Читать книгу Der neue Landdoktor Staffel 9 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 9

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Fenja schaute auf die Berge, als sie mit ihrer Freundin Kendra auf dem Balkon frühstückte. Das kleine Einfamilienhaus, in das sie und ihre Eltern vor einem Jahr gezogen waren, lag in der Neubausiedlung von Bergmoosbach. Das Leben in dem Tal mit seinen Wiesen und Feldern am Fuße der Allgäuer Alpen sollte ihr helfen, ihre Ängste zu überwinden, die sie schon so lange plagten. Bisher aber war das nicht passiert.

»Es war doch eine gute Idee von mir, hier bei dir zu wohnen, solange deine Eltern fort sind, nicht wahr, Schätzchen«, lobte sich Kendra und streichelte über Fenjas Hand.

»Du hast deine geliebte Stadt verlassen, um mir zwei Wochen lang Gesellschaft zu leisten, das weiß ich zu schätzen.«

»Ich bin gern hier bei dir. Es ist doch schön, wenn wir beide mal wieder richtig viel Zeit miteinander verbringen.« Kendra, eine attraktive dunkelhaarige Schönheit mit hellen blauen Augen, betrachtete Fenja mit einem gewinnenden Lächeln.

»Am schönsten wäre es, wenn ich meine Eltern auf diese Reise hätte begleiten können.«

»Ich bitte dich, Fenja, was hat diese eine Reise schon zu bedeuten? Deine Eltern arbeiten als Reiseleiter für ein großes Touristikunternehmen, sie sind ständig unterwegs. Irgendwann bist du so weit und begleitest sie wieder auf die eine oder andere Tour. Das wird schon werden«, versicherte ihr Kendra.

»Ich bin da nicht so zuversichtlich wie du.« Fenja spielte mit dem Pferdeschwanz, zu dem sie ihr rotblondes Haar gebunden hatte, während sich ihre braunen Augen mit Tränen füllten.

»Du schaffst das«, machte Kendra ihr Mut.

»Ich mache aber keine Fortschritte. Seitdem wir hier wohnen, habe ich noch kein einziges Mal dieses Grundstück verlassen.«

»Du brauchst Geduld, Fenja. Agoraphobie ist kein Schnupfen.«

»Nein, sie ist eine Geisel, die mich daran hindert, ein normales Leben zu führen. Ich habe nicht nur Angst vor öffentlichen Plätzen, wie viele Leute glauben, ich habe vor allem Angst vor dem, was da draußen ist. Ich steuere bereits auf einen Panikanfall zu, wenn ich nur daran denke, dass ich weiter als in den Garten gehen soll.« Fenja umfasste ihre Kaffeetasse mit beiden Händen, um das Zittern ihrer Finger auszugleichen.

»Hier bist du in Sicherheit, alles ist gut«, sagte Kendra und streichelte Fenja über das Haar.

»Ich habe meine Arbeit wegen dieses Zustandes aufgeben müssen«, seufzte Fenja, nachdem sie ihre Tasse wieder abgestellt hatte.

»Du hast eine neue gefunden, die dir Spaß macht. Oder ist das nicht mehr so?«

»Poesie für Glückskekse zu schreiben, ist nicht wirklich erfüllend, aber ich mache es ganz gern. Mein Traum, wieder als Journalistin für eine große Zeitung zu arbeiten, wird sich wohl nicht erfüllen.« Fenja belegte die beiden Hälften eines Vollkornbrotes mit einer Scheibe Allgäuer Käse, schnitt eine Tomate in Scheiben und legte sie auf den Käse.

Sie und Kendra hatten beide vor fünf Jahren als junge Journalistinnen bei derselben Zeitung in München angefangen. Sie musste dort aufhören, Kendra war geblieben und auf dem besten Weg, schon bald die Redaktionsleitung zu übernehmen.

»Irgendwann ist Gras über diese Sache gewachsen, dann bekommst du deine Chance. Warum gehst du eigentlich nicht mehr zur Gesprächstherapie?«

»Weil es mir nichts gebracht hat. Vielleicht war es auch die falsche Therapeutin. Ich konnte mich ihr nie so richtig öffnen. Meine Vermutung, dass die Fotos, die damals in dieser Boulevardzeitung von mir veröffentlicht wurden, der Auslöser für meine Panikanfälle waren, ließ sie nicht gelten. Sie meinte, ich sollte mir eingestehen, dass ich schon weit vorher labil war und dass ich diese Tat begangen hätte, um einen Grund zu haben, mich zurückzuziehen. Sie geht wohl davon aus, dass diese Fotos nicht gefälscht wurden.«

»Das fällt auch schwer. Sie sehen verblüffend echt aus.«

»Jeder, der sich ein bisschen mit Bildprogrammen auskennt, und dazu gehört so gut wie jeder, der in der Redaktion eines Verlages arbeitet, kann ein Foto auf diese Weise fälschen. Ich habe damals ein Mikrophon in der Hand gehalten, das musste derjenige nur durch eine Wodkaflasche austauschen.«

»Ja, ich weiß, aber derjenige hat es nicht nur gut hinbekommen, sondern perfekt.«

»Könnte es sein, dass du mir auch nicht wirklich glaubst? Denkst du auch, ich hätte Tanngruber damals Wodka in seine Limonade gekippt, als ich mit ihm in dieser Bar am Tresen saß, nur um diesen Artikel über sein Alkoholproblem zu schreiben?«

»Er hat behauptet, dass er zu dieser Zeit bereits trocken war, nur deshalb hat er diesem Interview überhaupt zugestimmt, um ein Beispiel dafür zu sein, dass man es schaffen kann, sich aus der Abhängigkeit zu befreien.«

»Das weiß ich, dass das der Grund war, aber er war nicht geheilt. Ich habe seine Fahne gerochen und den Flachmann in seiner Jackentasche gesehen. Ich habe auch nicht geschrieben, dass er noch abhängig ist, nur, dass er noch einen langen Weg vor sich hat.«

»Sicher, und den Rest konnte sich jeder denken«, entgegnete Kendra lächelnd.

