beispiel voran, und noch einige andere Hände gingen in die Höhe, aber es waren zu wenig Menschen für das große Gebiet, das sie durchsuchen wollten.
Wendelin versuchte sein Bestes, um die Leute zu motivieren, aber er hatte kein Glück.
Die Tierärztin Rieke schaute unzufrieden in die Runde. »Leute, wir haben alle genug zu tun, aber es kann doch nicht sein, dass sich außer den wenigen Freiwilligen keiner mal zwei Stunden freinehmen und in den Wald gehen kann. Woran liegt’s also?«
»Vielleicht daran, dass ein gewisser Jemand viel zu viel Wind um die Sache macht? Vielleicht ist seine große Besorgnis nur ein Ablenkungsmanöver?«, sagte Stefan langsam.
Wendelin war sprachlos und konnte nicht antworten. Wieder suchte er Kathis Blick und sah, dass sie ärgerlich die Augenbrauen runzelte. Dachte sie etwa so wie Stefan?
»Ein Ablenkungsmanöver wovon?«, fragte der Förster scharf.
Stefan zuckte unbehaglich mit den Schultern und schaute in die Runde. Ihm begegneten einige aufmunternde Blicke, und er fuhr fort: »Ich meine, dass der Wendelin vielleicht noch etwas ganz anderes mit den Fallen zu tun haben könnte.«
»Was denn? Jetzt mal Butter bei die Fische!«, fuhr Rieke den Mann an. Sie stammte von der Nordseeküste, und wenn sie sich aufregte, dann redete sie manchmal so, dass sie im bayerischen Bergmoosbach nicht gleich verstanden wurde.
Stefan allerdings verstand sie sehr gut. »Also, die Burgl hat mir erzählt, dass sie auch denkt, dass …«,
»Einen Moment!« Sebastian war aufgestanden und hatte den Mann ruhig unterbrochen. »Wir wollen doch nicht so unhöflich sein und über Notburga Krämsers Kopf hinweg so reden, als ob sie gar nicht anwesend sei. Bitte, Frau Krämser, sagen Sie uns selbst, worüber sie mit Herrn Bitterfeld gesprochen haben.«
Burgl stand auf und reckte herausfordernd das Kinn in die Höhe. »Das ist schnell getan, Herr Doktor. Ich glaube, dass der Wendelin selbst die Schlingen ausgelegt hat und jetzt nur so scheinheilig tut.«
Jetzt stand auch Gregor Leutner auf, der die örtliche Polizeistation leitete. »Das ist eine harte Behauptung, Burgl, mit der du vorsichtig sein solltest. Hast du denn irgendwelche Beweise?«
Burgl bekam hektische rote Flecken, aber sie redete unbeirrt weiter. »Schaut euch doch mal Wendelins Leben an, ist das nicht Beweis genug? Er hat nichts und lebt von der Hand in den Mund. Da kommt so ein Stück Wild oder ein Fell, das man unter der Hand verkaufen kann, doch gerade recht. Der denkt doch nur an den eigenen Vorteil. Erinnert ihr euch daran, als er hier diese Versicherungen verkaufen wollte und dabei die Leute über den Tisch gezogen hat? Und diese Schnapsidee mit der Werbeagentur, an der man sich beteiligen sollte?«
Wendelin fühlte sich schrecklich, als seine gescheiterten Projekte so gnadenlos ans Licht gezerrt wurden, und er wünschte sich so weit weg wie möglich. Warum nur war ihm die Idee mit der Gemeindeversammlung so wichtig gewesen? Er hätte doch wissen müssen, dass man nicht auf ihn hören würde.
Aber nicht nur die Tierärztin stärkte ihm den Rücken. »Frau Krämser, Sie reden Blödsinn«, platzte Rieke heraus. »Wendelin hat den gefangenen Fuchs zu mir gebracht anstatt ihm das Fell über die Ohren zu ziehen. Er hat zuerst an das verletzte Tier gedacht und dann erst an seinen Arm. Ihre Anschuldigung ist völlig haltlos.«
»Das kann ich nur bestätigen«, sagte Sebastian ruhig.
»Ja, wenn sich die Frau Doktor und der Herr Doktor einig sind, dann kommen wir kleinen Leute natürlich nicht dagegen an«, antwortete Burgl gehässig.
Damit war sie zu weit gegangen, im Saal erhob sich unwilliges Gemurmel. Kathi sprang auf und schaute die alte Frau herausfordernd an. »Der Gedanke von Wendelin als Fallensteller ist so blöd, dass ich darüber gar nicht reden will. Wenn sich jetzt keine Freiwilligen mehr melden, wollen wir dann nicht für heute Schluss machen, ehe noch mehr Unsinn geredet wird?«
»Du hast mir das Wort aus dem Mund genommen«, sagte Bürgermeister Talhuber hastig. Die Auseinandersetzung war ihm sehr peinlich und er fürchtete den schlechten Eindruck, den die Touristen von Bergmoosbach bekommen könnten. Rasch sprach er ein paar nette Abschiedsworte, um die Wogen zu glätten. Einzeln oder in Grüppchen verließen danach die Leute den Saal.
Kathis Vater nahm seine Tochter zur Seite. »Du bist dem Wendelin aber mächtig zur Seite gesprungen. Meinst du, er hat dein Vertrauen verdient?«, fragte er leise.
»Das hat er, und außerdem mag ich es nicht, wie die Leute reden«, antwortete Kathi ärgerlich.
Anton Stübl wiegte bedächtig mit dem Kopf. »Dann pass auf, dass die Leute nicht noch mehr zu reden bekommen. Du bist jetzt viel mit dem Wendelin zusammen draußen bei der Jagdgesellschaft.«
Kathi musste lachen. »Papa, wir arbeiten dort!«, sagte sie amüsiert. »Ich finde Wendelin nett, und ich kann Ungerechtigkeit nicht leiden, das ist alles. Lass uns nicht mehr davon reden. Wolltest du nicht noch deinen Freund Ferdi besuchen? Dann geh doch schon zu ihm, ich möchte noch mit der Tierärztin sprechen und hole dich später ab.«
Ihr Vater nickte, und Kathi ging zu den Paaren hinüber, die bei Wendelin standen. Sie lächelte ihn aufmunternd an. »Du hattest eine gute Idee mit der Versammlung«, sagte sie. »Jetzt habt ihr von der Försterei wenigsten ein paar Leute mehr, die hier ihre Augen offenhalten.«
»Schon, aber es ist schade, dass sich nicht mehr gefunden haben«, antwortete er.
Auch Familie Seefeld stand noch zusammen. Der ältere Landdoktor wirkte verärgert. »Es ist selten, dass ich das über einen Menschen sage, aber Notburga Krämser ist schwer auszuhalten«, grummelte er. »Mit ihrer Stimmungsmache hat sie schon Erfolg gehabt. Ich kann mir vorstellen, dass sich sonst noch mehr Leute zum Suchen gemeldet hätten. Wendelin, lassen Sie sich davon nicht unterkriegen. Ihnen haben wir zu verdanken, dass die Fallen so schnell entdeckt worden sind.«
Kathi nickte bestätigend. Sie hatte ihr Gespräch mit der Tierärztin wegen einer anstehenden Kälbergeburt beendet und wandte sich wieder Wendelin zu. »Bei uns draußen im ›Gamsbart‹ ist es zwar sehr schön, aber hast du nicht Lust, auch einmal anderswo zu sitzen? Unten am Sternwolkensee ist es herrlich.« Ihre braunen Augen lachten.
»Ja«, war alles, was Wendelin dazu einfiel. Es konnte doch unmöglich so gemeint gewesen sein, dass Kathi gern etwas mit ihm unternehmen wollte? Auf der Hotelterrasse vom Steg-Haus ein Glas Wein trinken oder auf einem der hölzernen Anleger sitzen und dem Sonnenuntergang zuschauen?
Weil er nichts weiter sagte, nickte Kathi abschiednehmend in die Runde und ging zur Tür. Dort traf sie Gisbert, der mit verschränkten Armen lässig an der Wand lehnte und auf sie gewartet hatte. »Du bist auch hier? Das überrascht mich«, sagte sie.
»Aber wieso? Wenn hier ein Fallensteller unterwegs ist, dann interessiert mich das schon«, erwiderte er.
»Fürchtest du, er könnte dir das eine oder andere Tier vor der Nase wegschnappen?«, fragte die junge Frau sehr direkt.
»Es geht mir darum, dass diese Fallen absolut nichts mit waidgerechter Jagd zu tun haben«, antwortete er mit gespielter Empörung.
Kathi war von seinen Worten angenehm überrascht. Sollte er doch keiner jener Hobbyjäger sein, denen es nur um Ballerei und Trophäen ging?
»Hast du heute Abend noch etwas vor?«, erkundigte er sich freundlich. »Wir könnten uns auf die Seeterrasse vom Steg-Haus setzen.«
»Klingt gut, ein wenig Zeit habe ich wohl noch, aber dann muss ich meinen Vater bei einem Bekannten abholen. Wir sind mit meinem Auto hier«, erklärte sie.
Ganz beiläufig legte Gisbert seinen Arm um ihre Taille. »Dann lass den Herrn Papa den Wagen nehmen, und ich bringe dich später mit meinem nach Hause.«
Genauso beiläufig streifte Kathi seinen Arm ab und antwortete nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt: »Ich fahre mit meinem eigenen Wagen nach Hause.« Sie nickte den anderen, die noch im Gemeindesaal standen, noch einmal zu und ging dann mit Gisbert hinaus.
»Hm«, machte Traudel halblaut. Es klang fast so, als redete sie mit sich selbst. »Wenn ich mich nicht sehr täusche, wäre die Kathi lieber mit Wendelin ausgegangen.«
»Das sehe ich auch so«, fügte Rieke mit einem unschuldigen Augenaufschlag hinzu. »Zumindest hat es sich genauso angehört.«
Lorenz blinzelte seinem Mitarbeiter zu.
»Kann es sein, dass du für bestimmte Untertöne etwas aus der Übung gekommen bist, Wendelin?«
Er schaute überrascht auf. »Ihr meint, Kathi hat nichts gegen eine Verabredung mit mir?«
»Antipathie sieht anders aus«, schmunzelte Benedikt.
Wendelin räusperte sich verlegen. »Wir werden sehen«, murmelte er und verabschiedete sich rasch. Am nächsten Morgen musste er früh raus, wenn er seine Arbeit im Forst schaffen wollte, um dann bei der Jagdgesellschaft helfen zu können. Er freute sich darauf, dort Kathi zu treffen, und versuchte, nicht daran zu denken, dass sie diesen Abend mit Gisbert verbrachte.
Die Seefelds schlenderten zu Fuß nach Hause und unterhielten sich über den vergangenen Abend. Sebastian kannte Wendelin seit seiner Kindheit, und mit einem nachsichtigen Kopfschütteln sagte er: »Ein bisschen sonderbar ist er schon, unser Wendelin. Früher war er ein unerträglicher Angeber und Maulheld, und nun kommt er mir direkt schüchtern vor. Eigentlich ist er fast schon zu zurückhaltend.«
»Na ja, nach dem Echo auf Burgls Gerede wundert mich das nicht«, erwiderte Traudel. »Hoffentlich richtet sie nicht noch mehr Schaden an, das hat Wendelin nicht verdient.«
»Nein, er engagiert sich sehr im Naturschutz«, antwortete der Förster anerkennend.
»Dann wundert es mich ein wenig, dass Wendelin für diese Freizeitjäger aus der Großstadt arbeiten will«, sagte Benedikt nachdenklich. »Sie kommen mir nicht besonders verantwortungsbewusst vor.«
»Und genau das ist der Grund, weshalb Wendelin sich auf sie eingelassen hat«, erwiderte Lorenz nachdrücklich. »Er traut ihnen kein faires Jagdverhalten zu und möchte sie lieber im Auge behalten.«
»Respekt!« Benedikt war beeindruckt.
»Ich frage mich, ob es eine gute Idee vom Gemeinderat gewesen ist, das Jagdschlösschen an fremde Jäger zu vermieten«, sagte Anna nachdenklich. »In letzter Zeit gab es einigen Ärger deswegen.«
»Ja, aber Leerstand ist auch keine Lösung, das hat uns ebenfalls Ärger beschert. Außerdem tut es dem Gebäude nicht gut, wenn es unbewohnt bleibt. Ich glaube, unser Bürgermeister und der Gemeinderat sollten sich noch einmal mit der Zukunft des Jagdschlösschen beschäftigen.«
»Es könnte sehr gut als Außenstelle des Forsthauses genutzt werden, aber damit ist es immer noch nicht bewohnt«, überlegte Lorenz.
Rieke gähnte verstohlen. »Wir sollten uns etwas Sinnvolles für das Haus überlegen und dem Gemeinderat vorschlagen, aber für heute habe ich genug. Ich möchte nur noch ins Bett und möglichst viel Schlaf kriegen, ehe mich ein nächtlicher Anruf erreicht und ich los muss.«
»O ja, wir wissen, wovon du sprichst«, antworteten Anna und Sebastian verständnisvoll. Die Freunde verabschiedeten sich und gingen nach Hause.
Auch Kathi wollte den Abend auf der Terrasse über dem Sternwolkensee beenden. Gisbert war unterhaltsam und amüsant, aber er hatte auch einen Hang zur Prahlerei. Den Adelstitel hatte seine Familie gekauft, aber aus seinem Mund hörte es sich so an, als habe er eine ellenlange adlige Ahnengalerie. Er sprach viel von seinem geschäftlichen und gesellschaftlichen Erfolg, versuchte mit Fremdworten und Fachausdrücken zu beeindrucken und trank zu viel Wein.
»Willst du deinen Wagen nicht lieber stehenlassen? Ich kann dich auf dem Heimweg bei euch absetzen«, bot Kathi an.
»Schon wieder?«, lachte Gisbert. Er küsste Kathis Hand, ehe sie es verhindern konnte. »Was denkst du nur von mir?«
»Dass du offensichtlich nicht so genau weißt, wo die Grenzen sind«, antwortete sie nicht unfreundlich und zog ihre Hand zurück. »Ich werde jetzt meinen Vater abholen und nach Hause fahren.«
Auf der Heimfahrt fragte ihr Vater: »Wer ist denn der Mann, mit dem du noch im Steg-Haus gewesen bist? Dieser Geschäftsmann aus München?«
Kathi schüttelte überrascht den Kopf. »Woher weißt du das denn?«
»Man hat dich halt gesehen«, schmunzelte Anton.
»Und es dir prompt zugetragen, als du mit Ferdi im Biergarten gesessen hast«, stöhnte Kathi auf. »Lass mich raten: es war entweder Afra oder Burgl, die es erzählt hat?«
Anton nickte. »Burgel, und sie konnte sich einen Vergleich zu Wendelin natürlich nicht verkneifen.«
»Ich will ihn nicht hören!«, erwiderte seine Tochter ärgerlich. »Warum und mit wem ich ausgehe, ist allein meine Angelegenheit.«
»Natürlich«, stimmte ihr Vater zu. »Trotzdem mache ich mir so meine Gedanken. Ob der Wendelin oder dieser Münchner der richtige Umgang für dich ist? Vom einen weiß man noch gar nichts und vom anderen zu viel.«
»Papa, und wenn der Kaiser von China mit mir ausgehen wollte, wäre er dir nicht vertrauenswürdig genug. Ich bin erwachsen und kann gut auf mich selbst aufpassen. Bitte halt dich aus meinem Leben heraus«, antwortete Kathi leicht genervt.
»China hat längst keinen Kaiser mehr«, murmelte Anton, aber so leise, dass seine Tochter es nicht hören konnte. Wenn sie so sportlich fuhr wie jetzt, war es besser, nichts mehr zu sagen.
*
Nachdem sich Kathi von Gisbert verabschiedet hatte, war er nicht zum Jagdschlösschen zurückgefahren. Gut versteckt im Auto hatten Stiefel, Gewehr, Fernglas und anderes Jagdzubehör gewartet. Gisbert hatte zwar drei aufgestellte Fallen entfernt, aber zwei andere waren in ihrem heimtückischen Versteck geblieben. Sie waren in einem anderen, entfernteren Waldstück verborgen. Der Mann wollte sie in dieser Nacht kontrollieren. Vielleicht war ein Tier in einer der Fallen gefangen, das er aus nächster Nähe erlegen konnte.
Er stellte seinen Wagen auf dem Waldweg ab und näherte sich langsam der Stelle unter einer alten Eiche, wo die vierte Falle aufgestellt war. Schon von weitem hörte er, dass dort ein Tier verzweifelt versuchte, sich zu befreien. Nach den Geräuschen zu urteilen, musste es ein größeres Tier sein, der strenge Geruch ließ ihn an ein Wildschwein denken.
Jetzt rutschte Gisbert das Herz in die Hose. Mit einem Wildschwein ist nicht zu spaßen, und ein verwundetes kann zu einer tödlichen Gefahr werden. Was wäre, wenn sich das verletzte Tier aus der Falle befreien konnte oder es bereits geschafft hatte? Mit äußerster Vorsicht ging er näher.
Schließlich sah er, was er angerichtet hatte. Ein männliches Wildschwein hatte sich in dem Eisen verfangen. Der Waldboden war bei den verzweifelten Befreiungsversuchen aufgewühlt, und mit seinen spitzen Hauern hatte der Keiler große Rindenstücke vom Eichbaum abgefetzt. Gisbert blieb in sicherer Entfernung stehen, hob sein Gewehr und gab dem hilflosen Tier den Fangschuss. Er wartete eine ganze Weile, um sicher zu sein, dass der Keiler auch tatsächlich tot war, erst dann ging er vorsichtig näher.
Das Tier war ausgewachsen und viel zu schwer, als dass er es allein hätte abtransportieren können. Dafür brauchte er am anderen Tag die Hilfe seiner Waidgenossen. Und die sollten natürlich nicht wissen, dass der Keiler wehrlos in einer Falle festgesessen hatte.
Widerwillig näherte sich Gisbert dem Tier, das endlich von seinen Qualen erlöst war. Anstatt ihm nach jagdlichem Brauch mit einem grünen Zweig Respekt zu erweisen, kämpfte der Mann mit dem Mechanismus der Falle und zerrte das verletzte Bein aus dem Eisen. Dann grub er fluchend die Falle aus und verstaute sie in seinem alten Rucksack. Er tat nichts von dem, was nach dem Erlegen eines Tieres nötig ist und was ein verantwortungsbewusster Jäger mit Anstand und Respekt vor der Natur erledigt. Um den Keiler sollte sich morgen Wendelin kümmern, Gisbert kam es nur auf die Trophäe an, die er zu Hause an die Wand hängen wollte. Er ließ das Tier einfach zurück, stapfte selbstzufrieden zum Wagen und fuhr zur Hütte, vor der seine Gäste trotz des Verbots von offenen Flammen um eine Feuerstelle saßen und Whisky tranken.
Gisbert wurde mit lautem Hallo und anzüglichen Bemerkungen zu seiner verdreckten Kleidung empfangen. »Was ist denn mit dir passiert? Wir dachten, heute bist du nur als Schürzenjäger unterwegs gewesen«, grölte Bernhard.
»Jäger ist das Stichwort«, antwortete Gisbert und legte eine kleine Kunstpause ein. »Ich habe einen Keiler erlegt.«
»Was?«
»Wo?«
»Du allein?«, riefen seine Gäste durcheinander.
Und Gisbert erzählte ihnen die aufregende Geschichte, wie vor ihm ein verletzter Keiler über den Fahrweg getaumelt war. Das Tier hatte sich offensichtlich aus der Falle eines gewissenlosen Wilderers befreien können, hatte aber mit dieser schweren Verletzung seines Vorderlaufs kaum eine Überlebenschance. Heldenhaft hatte sich Gisbert an die Fährte des Tieres geheftet. Ein sauberer Blattschuss hatte den Keiler von seinen Qualen erlöst. Morgen würden sie ihn aus dem Wald holen, und Gisbert konnte seine Trophäe vorzeigen.
»Du Glückspilz, gleich zu Beginn läuft dir ein Keiler vor die Flinte«, lauteten die Antworten, die nicht frei von Neid waren.
Gisbert schenkte sich einen doppelten Whisky ein und hielt das Glas so, dass sich die Flammen in der goldenen Flüssigkeit spiegelten. Er war sehr zufrieden mit dem Ausklang dieses Abends; das Einzige, was ihm jetzt fehlte, war eine heiße Dusche, aber daran war in dieser primitiven Umgebung nicht zu denken. Dafür würde morgen die hübsche Kathi kommen, für Ordnung sorgen und ihn mit einem üppigen zweiten Frühstück verwöhnen. Das erste wollte er nach den Anstrengungen seines Jagdabenteuers in aller Ruhe verschlafen.
»Nacht, Jungs«, sagte er zu seinen Gästen und kam ein wenig unsicher auf die Beine. »Spielt nicht mit dem Feuer rum, und der Letzte löscht die Flammen, nicht vergessen.«
Er brachte seinen Rucksack in den Schuppen, in dem die drei anderen Fallen versteckt waren, und packte sie zusammen ein. Über den Rucksack warf er wieder den alten Sack und verschloss sorgfältig die Tür. Dann stapfte er zum Haus, über die steile Treppe in seine winzige Schlafkammer hinauf und fiel samt seiner schmutzigen Klamotten ins Bett. Keine zwei Minuten später war er fest eingeschlafen.
*
Als Wendelin und Kathi am nächsten Morgen zum Jagdschlösschen kamen, lagen die wackeren Jäger alle noch im Bett. Das Haus war unordentlich und unaufgeräumt, und im Hof glomm immer noch die Glut in der Feuerschale.
»Sieh dir das an. Sie haben noch nicht einmal die Glut mit Sand bedeckt, was für ein elender Leichtsinn«, knurrte Wendelin. »Zum Glück war es heute Nacht absolut windstill, sodass es keinen Funkenflug gegeben hat. Wenn es etwas bringen würde, könnte ich die Feuerschale im Schuppen einschließen, aber diese Idioten kriegen es fertig und entzünden dann ein Lagerfeuer auf der trockenen Wiese.«
»Im Haus sieht es nicht viel besser aus«, antwortete Kathi schulterzuckend. »Krempeln wir die Ärmel auf, hier wartet einiges an Arbeit auf uns.«
»Vielleicht wird hier so viel getrunken, dass die Kerle gar nicht jagen gehen können? Das wäre für alle das Beste«, antwortete Wendelin.
Er machte sich daran, den Außenbereich aufzuräumen, während Streuner das Terrain erkundete. Der gemauerte Bau, in dem die Jagdbeute zerlegt wurde, war leer. Wendelin schaute sich darin um und schüttelte den Kopf. »Seltsame Jäger sind das«, sagte er zu Streuner. »Saufen die Nächte durch und verschlafen den Tag. Wenn sie nicht lang vor der Morgendämmerung aus den Betten kommen, wann wollen sie dann auf die Pirsch gehen? Und wo haben sie eigentlich ihre Hunde? Ich sehe hier nirgendwo einen gut ausgebildeten Jagdhund. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie vom Waidwerk herzlich wenig verstehen.«
Streuner bellte zustimmend und stromerte weiter durchs Gelände, wobei er großes Interesse an einem abgeschlossenen Schuppen zeigte, dessen eine Ecke er immer wieder intensiv beschnüffelte und verbellte.
»He! Sorg dafür, dass dein Köter leise ist! Hier sind Leute, die ausschlafen wollen«, bellte eine Stimme aus dem Dachgeschoss, und ein Fenster wurde heftig zugeschlagen.
»Ja, dir auch einen schönen guten Morgen!«, rief Wendelin zurück.
Er ging zu Streuner hinüber, der an der Schuppenwand Stellung bezogen hatte und ihn gespannt anschaute. »Na, mein Freund, was hast du mir denn zeigen wollen?«, fragte Wendelin. Er untersuchte sorgfältig die Bretterwand und das hohe Gras, konnte aber nichts entdecken. »Ist hier heute Nacht ein Marder oder Iltis vorbeigekommen oder hat dich eben ein Mäuschen geärgert? Jetzt ist es jedenfalls weg. Komm, Streuner, kümmern wir uns um den Brennholzvorrat für die Herren Faulpelze.«
Wendelin ging weiter zum Holzschuppen, und Streuner folgte ihm. Er lief im Trippelschritt mit aufgestellten Ohren und aufgestellter Rute und zeigte seinem Herrchen ganz deutlich, dass dieser etwas falsch verstanden hatte. Beim Schuppen hatte es weder nach Marder oder Mäuschen gerochen, aber nach Eisen, Angst und Tod. Streuner hatte den Rucksack mit den Fallen gewittert, der im Schuppen in der Ecke lehnte. Leider konnte er es seinem Menschen nicht deutlicher erklären. Er musste warten, bis die Schuppentür geöffnet wurde, erst dann konnte er Wendelin zu seinem Fund führen. Dieser Entschluss saß felsenfest in Streuners Kopf verankert, er musste nur den richtigen Zeitpunkt erwischen. Bis dahin konnte er Wendelin helfen, indem er sich kleinere Holzscheite schnappte und sie zum Korb neben dem Kamin brachte.
Mittlerweile war es in der Hütte sauber und gemütlich. Durch die weit geöffneten Fenster drangen Sonnenschein und der würzige Geruch des warmen Waldbodens in den großen Wohnraum. Kathi stand am Herd, brutzelte Speck und kochte Kaffee. Auf dem rustikalen Holztisch lag eine saubere, rot-weiß karierte Decke, und es warteten Körbe voller Brot und Brötchen, hausgemachte Marmeladen, Wurst und Käse auf die Langschläfer. Frische Pfirsiche und Aprikosen leuchteten neben roten Äpfeln und dunklen Brombeeren, und Kathi servierte sogar frisch gepressten Orangensaft.
Gisbert überblickte von der Stiege aus zufrieden dieses Schlemmerparadies. So hatte er es sich vorgestellt! Und dass die gute Fee, die für das alles sorgte, auch noch ausgesprochen hübsch aussah, war das Krönchen auf diesem schönen Sommertag.
»Guten Morgen, Kathi, es ist fantastisch, was du für uns zauberst«, sagte er herzlich.
»Das ist keine Zauberei, ich tue halt meine Arbeit«, antwortete sie lächelnd.
Gisbert hatte sich umgezogen und trug jetzt eine gut geschnittene, helle Sommerhose mit einem edlen Ledergürtel und ein schwarzes Poloshirt, das dezent seine Figur betonte, für die er jeden Tag in sein privates Fitness Studio ging. Seine blonden Haare waren frisch gebürstet und auf seinen Wangen zeichnete sich ein Drei-Tage-Bart ab. Sein Jagderfolg von gestern Nacht erfüllte ihn mit Stolz, und er strahlte vor Zufriedenheit. Kathi konnte nicht leugnen, dass ihn diese positive Ausstrahlung sehr attraktiv machte.
Er schenkte sich einen Becher Kaffee ein und kam zu Kathi herüber geschlendert. »Weißt du, wann dieser Wendelin hier aufkreuzen wird? Ich habe Arbeit für ihn«, sagte er mit einem Lächeln, das nicht zu seinen nüchternen Worten passte.
»Wendelin ist schon seit einer Stunde hier«, erwiderte Kathi. »Er hat sich um den Hof und die glimmende Feuerstelle gekümmert und nun spaltete er Brennholz. Hörst du das nicht?«
»Ich habe auf etwas anderes geachtet«, antwortete er und ließ seinen aufmerksamen Blick über Kathis Gesicht gleiten. »Auf etwas, das wesentlich hübscher ist als der Anblick des ewig brummigen Wendelin.«
»Er ist nicht ewig brummig, er macht sich halt Sorgen, dass hier draußen etwas geschieht«, sagte sie loyal. »Und dass ihr gestern das Feuer nicht gelöscht habt, ist schon ein starkes Stück.«
Genervt verdrehte Gisbert die Augen. »Und ich hatte es ihnen extra noch gesagt«, erwiderte er mit einem beiläufigen Schulterzucken. »Warum sich aufregen, es ist doch nichts passiert. Interessiert dich denn gar nicht, welche Arbeit ich für diesen mürrischen Waldschrat habe?«
Ehe sie darauf etwas sagen konnte, antwortete Wendelin von der offenen Tür: »Was soll der mürrische Waldschrat denn für dich erledigen?« Er stand dort mit dem schweren Brennholzkorb in den Händen, Streuner zu seinen Füßen und schaute Gisbert ausdruckslos an.
»Ich hatte Jagdglück und habe einen Keiler erlegt«, erwiderte Gisbert forsch. »Ich brauche seine Hauer als Trophäe, du musst dich darum kümmern.«
»Und wo hast du ihn? Im Kühlhaus ist er nicht«, fragte Wendelin, ohne dem anderen Mann zum Jagdglück zu gratulieren.
»Na, wo wohl, im Wald natürlich«, antwortete Gisbert spöttisch.
Wendelin glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Du hast das Tier einfach dort liegenlassen?«
»Was denn sonst! Glaubst du, ich bin Herkules und kann das Vieh allein transportieren? Darum kümmerst du dich heute, jemand von der Gästemeute kann dir zur Hand gehen.«
»Es ist dein Tier«, antwortete Wendelin scharf. »Du bist dafür verantwortlich, was jetzt mit ihm geschieht.«
»Das Fleisch kann doch niemand essen, es schmeckt viel zu streng bei einem ausgewachsenen Keiler. Lass Hundefutter daraus machen oder was dir sonst noch dazu einfällt«, sagte Gisbert geringschätzig.
Wendelin stellte den Holzkorb neben den Kamin und warf dem Mann einen warnenden Blick zu. »Du wirst mir helfen; du musst sowieso mitkommen, um mir zu zeigen, wo der Keiler liegt«, befahl er streng.
Gisbert drehte sich zu Kathi um und hob grinsend die Hände. »Sag ich doch: er ist ein ewig mürrischer Waldschrat.«
»Tja, das hast du auch nicht anders verdient nach dem, wie du dich im Wald verhalten hast«, antwortete Kathi mitleidlos.
»Aber erst gibt es ein ausgiebiges Frühstück«, erwiderte Gisbert seelenruhig. »Magst du dich zu mir setzen, Kathi?«
»Danke, nein«, antwortete sie fest, füllte zwei Becher mit Kaffee und winkte Wendelin mit hinaus auf den Hof. Sie gingen zum Holzschuppen hinüber und setzten sich dort auf die breite Stufe in die Sonne. Über den Rand ihres Kaffeebechers hinweg schaute sie Wendelin an.
Unwillkürlich musste Kathi an Gisberts Worte vom ewig mürrischen Waldschrat denken. Neben der modisch gekleideten, sorglosen Erscheinung Gisberts hatte Wendelin in seiner schweren, dunklen Arbeitskleidung und mit dem ernsten Gesichtsausdruck tatsächlich etwas Düsteres an sich. Er wirkte schwerfällig neben dem lässig-eleganten Großstädter.
»Gisbert und du, das ist wie Feuer und Wasser. Ihr könnt euch einfach nicht leiden«, sagte sie nachdenklich.
»Nein, und das müssen wir auch nicht«, antwortete Wendelin entschieden. »Ich tue hier meine Arbeit, dann reist die ganze Bande ab und die Sache ist erledigt.«
Kathi schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht. Ich mag nicht, wie Gisbert mit dir redet, aber du bist auch nicht gerade freundlich ihm gegenüber.«
»Ich kann nicht freundlich zu jemandem sein, der jagt und das Wild dann so behandelt, wie Gisbert es tut«, erwiderte der Mann empört. »Ihn interessiert nur die Trophäe. Wie das Tier verwertet wird, ist ihm völlig egal.«
Kathi bemerkte, dass sie ungeduldig zu werden begann. Wendelin war immer so ernsthaft. Es stimmte, Gisbert hatte sich nicht richtig verhalten, aber musste darauf so herumgeritten werden?
»Ja, er hätte sich besser kümmern müssen, aber immerhin hat er den Keiler von seinen Schmerzen erlöst. Das Wildschwein hat sich schwer verletzt durch den Wald geschleppt, und Gisbert ist ihm allein gefolgt. Das war mutig; wir alle wissen, wie gefährlich das ist«, gab sie zu bedenken.
»Das war nicht mutig sondern dumm. Für diese Suche hätte er einen ausgebildeten Hund gebraucht und er hätte nicht allein gehen dürfen. Ich denke immer noch, dass er von der Jagd überhaupt nichts versteht«, grollte Wendelin.
»Sieh doch nicht immer alles so streng. Du kannst manchmal ganz schön anstrengend sein«, erwiderte Kathi mit einem leichten Stirnrunzeln.
Darauf wusste der Mann nichts mehr zu sagen. »Danke für den Kaffee. Bis wir losfahren können, kümmere ich mich weiter um das Brennholz«, murmelte er.
Wendelin spülte den Becher unter der Pumpe ab und ging dann zum Hackklotz zurück. Der Stapel mit dem gespaltenen Holz war ziemlich hoch, als Gisbert sich endlich zum Aufbruch bequemte. Seine Gäste wollten den erlegten Keiler sehen und fuhren alle mit bis zu der Stelle, an der sie ihre Wagen abstellen mussten. Nur Wendelins Jeep, auf dem das Tier transportiert werden sollte, wurde von Gisbert so nah wie möglich an die Abschussstelle dirigiert.
Als Wendelin den erlegten Keiler dort sah, schnappte er nach Luft. »Du hast ihn einfach so dort liegenlassen ohne ihn aufzubrechen?«, rief er empört aus.
»Warum sollte ich ihn ausweiden? Dafür bist doch du zuständig«. antwortete Gisbert schulterzuckend.
»Du fragst tatsächlich warum?« Wendelin regte sich mächtig auf. »Hast du überhaupt jemals die Jagdprüfung bestanden?«
Nein, das hatte Gisbert nicht, aber das ging hier niemanden etwas an.
»Wir machen jetzt noch ein paar Fotos und dann kümmerst du dich um deinen Kram«, erwiderte Gisbert scharf.
Seine Freunde zückten ihre Handys und dokumentierten Gisberts angebliche Heldentat. Wendelin und Streuner hielten sich im Hintergrund und warteten, bis die lärmende Männergruppe abgezogen war.
Wendelin schaute sich das erlegte Tier und die Umgebung sehr genau an. Dann telefonierte er mit dem Förster und dessen Frau, der Tierärztin. Er wollte, dass sich beide den Keiler hier vor Ort anschauten.
Lorenz und Rieke waren ebenso empört wie ihr Freund, als sie erfuhren, wie Gisbert mit dem Tier umgegangen war. Er hatte die Innereien nicht entfernt und das Wildschwein bei den sommerlichen Temperaturen einfach liegengelassen. Der Zersetzungsprozess hatte begonnen und das Fleisch war jetzt nicht mehr zu verwerten.
»Schau dir bitte die Verletzungen durch die Falle und die Befreiungsversuche genau an und sag uns dann deine Meinung«, bat Wendelin die Tierärztin.
Rieke untersuchte das schwer verwundete Tier und bestätigte das, was sich der Förster und sein Mitarbeiter bereits gedacht hatten. »Ich glaube nicht, dass sich der Keiler selbst aus der Falle befreit hat«, sagte sie bestimmt. »Und selbst wenn, dann hätte er sich mit dem zertrümmerten und zerfetzten Bein nicht mehr durch den Wald schleppen können. Vom Weg, auf dem dieser Gisbert ihn angeblich gesehen hat, bis zu dieser Stelle sind es mindestens sechshundert Meter. Das kann der Keiler in diesem Zustand unmöglich geschafft haben.«
»Und schaut euch hier die Umgebung an. Der Waldboden ist aufgewühlt, die Baumrinde abgerissen, Gras und niedriges Gebüsch sind zertrampelt. Alles sieht so aus, als habe das Wildschwein lange und verzweifelt um sein Leben gekämpft. Das heißt, die Falle muss genau hier gewesen sein«, sagte Lorenz sehr ernst. »Und wenn wir jetzt an die Geschichte denken, die Gisbert uns erzählt hat, dann kann das nur heißen, dass er selbst die Falle ausgelegt hatte.«
Wendelin nickte grimmig. »Genauso sehe ich das auch.«
»Nur beweisen können wir es nicht«, grollte die Tierärztin.