»Vermutlich hatte er sich weniger im Griff, als er glaubte. Deshalb brauchte er jemanden, der für seinen angeblichen Rückfall die Verantwortung trägt.«

»Ja, mag sein, aber wenigstens hat er sein Amt als Richter niedergelegt, und diese Fehlurteile, die sein eingeschränktes Bewusstsein produziert hatte, wurden schnell revidiert.«

»Dafür sitzt er jetzt im Landtag und wartet auf den Sprung nach Berlin. Dass er mich damals als ehrgeizige Journalistin, der jedes Mittel recht ist, ihre Karriere zu fördern, dargestellt hat, hat ihn vermutlich seine Wahl gewinnen lassen, während ich von allen Seiten angefeindet wurde. Vielleicht hatte er es sogar genauso geplant. Ein Mann, der alles tut, um gesund zu werden, und dann derart hinterlistig wieder in die Abhängigkeit getrieben wird, der wird doch schon aus Mitgefühl gewählt.«

»Ich habe keine Ahnung, was seine tatsächlichen Beweggründe waren. Vergiss diese Zeit einfach, sieh nach vorn, Schätzchen. Es ist halt damals dumm gelaufen. Ich meine, wer hätte ahnen können, dass der Verlag, der unsere Zeitung zwei Monate zuvor übernommen hatte, seinem Cousin gehört. Der hatte natürlich kein Interesse daran, deine Seite der Geschichte zu vertreten.«

»Ich weiß«, seufzte Fenja.

»Es war doch ein großes Glück, dass deine Eltern damals auf der Tourismusmesse diesem Landtagsabgeordneten begegnet sind.«

»So kann man das nicht sagen, sie sind ihm nicht zufällig begegnet.«

»Ja, ich weiß, er hat ihre Namen an dem Stand des Tourismusunternehmens gelesen, für das sie arbeiten, und hat sie angesprochen.«

»Richtig, weil in diesem Artikel über mich auch meine Eltern mit vollem Namen erwähnt wurden.«

»Der Artikel war gut geschrieben. Zusammen mit den Fotos hatte er wohl jeden überzeugt.«

»Herr Kruse gehörte zu den wenigen, die mir glaubten.«

»Das hat er eindrucksvoll bewiesen, als er deinen Eltern von diesem Haus erzählte, das damals zum Verkauf stand, nachdem er wusste, dass sie mit dir aufs Land ziehen wollten.«

»Bergmoosbach ist sein Heimatdorf, hier wohnt seine Familie. Er hätte dieses Haus nie erwähnt, wenn er mich für schuldig gehalten hätte.«

»Natürlich nicht. Hätte er befürchtet, dass du ihn eines Tages im Kreise seiner Lieben auf irgendeine Weise brüskierst, hätte er das niemals getan«, versicherte ihr Kendra. »Nach dem Frühstück würde ich gern meinen Artikel für die Wochenendausgabe fertigstellen. Ist es in Ordnung für dich, wenn ich mich für zwei, drei Stunden in mein Zimmer zurückziehe?«, wollte Kendra wissen.

»Aber ja, ich muss auch arbeiten. Ich habe morgen Abgabetermin und mir fehlen noch drei Sprüche.«

»Eine Wolke ohne Regen wird nichts bewegen.«

»Stimmt«, entgegnete Fenja lachend. »Eine Regenwolke dagegen sorgt für Beschleunigung, zumindest was Fußgänger und Radfahrer betrifft, die sich noch schnell irgendwo unterstellen wollen.«

»Vielleicht sollte ich auch Glückskeksdichterin werden«, sagte Kendra und gab sich nachdenklich.

»Das würde dich nicht glücklich machen.«

»Nein, vermutlich nicht, dieses Leben wäre mir auf Dauer zu ruhig, ich brauche das Abenteuer. Recherchen vor Ort, neue Leute kennenlernen und was sonst noch so dazugehört. Sorry, ich wollte dir nicht wehtun«, entschuldigte sie sich, als Fenja traurig zu Boden schaute, weil sie sich diese Abenteuer, die auch sie früher geliebt hatte, nicht mehr zutraute.

»Du musst dich nicht entschuldigen, du bist ja nicht für meinen Gemütszustand verantwortlich.«

»Reden wir nicht mehr davon«, sagte Kendra und nahm sich noch eine Tasse Kaffee.

Eine Viertelstunde später zog sie sich ins Gästezimmer im Dachgeschoss zurück. Fenja räumte den Tisch ab, stellte das Geschirr in die Spülmaschine und ging in ihr Arbeitszimmer im Erdgeschoss. Es war ein großer Raum mit einem direkten Zugang zur Terrasse.

Sie schaltete ihren Computer an, nahm auf dem türkisfarbenen Drehsessel Platz und sah in den Garten hinaus.

So machte sie es immer, bevor sie mit ihrer Arbeit begann. Auch Rituale gehörten inzwischen zu ihrem Alltag. Rituale waren der Faden, der ihr Halt gab, den Tag ohne Angst zu bewältigen.

Die Taxushecke war inzwischen gut eineinhalb Meter hoch und beschützte den Garten mit seinen Fliederbüschen und Magnolienbäumchen, die sie gepflanzt hatte. Die hohe Hecke gab ihr das Gefühl von Sicherheit und schenkte ihr gleichzeitig die Freiheit, sich auch draußen aufhalten zu können.

Sie dachte einen Moment lang über Kendras Poesievorschlag nach, verwarf ihn dann aber wieder und entschied sich für die positive Variante: Eine Wolke wie Schnee tut niemandem weh.

*

Während Fenja über ihre Poesiesprüche nachdachte, schrieb Kendra nicht an ihrem Artikel, wie sie es angekündigt hatte. Sie verfolgte einen ganz anderen Plan. Sie hatte die Drohne aus ihrem Koffer geholt, von der sie Fenja kein Wort erzählt hatte und auch nicht erzählen würde, weil sie niemals erfahren durfte, für wen sie diese Aufgabe übernommen hatte.

Bevor sie die Drohne auf ihren geplanten Einsatz schickte, wollte sie noch einmal mit ihrem Auftraggeber sprechen. Vielleicht hatte er inzwischen noch weitere Informationen, um die Reise der Drohne effektiver zu gestalten.

»Ich grüße Sie, Doktor Tanngruber«, sagte sie, nachdem der Landtagsabgeordnete sich gemeldet hatte. »Die Drohne ist startklar. Ich werde heute zuerst den Hof der Kruses filmen, und danach das Dorf aus der Luft inspizieren.«

»Machen Sie so viele Aufnahmen wie möglich. Kruse und seine Frau halten sich noch bis nächste Woche in diesem Kaff auf. Irgendetwas werden wir doch finden, was ihn davon abhält, gegen mich für den Bundestag zu kandidieren.«

»Wir brauchen nur genug Bildmaterial, dann lässt sich schon etwas Passendes konstruieren. Sie kennen meine Fähigkeiten.«

»Ja, allerdings. Niemand hat damals an der Echtheit der Fotos gezweifelt, die für das berufliche Aus ihrer Freundin gesorgt hatten. Sie haben es einfach geglaubt, diese ahnungslosen Zeitungsgläubigen«, stimmte der ehemalige Richter ihr lachend zu.

»Bleibt es bei Ihrem Versprechen? Wir hatten damals ausgemacht, dass ich innerhalb eines Jahres die Redaktionsleitung übernehmen werde.«

»Mein Bruder wird Ihnen im nächsten Monat die Leitung übertragen. Schneller ging es nicht. Ihre Kollegen hätten sich sonst gefragt, wie Sie so schnell aufsteigen konnten. Das wäre weder in Ihrem noch in meinem Interesse gewesen.«

»Schon klar.«

»Sollte es uns gelingen, Kruse als meinen Konkurrenten auszuschalten, dann werde ich einen Listenplatz für Berlin erhalten, und wenn ich erst einmal dort bin, kann ich sicher noch mehr für Sie tun.«

»Berichterstattung aus Brüssel würde mir gefallen.«

»Das lässt sich sicher arrangieren. Was ist mit unserer gemeinsamen Freundin? Ahnt sie, was Sie in ihrem Haus treiben?«

»Nein, natürlich nicht. Das einsame Blümchen ist so dankbar, dass ich bei ihm bin. Fenja käme niemals auf die Idee, dass ich ein anderes Ziel mit meinem Besuch verfolge, als für sie da zu sein. Sie ist so herrlich naiv«, antwortete Kendra mit einem höhnischen Lachen.

»Die junge Dame hatte sich zweifellos zu viel zugetraut. Sie ist an sich selbst gescheitert.«

»So ist es, Doktor Tanngruber.«

»Nun, meine liebe Kendra, dann werden wir jetzt meinem Mitstreiter in Sachen großer Politik beweisen, dass auch er sich ein wenig zu viel zutraut.«

»Deshalb bin ich hier. Ich lasse Ihnen das Bildmaterial zukommen, sobald ich wieder in München bin.«

»Dann auf gutes Gelingen«, sagte Tilo Tanngruber und beendete das Gespräch.

Kendra hatte nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil sie Fenjas Karriere mit diesen von ihr bearbeiteten Fotos beendet hatte. Sie war davon überzeugt, dass Fenja ihren Beruf sowieso irgendwann hätte aufgegeben müssen, weil sie mehr an der Wahrheit als an den guten Beziehungen der Zeitung zur Politik und Justiz interessiert war. Fenja war viel zu zart besaitet, um dieses Spiel zu verstehen, das jeder beherrschen musste, der Erfolg haben wollte. Letztendlich hatte sie ihr einen Gefallen damit getan, dieses Fotos und den passenden Artikel dazu an die Boulevardzeitung zu schicken.

Fenjas ehemalige Gesprächstherapeutin vermutete, dass Fenja ihre Karriere selbst beenden wollte, was bedeutete, dass auch sie Fenja nicht für stark genug hielt, in diesem Beruf zu bestehen. Sie hatte Fenja also nur einen Freundschaftsdienst erwiesen, der es ihr erspart hatte, dass sie Jahre ihres Lebens im falschen Beruf vergeudete. Sie wird diesen Schock irgendwann überwinden und dann ein geruhsames Landleben führen, überlegte Kendra.