»Noch nicht!«, erwiderte ihr Mann. Er schaute seinen Mitarbeiter eindringlich an. »Für die Zeit, in der diese seltsamen Gäste hier sind, bist du von allen Forstarbeiten befreit, Wendelin. Ich möchte, dass du dich nur um das Jagdschlösschen und die schrägen Vögel dort kümmerst. Wenn Gisbert von Acker der Fallensteller ist – und davon gehen wir aus – dann kommen wir ihm auch auf die Schliche. Irgendwo wird er die Fallen aufbewahren, und ich kann mir vorstellen, dass du sie findest.«
»Ich gebe mir Mühe«, antwortete Wendelin entschlossen. »Der Kerl soll nicht einfach so davonkommen.«
»Nein, wir alle halten die Augen offen«, sagte Rieke. »Und Kathi ist ja auch den ganzen Tag auf der Hütte, vielleicht fällt ihr etwas auf.«
Sie ging zu der Eiche hinüber und brach einige kleine Zweige ab, den sogenannten Bruch.
Nach altem Brauch verabschiedeten sie so den Keiler, dann tat Wendelin schweren Herzens seine Pflicht und kümmerte sich um die Hauer des Tieres, die Gisbert als Trophäe haben wollte. Wenn es nach ihm ginge, würde der Mann sie niemals bekommen! Danach bedeckten sie das Wildschwein mit Zweigen und Laub und gaben es dem Wald und seinen Bewohnern zurück.
*
Unten im Dorf wurde der Feierabend eingeläutet. Sogar der Landdoktor konnte seine Praxis rechtzeitig schließen, und es lagen keine Hausbesuche an, sodass er und Anna wie geplant ins Försterhaus fahren konnten. Rieke und Lorenz hatten Freunde zu Käse und Wein eingeladen. Sebastian und Anna trafen dort Elli, die Besitzerin des Bergmoosbacher Buchladens, ihren Mann Till und Valentin, den Schulleiter, und dessen Freundin Mimi, der ein Friseursalon gehörte.
»Wie friedlich hier alles ist«, seufzte Mimi und kuschelte zufrieden ihren Kopf gegen Valentins Schulter. »Man kann sich kaum vorstellen, wie angespannt inzwischen die Stimmung im Dorf wegen der Wilderei ist. Ein Wort gibt das andere, und manchmal mag ich meinen Kundinnen schon gar nicht mehr zuhören. So gefährlich geht es in unseren Wäldern nun doch nicht zu.«
»In der Schule ist es genauso«, sagte Valentin. »Den Kindern wird eingeschärft, unter keinen Umständen vom Weg abzuweichen. Das ist grundsätzlich nicht verkehrt, aber inzwischen trauen sich manche Angsthasen nicht einmal mehr, in der kleinen Grünanlage zwischen Schule und Kirche zu spielen. Ich fürchte, da haben besorgte Eltern es übertrieben.«
»Habt ihr denn schon irgendwelche Anhaltspunkte?«, erkundigte sich Sebastian interessiert.
»Ja, haben wir, aber da es noch keine konkreten Beweise gibt, können wir noch nicht an die Öffentlichkeit gehen«, antwortete der Förster.
»Ich hoffe, dass sich das bald ändert, denn die Verdächtigungen gegen Wendelin nerven mich gewaltig«, sagte seine Frau ärgerlich. »Diese Notburga Krämser hetzt die Leute geradezu auf mit ihren Sticheleien.«
»Ich weiß, was du meinst«, stimmte die Buchhändlerin Elli zu. »Wendelin hat gestern einen schönen und nicht ganz preiswerten Bildband gekauft. Das hat Burgl durchs Schaufenster gesehen, ist ins Geschäft gekommen und wollte mich darüber ausfragen, ob es mir nicht komisch vorkommt, dass Wendelin für ein Buch so viel Geld ausgeben kann.«
»Meine Güte!« Rieke rollte mit den Augen. »Wann wird diese Frau endlich mal den Mund halten? Ich hoffe, sie richtet nicht noch größeren Schaden an.«
»Das wäre schlimm für Wendelin. Er hat endlich seinen Platz im Leben und auch hier in Bergmoosbach gefunden. Das darf man ihm nicht kaputtmachen«, sagte Sebastian.
Die Hunde des Forsthauses schlugen an, und ein Mann kam zögernd in den Garten. Es war Wendelin mit Streuner. »Entschuldigt die Störung, wenn ich vorher gesehen hätte, dass ihr Gäste habt, wäre ich nicht hereingekommen«, sagte er höflich.
»Du störst überhaupt nicht«, erwiderte Lorenz freundlich. »Was gibt es denn? Hast du etwas Neues bemerkt?«
»Nein, noch nicht«, antwortete Wendelin. »Streuner und ich waren nur auf unserer Abendrunde, und ich wollte kurz nachfragen, wie es dem jungen Fuchs geht.«
»Oh, schon viel besser.« Die Tierärztin strahlte. »Das Bein heilt sehr gut, und der Kleine ist schon wieder richtig frech. Nicht mehr lange, und wir können ihn wieder auswildern.«
»Das ist schön«, antwortete Wendelin erleichtert. »Dann werde ich jetzt mal wieder gehen. Ich wünsche euch noch einen schönen Abend.«
»Nicht doch, magst du dich nicht noch zu uns setzen?«, lud Lorenz ihn ein.
Nach kurzem Zögern setzte sich Wendelin auf die Bank neben Ellis Mann Till, der ein bekannter Krimiautor war. Man sprach über das Jagdschlösschen und die Gäste, die sich jetzt dort einquartiert hatten.
»Das scheinen ja ziemlich seltsame Jäger zu sein«, sagte Till. »Wer weiß, was sich dort noch so alles abspielt? Das könnte Stoff für einen neuen guten Heimatkrimi abgeben.«
Alle lachten über diese Fantasterei, aber Wendelin wurde sehr schnell wieder ernst und tauschte einen beredten Blick mit dem Förster und seiner Frau. So unrecht hatte der Schriftsteller gar nicht, man konnte es nur noch nicht beweisen.
Wendelin verabschiedete sich als Erster aus der Runde und ging ins Dorf zurück, den treuen Streuner immer dicht auf den Fersen. In Gedanken war er bei Kathi, die übermorgen Geburtstag hatte. Er wusste, dass sie Bäume besonders liebte, und hatte einen wunderschönen Bildband mit beeindruckenden Fotos von Wäldern und einzelnen Bäumen gekauft. Dazu ausgefallenes Geschenkpapier, das Elli ihm empfohlen hatte, und eine grüne Seidenschleife. Er wollte Kathi von Herzen gern eine Freude machen und stellte sich ihr Gesicht vor, wenn sie das Päckchen öffnete. Elli hatte angeboten, das Buch für ihn zu verpacken, aber er wollte es selbst tun.
Mit dem Ergebnis war er dann nicht so ganz zufrieden, aber es sah insgesamt nicht schlecht aus. Unter die grüne Schleife wollte er noch einen frischen Farnwedel aus dem Wald stecken, aber den wollte er erst am Geburtstag selbst pflücken. Für heute genügte ihm die Vorfreude.
Am nächsten Morgen musste Wendelin noch kurz zum Verbandswechsel zu Doktor Seefeld, anschließend wollte er einige der hölzernen Dachschindeln erneuern, die sich gelöst hatten. Das Hämmern und Klopfen über ihren Köpfen kam bei einigen Gästen, die nur eine kurze Nacht hinter sich hatten, nicht gut an. Es gab einen unnötig scharfen Anpfiff für Wendelin und die Ansage, sofort vom Dach zu verschwinden.
Er sammelte sein Werkzeug ein und sagte: »Wir erwarten eine Gewitterfront mit Starkregen und vereinzelten Sturmböen. Es ist sinnvoll, die losen Schindeln vor dem Regen zu befestigen.«
»Quatsch, Gewitter«, knurrte Bernhard. »Wo siehst du denn eine Gewitterfront?« Verschlafen blinzelte er in den blauen Himmel, an dem hinter leichtem Dunst eine milchige Sonne schien. »Ich denke, du bist so ein Naturbursche, der aus den Wolken und Tannenzapfen lesen kann.«
Mit einem Schulterzucken antwortete Wendelin nur: »Schau auf deine Wetter App und beschwere dich nachher nicht, wenn es in dein Bett regnet.« Er fragte sich im Stillen, wie man nur so dämlich sein konnte.
Kathi hatte einen Marmeladenfleck aus der Tischdecke gewaschen und hängte sie nun beim Werkzeugschuppen auf die Leine. Sie sagte zu Wendelin: »Ich freu mich über den Regen, den können wir bei dieser Trockenheit gut gebrauchen. Und ich freu mich, dass er heute kommt, dann haben wir an meinem Geburtstag wieder schönes Wetter.«
Das hörte Gisbert, der mit einem Kaffeebecher in der Hand über den Hof schlenderte. »Was höre ich da, du hast morgen Geburtstag? Das muss natürlich gefeiert werden. Wir feiern rein und schmeißen heute Nacht eine tolle Party für dich.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drehte er sich zu den Freunden herum, die schon aufgestanden waren, und rief ihnen zu: »Heute Abend ist hier Party! Überlegt euch, wen ihr noch einladen wollt.«
Kathi betrachtete ihn amüsiert. »Kommt dir gar nicht die Idee, dass ich eigene Pläne haben könnte?«, fragte sie.
Das tat Gisbert mit einer Handbewegung und einem charmanten Lächeln ab. »Verwirf sie, es lohnt sich«, erwiderte er. »Meine Partys sind gut.«
»Das sind meine auch«, entgegnete Kathi ungerührt. »Außerdem mag ich dieses Hineinfeiern nicht. Mein Geburtstag ist morgen, und dann bin ich mit meiner Familie und meinen Freunden zusammen, nicht mit zahlenden Gästen, für die ich arbeite.«
»Aber gratulieren, das darf man schon, gell?«
»Wenn du dich gut benimmst und mich meine Arbeit machen lässt, dann schon. Vielleicht bringe ich dir sogar ein Stück meines Geburtstagskuchens mit«, sagte Kathi mit einem spitzbübischen Grinsen.
»Ich bin gespannt.« Gisbert schaute ihr lange hinterher, als sie zum Haus hinüberging.
Zu lange, fand Wendelin, und außerdem mit einer Selbstzufriedenheit, die ihm nicht gefiel. Sein Instinkt sagte ihm, dass Gisbert sich nicht mit einem Stück vom Geburtstagskuchen zufriedengeben würde. Finster beobachtete er, wie ein Langschläfer nach dem anderen seinen Weg zu der Sitzecke vor dem Haus fand und dort von Kathi freundlich mit Frühstück versorgt wurde. Dabei kam Gisbert noch einmal auf den Geburtstag zu sprechen, und er entschuldigte sich für die flapsige Art, mit der er von einer Party gesprochen hatte. In aller Form lud er Kathi für den Abend des folgenden Tages zum Essen ins Steg-Haus ein, und zu Wendelins Überraschung sagte Kathi zu. Daran hatte er zu knabbern, und ein richtig mulmiges Gefühl bekam er, als er hörte, was der Mann außerdem noch organisierte.
Als erstes rief Gisbert in München in einer Parfümerie in der noblen Maximilianstraße an und bestellte per Kurier ein Parfum, dessen Preis Wendelin sich nicht einmal vorstellen konnte. Das Geschenkpäckchen sollte an die Rezeption vom Steg-Haus geschickt werden. Dann bestellte Gisbert dort für den besagten Abend den besten Tisch auf der Terrasse und außerdem für den Rest seines Aufenthalts ein luxuriöses Doppelzimmer mit Balkon zum Sternwolkensee hinaus.
Kevin, einer seiner Gäste, hatte die Telefonate mitbekommen und pfiff anerkennend durch die Zähne. »Diese Kathi muss dich ja mächtig beeindruckt haben, du investierst eine Menge in sie«, stellte er fest.
»Das ist sie mir wert«, stimmte Gisbert zu.
»Und du scheinst dir ziemlich sicher zu sein, dass du sie mit einem Champagnerdinner unterm Sternenzelt so beeindruckst, dass sie gleich die ganze Nacht mit dir verbringt? Und auch die restlichen Nächte bis zur Abreise?«, stichelte Kevin.
»Nicht nur mit dem Dinner und einem teuren Geschenk. Du hast meinen unwiderstehlichen Charme vergessen«, grinste Gisbert.
Kevin stieß plump seinen Kaffeebecher an den seines Gastgebers und grinste zurück. »Ich trinke auf deinen Erfolg bei der Hübschesten in deiner Trophäensammlung«, sagte er.
»Jäger, Schürzenjäger, es kommt doch immer wieder auf dasselbe hinaus«, erwiderte Gisbert lässig.
Es kostete Wendelin große Mühe, so zu tun, als hätte er nichts von diesem entwürdigenden Gespräch gehört. Obwohl er sehr wütend war, nahm er sich zusammen. Er beendete seine Arbeit an der Pumpe im Hof und lenkte seine Gedanken auf das Problem mit dem Fallenstellen. Es ärgerte ihn maßlos, dass sie Gisbert nichts beweisen konnten. Die Suche der Freiwilligen in den Wäldern um Bergmoosbach hatte nur eine verborgene Falle ans Licht gebracht, und die lag jetzt auf der Polizeistation. Damit konnte zwar kein Schaden mehr angerichtet werden, aber das war auch schon alles. Sie war keine Spur, die zu Gisbert führte.
»Was schaust du dir denn gerade an?«, sagte plötzlich Kathis Stimme neben ihm. Sie war unbemerkt an seinen Jeep getreten, in dem er saß, und reichte ihm ein großes Glas Saftschorle. »Ich wollte dir eine Erfrischung bringen und jetzt sehe ich, dass du über einer Karte hier von der Umgebung brütest. Was hast du denn dort markiert?«
Wendelin zeigte auf die kleinen roten Punkte, die er eingezeichnet hatte. »Hier ist eine Falle gefunden worden, hier hat Gisbert den verletzten Eber erlegt, der nicht weit gekommen sein kann. Das heißt, ganz in der Nähe muss auch eine gewesen sein, aber wir haben sie nicht gefunden. Und an dieser Stelle habe ich Gisbert nachts im Wald getroffen. Alle diese Stellen liegen rund um das Jagdschlösschen verteilt und sind gut zu Fuß zu erreichen.« Mehr wollte er noch nicht sagen.
Kathi hatte aufmerksam zugehört. Jetzt schaute sie Wendelin mit hoch gezogenen Augenbrauen an. »Wenn ich das richtig verstanden habe, reimst du dir zusammen, dass Gisbert der Fallensteller ist? Bei allem Respekt, Wendelin, aber das ist Blödsinn!«, sagte sie entschieden.
»Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber für mich passt es alles zusammen. Denk nur daran, wie er mit dem erlegten Wildschwein umgegangen ist. So etwas tut kein echter Jäger. Ich glaube, er hat die Fallen ausgelegt, um leichter an Jagdbeute heranzukommen«, erklärte Wendelin.
»Und ich glaube, dass du Gespenster siehst«, wies Kathi seine Worte energisch zurück. »Dein Einsatz für den Forst und die Tiere in allen Ehren, aber jetzt übertreibst du maßlos. Gisbert ist viel zu weltmännisch, um sich mit etwas so Primitivem wie Fangeisen abzugeben.«
Wendelin schaute sie ernst an. »Wenn du dich da mal nicht täuschst«, erwiderte er leise. »Du wirst morgen Abend mit ihm ausgehen. Pass auf dich auf, Kathi.«
»Ach, Wendelin, du bist wirklich ein alter Waldschrat«, seufzte Kathi und stupste ihn mit dem Ellenbogen an. »Hör auf, alles so düster zu sehen, und verdirb mir die Freude nicht. Was ist denn schon dabei, wenn wir zusammen ins Steg-Haus gehen?«
»Ich will dir doch nicht die Freude verderben«, antwortete Wendelin traurig. Wieder einmal kam er sich ungeschickt und unzureichend vor.
»Gisbert ist ein Angeber, aber wenn man sich in Ruhe mit ihm unterhält, dann ist er anders, das habe ich schon gemerkt. Ich freue mich auf den Abend morgen und werde ihn mir nicht schlechtmachen lassen«, sagte Kathi bestimmt. »Und jetzt muss ich weitermachen. Heute soll es eine Wildpastete geben, und ich muss das Fleisch anbraten. Servus, Wendelin, wir sehen uns dann morgen.« Sie nahm sein leeres Glas entgegen und ging mit schwingendem Rocksaum zum Haus zurück, wobei sie eine leise Melodie vor sich hin summte.
Inzwischen war das angekündigte Gewitter heraufgezogen, und Regen prasselte auf das Autodach. Wendelin saß in der Dunkelheit und schaute dem Wasser zu, das über seine Windschutzscheibe lief. »Ich wünsche dir doch auch, dass du morgen einen schönen Abend hast«, sagte er leise, »aber muss das ausgerechnet mit diesem Widerling Gisbert sein? Warum kannst du nicht sehen, dass mit ihm etwas nicht stimmt? Warum vertraust du meinen Worten nicht?«
*
Das konnte Kathi deshalb nicht, weil Burgl mit dem Gift, das sie ihr ins Ohr träufelte, langsam aber sicher Erfolg hatte. Immer wieder ließ sie Bemerkungen über Wendelins Vergangenheit fallen und es ließ sich nicht leugnen, dass die kein gutes Licht auf den Mann warf.
Sie spürte, dass Gisbert hinter Kathi her war, und unterstellte Wendelin, dass er sich Geld beschaffen musste, um mit dem anderen Mann konkurrieren zu können. Leider hatte Wendelin früher tatsächlich versucht, mit windigen Geschäften zu Geld zu kommen, und etliche Leute erinnerten sich daran. Sein alter Ruf war nicht der beste, und sein neues Leben fand eher im Stillen statt. Deshalb hatte Burgl leichtes Spiel, wenn es darum ging, Stimmung gegen Wendelin zu machen.
Als sie am Morgen von Kathis Geburtstag zur Arbeit in den ›Gamsbart‹ kam, gratulierte sie der jungen Frau zwar, konnte sich das Sticheln aber nicht verkneifen.
»So, heute Abend gehst du also mit dem Gisbert von Acker ins feine Steg-Haus. Was sagt eigentlich der Wendelin dazu?«, fragte sie hinterlistig. »Wo es dort doch so teuer ist und er sich eine Einladung nicht leisten kann.«
»Wendelin sagt nichts dazu, weil es nicht seine Sache ist, mit wem ich ausgehe«, antwortete Kathi leicht genervt.
»Enttäuscht wird er sein, aber man kann eben nicht alles machen, wenn man nicht viel Geld hat. Er muss sich halt was einfallen lassen, der Wendelin. Auf den Kopf gefallen ist er ja nicht, und für dich strengt er sich mächtig an. Für dein Geschenk hat er eine Menge Geld ausgegeben. Woher er das wohl genommen hat?«, fragte Burgl.
Kathi horchte auf. »Wendelin hat ein Geschenk für mich besorgt? Und dann auch noch ein teures? Aber das sollte er doch nicht. Wie kommt er nur auf diese Idee?«, sagte sie leicht beunruhigt.
»Er will wohl jemanden ausstechen«, antwortete Burgl triumphierend. »Und da muss er sich eine Menge einfallen lassen, um es mit dem Gisbert von Acker aufzunehmen.«
Zum Beispiel diese Räuberpistole, dass Gisbert der Fallensteller sein könnte, dachte Kathi. Ich bin mal gespannt, wie heute der Tag wird.
Als sie zum Jagdschlösschen kam, war Wendelin wieder auf dem Dach damit beschäftigt, Schindeln zu befestigen oder zu erneuern. Gisbert war derjenige, der sie mit einem exquisiten Strauß Rosen in unterschiedlichen Rot- und Rosétönen empfing.
»Meinen herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, rief er ihr entgegen und umarmte sie. »Ich wünsche dir ein aufregendes neues Lebensjahr.«
»Ich lasse mich überraschen«, antwortete Kathi lachend. »Danke für die schönen Blumen, sie sind wundervoll. Woher hast du gewusst, dass Rosen meine Lieblingsblumen sind?«
»Ich hab dich angeschaut und gesehen, dass es nur Rosen sein können«, antwortete er leise.
Überrascht stellte Kathi fest, dass sie diese Antwort berührte. Gisbert wirkte so anders, stiller. Sie mochte ihn, wenn er nicht so angeberisch auftrat. »Danke«, sagte sie noch einmal. »Ich freue mich auf heute Abend.«
»Ich auch.« Gisbert nahm kurz ihre Hand. »Eigentlich hättest du heute frei nehmen sollen, um deinen Tag zu feiern.«
Sie musste lachen. »Ich glaube, so etwas tut man nur, wenn man Kind ist und einen Tag lang im Mittelpunkt stehen darf. Auf mich wartet jetzt die Arbeit.« Sie lief ins Haus, stellte die schönen Rosen ins Wasser und kümmerte sich um das Frühstück für die Gäste.
Wendelin hatte vom Dach aus die Szene beobachtet. Er dachte an sein Geschenk, das er mit so viel Liebe eingepackt hatte. Wie sah der Farnwedel, den er frisch aus dem Wald gepflückt hatte, denn aus neben einem prächtigen Rosenstrauß? Ziemlich lächerlich, aber das war nun nicht mehr zu ändern. Nachdem der Mann mit seiner Arbeit fertig war, holte er das Geschenk aus seinem Jeep, stand einen Augenblick unschlüssig damit im Hof und ging dann langsam zu Kathi hinüber, die gerade den Tisch deckte.
»Alles Liebe und Gute zum Geburtstag«, sagte er mit belegter Stimme und überreichte sein Geschenk.
»Oh, wie lieb von dir« erwiderte Kathi. »Das ist eine große Überraschung für mich, du hast mir doch sonst nichts geschenkt.«
»Da wusste ich auch nicht, wann du Geburtstag hast«, antwortete er unbeholfen. Er deutete auf den Farn unter der grünen Schleife und stotterte: »Also, das mit dem Grünzeug heißt nicht, dass du mir keine richtigen Blumen wert bist, das passt nur gut zum Geschenk. Also, finde ich. Irgendwie.«
»Ich bin gespannt«, antwortete Kathi. Sie war gerührt von seiner offensichtlichen Unsicherheit und Aufregung und gleichzeitig etwas beunruhigt wegen Burgls Worten. In was hatte Wendelin sich da hinein manövriert? Behutsam schlug sie das hübsche Papier zur Seite und nahm den wertvollen Bildband zur Hand. »Oh, wie wunderschön!«, rief sie begeistert. »Das Buch ist herrlich, jeder Baum erzählt eine Geschichte. Hier ist alles abgebildet, was mir beim Wald etwas bedeutet. Du hast mir eine große Freude gemacht, aber es ist ein sehr großes Geschenk, und ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann.«
»Warum denn nicht?«, fragte er überrascht.
Jetzt war Kathi verlegen. Sie wollte Wendelin nicht kränken, aber sie wollte ihm auch keine falschen Hoffnungen machen. »Es ist sehr wertvoll und eigentlich ein Geschenk unter Freunden, die sich sehr nahestehen«, antwortete sie ein wenig hilflos.
»Sind wir denn keine Freunde?«, fragte Wendelin.
»Doch, aber das ist nicht der Punkt.« Kathi wusste nicht mehr, was sie sagen sollte. »Ach, egal, vergiss, was ich eben gesagt habe. Das Buch ist wunderschön, und ich freue mich ganz einfach daran. Vielen Dank, Wendelin. Und am nächsten Wochenende feiere ich meinen Geburtstag mit Freunden und Nachbarn nach, du bist natürlich eingeladen.«
»Danke, ich komme sehr gern«, antwortete Wendelin. Er war glücklich, dass er Kathis Geschmack getroffen und sie sich so sehr über sein Geschenk gefreut hatte. Es konnte also doch neben Rosen und einem edlen Parfum in goldener Schachtel bestehen. Wenn er jetzt nicht zu oft daran dachte, dass Kathi abends mit Gisbert im Steg-Haus verabredet war, dann würde es auch für ihn ein schöner Tag sein.
*
Gisbert stöberte durch seine Reisetasche auf der Suche nach Kleidung, die dem heutigen Abend angemessen war. Das war nicht ganz einfach, denn beim Einpacken hatte er nicht damit gerechnet, in einem guten Lokal essen zu gehen. Schließlich entschied er sich für die helle Sommerhose, ein weißes Hemd und das braune Sakko aus Leinen, das perfekt zur Farbe seiner Augen passte. Als er die steile Stiege aus dem Dachgeschoss herunter kam, pfiffen seine Freunde anerkennend.
»Du hast dich ja mächtig in Schale geworfen für unserer hübsche Wirtschafterin«, grinste Kevin.
Gisbert überhörte die Bemerkung, zupfte an seinen Manschetten und antwortete beiläufig: »Habt einen guten Abend zusammen und macht draußen keinen Quatsch mit dem Feuer. Wir sehen uns morgen nach dem Frühstück.«
Wieder wurde gepfiffen, und Bernhard bemerkte nicht ganz frei von Neid: »Da ist sich aber jemand seiner Sache sehr sicher.«
Gisbert grinste frech in die Runde, schnappte sich seine Wagenschlüssel und fuhr ins Dorf. Er hatte Kathi mit dem Auto abholen wollen, aber das hatte sie abgelehnt. »Ich fahre mit dem eigenen Auto, ich bin gern unabhängig«, hatte sie erwidert. Gisbert war sich nicht sicher, ob ihm diese Antwort gefiel oder ob sie ihn verärgerte. Aber eigentlich war es auch egal, heute würde Kathi mit ihm im Hotel übernachten. Und wenn es gut lief, auch die anderen Nächte bis zur Abreise.
Das Päckchen aus der Münchner Parfumerie wartete wie vereinbart an der Rezeption, der Tisch an der Reling der Terrasse war perfekt. Duftrosen schwammen in einer silbernen Schale neben den Windlichtern, Besteck und Gläser glänzten, und die weißen Stoffservietten waren zu kunstvollen Schwänen gefaltet, die auf silbernen Platztellern ruhten.
Als Kathi auf die Terrasse kam, war Gisbert überrascht. Bisher kannte er sie nur im Dirndl oder in Jeans, aber jetzt trug sie ein figurbetontes, schlichtes rotes Kleid mit aufregendem Rückenausschnitt und dazu passenden roten High-Heels. Ihre braunen Locken waren mit einem roten Samtband hochgebunden, das genau den gleichen Farbton hatte wie ihr Kleid. Ihr Gesicht mit den warmen braunen Augen war kaum geschminkt, sie trug nur einen Hauch von Lippenstift und Wimperntusche. Gisbert war beeindruckt von ihrer natürlichen Eleganz.
»Auf einen wundervollen Auftakt deines neuen Lebensjahres«, sagte er und reichte ihr einen Champagnerkelch.
»Nun, kontrastreich ist dieser Auftakt auf jeden Fall«, antwortete Kathi lächelnd. »Begonnen mit einer Kälbergeburt vor Sonnenaufgang bis hin zum Essen in einem schönen Restaurant.«
»Den Geburtstag in einem Kuhstall zu beginnen kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Gisbert.
Kathi musste lachen. »Ich mir bei dir auch nicht, aber für mich gehört es zu meinem Beruf.«
»Magst du ihn?«, erkundigte sich Gisbert interessiert. Für ihn war es unvorstellbar, als Landwirt zu arbeiten.
Kathi schaute nachdenklich über die dunkle Fläche des Sternwolkensees, in dem sich das Licht der Sterne zu spiegeln begann. »Ja, ich mag meinen Beruf schon, aber manchmal denke ich darüber nach, wie ein anderes Leben sein könnte. Wie es wäre, von hier wegzugehen und etwas ganz anderes zu tun.«
»Und warum tust du es nicht ganz einfach? Du bist doch frei und ungebunden«, sagte Gisbert unbekümmert.
»Ich habe Verantwortung gegenüber meiner Familie und unserem Hof«, erklärte sie ruhig. »Ich kann meinen Vater nicht mit allem allein lassen. Hof und Wirtschaft sind unsere Existenzgrundlage, und nach dem Tod meiner Mutter war es selbstverständlich für mich, dort wieder einzusteigen.«
»Was hast du denn damals gemacht?«
»Ich hatte eine Ausbildung als Sprechstundenhilfe bei unserem Landdoktor begonnen, dem Benedikt Seefeld. Als meine Mutter krank wurde, ging es sehr schnell, dass sie auf Hilfe angewiesen war. Ich habe die Ausbildung abgebrochen, Mama und unser Zuhause waren wichtiger.«
Gisbert sah, wie sich Trauer über ihre Gesichtszüge legte, und er griff sacht nach ihrer Hand. »Das sind schwere Erinnerungen, und dabei solltest du doch heute einen schönen Abend haben«, sagte er leise.
»Was wäre mein Geburtstag ohne die Erinnerung an meine Mama?«, antwortete Kathi lächelnd. »Außerdem habe ich nie bereut, dass ich dann zu Hause geblieben bin. Ich liebe meine Heimat, auch wenn sie mir manchmal ein wenig eng vorkommt. Siehst du zum Beispiel die beiden würdigen Paare dort drüben rechts neben dem Oleander? Das sind die beiden Vorsitzenden des Landfrauenvereins, Therese Kornhuber und Elvira Draxler mit ihren Ehemännern.«
Gisbert schaute diskret hinüber und wurde mit unverhohlenem Interesse gemustert.
»Beim nächsten Einkauf werde ich unter Garantie nach dir gefragt und weshalb ich an meinem Geburtstag mit einem fremden Mann und ganz ohne den Papa ausgegangen bin«, erklärte Kathi.
»Du meine Güte, du bist doch keine sechzehn mehr«, brummte Gisbert überrascht.
»Nein, genau doppelt so alt«, lachte Kathi. »Und genau das meine ich: ob man will oder nicht, irgendwie steht man immer unter liebevoller Beobachtung.«
»Anstrengend«, seufzte Gisbert und schenkte Champagner nach.
Kathi signalisierte rasch, dass sie nur noch einen kleinen Schluck trinken werde, weil sie noch fahren müsse.
»Der Abend ist noch lang«, erwiderte er mit weicher Stimme und schenkte das Glas voll. Er dachte an das Hotelzimmer, das auf sie wartete. »Warum solltest du dein Leben nicht ändern können? Für deinen Vater und euren Betrieb wird sich doch eine Hilfe einstellen lassen. Geh nach München und fang ein neues Leben an, wie klingt das für dich?« Er griff wieder nach ihrer Hand und schaute ihr tief in die Augen.
»Ein bisschen verlockend und ein bisschen verrückt und sehr unwirklich«, antwortete Kathi und winkte die Bedienung an den Tisch, um Wasser zu bestellen. »Ich weiß, dass ich es nicht tun werde, es sind nur Gedankenspiele.«
»Dann lass uns spielen«, sagte Gisbert und zog ihre Hand an seine Lippen. Er malte das Leben in der Großstadt in den verlockendsten Farben und schwärmte von den Möglichkeiten, die Kathi dort hätte.
Sie hörte amüsiert und interessiert zu und wusste gleichzeitig, dass das kein Leben für sie war. Freunde waren für sie Menschen, die sie lange kannte und denen sie nicht gerade eben erst auf einer Party begegnet war. Sie brauchte urtümlichen Wald und keine Parks, mochten sie auch noch so schön angelegt sein. Sie brauchte Beständigkeit – und trotzdem war die Aufmerksamkeit schön, die Gisbert ihr schenkte. Kathi genoss seinen Witz, seine Schlagfertigkeit und die Leichtigkeit, mit der er mit ihr flirtete. Er umwarb sie fantasievoll, und sie genoss es. Das Essen, das er bestellt hatte, war hervorragend und das edle, fein-herbe Parfum ein Traum. Kathi fühlte sich auf eine besondere Weise verwöhnt, die sie bisher so nicht gekannt hatte. Es war schön, andere Seiten an Gisbert zu entdecken, die jenseits seiner üblichen Prahlereien lagen.
Als es fast Mitternacht war, legte er seinen Arm um ihre Schultern und sagte leise: »Dein Tag ist fast vorüber gegangen und ich habe dir noch nicht einmal einen Geburtstagskuss gegeben.«
Der Glockenschlag der Kirche wehte zu ihnen herüber, als sie leise antwortete: »Dann musst du dich beeilen, damit es wirklich ein Geburtstagskuss ist.«
Seine Antwort war ohne Worte.
Eine Weile später waren sie die letzten Gäste auf der Terrasse. In Kathis dunklen Augen spiegelten sich die Flammen der heruntergebrannten Kerzen, als sie leise sagte: »Es war ein sehr schöner Abend, Gisbert, ich danke dir, aber jetzt muss ich nach Hause fahren.«
»Nein, musst du nicht«, antwortete er und berührte die widerspenstigen Locken, die sich an den Schläfen aus dem samtenen Haarband gelöst hatten. »Wir können hierbleiben, ich habe für uns ein Zimmer reserviert.«
Etwas in Kathis Augen erlosch, aber das bemerkte Gisbert nicht. Sie spielte nachdenklich mit der Schleife, die um die Parfumschachtel gebunden gewesen war. »Du hast zusammen mit dem Tisch ein Zimmer für uns bestellt?«, fragte sie.
Gisbert überhörte auch den kleinen Unterton in ihrer Stimme. »Nun ja, warum denn nicht?«, sagte er sorglos.
Sie schaute ihm genau in die Augen. »Weil ich nicht so leicht zu haben bin«, antwortete Kathi ruhig und stand auf. Sie griff nach ihrer Tasche, aber das teure Geschenk ließ sie auf dem Tisch liegen. »Der Abend war schön, aber jetzt ist er beendet. Ich wünsche dir eine gute Heimfahrt und gute Nacht.«
Gisbert erhob sich überrascht. »Aber Kathi, so warte doch. Warum willst du denn jetzt schon gehen? Ich glaube, du hast da etwas missverstanden.«
»Nein, wohl kaum«, antwortete sie gelassen und wandte sich ab.
Gisbert blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu schauen, wie sie mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf das Hotel verließ. Mit einem unterdrückten Fluch ließ er sich wieder auf den Stuhl zurückfallen und überlegte, was er jetzt tun sollte. Den Komfort des Hotelzimmers für sich allein nutzen, anstatt jetzt in die rustikale Jagdhütte ohne Badezimmer zurückzukehren? Und sich dem Spott seiner Gäste auszusetzen? Er konnte sich deren Bemerkungen sehr gut vorstellen, wenn er jetzt dort aufkreuzte. Sich das anzuhören, dazu war auch noch morgen Zeit.
Gisbert beschloss, im Hotel zu bleiben, bestellte eine Flasche Whisky auf sein Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen. Im Kopf überschlug er die Kosten für den heutigen Abend. So hatte er sich diese Nacht nicht vorgestellt, und wenn er gewusst hätte, wie sie endete, dann hätte er auch nicht so viel Geld investiert. Anstatt mit Kathi eine heiße Nacht zu verbringen, betrank er sich und tat sich selbst leid.
Wenn er nicht noch den absoluten Knaller vor sich gehabt hätte, den er für das Ende der Jagdwoche geplant hatte, wäre seine Laune noch viel schlechter gewesen. Gisbert zückte sein Handy und rief seinen Mittelsmann an, der ihm sagte: »Alles klar, Mann, er ist unterwegs und wird übermorgen pünktlich in deinem verschlafenen Nest ankommen.«
Gisbert grinste. Wenigstens das würde also klappen.
*
Kathi hatte in dieser Nacht nicht gut geschlafen, zu viel war ihr durch den Kopf gegangen. Dass Gisberts Interesse an ihr reine Berechnung gewesen war, kränkte sie. Ein teures Parfum, eine Einladung in ein gutes Restaurant und dafür ging es anschließend mit ihm ins Bett? Auf diese Weise musste er schon Erfolg gehabt haben. Er war sich seiner Sache sehr sicher gewesen, und das kränkte Kathi am meisten. Sie hätte gar nichts gegen eine romantische Nacht gehabt, aber nicht, wenn diese bereits eingeplanter Programmpunkt war.
Es war nicht besonders angenehm für sie, Gisbert an diesem Morgen zu begegnen und dabei gewohnt freundlich und höflich zu sein. Am liebsten hätte sie ihn mit kühler Nichtachtung behandelt, aber er war zahlender Gast im Jagdschlösschen, und sie arbeitete für ihn.