Sie packte die Drohne und ging hinaus auf den Dachbalkon. Zuerst schickte sie die Drohne zum Krusehof, dessen genaue Lage sie anhand von GPS-Daten ermittelt hatte. Nachdem die Drohne den Hof mit seinen Feldern und Stallungen aufgenommen hatte, wollte sie sich ein Gesamtbild des Dorfes verschaffen. Sie entschied, die Drohne höher als erlaubt über Bergmoosbach kreisen zu lassen, um ein größeres Gebiet erfassen zu können.

Da das Dorf nicht in einer Einflugschneise lag, hielt sie es für ungefährlich. Sie steuerte die Drohne zunächst zur Burgruine, die in direkter Linie zu Fenjas Haus lag, und wollte sie von dort in einem weiten Bogen über das Dorf fliegen lassen.

*

Pascal hatte sich an diesem Vormittag freigenommen. Der junge Fluglehrer aus Garmisch hatte erst am Nachmittag wieder Schüler, die sich als Piloten für Sportmaschinen ausbilden lassen wollten. Pascal nutzte die freie Zeit für einen Flug mit seinem Gleitschirm. Paragliding bedeutete für ihn absolute Freiheit, ein Gefühl, das ihm stets half, sein inneres Gleichgewicht zu finden.

An diesem Morgen war er von dem Berg oberhalb der Bergmoosbacher Burgruine gestartet. Er glitt über das Tal hinweg und genoss die Aussicht, die sich ihm bot. Das Dorf mit seinem bevölkerten Marktplatz, der Rathausturm mit dem vergoldeten Wetterhahn auf seiner Spitze, der in der Sonne funkelte. Die Gehöfte, die von Feldern umgehen außerhalb des Dorfes lagen.

Was ist das?, dachte er, als er plötzlich ein merkwürdiges Brummen hörte, über das er aber nicht weiter nachdenken konnte, weil sich gleich darauf etwas in seinem Schirm verhedderte.

Keine Panik, du bekommst das hin, beruhigte er sich, als die Strömung unter dem Schirm abriss und er im freien Fall auf das Dorf zuraste. Es gelang ihm zwar, den Schirm noch ein wenig zu steuern, den Absturz konnte er aber nicht verhindern. Als er die Taxushecke entdeckte, die direkt unter ihm lag, ließ er sich fallen und hoffte, dass er in der Hecke landen würde. Die Bäumchen mit ihren weichen Nadeln würden seinen Sturz abfedern.

Fenja hatte das Fenster zum Garten geöffnet und schaute auf, als sie einen großen Schatten wahrnahm.

»O Gott!«, schrie sie laut auf, als sie den roten Gleitschirm sah, der sich über ihre Taxushecke legte. Für einen Moment war sie wie erstarrt, weil ihr klar war, dass zu dem Gleitschirm auch jemand gehörte, der ihn gesteuert hatte.

Als sich unter dem Schirm etwas bewegte, wurde sie aus ihrer Schockstarre erlöst. Sie sprang auf, nahm ihr Telefon, das auf dem Schreibtisch lag, und rannte in den Garten. Als sie die Hecke erreichte, hatte Pascal sich bereits aus dem Schirm befreit und rutschte auf den Rasen.

»Was ist mit Ihnen? Sind Sie verletzt?« Fenja ging neben ihm in die Hocke und sah ihn besorgt an.

»Ich bin mir nicht sicher. Im Moment tut mir alles weh«, antwortete Pascal. »Gebrochen habe ich mir aber wohl nichts«, stellte er fest, nachdem er zuerst seine Arme und danach seine Beine vorsichtig bewegte.

»Wissen Sie was, bleiben Sie erst einmal liegen. Ich rufe einen Arzt.« Fenja rief die Nummer der Bergmoosbacher Landarztpraxis auf, die sie für Notfälle in ihr Handy einprogrammiert hatte.

»Praxis Seefeld, Sie sprechen mit Gerti Fechner«, meldete sich die Sprechstundenhilfe.

»Hallo, hier ist Fenja Kirchner. In meinem Garten ist ein Mann gelandet.«

»Gelandet, aha, und gefällt er Ihnen?«, fragte Gerti lachend.

»Nein, ich meine, ich weiß nicht, jedenfalls brauchen wir einen Arzt.«

»Was genau ist bei der Landung passiert?«

»Der Mann ist mit seinem Gleitschirm abgestürzt und in meiner Taxushecke gelandet. Er ist ansprechbar und hat sich offensichtlich nichts gebrochen. Aber nach so einem Sturz….

»Wie ist die Adresse?«, wurde sie von Gerti unterbrochen. »Doktor Seefeld ist gleich bei Ihnen«, versicherte ihr Gerti, nachdem sie ihr ihre Adresse genannt hatte.

»Danke«, sagte Fenja und beendete das Gespräch.

»Tut mir leid, dass ich Ihre Hecke verwüstet habe, Fenja«, sagte Pascal und schaute auf die abgeknickten Äste der Bäumchen, die seinen Sturz recht gut abgefangen hatten.

»Die Hecke kann stolz auf sich sein, sie hat Sie vor Schlimmerem bewahrt.«

»Sie meinen, ich habe ihrem Dasein einen tieferen Sinn gegeben?«

»Ich denke, so könnte man sagen«, antwortete Fenja lächelnd. »Da Sie bereits meinen Namen kennen, verraten Sie mir auch Ihren?«, fragte sie den Mann in dem roten Overall und der gelben Regenjacke.