Kathi betrachtete ihr Gesicht im Spiegel und band mit energischen Bewegungen ihre Haare zusammen. Sie warf sich selbst einen ermunternden Blick zu und sagte laut: »Du bist Profi und wirst selbstverständlich die Bewirtung dieser Gäste bis zum Wochenende schaffen!«
Nach einem letzten Schluck Kaffee in der gemütlichen Bauernküche verabschiedete sie sich von ihrem Vater und wollte los. Burgl werkelte in der Geschirrkammer herum und konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen. Sie wies auf das alte Buffet, auf dem Kathis Geburtstagstisch aufgebaut war. »Und denk dran, was ich dir über den Wendelin gesagt hab. Du weißt, was diese großen Bücher kosten. Überleg dir mal, was er wohl dafür von dir haben will.«
»Ach, Burgl, halt endlich deinen Mund. Du hast ja keine Ahnung«, rief Kathi gereizt. Sie war nervös, sonst hätte sie nicht so barsch mit der alten Frau gesprochen, das war nicht ihre Art. Ihr Vater warf ihr über den Rand vom Bergmoosbacher Tagblatt einen erstaunten Blick zu. Kathi zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Ist doch wahr, Papa. Kaum macht Burgl den Mund auf, sagt sie etwas Negatives. Ich kann das nicht mehr hören.« Sie verließ ohne ein weiteres Wort die Küche und fuhr vom Hof.
Burgl kniff die Augen zusammen und sah missgünstiger denn je aus. »Das Madl hat Stress, da braut sich was zusammen«, sagte sie zu Anton. »Denk an meine Worte.«
Beim Jagdschlösschen begegnete sie als erstes Wendelin und Streuner, die gerade aus ihrem Jeep stiegen.
»Grüß Gott, Kathi. Hattest du gestern noch einen schönen Abend?«, begrüßte Wendelin sie freundlich.
»Wie man’s nimmt«, antwortete sie kurz und ging ohne eine weitere Erklärung zum Haus hinüber.
Wendelin stand leicht verdutzt da, Kathi war sonst nicht so kurz angebunden. Er wechselte einen Blick mit Streuner. »Der Kathi sollten wir heut wohl lieber aus dem Weg gehen, gell?«, fragte er leise. Streuner stupste zustimmend mit der Nase gegen seine Hand. Wendelin seufzte. »Na gut, kümmern wir uns halt um unseren Kram. Die Pumpe beim Brunnen funktioniert immer noch nicht einwandfrei und um das Gehörn des jungen Rehbocks, den sie heute Nacht geschossen haben, muss ich mich auch noch kümmern. Komm mit, mein Bester.«
Der Mann und sein treuer Gefährte gingen zum Schuppen hinüber, in dem das Werkzeug aufbewahrt wurde. Wendelin suchte nach einer ganz bestimmten Wasserrohrzange. Sie hing im hinteren Teil des Schuppens an einem rostigen Haken, der sich löste, als Wendelin nach der Zange griff. Sie fiel seltsam leise in den Spalt zwischen einer großen, alten Kommode und der angrenzenden Bretterwand. Wendelin räumte den Stapel Bauholz zur Seite, der den Spalt verdeckte, und wollte nach der Zange greifen, als er rauhen Stoff zu fassen bekam. Zwei alte Säcke waren in die Lücke gestopft worden, und darunter verbarg sich ein Rucksack, der Wendelin vage bekannt vorkam. Er war verhältnismäßig schwer, und sein Inhalt klapperte. Als er ihn öffnete, schnappte er nach Luft: der Rucksack enthielt vier Fangeisen!
Streuner winselte, als er die Spuren an dem einen Eisen roch und sah. Es war das, in dem sich das Wildschwein verfangen hatte. Wendelin dachte an den Morgen, als sein Hund sich so auffällig für genau diese Ecke des Schuppens interessiert hatte. »Das also hattest du gerochen. Du bist mein Allerbester«, sagte er anerkennend und kraulte Streuner kräftig das Fell.
Der Mann überlegte, was er als nächstes tun sollte. Die Polizei rufen? Der Rucksack allein war kein Beweis für Gisberts Schuld. Auf jeden Fall würde er gleich mit dem Förster sprechen, aber vorher wollte er mit Kathi reden. Sie traute Gisbert und sollte von dem Fund wissen. Um jetzt keinen Verdacht zu erregen, verschloss Wendelin wieder den Rucksack und verbarg ihn unter den alten Säcken. Dann ging er zum Haus hinüber.
Er kam zur selben Zeit, als mehrere der Gäste aus ihren Zimmern zum Frühstück herunter kamen. Sie wunderten sich, Kathi hier zu sehen.
»Nanu, du bist schon hier?«
»Wie unhöflich von Gisbert, dich zur Arbeit zu schicken, und er genießt noch das breite Bett im Hotelzimmer.«
»Ich lasse mich von niemandem schicken, aber ich erledige zuverlässig meine Arbeit«, antwortete Kathi kühl. »Hier ist euer Frühstück.«
»Und wo hast du Gisbert gelassen?«
»Keine Ahnung, wo er ist. Zuletzt habe ich ihn gestern Abend auf der Terrasse vom Steg-Haus gesehen«, erwiderte Kathi, während sie den Kaffee ausschenkte. »Vielleicht ist er noch oben in seinem Zimmer?«
»Ha! Du hast ihm einen Korb gegeben!«, johlte Bernhard und die anderen Männer stimmten lärmend ein. »Hab ich’s nicht gesagt? Er sollte nicht so sicher sein.«
Angewiderte wandte Kathi sich um. Seine Kumpel hatten also von seinen Plänen gewusst? Was für eine dämliche Bande! Sie musste sich Mühe geben, jetzt weiter höflich und zuvorkommend zu sein.
Wendelin hatte die Szene beobachtet und knirschte innerlich mit den Zähnen. Das musste ja ein unschönes Ende ihres Geburtstags gewesen sein. Er hoffte, dass die Entdeckung der Fallen in Gisberts Rucksack eine Genugtuung für sie war. Wendelin ging zu ihr hinüber und erzählte leise von seinem Fund.
Während er redete, arbeitete Kathi mit heftigen Handbewegungen weiter. Sie hörte nur mit halbem Ohr zu und antwortete scharf: »Lass mich endlich mit deinen wilden Geschichten in Ruhe, Wendelin! Dass du hier die Fallen gefunden hast, beweist noch gar nichts. Ich habe ganz andere Sachen im Kopf und will mit deinen Verdächtigungen nichts zu tun haben.« Energisch griff sie nach einem Stapel frischer Handtücher und lief die Stiege hinauf. Sie wollte oben die Betten machen und neue Handtücher neben die Waschschüsseln legen.
Wendelin war von ihrer heftigen Reaktion wie vor den Kopf geschlagen und konnte sie sich nicht erklären. Was mochte zwischen ihr und Gisbert vorgefallen sein, das sie so wütend gemacht hatte?
Eine Antwort darauf bekam Wendelin, als jetzt Gisberts Wagen in den Hof fuhr. Der Mann wurde von seinen Freunden mit Hohn und Spott empfangen, weil er sich einer heißen Nacht mit Kathi so sicher gewesen war. Gisbert parierte die Schadenfreude seiner Kumpel mit Schlagfertigkeit. Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn die Abfuhr gekränkt hatte und wie sehr er sich über die Spötteleien der Männer ärgerte.
Erst als er oben in seiner Schlafkammer auf Kathi traf, ließ er die Maske der Überlegenheit fallen. »Für ein gutes Essen und teuren Champagner bist du dir also nicht zu schade gewesen«, sagte er und musterte die junge Frau aus schmalen Augen.
»Wenn du deine Einladung bereust, ist das deine Sache«, antwortete Kathi kühl und wollte das Zimmer verlassen. Die Dachkammer war sehr eng, und sie musste dicht an Gisbert vorbeigehen.
Er hatte zu viel Whisky getrunken und war immer noch nicht ganz nüchtern, anders ließ sich seine Reaktion nicht erklären.
Seine Hände schossen vor, umklammerten ihre Oberarme und rissen die junge Frau zu sich herum. »Spiel jetzt nicht die Unschuld vom Lande«, sagte er. »Was glaubst denn du, was nach Schampus und dem Festessen kommt? Ich habe eine Menge Geld für dich ausgegeben, da solltest du dich schon erkenntlich zeigen.«
In der ersten Sekunde war Kathi vor Schreck wie erstarrt, aber dann überrollte sie eine Welle tiefroter Wut. Mit aller Macht wehrte sie sich gegen seinen Klammergriff und zischte: »Bist du verrückt geworden? Lass mich sofort los!« Sie wand sich wie eine zornige Katze unter seinem eisernen Griff. Das hielt der Stoff ihrer leichten Sommerbluse nicht aus, und sie riss ein. Dadurch bekam Kathi etwas mehr Bewegungsfreiheit, und sie konnte seine Hände abschütteln. Von der Kammertür bis zur Stiege war es nur ein schneller Schritt. Kathis Fuß berührte schon die erste schmale Stufe, als Gisbert ein zweites Mal versuchte, sie zu fassen. »Verdammt, bleib stehen!«, brüllte er und wollte wieder ihren Arm packen. Aber aus dem Griff wurde ein Stoß, Kathi verlor den Halt und polterte Hals über Kopf die steile Stiege hinunter. Mit einem lauten Schrei schlug sie auf dem Boden auf, und dann herrschte gespenstische Stille.
Schlagartig war Gisbert nüchtern und begriff, was er angerichtet hatte. »Nein!«, schrie er entsetzt auf und hastete die Treppe nach unten. Er wollte sich über Kathi beugen, aber Wendelin war schneller.
Er stieß Gisbert zur Seite. »Du rührst sie nicht an!« Alles Plumpe und Unbeholfene war von Wendelin abgefallen, er stand mit einer ungeahnten Klarheit und Kraft vor dem anderen Mann, der vor ihm zurückwich.
»Das hab ich nicht gewollt!«, rief Gisbert entsetzt. »Um Gottes willen, was ist mit ihr?«
Wendelin beachtete weder ihn noch die anderen, die in die Stube gestürzt kamen. Er kniete neben der jungen Frau, die mit offenen Augen zu träumen schien, und zog sie behutsam in seine Arme. »Kathi, kannst du mich hören? Verstehst du, was ich sage?«, fragte er ruhig.
»Ich …, ich bin gefallen«, murmelte sie. Ihr Gesicht verzog sich, und Tränen schossen in ihre Augen. »Mein Fuß! Mein Fuß tut so weh, ich kann ihn nicht bewegen. Ich glaube, er ist gebrochen.«
»Ganz ruhig, Kathi, das wird alles wieder gut. Ich rufe jetzt Doktor Seefeld und …«
»Nein, keinen Arzt! Ich will nach Hause, bring mich nach Hause«, rief Kathi panisch und begann haltlos zu schluchzen.
Wendelin erkannte, dass sie unter Schock stand, und drang nicht weiter in sie. Er befahl einen der schreckensbleichen Männer, den Verbandskasten zu holen und legte Kathi einen Verband an, der den verletzten Fuß für den Transport ruhigstellte. Dann schaute er Gisbert an und sagte scharf: »Deinen Autoschlüssel!« Ihm war klar, dass der Transport in seinem kaum gefederten Jeep für Kathi unerträglich sein würde. »Polstere die Rückbank so aus, dass Kathi bequem das Bein hochlegen kann«, befahl er Gisbert, der das widerspruchslos tat.
Kathi war so schockiert, dass sie immer nur weinen und keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wendelin erklärte ihr ruhig, dass er sie jetzt nach Hause bringen werde, hob sie behutsam in seine Arme und trug sie zum Auto. Ohne den anderen Männern noch einen Blick zuzuwerfen, fuhr er vorsichtig vom Hof. Streuner saß brav im Fußraum des Vordersitzes und tat keinen Mucks. Über die Freisprechanlage rief Wendelin bei Sebastian Seefeld an, schilderte leise, was geschehen war und bat ihn, sofort zum ›Gamsbart‹ zu kommen.
»Ich bin schon unterwegs«, antwortete der Landdoktor.
Wendelin suchte im Rückspiegel Kathis Blick, aber sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben und weinte haltlos. Er spürte, dass er sie jetzt nicht erreichen konnte, und sprach sie nicht an, obwohl er sie von Herzen gern getröstet hätte.
Als er beim ›Gamsbart‹ hielt und die schluchzende junge Frau mit ihrer eingerissenen Bluse zum Haus trug, erregte das natürlich viel Aufmerksamkeit. Burgl schoss in den Hof, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und kreischte: »Jesses! Was hast du dem armen Madl angetan!«
Wendelin ging ruhig weiter, obwohl sein Herz bis zum Hals hinauf schlug. »Wo kann ich Kathi hinbringen?«, fragte er nur.
Anton Stübl stand schon neben ihm und dirigierte ihn in die Küche, wo Wendelin die junge Frau behutsam auf die breite, gut gepolsterte Bank bettete. »Doktor Seefeld wird gleich hier sein«, sagte er leise.
Anton beugte sich angstvoll über seine Tochter. »Kathi, Herzenskind, was ist dir passiert?«
»Ach, Papa, hätte ich nur nicht sein Geburtstagsgeschenk angenommen«, schluchzte sie und verbarg wieder das Gesicht in ihren Händen.
Anton richtete sich auf, und sein Blick war dunkel und drohend wie ein Gewitterhimmel. Er ging zum Buffet hinüber, nahm den schönen Bildband und drückte ihn Wendelin in die Hände. »Du gehst jetzt und das hier nimmst du mit«, grollte er.
»Nein, ich …«, sagte Wendelin bestürzt, wurde aber durch eine energische Geste des Vaters unterbrochen.
»Raus!« Unmissverständlich wies Anton ihm die Tür.
Wendelin warf noch einen letzten Blick auf die noch immer weinende Kathi. Es tat ihm unendlich weh, sie so aufgelöst zu sehen. Anton und Burgl wuselten um die junge Frau herum, und er konnte nichts mehr für sie tun. Er hatte nicht gedacht, dass die Situation noch schlimmer werden könnte, aber genau das war bei Kathis Ankunft zu Hause passiert. Wendelin erkannte, dass man ihm die Schuld an ihrem Zustand gab. Wortlos und tieftraurig drehte er sich um und verließ die Küche.
Im Hof begegnete er dem Landdoktor. Sebastian sah sofort, dass es auch Wendelin nicht gut ging. Er drückte ihm kurz aber herzlich die Hand. »Es ist sehr gut, dass Sie mir so schnell Bescheid gegeben haben, das wird Kathi helfen«, sagte er freundlich.
»Wenn es ihr nur bald wieder besser geht«, erwiderte Wendelin leise. Er ging zu Gisberts Wagen und fuhr bedrückt zum Jagdschlösschen zurück. Kathi war in die weiteste Ferne gerückt, sie war verwirrt und verletzt und schuld daran hatte Gisbert von Acker.
Wendelins Kummer verwandelte sich in flammenden Zorn, und als er beim Jagdschlösschen aus dem Wagen stieg, erinnerte nichts mehr an seine tiefe Traurigkeit. Er baute sich vor Gisbert auf und schaute ihn herausfordernd an. »Was ist da oben in deiner Kammer geschehen?«, fragte er eisig.
Der andere Mann einen Schritt von ihm zurück. »Nichts, gar nichts«, stammelte er. »Wie geht es Kathi? Nun sag doch, ob es ihr besser geht.«
Wendelin schaute ihn voller Verachtung an. »Kathis Bluse ist also von allein zerrissen? Und sie ist aus Spaß kopfüber die Treppe hinuntergefallen? Mann, ich konnte sehen, dass du sie gestoßen hast!«
Abwehrend streckte Gisbert beide Hände aus. »Nein, nein, das stimmt nicht, es war ein Versehen! Ich wollte sie nur festhalten!«, rief er hastig. Sein Handy, das auf dem Gartentisch lag, begann hartnäckig zu klingeln.
»Du kannst sagen, was du willst, die Polizei wird die Wahrheit herausbekommen«, erwiderte Wendelin kalt.
»Polizei? Wer redet denn hier von Polizei?«, rief Gisbert nervös.
»Falls Kathi dich nicht anzeigt, werde ich es tun«, antwortete Wendelin mit fester Stimme.
»Anzeigen? Du spinnst doch!« Gisbert rief zu seinen Freunden hinüber: »Kann mal endlich jemand an mein verdammtes Handy gehen?«, und an Wendelin gewandt fuhr er fort: »Es war ein Missverständnis, ein bedauerlicher Unfall, und natürlich komme ich für alle Kosten auf. Dafür brauchen wir doch keine Polizei.«
Wendelin bedachte ihn nur mit einem verächtlichen Blick, drückte ihm seine Wagenschlüssel in die Hand und wollte sich abwenden.
In diesem Augenblick rief Bernhard, der das Gespräch auf Gisberts Handy angenommen hatte, in die Runde: »Ich versteh kein Wort von dem, was dieser Mann gesagt hat. Gisbert, ich soll dir ausrichten, dass der Transporter langsamer als gedacht vorankommt, es gibt zu viele Staus. Der Bär wird erst morgen Abend hier sein.«
Wendelin blieb wie angenagelt stehen.
»Ein Bär?«, rief er fassungslos.
Auch die anderen Männer riefen verständnislos durcheinander. Gisbert unterdrückte einen Fluch. Jetzt war also auch noch seine Überraschung aufgeflogen, und das ausgerechnet in Wendelins Gegenwart. Mit Sicherheit würde er die allergrößten Schwierigkeiten machen.
Gisbert riss sich zusammen und versuchte, ganz cool und lässig zu wirken. »Als ich euch zur Jagd eingeladen habe, da wollte ich euch einen ganz besonderen Leckerbissen vorsetzen – eine Bärenhatz.«
Wendelin glaubte, nicht richtig gehört zu haben. »Du willst eine Bärenjagd veranstalten? Hier?«, fragte er ungläubig.