»Pascal Malen, aber bleiben Sie bei Pascal, dann kann ich Sie weiterhin Fenja nennen. Fenja, die Beschützerin.«

»Sie interessieren sich für die Bedeutung der Namen?« Er sieht ziemlich gut aus, dachte sie, als er den Helm absetzte, den er während seines Fluges getragen hatte, und sie mit seinen grünbraunen Augen anschaute.

»Eigentlich ist es das Hobby meiner Schwester. Aber sie hat mich in unserer Kindheit ständig an ihrem Wissen über Namen teilhaben lassen, dass ich mir einige gemerkt habe.«

»Falls Sie kein Telefon bei sich haben und jemanden anrufen wollen, Ihre Schwester, Ihre Frau oder Ihre Freundin, können Sie meines nehmen«, sagte Fenja.

»Ich werde erst einmal abwarten, wie das hier ausgeht, bevor ich jemanden anrufe. Meine Frau oder meine Freundin wird das allerdings nicht sein, weil es weder die eine noch die andere gibt.«

»Tut mir leid.«

»Das muss Ihnen nicht leidtun. Mir wird die Richtige schon eines Tages begegnen. Ist Ihnen schon der Richtige begegnet?«, fragte er und hielt ihren Blick fest.

»Nein, aber über was unterhalten wir uns da gerade?«, wunderte sich Fenja über den Verlauf des Gespräches.

»Wir lernen uns gerade kennen, außerdem lenkt mich unsere Unterhaltung von meinen diversen Schmerzen ab. Aber es gibt doch jemanden, den ich über meine Lage informieren sollte. Meinen Freund und Kollegen, der mich mit dem Gleitschirm den Berg hinaufgefahren hat, und nun in Mainingberg auf meine Landung wartet.«

»Hier, bitte«, sagte Fenja und reichte ihm ihr Telefon.

»Hallo, Toni«, meldete sich Pascal, als sein Freund das Gespräch annahm.

»Verdammt, Pascal, wo steckst du? Du warst plötzlich vom Himmel verschwunden«, entgegnete Toni aufgeregt.

»Ich hatte einen kleinen Unfall, mach dir keine Sorgen, mir geht es gut. Fahr zurück zur Flugschule, du hast doch in einer Stunde einen Schüler«, sagte Pascal, nachdem er auf seine Armbanduhr geschaut hatte, die den Absturz heil überstanden hatte.

»Unsinn, ich komme zu dir. Wo bist du?«

»Ich bin in guten Händen, glaube mir, du musst dir absolut keine Sorgen machen.«

»Die mache ich mir aber.«

»Sagen Sie ihm, dass er sich keine Sorgen machen muss«, wandte sich Pascal an Fenja und gab ihr das Telefon.

»Hallo, Toni, ich bin Fenja. Pascal ist in meinem Garten gelandet. Es scheint ihm ganz gut zu gehen. Ich habe aber trotzdem einen Arzt gerufen, der ihn untersuchen wird.«

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich um ihn kümmern.«

»Das gehört zum Service, wenn jemand in meinem Garten landet«, erklärte Fenja lächelnd und gab Pascal das Telefon.

»Alles klar, mein Freund, ich melde mich später wieder bei dir.«

»Vergiss es nicht. Die junge Dame hat eine schöne Stimme und sie hat Humor. Wäre sie nicht etwas für dich?«, fragte Toni.

»Wir werden sehen, bis später«, sagte Pascal.

»Erwarten Sie jemanden?«, fragte Pascal, nachdem er das Gespräch beendet hatte, Fenja das Telefon zurückgab und sie nachdenklich zum Haus hinüberschaute.

»Ich wundere mich, dass meine Freundin, die oben im Gästezimmer ist, noch nicht hier ist. Die Balkontür steht offen. Sie müsste den Absturz mitbekommen haben.« Vielleicht war sie aber auch gerade ins Schreiben vertieft, sah auf den Bildschirm ihres Laptops und hatte Kopfhörer auf, um dabei Musik zu hören, dachte sie. Sie rief Kendras Nummer in ihrem Handy auf, weil sie wusste, dass sie ihr Telefon immer neben den Bildschirm legte, damit sie durch das Vibrieren auf eingehende Anrufe aufmerksam wurde.

»Ja, was ist?«, meldete sie sich auch gleich.

»Ein Paraglider ist in meinen Garten gestürzt«, sagte Fenja.

»Wie bitte?«

»Komm runter und sieh es dir an.«

»Ich bin gleich da.« Kendra saß auf dem Bett im Gästezimmer und war noch immer geschockt von dem Unfall, den sie mit der Drohne verursacht hatte. Das Wichtigste war jetzt, die Drohne zu sichern. Aber das musste im Verborgenen passieren. Keiner der Beteiligten würde sie einfach mit der Drohne davonmarschieren lassen. Das Unfallopfer nicht, falls es ansprechbar war, und Fenja auch nicht. Ihre Hoffnung war, dass sie die Drohne noch nicht gefunden hatten.

*

»Wie ist denn das passiert?«, spielte Kendra die Verwunderte, als sie in den Garten kam.

»Das ist mir selbst noch nicht ganz klar«, antwortete ihr Pascal, der sich vorsichtig aufgesetzt hatte.