Auch die anderen Männer waren sehr erstaunt und riefen aufgeregt durcheinander. Gisbert verschaffte sich Ruhe und fuhr fort: »Ich habe im Osten einen jungen Braunbären gekauft, der eigentlich heute Abend hier sein sollte. Nun müssen wir unsere Jagd um einen Tag verlegen, aber das ist doch kein Problem, nicht wahr, meine Herren? Ich biete die einmalige Gelegenheit, in freier Wildbahn einen Bären zu erlegen, was für ein Abenteuer.«
»Ja, bist denn du völlig verrückt geworden?«, übertönte Wendelin die begeisterten Rufe der erlebnishungrigen Männer. »Das ist ein großes Raubtier, das nach dem tagelangen Transport ausgehungert und gereizt sein wird. Das ist kein Abenteuer, das ist lebensgefährlicher Leichtsinn, in diesen Wäldern sind ahnungslose Menschen unterwegs! Und ihr alle seid keine erfahrenen Jäger und sicheren Schützen. Diese Idee ist nicht nur strafbar, sie ist der helle Wahnsinn.«
»Komm, Wendelin, nun sei kein Spielverderber.« Jetzt gab sich Gisbert kumpelhaft. »Wäre das nicht auch für dich eine irre Sache, auf eine Bärenjagd zu gehen? Du bist selbstverständlich eingeladen.«
»Ja, irre ist genau das richtige Wort«, erwiderte Wendelin aufgebracht. »Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich einlässt. Wie stellt ihr euch das überhaupt vor? Der Bär kommt hier aus dem Transporter, ihr lasst ihm einen gewissen Vorsprung, und dann kreist ihr Supermänner ihn ein und ballert los?«
»Ich würde es anders ausdrücken, aber genauso ist der Plan«, antwortete Gisbert prahlerisch.
Wendelin versuchte es mit Vernunft. »Denk doch mal vernünftig nach«, sagte er so ruhig wie möglich. »Du unterschätzt die Gefährdung, die von einem gereizten Bären ausgeht. Nicht nur ihr begebt euch in große Gefahr, sondern jeder, der sich in den Wäldern aufhält. Davon einmal abgesehen, begehst du eine Straftat. Du hast schon eine Menge Ärger wegen der Sache mit Kathi am Hals, willst du noch diesen Wahnsinn mit der Bärenjagd daran hängen?«
»Mensch, Wendelin, das muss doch niemand erfahren«, sagte Gisbert und klopfte Wendelin kumpelhaft auf die Schulter. »Für dich springt auch noch eine Extra-Prämie dabei heraus. Wir sind hier doch ganz unter uns.«
Wendelin wich vor ihm zurück und hatte schon sein Handy in der Hand. »Und ob das jemand erfahren muss!«, erwiderte er empört. »Dieser Wahnsinn muss gestoppt werden. Ich rufe jetzt die Polizei.«
Gisbert war so schnell, dass Wendelin nicht rechtzeitig reagieren konnte. Er schnappte sich das Handy und warf es hinüber zu seinen Gästen, die es auffingen. »Nein, das wirst du nicht!«, sagte er drohend und winkte seinen Freunden näherzukommen. »Du wirst jetzt für einige Zeit verschwinden und uns unseren Spaß haben lassen.«
Streuner begriff die Gefahr für Wendelin sofort und sprang mit einem wütenden Knurren auf Gisbert los. Dieser trat nach dem schnappenden Tier und brüllte: »Ruf deinen verdammten Köter zurück oder ich knalle ihn ab!«
»Streuner, aus! Lauf, lauf!«, schrie Wendelin in höchster Angst um seinen Hund.
Das treue Tier ließ zornig bellend von Gisbert ab, drehte sich irritiert zu seinem Herrchen um und verstand die Welt nicht mehr. Sein Mensch brauchte Hilfe und schickte ihn weg?
»Lauf! Lauf weg!«, rief Wendelin wieder und deutete in den Wald.
Streuner spürte, dass es seinem Menschen bitterernst war und rannte los. Mit großen Sätzen sprang er die Böschung hinauf und verschwand im Gestrüpp.
»Sein Glück!«, knurrte Gisbert. Er fixierte Wendelin mit einem drohenden Blick. »Wir sind zu sechst und du bist allein. Willst du es darauf ankommen lassen?«
Wendelin befand sich in einer aussichtslosen Situation. Weder kam er an sein Handy heran, noch käme er schnell genug zum Auto, um Hilfe zu holen. Auch zu Fuß würden sie ihm in dieser Überzahl den Weg abschneiden. Er versuchte tapfer, sich zur Wehr zu setzen, aber gegen die Übermacht kam er nicht an. Sie packten ihn und stießen ihn in den massiven, fensterlosen Holzschuppen. Die Tür flog zu und wurde von außen mit Schloss und Riegel gesichert. Er saß fest ohne die Möglichkeit, Förster und Polizei auf die drohende Gefahr aufmerksam machen zu können.
»Ihr alle reitet euch immer tiefer in die Sache rein!«, schrie er und trommelte mit beiden Fäusten gegen die Tür. »Hört auf, ehe ihr die Folgen nicht mehr absehen könnt!«
»Gib Ruhe!«, schrie Gisbert zurück. »Du kommst morgen Nacht wieder frei, wenn wir den Bären erlegt haben, also mach jetzt keinen Aufstand.«
Wendelin war verzweifelt. Er konnte nicht fassen, dass sich erwachsene, einigermaßen intelligente Männer auf so ein unverantwortliches Abenteuer einließen. Er musste unbedingt verhindern, dass der Bär hier freigelassen wurde, nur wie? Aufgeregt schaute er sich im Holzschuppen um.
Es gab kein Fenster, nur zwei kleine Luken zur Belüftung. Sie waren von innen mit hölzernen Läden geschlossen, die er zwar öffnen konnte, trotzdem konnte er nicht hindurch steigen. Sie waren so winzig, dass höchstens ein Kind hindurch gepasst hätte. Leider lagen hier weder Axt noch Beil oder ein anderes Spaltwerkzeug, mit er die Tür hätte aufhebeln können. Er hatte nur die Kraft seiner Hände und seiner Gedanken. Irgendeine Idee, wie er die Gefahr abwenden konnte, musste er doch haben!
Wendelin versuchte, sich zu beruhigen und nachzudenken. Es machte ihn ganz verrückt, dass er hier festsaß, ohne auf sich aufmerksam machen zu können. Das Gelände des Jagdschlösschens lag sehr abgeschieden und war für Wanderer nicht einsehbar. Selbst wenn er mit seiner Taschenlampe irgendwelche verzweifelten Blinksignale sendete, es war niemand da, der sie sehen würde. Wendelin zermarterte sein Gehirn nach einer Lösung, während er gespannt nach draußen lauschte, um die Aktivitäten auf dem Hof nicht zu verpassen.
Wie er hörte, bereitete man sich dort auf die Bärenjagd vor. Die Männer besprachen Strategien, reinigten ihre Gewehre und verkauften buchstäblich den Pelz des Bären, ehe sie ihn erlegt hatten. Es war aussichtslos, auf ihre Einsicht zu hoffen.
Entmutigt ließ sich Wendelin auf den Hackklotz sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Weil er kein Handy hatte, konnte er weder den Transport stoppen lassen noch bei Kathi anrufen und sich nach ihrer Verletzung erkundigen. Er wusste nicht, was von beidem für ihn das Schlimmere war. Sein einziger Lichtblick blieb, dass Streuner aus der Gefahrenzone verschwunden war. Von ganzem Herzen hoffte Wendelin, dass der Hund weit weggelaufen war und vielleicht, vielleicht Hilfe holte.
Aber Streuner hatte gar nicht daran gedacht wegzurennen. Er lag flach gegen den Boden gepresst im Gestrüpp der Böschung, die den Hofplatz umgab, und nutzte instinktiv jegliche Deckung. Er hatte gesehen, wie man Wendelin in den Holzschuppen stieß. Streuner roch die Gefahr und spürte die angespannte Stimmung. Mit höchster Wachsamkeit scannte sein Blick immer wieder das Gelände. Er wartete auf die nächste Gelegenheit, unbemerkt zum Schuppen zu kommen.
Niemals würde er seinen Menschen im Stich lassen, und müsste er Tag und Nacht hier ausharren.
*
Während sich die Situation beim Jagdschlösschen zuspitzte, hatte sie sich beim ›Gamsbart‹ ein wenig entspannt. Sebastian sah, wie aufgelöst Kathi war, und schickte freundlich, aber sehr bestimmt Burgl und auch den besorgten Vater hinaus. Tatsächlich beruhigte sich die junge Frau leichter, als sie mit dem Arzt allein war. Sebastian fragte nicht sofort, was genau geschehen war, er wollte Kathi noch ein wenig Zeit lassen, um sich zu sammeln.
Seine Diagnose lautete: ein angebrochener Knöchel und Verdacht auf eine leichte Gehirnerschütterung. Kathi sollte für weiterführende Untersuchungen und zum Eingipsen ins Krankenhaus. Man würde sie für die Nacht dort behalten, aber morgen konnte sie wieder nach Hause. Sie musste das Bein schonen und durfte nicht auftreten, aber das sollte mit geeigneten Gehstützen kein Problem sein.
Die Ruhe des Landdoktors färbte auf Kathi ab, und sie konnte ihm erzählen, wie es zum Sturz gekommen war. Sebastian schüttelte mitfühlend den Kopf. »Durchkreuzte Pläne und gekränkte Eitelkeit lassen manche Menschen die unmöglichsten Dinge tun«, sagte er. »Überlegen Sie in Ruhe, ob und wie Sie gegen ihn vorgehen wollen. Jetzt ist erst einmal wichtig, dass der Fuß eingegipst wird. Der Notverband ist eine große Hilfe gewesen, dadurch hat sich der Bruch nicht erweitern können.«
»Wendelin hat mir den Verband angelegt«, erklärte Kathi.
»Sehr gut, dass er daran gedacht und es so fachmännisch gemacht hat«, lobte Sebastian. »Im Forst passiert leicht ein Unfall. Es ist gut, dann Erste Hilfe wirklich zu beherrschen.«
»Ja, ohne Wendelin wäre ich nicht nach Hause gekommen«, sagte Kathi nachdenklich. »Ich habe gar nicht richtig mitbekommen, dass er gegangen ist, ich konnte mich nicht einmal bedanken.«
»So wie ich Wendelin einschätze, wird er sicher bald anrufen und sich nach Ihnen erkundigen«, antwortete Sebastian lächelnd.
Als der Krankenwagen kam, um Kathi in die Klinik zu fahren, hatte sie sich einigermaßen gefangen. Ihr Vater fuhr mit ins Krankenhaus, um die Untersuchungsergebnisse abzuwarten. Erst als seine Tochter leicht benebelt vom Schmerzmittel im Bett lag und bereits am Einschlafen war, mochte er sich von ihr trennen.
»Wenn der Wendelin anruft, dann grüß ihn von mir«, murmelte sie schläfrig.
»Ich glaub kaum, dass er sich das trauen wird«, grummelte Anton, aber das hörte Kathi schon nicht mehr. Sie war eingeschlafen. Ihr Vater wusste sie in guten Händen und fuhr halbwegs beruhigt nach Bergmoosbach zurück. Wenn seine Tochter wieder zu Hause und in Sicherheit war, dann würde sie sicherlich erzählen können, was im Jagdschlösschen mit ihr und Wendelin passiert war.
Leider wartete Burgl nicht ab, was Kathi zu sagen hatte, sondern sie erzählte mit wohligem Schaudern im Dorf die Geschichte so, wie sie sie sah. Aus dem Riss in der Bluse wurde zerfetzte Kleidung; anstelle übersät mit blauen Flecken, sei Kathi blutüberströmt gewesen, und panische Angst habe ihr die Sprache verschlagen. Wie tapfer sei das Madl gewesen, dass es den Unhold gezwungen habe, von ihr abzulassen und sie heimzufahren mit dem gebrochenen Bein.
»Das ist ja eine unglaubliche Geschichte! Müsste sich darum nicht gleich der Gregor Leutner kümmern? Das ist doch ein Fall für die Polizei«, entsetzte sich Therese Kornhuber, die Burgl beim Einkaufen getroffen hatte.
»Die arme Kathi!«, fiel Elvira Draxler sofort ein. »Wo sie doch grad erst so nett mit diesem noblen Herrn aus München im Steg-Haus ihren Geburtstag gefeiert hat. Das hat der Wendelin wohl gar nicht gut leiden können, dieser finstere Kerl.«
Dorfpolizist Gregor kam das Gerede natürlich rasch zu Ohren. Er wusste, wie schnell ein falscher Eindruck entstehen konnte. Für ihn war die Sache längst nicht so klar wie manchen anderen Leuten. Trotzdem war es ein ernster Vorwurf, und er wollte auf jeden Fall mit Wendelin reden, aber weder tagsüber noch am Feierabend erreichte er ihn am Telefon. Weil es auf seinem Heimweg lag, schaute Gregor abends bei Wendelins Hütte am Sägewerk vorbei, aber dort war alles wie ausgestorben. Von Wendelin und Streuner keine Spur.
»Dann wird er wohl sehr mit den Gästen vom Jagdschlösschen beschäftigt sein«, murmelte Gregor, »wahrscheinlich ist er mit denen auf der Jagd. Lorenz hat ja gesagt, dass Wendelin dort viel zu tun hat. Ich warte jetzt erst einmal ab, ob sich die Kathi bei mir meldet und Anzeige erstattet, und mit dem Wendelin spreche ich morgen, wenn er wieder aufgetaucht ist.«
Aber selbst diese Kleinigkeit, dass der Polizist Wendelin telefonisch nicht erreichen konnte, machte sofort die Runde. Schnell unterstellte man ihm ein schlechtes Gewissen, und das rundete das Bild perfekt ab: Wendelin stellte Kathi nach, war eifersüchtig auf den spendablen Münchner und trat der jungen Frau zu nahe. Es kam zur Auseinandersetzung, bei der Kathi verletzte wurde. Nun lag das arme Madl im Krankenhaus, und Wendelin hatte das Weite gesucht.
Als Sebastian abends noch rasch einige Lebensmittel in Fannys Geschäft einkaufte und diese Variante hörte, platzte ihm der Kragen. Es war noch nie vorgekommen, dass der Landdoktor laut wurde, und es machte ziemlichen Eindruck auf die Umstehenden. Er sprach Burgl direkt und sehr energisch an. »Frau Krämser, hören Sie auf, Geschichten zu erzählen, die Sie sich zusammengereimt haben«, sagte er sichtlich erbost. »Die ärztliche Schweigepflicht verbietet mir leider, mit diesem Sumpf aufzuräumen, aber so viel kann ich sagen: es hat sich alles ganz anders zugetragen! Sie schulden Wendelin Deggendorf eine große Entschuldigung.«
So schnell ließ sich Burgl nicht den Wind aus den Segeln nehmen, noch nicht einmal vom geschätzten Landdoktor. »Wenn er nichts damit zu tun hat, wo steckt er denn jetzt, der Wendelin? Niemand weiß, wo er ist«, sagte sie triumphierend.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Sebastian und schaute sie ernst an. »Vielleicht mag er einfach das Gerede über sich nicht mehr hören?«
»Ach ja, er ist schon ein arg Gebeutelter, unser armer Wendelin«, sagte sein ehemaliger Schulkamerad Bernhard ätzend. Und hatte nicht die geringste Ahnung, wie wahr die spöttische Bemerkung in diesen dramatischen Stunden geworden war.
*
Wendelin war nach wie vor im Holzschuppen eingesperrt und konnte nichts anderes tun als fieberhaft warten. Man hatte ihm durch die Luke Wasser, etwas zu essen und für die Nacht eine Wolldecke gegeben. Er hatte sich wie im Gefängnis gefühlt, was ja tatsächlich der traurigen Wirklichkeit entsprach. Seine Versuche, mit Gisbert vernünftig zu reden, hatten zu nichts geführt. Der andere Mann war wie vernagelt und dachte nur an das aufregende Abenteuer Bärenjagd.
Was Wendelin nahezu verrückt machte, war sein Handy, das draußen auf dem Tisch lag. Durch die vordere Luke konnte er es sehen, aber natürlich nicht erreichen. Er hörte es klingeln, und die Männer machten sich einen Spaß daraus, ihm zuzurufen, wer angerufen hatte. So wusste er, dass Gregor Leutner und der Landdoktor versucht hatten, ihn anzurufen. Wendelin ahnte, dass diese Anrufe etwas mit Kathi zu tun hatten, und fuhr fast aus der Haut. Er musste sich zur Ruhe zwingen, um den Gesprächen draußen zu lauschen, denn er wollte genau wissen, was die Jagdgesellschaft plante.
Man hatte die Jagd bestens vorbereitet. Weil Wendelin nicht dafür in Frage kam, sich um den erlegten Bären zu kümmern, sollte das der Fahrer des Transporters übernehmen. Allmählich wurde den Abenteurern der Boden unter den Füßen zu heiß, und sie wollten sofort nach der Jagd abreisen. Deshalb wurde an diesem Abend kaum gezecht, sondern alle waren bald im Haus mit dem Zusammenkramen und Einpacken ihrer Sachen beschäftigt. Sie beluden ihre Autos mit dem Gepäck und gingen dann ins Bett. Nach und nach legte sich tiefe Ruhe über Haus und Hof, und aus den Wäldern war nur noch ab und zu der Ruf eines Käuzchens zu hören.
Wendelin hockte auf dem Fußboden des Holzschuppens und versuchte, nicht den Mut zu verlieren. Er musste immer an Kathi denken und hoffte, dass sie inzwischen gut versorgt und möglichst schmerzfrei war. Weiter wagte er nicht zu denken, denn die Szene bei ihrer Familie zu Hause steckte ihm tief in den Knochen. Dass sogar Kathis Vater annahm, er habe seine Tochter so verletzt, machte ihn unendlich traurig und nahm ihm jeden Elan, sich gegen dieses Missverständnis zu wehren. Auch seine Sorge wegen der verrückten Bärenjagd wuchs. Ihm war immer noch nichts eingefallen, wie er auf die drohende Gefahr aufmerksam machen konnte.
Plötzlich wurde er durch ein leises Geräusch aus seinen Gedanken gerissen. Die eine Lüftungsluke war vom Haus ab- und dem Wald zugewandt und genau dort hörte er ein Kratzen, Scharren und aufgeregtes Schnuppern. Wendelin ging hinüber und versuchte hinauszusehen. Was er sah, ließ sein Herz einen Satz machen: Streuner stand hoch aufgereckt auf den Hinterläufen und scharrte mit den vorderen aufgeregt an der Holzwand. Seine Rute wedelte wie verrückt und er winselte, zum Glück nur ganz leise.