Das heißt, er hat die Drohne nicht bemerkt und bisher auch nicht entdeckt, dachte Kendra. Sie konnte erst einmal aufatmen.

»Kendra, das ist Pascal«, stellte Fenja ihrer Freundin den verunglückten Paraglider vor.

»Ich hoffe, Sie sind nicht ernsthaft verletzt.«

»Auch das ist mir noch nicht klar.«

»Hast du den Rettungsdienst angerufen?«, wollte Kendra von Fenja wissen.

»Nein, ich habe in der Praxis Seefeld angerufen. Doktor Seefeld wird gleich hier sein.«

»Der Mann ist aus großer Höhe abgestürzt, und du rufst einen kleinen unbedarften Landarzt? Er könnte etwas übersehen, was den Verunglückten das Leben kostet«, raunte Kendra Fenja zu. Ihre Besorgnis war nicht gespielt. Sollte der Mann schwer verletzt sein und herauskommen, dass ihre Drohne für den Unfall verantwortlich war, dann würde sie sich wegen fahrlässiger Körperverletzung verantworten müssen, da sie die erlaubte Flughöhe verlassen hatte.

Falls er den Absturz nicht überlebte, würde die Strafe noch um einiges höher ausfallen.

»Doktor Seefeld ist bei der Bergwacht, er wird oft zu Notfällen gerufen. Und klein ist er auch nicht«, stellte Fenja fest. Sie schaute auf den Mann, der mit einer Arzttasche in der Hand aus dem dunklen Geländewagen stieg, der vor ihrem Gartentor angehalten hatte. Er war groß und schlank, hatte dunkles Haar, und sein Gang war unglaublich elegant.

»Er ist euer Landarzt?« Kendra war von Sebastians Anblick so beeindruckt, dass sie für einen Moment vergaß, in welch missliche Lage sie geraten würde, sollte sie die Drohne nicht finden und verschwinden lassen.

»Ich sehe ihn heute auch zum ersten Mal«, antwortete Fenja leise. »Danke, Doktor Seefeld, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte sie, als Sebastian nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt war.

»Kein Problem. Sie sind das Unfallopfer?«, wandte er sich an Pascal, der sich auf seinem rechten Arm seitwärts abstützte, weil das im Moment die bequemste Stellung für ihn war.

»Für jemanden, der vor ein paar Minuten mit seinem Gleitschirm abgestürzt ist, sehe ich noch ganz munter aus, nehme ich an.«

»Da stimme ich Ihnen zu«, entgegnete Sebastian lächelnd. Er stellte seine Arzttasche auf dem Rasen ab und ging neben Pascal in die Hocke. Nachdem er seinen Blutdruck gemessen und ihn abgehört hatte, tastete er seine Rippen, Arme und Beine behutsam ab, testete behutsam die Beweglichkeit seines Nackens und die Reaktion seiner Pupillen auf Lichteinstrahlung.

Fenja und Kendra standen ein paar Schritte von den beiden entfernt und hofften, dass Sebastian keine ernsthaften Verletzungen feststellte. Fenja aus reinem Mitgefühl für den jungen Mann und Kendra aus Sorge, sie könnte für ihren Leichtsinn bestraft werden, was Tilo Tanngruber gar nicht gefallen würde. Auf seine Unterstützung in Bezug auf ihre Karriere konnte sie dann nicht mehr bauen.

»Eine leichte Rippenprellung, mehr kann ich nicht feststellen«, sagte Sebastian schließlich.

»Das heißt, ich kann mir ein Taxi rufen und nach Hause fahren?«, fragte Pascal.

»Nein, auf keinen Fall. Sie sollten sich unbedingt im Krankenhaus noch einmal gründlich untersuchen lassen.«

»Sie denken, ich könnte mir innere Verletzung zugezogen haben?«

»Oder eine Verletzung am Rückgrat. Ich will nur sicher gehen, dass es nicht so ist. Sie machen auf mich nicht den Eindruck, als hätten Sie etwas zu befürchten«, beruhigte Sebastian den jungen Mann. »Nach einem Aufprall aus dieser Höhe sollten Sie aber kein Risiko eingehen. Ich rufe jetzt einen Krankenwagen, einverstanden?«

»In Ordnung«, willigte Pascal ein.

»Wie kam es denn zu dem Absturz?«, fragte Sebastian, nachdem er einen Krankenwagen angefordert hatte.

»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Irgendetwas hat den Schirm getroffen und zum Absturz gebracht. Ich glaube, mich zu erinnern, ich hätte kurz vor dem Zusammenprall ein leises Brummen gehört.«

»Welche Art Brummen?«, fragte Kendra. Er wird doch hoffentlich noch nicht ahnen, was ihn getroffen hat, dachte sie und fühlte ihr Herz schneller schlagen.

»Ich habe es nicht lange genug gehört, um es beschreiben zu können. Möglicherweise habe ich mich auch getäuscht. Vielleicht hat auch ein Flugzeug etwas verloren, was mich dann getroffen hat.«

»Bergmoosbach wird doch gar nicht von Flugzeugen überflogen«, entgegnete Kendra.

»Doch, es gibt eine Flugroute über dem Tal, allerdings auf einer Höhe von zwölf Kilometern. In dieser Höhe nimmt man sie fast nie wahr. Es könnte sich ein Eisklumpen gelöst haben, der sich am Fahrwerkschacht gebildet hatte, zu Boden fiel und meinen Schirm streifte.«

»Sie kennen sich nicht nur mit Namen aus, sondern auch mit Flugzeugen?«, fragte Fenja lächelnd.

»Flugzeuge sind mein Hobby und mein Beruf. Ich gebe Flugstunden in Garmisch.«

»Welche Maschinen?«, wollte Kendra wissen.

»Sportmaschinen und Segelflugzeuge.«

»Interessant.« Kendra war sicher, dass ein junger Fluglehrer sich auch mit Drohnen auskannte. Sobald er den Schock über den Absturz überwunden hatte, würde er das Brummen, das er gehört hatte, richtig deuten. Sie musste sich etwas einfallen lassen, um diesen Verdacht von vornherein zu zerstreuen.

Als kurz darauf der Krankenwagen eintraf, kamen zwei Sanitäter mit einer Trage in den Garten, und Sebastian half ihnen, Pascal auf die Trage zu legen. »Und bitte, erst aufstehen, wenn ein Arzt es Ihnen ausdrücklich erlaubt. Das heißt, Sie müssen das Untersuchungsergebnis abwarten«, erklärte Sebastian seinem Patienten.

»Ich werde mich daran halten, Doktor Seefeld«, versprach Pascal.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie mehr wissen?«, fragte Fenja.

»Das mache ich. Schicken Sie mir eine SMS, damit ich Ihre Nummer habe. Mein Handy ist irgendwo in einer Tasche meiner Jacke vergraben.«

»Wie ist Ihre Nummer?« Fenja lief neben der Trage her, die die Sanitäter inzwischen angehoben hatten. Sie tippte die Nummer, die Pascal ihr ansagte, gleich in ihr Telefon und speicherte sie unter ›Pascal‹ ab. Bevor die Sanitäter die hintere Tür des Krankenwagens schlossen, versprach ihr Pascal, dass er im Laufe des Tages jemanden vorbeischicken würde, der den Gleitschirm abholte.

»Ich bin zu Hause«, sagte sie und wünschte ihm gute Besserung. Danach bedankte sie sich noch einmal bei Sebastian Seefeld für seine Hilfe.

»Falls wieder jemand in Ihrem Garten landet, Sie haben ja meine Nummer«, entgegnete Sebastian lächelnd und verabschiedete sich von Fenja.

Erst als der Krankenwagen losgefahren war und Sebastian in seinen Wagen stieg, wurde Fenja klar, dass sie außerhalb ihres Grundstückes auf der Straße stand.

Im selben Moment begann ihr Herz schneller zu schlagen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und brachte sich hinter dem Gartentor in Sicherheit.

*

Kendra war über die Hecke gebeugt und zerrte an dem Gleitschirm, als Fenja kurz darauf wieder in den Garten kam. »Was hast du vor?«, fragte sie die Freundin, als sie sich aufrichtete und sie anschaute.

»Ich dachte, ich lege das Ding zusammen.«

»Das können wir auch demjenigen überlassen, der den Schirm abholt.«

»Er wird abgeholt?«

»Ja, Pascal will jemanden vorbeischicken.«

»Gut, aber ich kann ihn trotzdem vorher aus der Hecke befreien.«

»Wenn du meinst, dann holen wir ihn da raus«, sagte Fenja und wollte mitanpacken.

»Nein, Schätzchen, das mache ich allein. Du solltest dich jetzt unbedingt ein wenig ausruhen. Du musst diese Aufregung erst einmal verarbeiten.«

»Du denkst, ich könnte im Nachhinein noch darauf reagieren?«

»Ich hoffe es nicht. Aber manchmal wirkt so ein Schock nach. Wir sollten kein Risiko eingehen. Das Beste ist, du machst dir einen Baldriantee, legst dich hin und hörst ein paar Stücke deiner Entspannungsmusik über Kopfhörer. Dann wird sicher nichts passieren.«

»Ich fühle mich im Moment zwar ganz gut, aber vielleicht hast du recht, ich sollte kein Risiko eingehen«, stimmte Fenja dem Vorschlag der Freundin zu.

»Es ist mit Sicherheit besser so«, beteuerte Kendra mit besorgter Miene.

»Aber sei bitte vorsichtig mit dem Schirm. Wir sollten ihm nicht noch mehr Schaden zufügen.«

»Keine Sorge, ich passe auf.« Kaum war Fenja ins Haus gegangen, zerrte Kendra wieder mit beiden Händen an dem Schirm. Es war ihr völlig egal, welchen Schaden dieses Stück Stoff davontrug. Sie musste den Schirm von der Hecke herunterbekommen, um nachsehen zu können, ob sich die Drohne vielleicht irgendwo darunter in den Zweigen des Taxus‘ verhakt hatte.

Als sie den Schirm endlich von der Hecke gelöst hatte, breitete sie ihn auf dem Rasen aus und suchte nach Spuren der Drohne. Wie es aussah, hatte sie keine hinterlassen, zumindest nicht auf den ersten Blick. Vermutlich war sie gegen den Schirm geprallt, hatte sich in dem Stoff verwickelt und war während des Absturzes wieder herausgefallen. Die Frage war, wo sie gelandet war?

Kendra suchte zuerst die Seite der Hecke ab, auf die Pascal gestürzt war, danach nahm sie sich die gesamte Hecke vor, untersuchte die Blumenbeete und Büsche, aber die Drohne blieb verschwunden. Nachdem sie den Garten zweimal abgesucht hatte, ging sie davon aus, dass die Drohne nicht hier heruntergekommen war. Sie musste ihren Suchradius erweitern.