»Streuner! Mein Bester, wo kommst du denn her?«, flüsterte Wendelin außer sich vor Freude. »Komm her, mein Lieber, komm her.« Mit einem Arm konnte er den Hund erreichen, und die beiden feierten ein herzzerreißendes Wiedersehen. Das kluge Tier schien zu wissen, dass es ganz leise sein musste und bellte oder knurrte nicht. Streuner bohrte nur wie verrückt seinen Kopf in Wendelins Hand, fiepte vor Glück und leckte jeden Zentimeter Haut, den er erwischen konnte.
Wendelin begriff, dass dieses seine einzige, hauchdünne Chance war. Er wusste, dass sein Handy immer noch draußen auf dem Tisch lag, und er dachte an die Tricks, die er mit Streuner geübt hatte. Würde das kluge Tier es unter diesen Umständen schaffen, ihm sein Handy zu bringen?
»Du bist zwar nicht Lassie, aber vielleicht kannst du noch viel mehr«, murmelte er liebevoll. Nachdem er seinen Hund noch einmal feste gekrault hatte, lockte er ihn zu der gegenüberliegenden Luke, die sich zu Haus und Hof öffnete. Streuner rannte sofort um den Schuppen herum und nahm unter der anderen Öffnung Aufstellung. Wendelin wusste, dass es gefährlich war. Wenn jetzt zufällig jemand aus dem Fenster schaute, würde er Streuner wahrscheinlich sehen können, aber das musste Wendelin riskieren. Er musste seinem Hund die Richtung zeigen, in der er suchen sollte.
»Streuner, sieh mich an!«, befahl er leise und eindringlich. Der Hund kannte die Stimmlage und schaute seinen Herrn intensiv an. »Wo ist mein Handy? Lauf und such mein Handy! Such!« Wendelin deutete mit seiner Hand in Richtung des Tisches. »Such!«
Streuner sprang sofort in die angegebene Richtung und begann wie wild zu schnüffeln. Mit klopfendem Herzen verfolgte Wendelin die Suche. Nie hätte er sich träumen lassen, dass einmal einer seiner albernen Tricks so wichtig sein würde.
Es dauerte keine zwei Minuten, da hatte Streuner das Handy auf dem Tisch entdeckt, sprang auf die Bank und schnappte sich das Telefon. Mit stolzgeschwellter Brust und aufgerichteter Rute brachte er seine Beute zu Wendelin.
Der Mann lenkte den treuen Hund wieder zur anderen Luke, wo er außerhalb der Sichtweite vom Haus war. Wendelin konnte sein Glück kaum fassen, als er das Mobiltelefon endlich in der Hand hielt. »Streuner, du bist der Allergrößte und der Allerbeste!«, flüsterte er stolz. »Wenn ich hier herausgekommen bin, dann bekommst du von mir ein Riesensteak, das verspreche ich dir!«
Der Hund wuselte wie verrückt unter Wendelins streichelnder Hand umher und fiepte und quietschte, zwar ganz leise, aber unüberhörbar selig. Es fiel dem Mann sehr schwer, seinen treuen Freund jetzt wieder wegzuschicken, aber ihm blieb nichts anderes übrig. »Lauf, Streuner, lauf weg und versteck dich«, sagte er.
Aber irgendwann ist auch einmal der Gehorsam des folgsamsten Hundes erschöpft. Streuner lief zwar weg, aber nur so weit, dass er von der Böschung aus Anlauf nehmen konnte. Mit einem kraftvollen Sprung segelte er durch die kleine Luke und landete dem überraschten Wendelin genau zu Füßen. Dort machte er perfekt Sitz und schaute seinen Herrn mit schief gelegtem Kopf und blanken Augen an.
Na, was sagst du nun?, stand unmissverständlich in seinem spitzbübischen Blick zu lesen.
Wendelin musste lachen, setzte sich auf den Boden und umarmte seinen Hund so fest, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Streuner umarmte begeistert zurück. »Du bist schon so ein Kerl«, murmelte Wendelin liebevoll in das weiche Fell seines treuen Gefährten hinein, »was würde ich nur ohne dich anfangen.«
Ja, das frage ich mich auch, antwortete Streuner lautlos und streckte sich dann sehr zufrieden auf den Beinen seines Herrchens aus.
Wendelin genoss noch einen Augenblick die Nähe und Verbundenheit mit seinem besten Freund. Dann stand er auf, schloss beide Luken und begann damit, Bergmoosbach vor dem unverantwortlichen Handeln dieser Jagdgesellschaft zu warnen.
Zuerst rief er beim Förster an. Lorenz Breitner traute kaum seinen Ohren, als er hörte, wer da in seinen Wäldern freigesetzt werden sollte. »Ein Braunbär? Die Kerle müssen verrückt sein. Und dass du dort die Fallen gefunden hast, wundert uns nicht. Sehr gute Arbeit, Wendelin!« Er versprach, nichts zu unternehmen, bis auch die Polizei informiert worden war.
Als nächstes besprach Wendelin mit dem Leiter der dörflichen Polizeistation die Lage. Gregor Leutner war ebenso entsetzt wie Lorenz. »Da hat sich der feine Herr von Acker für eine ganze Menge zu verantworten«, knurrte Gregor. »Wie gut, dass du uns rechtzeitig warnen konntest. Wir kommen sofort und holen dich aus deinem Gefängnis raus.«
»Warte mal, Gregor, ich hab mir dazu schon ein paar Gedanken gemacht«, warf Wendelin hastig ein. »Wenn ihr sofort kommt, dann fliegen die sauberen Herren auf, ohne dass ihr den Bären habt. Was wird dieser Lastwagenfahrer mit dem Tier tun, wenn hier alle weg sind? Einer von denen kann ihn bestimmt noch informieren. Dann ist es doch möglich, dass er das Tier unterwegs irgendwo freilässt. Wäre es nicht besser, ihr erwischt hier alle zusammen?«
Gregor stimmte zu, aber er sagte auch: »Das würde bedeuten, dass du nicht nur diese Nacht, sondern möglicherweise auch noch morgen tagsüber in dem Holzschuppen gefangen bist. Willst du dir das tatsächlich antun?«
»Es ist nicht so schlimm, denn jetzt kann ich mich mit euch verständigen und außerdem ist mein Streuner bei mir«, erwiderte Wendelin gefasst.
Gregor musste trotz des Ernstes der Lage lachen. »Du und dein Kumpel, ihr seid schon ein unschlagbares Team.« Dann wurde er wieder ernst. »Was machst du, wenn die Kerle merken, dass das Handy vom Tisch verschwunden ist? Oder wenn sie Streuner bei dir entdecken? Das könnte für euch gefährlich werden.«
»Seitdem Kathi nicht mehr aufräumt, herrscht hier eine ziemliche Unordnung. Ich hoffe einfach, dass sie zwischen all dem schmutzigen Geschirr auf dem Tisch das Fehlen des Handys nicht bemerken«, antwortete Wendelin. »Und für Streuner baue ich gleich ein Versteck unter den Holzscheiten. Wenn jemand die Tür aufsperrt, hat er immer noch genug Zeit, darin zu verschwinden.«
»Du hast wohl an alles gedacht«, erwiderte der Polizist anerkennend.
»Ich hatte ja genügend Zeit«, schmunzelte Wendelin. Dann wurde er wieder ernst. »Die Kathi …, hast du vielleicht gehört, wie es ihr geht?«
Gregor berichtete kurz das, was er wusste.
»Und … man denkt, ich habe ihr das angetan?«, fragte Wendelin stockend.
»Nur ein paar«, antwortete Gregor unbehaglich. »Mach dir darum jetzt keine Gedanken, das kommt im Handumdrehen wieder in Ordnung. Übermorgen bist du hier ein Held.«
»Das will ich gar nicht sein«, sagte Wendelin sehr leise, »wenn nur ihr Vater …« Er verstummte.
»Darum kümmern wir uns später«, erwiderte Gregor energisch. »Jetzt plane ich mit Lorenz und seiner Frau den Einsatz. Wir bleiben in ständiger Verbindung.«
»In Ordnung. Ich schalte das Handy auf Vibrationsalarm und halte hier Augen und Ohren offen«, bestätigte Wendelin.
Während sich in Bergmoosbach die Schlinge um die verantwortungslosen Hobbyjäger zuzuziehen begann, harrte Wendelin weiter auf seinem unbequemen Wachtposten aus. Er schlief nicht, sondern döste nur zeitweise und wartete angespannt auf das, was der neue Tag bringen würde.
*
Für Kathi brachte der Tag ihre Entlassung aus dem Krankenhaus. Es war zunächst nicht ganz einfach, sich nur auf einem Bein und zwei Gehhilfen fortzubewegen. Vor allem das Treppensteigen musste geübt werden, aber auch das bekam sie rasch in den Griff. Anton Stübl holte seine Tochter aus dem Krankenhaus ab und hatte ihr im Garten, der nicht von den Gästen eingesehen werden konnte, einen gemütlichen Liegeplatz vorbereitet. Kathi freute sich über die liebevolle Vorsorge und streckte dankbar ihr eingegipstes Bein aus.
»So eine erzwungene Ruhe ist doch gar nicht mal nur schlecht, gell? Du arbeitest viel zu viel«, sagte ihr Vater liebevoll.
»Ich arbeite gern«, erwiderte Kathi, »Aber jetzt habe ich nichts dagegen, still unter unserem Birnbaum zu sitzen und mich auszuruhen. Von dem Sturz tut mir jeder Knochen weh. Endlich habe ich auch die Zeit, so lange zu lesen, wie ich mag, das ist herrlich. Tust du mir einen Gefallen, Papa? Holst du mir bitte diesen schönen Bildband, den Wendelin mir geschenkt hat? Jetzt kann ich jedes einzelne Bild in Ruhe genießen.«
Anton räusperte sich. »Ähm, den hat der Wendelin wieder mitgenommen«, sagte er.
»Wie bitte? Warum denn das?«, fragte Kathi erstaunt.
Jetzt musste ihr Vater mit der Sprache herausrücken. »Weil ich es ihm befohlen habe.«
»Papa!« Kathi fehlten die Worte. »Warum hast du das getan?«
»Ich dachte mir, dass du von jemandem wie ihm gewiss kein Geschenk haben willst«, erwiderte er heftig. »Du sollst durch das Buch nicht auch noch daran erinnert werden.«
Beunruhigt schaute die junge Frau ihren Vater an. »Papa, ich verstehe kein Wort. Woran soll ich nicht erinnert werden?«
»An das, was der Wendelin dir gestern angetan hat«, grollte Anton. »Wer weiß, was passiert wäre, wenn du dich nicht so tapfer gegen ihn zur Wehr gesetzt hättest.«
Es dauerte einen Augenblick, bis Kathi begriffen hatte. »Aber, Papa, das war doch nicht der Wendelin!«, rief sie erschrocken. »Er hat mir geholfen und mich verteidigt! Gisbert von Acker ist der Mann, mit dem ich die Auseinandersetzung hatte.«
»Meine Güte«, ächzte Paul, »bist du dir sicher?«
»Papa, ich hab mir zwar auch den Kopf gestoßen, aber nicht so, dass ich mein Gedächtnis verloren habe«, erwiderte Kathi heftig. »Was habt ihr nur immer alle mit dem Wendelin?«
»Mein Mädchen, ich glaube, jetzt ist es höchste Zeit, dass du alles der Reihe nach erzählst«, sagte ihr Vater beunruhigt.
Das tat Kathi, und Paul Stübl ließ den Kopf hängen. »Mei, da habe ich aber jemandem großes Unrecht getan«, antwortete er langsam. »Ich muss mir gut überlegen, wie ich das wiedergutmachen kann.«
»Tu das, Papa, das hat der Wendelin verdient. Ich werde ihn jetzt erst einmal anrufen und das Missverständnis wegen seines Buches bereinigen«, erwiderte Kathi und griff zum Handy.
»Dann hoffe ich, dass wenigstens du ihn erreichst«, sagte ihr Vater aufrichtig.
Kathi schaute überrascht auf. »Was soll das denn heißen?«
Paul Stübl musste schlucken. »Das soll heißen, dass man gestern den ganzen Tag und auch abends noch versucht hat, den Wendelin anzurufen. Niemand weiß, wo er ist, er und sein Hund sind einfach verschwunden.«
»Was? Wer hat denn versucht, ihn anzurufen?«, fragte Kathi alarmiert.
»Gregor Leutner. Die Polizei wollte sich mit ihm unterhalten«, murmelte Paul unbehaglich.
Kathi stöhnte auf. »Doch nicht etwa wegen meines Sturzes? Er wird öffentlich verdächtigt?«
Ihr Vater konnte nur beschämt nicken.
»Natürlich die Burgl!«, sagte Kathi grimmig. »Mit ihr rede ich sofort, wenn sie hier ist. Bitte schicke sie gleich zu mir, wenn du sie siehst, Papa. Zuerst muss ich mit Wendelin sprechen.«
Die junge Frau wählte seine Nummer, aber nur die Bandansage antwortete, dass der Angerufene zur Zeit nicht erreichbar sei. Kathi begann, sich große Sorgen zu machen. Sollte Wendelin in einer Art Kurzschlusshandlung Bergmoosbach einfach verlassen haben? Aber wohin sollte er denn gehen? Er war ganz allein.
Besorgt rief Kathi schließlich bei der Polizeistation an und bat, mit Gregor sprechen zu können. Man sagte ihr, er sei auf unbestimmte Dauer aus dienstlichen Gründen verhindert. Dieselbe Auskunft bekam sie auch im Forstamt, wo eine ähnlich lautende Bandansage lief. Selbst Tierärztin Rieke, die Frau des Försters, war heute nicht in der Praxis.
Sehr nachdenklich und alles andere als ruhig saß Kathi unter dem alten Birnbaum. Sie fand alles sehr merkwürdig und wünschte sich sehnlichst, das böse Missverständnis aufklären zu können, aber offensichtlich musste sie damit noch warten. Wenn sie nur wüsste, weshalb auch seine Freunde nicht zu erreichen waren.
Das lag ganz einfach daran, dass alle auf der Lauer lagen, um den LKW mit dem Bären abzupassen und die Jagdgesellschaft hochgehen zu lassen. Erschwert wurde die Aktion dadurch, dass Wendelin sein Handy nicht aufladen konnte. Inzwischen ging die Akkuleistung gegen Null. Er hatte das Mobiltelefon ausstellen müssen, um noch Bescheid sagen zu können, wenn der Transporter mit dem Bären eintraf.
Die Anrufe gestern hatte er nicht beantworten können, weil das Handy außer Reichweite lag. Jetzt konnte er nichts tun, weil er kaum noch Energie hatte, aber all das wussten weder Kathi noch die übrigen Bergmoosbacher.
*
Hinter Wendelin lag eine unruhige Nacht auf dem Fußboden des Holzschuppens. Gefroren hatte er zwar nicht, aber sehr unbequem war es gewesen. Sein Trost war Streuner, der eng an ihn gekuschelt schlief. Wendelin brauchte ihn nicht in sein Versteck zu schicken, weil Gisbert ihn die ganze Nacht in Ruhe ließ. Gegen Mittag brachte man ihm einen Becher Kaffee und Wurstbrote, die er mit seinem Hund teilte. Gisbert selbst hatte ihm das Essen gebracht, um sich zu überzeugen, dass im Schuppen buchstäblich noch alles hinter Schloss und Riegel war.
Wendelin sah sein höhnisches Grinsen und sagte: »Du weißt schon, dass das hier Freiheitsberaubung ist und dass du dafür zur Verantwortung gezogen wirst?«
Der andere Mann lachte gönnerhaft. »Ach, Wendelin, wer wird dir schon deine Räuberpistole von einer Bärenjagd und Gefangenschaft im Holzschuppen glauben?«
Wendelins Hand schloss sich um das Handy in seiner Hosentasche, und er dachte: mehr als du denkst! Er fragte ruhig: »Wisst ihr denn schon Genaueres, wann der Bär hier sein wird?«
Gisbert grinste triumphierend. »Der Fahrer hat angerufen. In einer Stunde wird er hier sein. Unsere Gewehre sind geladen und über mangelndes Büchsenlicht können wir uns nicht beklagen, gell? Die Jagd beginnt. Ich denke, dass du keine zweite Nacht im Schuppen verbringen wirst. Du bist ein Dummkopf, Wendelin, du hättest zusammen mit uns sehr viel Spaß haben können.«
»Glaub mir, den habe ich«, erwiderte Wendelin ernsthaft.
Gisbert lachte auf und verschloss wieder sorgfältig die Tür. Dann ging er zu seinen Gästen, die voller Ungeduld auf das Eintreffen des Transporters warteten.
Wendelin schaltete sein Handy ein und rief Gregor Leutner an.
»Alles klar, das Empfangskomitee ist bereit«, antwortete der Polizist grimmig. »Wir verteilen uns im Gelände. Nur noch ein bisschen Geduld, du hast es bald geschafft.«
»Viel Glück!«, konnte Wendelin noch sagen, dann brach die Verbindung ab. Jetzt war er ganz auf sich gestellt und konnte nur noch warten. Er setzte sich so, dass er durch die vordere Luke die Auffahrt im Auge behalten konnte und legte den Arm um Streuner. »Gut, dass wir zusammen sind«, raunte er ihm ins Ohr. Der Hund stupste seine Nase gegen Wendelins raue Wange und war völlig einer Meinung mit ihm.
Sie mussten nicht lange warten.
Bald hörte man Motorengeräusche, und ein weißer Transporter mit rumänischem Kennzeichen fuhr holpernd über den Waldweg. Er hielt im Hof, und der Fahrer stieg aus. Gisbert verständigte sich mehr schlecht als recht mit ihm und wies ihn an, die hintere Tür zu öffnen. Er und seine Gäste blieben in respektvollem Abstand stehen, alle hielten ihre Gewehre in den Händen.
Mit unbewegtem Gesicht entriegelte der Fahrer die Tür und schlug sie weit auf. Beißender Raubtiergeruch schlug den wartenden Männern entgegen, und sie wichen noch weiter zurück. Das Innere des Transporters war in einen Käfig mit dicken, rostigen Eisenstangen verwandelt. Auf dem Boden befand sich eine dünne Schicht von schmutzigem Stroh. An die Eisenstäbe war ein Wassereimer gelötet, in dem sich noch ein Rest fauliges Wasser befand. Und inmitten dieses Elends hockte ein großer, struppiger Braunbär, der gereizt in das grelle Tageslicht starrte, das plötzlich sein Gefängnis flutete.
»Der ist aber verdammt groß«, stellte Bernhard beeindruckt fest und wich vorsichtshalber noch einen Schritt zurück.
»Natürlich, sonst macht es doch keinen Spaß, ihn zu jagen«, antwortete Gisbert forsch.
»Grüß Gott, meine Herren!«, sagte plötzlich eine energische Stimme in seinem Rücken.
Gisbert fuhr herum und stand direkt einem Polizisten gegenüber.
»Was wollen Sie denn hier?«, fragte er völlig überrumpelt.
»Den Riesenblödsinn verhindern, den Sie und ihre Spezis hier veranstalten wollen«, erwiderte Gregor scharf und nahm Gisbert sein Jagdgewehr aus der Hand.
Der Mann war immer noch so verblüfft, dass er sich widerstandslos ergab.
Von der Luke aus beobachtete Wendelin, wie sich Gregors Kollegen um die anderen Männer kümmerten, die immer noch nicht so recht begriffen, wie ihnen geschah. Er sah eine furchtbar zornige Tierärztin, den nicht minder wütenden Förster und einen besorgten Landdoktor auf den Schuppen zukommen.
»Wendelin, ist alles soweit in Ordnung?«, rief Rieke ihm zu.
»Ja, sehr!«, rief er erleichtert zurück.
Die Schuppentür flog auf, und Wendelin und Streuner konnten in die Freiheit zurückkehren. Der Mann war gerührt von der warmherzigen Begrüßung seiner Freunde und überrascht, dass sogar der Landdoktor mitgekommen war.
»Ich wollte mich gleich selbst davon überzeugen, dass Ihnen nichts passiert ist«, antwortete Sebastian. »Haben Sie etwas dagegen, dass ich Herz und Kreislauf überprüfe? Die Zeit im Schuppen war zwar nicht gefährlich, aber Sie hatten großen Stress.«
Es ging Wendelin gut, wenn man vom steifen Rücken wegen des Schlafens zwischen Holzklötzen absah, aber das war nur eine Kleinigkeit.
Unter den verhinderten Jägern gab es Protest wegen des Polizeieinsatzes, aber der verhallte ungehört. Sie würden sich für das verantworten müssen, was sie geplant hatten. Gisbert steckte am tiefsten in Schwierigkeiten. Anstatt sich darauf zu besinnen, ärgerte er sich schwarz, dass seine Pläne durchkreuzt worden waren. Er schaute Gregor aus zusammengekniffenen Augen an und fragte: »Woher wussten Sie, was wir vorhaben? Wie haben Sie nur diese Punktlandung hingekriegt?«
»Wir hatten sehr gute und zuverlässige Unterstützung, die sich auch durch Freiheitsberaubung nicht einschüchtern ließ«, erwiderte Gregor und deutete auf Wendelin.
»Der Waldschrat?«, rief Gisbert verblüfft. »Aber den hatte ich aus dem Verkehr gezogen.«
»Und dummerweise unterschätzt«, erwiderte Gregor und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Auf geht’s.«
Die ganze Jagdgesellschaft musste mit aufs Revier und sich einem Haufen unbequemer Fragen stellen.
»Was geschieht jetzt mit dem armen Bären?«, erkundigte sich Wendelin mitfühlend.
»Er kommt in einen Naturpark nach Österreich, wo ihn hoffentlich ein besseres Leben erwartet, aber vorher untersuche ich ihn und werde diesen Saustall, in dem er weiter transportiert wird, saubermachen«, antwortete Rieke energisch.
»Du untersuchst ihn?«, fragte Wendelin besorgt.
Rieke blinzelte ihm zu und hob ein Betäubungsgewehr. »Vorher lege ich ihn aber schlafen«, antwortete sie.
Nachdem ihr Mann sich versichert hatte, dass das große Raubtier tatsächlich im tiefen Betäubungsschlaf lag und Rieke ungefährdet ihre Arbeit machen konnte, wandte sich Lorenz zu Wendelin um. »Danke für deine Hilfe«, sagte er herzlich. »Ohne dich hätte das hier ganz anders ausgehen können. Wenn erst einmal in der Umgebung bekannt ist, was hier losgewesen ist, wird es ein ziemliches Hallo geben. Fühlst du dich dem schon gewachsen oder möchtest du ein paar Tage freinehmen? Ich könnte mir vorstellen, dass jetzt ein bisschen Ruhe gar nicht schlecht ist.«
Wendelin dachte an das Gerede wegen Kathi, an die Fragen, mit denen man ihm an allen Ecken begegnen würde. »Die Idee ist nicht schlecht«, sagte er langsam. »Ich glaube, dass ich tatsächlich gern etwas frei hätte.«
»Das ist eine vernünftige Entscheidung«, stimmte Sebastian Seefeld zu.
»Ich glaube, Streuner und ich werden für ein paar Tage zu Schorsch auf die Grassner Alp gehen. In seinem Heustadl schläft es sich mit Sicherheit besser als im Holzschuppen«, erwiderte Wendelin.
Er und sein kluger Hund verabschiedeten sich und fuhren nach Hause. Nach einer heißen Dusche fühlte sich Wendelins Rücken schon viel besser an. Wie versprochen kaufte er Streuner ein herrliches, großes Steak, das der Hund begeistert verzehrte. Dann warf er ein paar frische Sachen in den Rucksack und fuhr zur Grassner Alm hinauf, um zwischen sich und die Ereignisse der letzten Tage ein wenig Abstand zu legen.
*
Die Ereignisse sprachen sich in Windeseile herum. Schon ehe am nächsten Tag ein großer Artikel im Bergmoosbacher Tagblatt und Berichte sogar in überregionalen Zeitungen erschienen waren, wusste man im Dorf und der Umgebung Bescheid. Wendelin Deggendorf war also ein Held, man kam aus dem Staunen nicht heraus. Einige wollten es kaum glauben, andere hatten es schon immer gewusst, die allermeisten waren froh und dankbar, dass alles so glimpflich abgelaufen war.
Kathi war fassungslos, als sie erfuhr, was sich nach ihrem Unfall beim Jagdschlösschen abgespielt hatte. Sofort rief sie Wendelin an und war sehr erleichtert, mit ihm sprechen zu können.
»Wendelin, es tut mir so leid, dass Gisbert auch dich noch am Wickel gehabt hat, und ich finde es unglaublich toll, wie du und Streuner ihn zur Strecke gebracht habt«, sagte sie mit sehr viel Wärme in der Stimme. Dann wurde sie ernst und klärte das Missverständnis mit dem Buch auf. »Meinem Vater tut es sehr leid, dass er so vorschnell geurteilt hat. Er will es dir noch selbst sagen und dich um Verzeihung bitten, aber ich wollte, dass du es jetzt schon weißt. Und dein Buch, Wendelin, das ist ein Traum, und ich hätte es sehr gern wieder zurück.«
Kathi konnte Wendelins glückliches Lächeln in seiner Stimme hören. »Das ist schön. Ich bringe es dir vorbei, wenn ich wieder im Dorf bin.«
»Denkst du daran, dass ich am nächsten Wochenende meinen Geburtstag nachfeiere?«, erinnerte Kathi ihn. »Du wolltest doch kommen, und ich hoffe sehr, dass es dabei bleibt. Ich vermisse dich, Wendelin.«
Er zögerte kurz, denn er hatte wenig Lust auf neugierige Fragen und öffentliches Interesse, aber Kathis Worte wogen alles andere auf. »Ich komme gern«, antwortete er. »Ich freu mich auf dich. Servus, Kathi, und pass auf dich auf.«
Das Gespräch war beendet, und Wendelin schaute in Gedanken versunken vor sich hin. Sein alter Freund Schorsch saß ihm gegenüber auf der Bank und beobachtete ihn über den Kopf seiner Meerschaumpfeife hinweg.
»Also du und die Kathi …«, sagte er bedächtig.
Wendelin seufzte. »So einfach ist das leider nicht.«
Schorschs blaue Augen funkelten schelmisch. »Weißt du, mein junger Freund, vieles regelt die Zeit, man muss es nur erwarten können.«
Wendelin antwortete mit ungläubigen Schweigen, und auch Schorsch sagte nichts mehr. Aus Erfahrung wusste er, dass die unglaublichsten Dinge passieren konnten, wenn man gar nicht mit ihnen rechnete.
Weit unten im Dorf wurden die Vorbereitungen für Kathis Geburtstag getroffen. Es hatte eine kleine Feier mit der Familie und wenigen Freunden werden sollen, die allmählich immer größere Kreise zog.
Es begann damit, dass Anton Stübl abends am Stammtisch gesagt hatte: »Ich hab einfach das Gefühl, dass meine persönliche Entschuldigung bei Wendelin nicht ausreicht, da müsste noch etwas anderes kommen.«
»Das sehe ich genauso, und ich hab da auch schon eine Idee«, hatte Lorenz energisch geantwortet.
Ein Wort ergab das andere, man telefonierte und organisierte und als der Samstag gekommen war, hatte man alles vorbereitet. Tische und Bänke vom ›Gamsbart‹ waren mit rot-weiß karierten Decken und roten Schleifen geschmückt, überall standen oder hingen Windlichter im Grün, und es duftete herrlich nach geröstetem Fleisch, würziger Sauce und frischem Brot. Als Wendelin kam, waren schon alle anderen Gäste versammelt und begrüßten ihn mit herzlichem Applaus.
Er war völlig überrascht und sagte verlegen: »Aber es geht hier nicht um mich, wir feiern doch Kathis Geburtstag.«
»Es geht sehr wohl um dich!«, antwortete Kathi laut und bestimmt. Sie trug ein kurzes, goldgelbes Sommerkleid, das mit grünen Farnwedeln bedruckt war, und sie leuchtete inmitten der Strahlen der Abendsonne. Zwischen ihren aufgesteckten dunklen Locken spitzten winzige Rosenknospen hervor, und wieder einmal brachte ihr unwiderstehliches Lächeln ihre Mondsichel zum Tanzen.
Wendelins Herz schmolz dahin, und er hatte Mühe, sich auf Bürgermeister Talhuber zu konzentrieren, der sich räusperte und zu einer kleinen Ansprache ansetzte. Er würdigte Wendelins Einsatz, seine Umsicht und Geduld, mit der er dem Treiben dieser unseriösen Jagdgesellschaft ein Ende bereitet hatte.
Wendelin war gerührt und ein wenig verlegen über diese öffentliche Anerkennung und staunte nicht schlecht, als jetzt auch noch Kathis Vater das Wort ergriff. Anton Stübl entschuldigte sich wegen seines vorschnellen Verdachts und erwähnte, wie fürsorglich Wendelin sich um seine verletzte Tochter gekümmert hatte. Als Dank für das, was er für Kathi persönlich und zum Schutz der Gemeinde getan hatte, überreichte Anton ihm einen stattlichen Gamsbart als Zeichen seiner Jägerwürde.
Das war in jeder Hinsicht ein großartiges Geschenk. Solch einen prächtigen Gamsbart zu besitzen, war einer von Wendelins geheimen Wünschen gewesen. Voller Freude nahm er die Trophäe entgegen.
»Diesen Schmuck hat sich Wendelin mehr als verdient«, ergriff jetzt auch noch Lorenz das Wort. »Jeder Förster, der solch einen fleißigen und zuverlässigen Mitarbeiter hat, kann sich glücklich schätzen. Bei all dem Verwaltungskram, der inzwischen zu unserem Beruf hinzugekommen ist, platzt unser Forsthaus aus allen Nähten. Deshalb hat der Gemeinderat beschlossen, das Jagdschlösschen als zweiten Dienstsitz anzumieten.« An dieser Stelle brandete Beifall auf, und man nickte zustimmend. »Das Gebäude soll nicht mehr den größten Teil der Zeit leer stehen, es braucht einen zuverlässigen, handwerklich begabten Bewohner, der sich außerdem um das große Waldgrundstück kümmert. Wer könnte das besser als Wendelin Deggendorf? Die Dienstwohnung wird mit Strom und einer Zentralheizung ausgestattet, sodass man selbst im tiefen Winter dauerhaft dort leben kann, auch ein Badezimmer wird angebaut. Was sagst du, Wendelin, kannst du dir vorstellen, dort draußen im Wald zu wohnen?«
»Mit dem größten Vergnügen«, antwortete er wie aus der Pistole geschossen.
Lorenz und Rieke hoben ihre Gläser und prosteten ihm lächelnd zu. »Dann ist es also abgemacht. Du packst deine Sachen und ziehst ins alte Jagdschlösschen.«
Wendelin schluckte, lachte und hielt eine kurze, humorvolle Dankesrede, die manchen überraschte, am allermeisten ihn selbst. »Ich freue mich riesig über eure Anerkennung, aber sind wir nicht eigentlich hier, um Kathis Geburtstag zu feiern? Genug von mir, lassen wir sie endlich hochleben!«, rief er und legte wie selbstverständlich den Arm um ihre Schultern.
Alle lachten, stimmten das Geburtstagsständchen an, und dann verteilten sich die Gäste an den vielen Tischen. Bei den Seefelds schaute sich Tochter Emilia kopfschüttelnd um. »Meine Güte, kaum ist man mal ein paar Tage mit seiner Freundin und deren Familie verreist, passieren die wildesten Dinge: Fallensteller, Freiheitsberaubung, eine verhinderte Bärenhatz – hier ist tatsächlich jede Menge los. Was ist eigentlich mit Burgl Krämser? Sie war ja nicht ganz unschuldig an dem Gerede, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Sie ist für ein paar Tage zu ihrer Schwester ins Karwendel gefahren, nachdem Kathi sie gezwungen hatte, sich bei Wendelin persönlich zu entschuldigen«, antwortete Traudel mit einem unergründlichen Lächeln.
»Oha, das ist bestimmt nicht einfach für sie gewesen«, erwiderte Anna.
»Nein«, sagte Traudel und fügte ehrlich hinzu: »Irgendwie kann ich das sogar ein wenig verstehen. Ich habe auch meine Zeit gebraucht, um zu sehen, dass Wendelin nicht mehr der heimtückische Junge ist, der unterm Tisch heimlich unseren uralten Hund getreten hat. Oder das erwachsene Großmaul, das im Leben nichts auf die Reihe brachte.«
»Es brauchte eben seine Zeit, dass Wendelin sich verändern konnte. Zeit und, ich glaube, auch einen ganz besonderen Menschen«, antwortete Sebastian lächelnd und griff nach Annas warmer und vertrauter Hand.
»Also Kathi Stübl. So wie sie ihn bei den Reden angestrahlt hat, kann nur sie es sein.« Emilia schaute sich suchend um. »Wo sind sie eigentlich? Wollte Kathi nicht jetzt ihren phänomenalen Geburtstagskuchen anschneiden, den ihre Freundinnen ihr gebacken haben?«
Das hatte sie auch vorgehabt, nur war ihr etwas Wichtiges dazwischen gekommen.
Wendelin hatte ihr das Buch noch einmal überreicht, und gemeinsam blätterten sie einige der wunderschön gestalteten Seiten um. Kathi hatte ihre Gehhilfen zur Seite gelegt, um beide Hände frei zu haben, und stand auf nur einem Bein, das eingegipste hatte sie leicht angewinkelt. Plötzlich kam sie ins Wanken und verlor fast das Gleichgewicht. Wendelin fing sie auf und nahm sie auf seine Arme. »Da habe ich mir wohl ein wenig zu viel zugemutet, ich muss mich für einen Moment hinsetzen. Trägst du mich zum Sofa hinüber in die Stube?«, bat sie.
Ich würde dich bis ans Ende der Welt tragen, dachte Wendelin. Er hielt sie behutsam fest und wünschte insgeheim, der Weg ins andere Zimmer möge kein Ende nehmen. Umsichtig setzte er sie auf dem Sofa ab und sorgte dafür, dass sie das eingegipste Bein bequem lagern konnte.
»Möchtest du allein sein und dich ausruhen?«, fragte er rücksichtsvoll.
»Nein. Ich möchte, dass du dich zu mir setzt und wir uns unterhalten«, antwortete Kathi. »Alle haben sich bei dir entschuldigt, nur ich noch nicht. Du hast ganz früh erkannt, dass Gisbert der Fallensteller ist, und ich habe den Verdacht verlacht. Du glaubst nicht, wie leid mir das tut.«
»Das ist schon in Ordnung und vergessen«, antwortete Wendelin mit einem aufrichtigen Lächeln. »Gisbert ist weg und wird die Folgen seines Handelns zu spüren bekommen. Das Jagdschlösschen bekommt einiges an modernem Komfort, und ich werde darin wohnen. Irgendwie kann ich es noch nicht so ganz glauben.«
»Freust du dich darauf?«
»Ja, sehr, obwohl ich noch gar nicht weiß, was ich mit dem ganzen Platz anfange. Eigentlich ist das Haus zu groß für mich und Streuner«, sagte er nachdenklich.
»Ich finde es gut, dass du jetzt so viel Platz hast«, antwortete Kathi und schaute ihm direkt in die Augen. »Dann kann ich bleiben und muss nicht immer wieder wegfahren, wenn wir uns treffen.«
Wendelin sah goldene Fünkchen in ihren dunklen Augen tanzen und das zarte Perlmutt, das ihre schön geschwungenen Lippen berührte. Wie im Traum hob er die Hand und fuhr zart mit den Fingerspitzen über die Konturen ihrer Wangen.
»Du kannst bleiben, solange du willst«, antwortete er atemlos.
»Jetzt gleich?« Die Fünkchen in ihren Augen wurden zu einer goldenen Flamme, die sein ganzes Leben erhellte. »Das Jagdschlösschen steht doch jetzt leer, gell? Was hältst du davon, wenn wir es heute Nacht als dein Haus einweihen?«, flüsterte sie.
»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, antwortete er leise. Als sein Kuss ihre Lippen berührte, wusste Wendelin, dass sein altes Leben endgültig hinter ihm lag und die wahre Liebe auf ihn wartete.
Still und leise verließ das Paar die anderen Gäste, fuhr unbemerkt vom Hof und zu dem alten Anwesen mit seiner bewegten Geschichte hinaus. In dieser Nacht wurde das ehemalige Jagdschlösschen zu ihrem Waldhaus, in dem sie mit ihrer Liebe die Schatten der Vergangenheit aufhoben und ihre gemeinsame Zukunft begannen.