Bevor sie sich einen Plan zurechtlegte, welche Richtung sie einschlagen sollte, ging sie ins Haus, um etwas zu trinken. Sie fühlte sich von der anstrengenden Suche ganz ausgelaugt. Sie setzte sich an den Tisch in der Küche und schaute auf die mintfarbenen Lackmöbel der Einbauschränke, die wirklich gut zu dem Tisch und den Stühlen aus dunklem Holz passten. Geschmack haben sie, die Kirchners, dachte sie, während sie eine halbe Flasche Wasser trank und zwei Schokoladenkekse mit Cremefüllung aß, die sie im Kühlschrank gefunden hatte.

»Du siehst erschöpft aus. Hast du zwei Stunden lang mit dem Gleitschirm gekämpft?«, wunderte sich Fenja, die aus ihrem Arbeitszimmer kam und auf ihre Armbanduhr schaute.

»Er hatte sich in den Ästen der Hecke verheddert. Ich habe aber zwischendrin immer mal Pause gemacht. Hast du ein bisschen geschlafen?«, wollte Kendra wissen. Sie hoffte, dass es so war. Sollte Fenja sie beobachtet haben, würde sie sich mit Sicherheit fragen, wonach sie im Garten gesucht hatte.

»Ich bin tatsächlich eingeschlafen. Ich denke, du hattest recht, es hat mir gutgetan, mich ein wenig auszuruhen.«

»Ich weiß eben, was du brauchst, deshalb bin ich auch hier und leiste dir Gesellschaft. Ich nehme an, du setzt dich jetzt an deinen Schreibtisch?«

»Das hatte ich vor.«

»Darf ich mir dein Fahrrad ausleihen?«

»Hattest du noch nicht genug Bewegung?«

»Doch, aber ich würde einfach mal gern die Gegend erkunden. Ich könnte uns dann etwas zum Abendessen mitbringen, dann müssten wir nichts kochen. Oder wäre es dir lieber, wenn ich da bliebe?«

»Nein, schon in Ordnung, sieh dir nur die Gegend an. Ich bin leider nicht in der Lage, sie dir zu zeigen«, seufzte Fenja.

»Noch nicht, Schätzchen, aber das wird schon wieder«, entgegnete Kendra und setzte ein zuversichtliches Lächeln auf.

»Ich arbeite daran. Wie wäre es mit einem Sandwich? Oder sind die Kekse dein Mittagessen?«

»Ich habe im Moment keinen großen Hunger. Wir essen heute Abend zusammen. Ich muss ein bisschen raus.«

»Schon klar, viel Spaß«, sagte Fenja, als Kendra sich von ihrem Platz erhob.

»Danke, bis später.«

»Bis später«, murmelte Fenja, als Kendra die Küche verließ und gleich darauf die Haustür hinter ihr zufiel. Mir entgeht so viel, dachte sie, während sie zwei Weißbrotscheiben mit Käse und Salat belegte. Aber diese Ängste hatten sie nun einmal fest im Griff.

Sie aß das Sandwich im Stehen am Küchenfenster und schaute auf die Einfamilienhäuser gegenüber, die versetzt an einen Hang gebaut waren und genau wie ihr Haus zur Bergmoosbacher Neubausiedlung gehörten. Alle waren im alpenländischen Stil erbaut, weißer Verputz, rote Dachschindeln und aus Kiefernholz gedrechselte Balkongeländer. Die Gärten waren terrassenförmig angelegt, aber kleiner als die auf ihrer Seite der Straße, die an der Rückseite der Häuser an einen Feldweg grenzten.

Manchmal beobachtete Fenja das Treiben draußen vor ihrer Tür und wünschte sich, noch einmal ein Kind sein zu dürfen, ohne Sorgen und ohne diese Ängste, die sie schon so lange daran hinderten, am Leben außerhalb ihrer Sicherheitszone teilnehmen zu können. Hin und wieder wechselte sie ein paar Worte über den Gartenzaun hinweg mit den Hindelangs, ihren Nachbarn von gegenüber. Die Hindelangs waren erst vor einiger Zeit aus Hannover ins Allgäu gezogen, was gerade ihrer Tochter Doro am Anfang nicht gefiel.

Inzwischen hatte sie viele neue Freunde gefunden und war froh darüber, dass ihr Vater damals die Stelle als Filialeiter der Sparkasse in der Kreisstadt angenommen hatte. Ihre Mutter hatte vor einigen Wochen die von ihr heißersehnte Stelle als Kindergärtnerin in Bergmoosbach bekommen, was die Verbundenheit der Hindelangs mit dem Dorf noch weiter stärkte. Würde ich mich nach draußen wagen, hätte ich mir sicher auch einen neuen Bekanntenkreis aufbauen können, dachte Fenja. Es machte sie traurig, dass es nicht so war.

Als sie zurück in ihr Arbeitszimmer ging, dachte sie wieder daran, dass sie Pascal zum Krankenwagen begleitet hatte, und fragte sich, ob sie vielleicht schon weiter war, als sie bisher angenommen hatte. Immerhin hatte sie das Grundstück verlassen, ohne es überhaupt zu bemerken. Offensichtlich war ihr das Gespräch mit Pascal in diesem Moment so wichtig gewesen, dass ihre Ängste keine Chance hatten. Vielleicht sollte ich mich öfter mit ihm unterhalten, dachte sie lächelnd. »Unsinn, von was träume ich denn«, sagte sie leise. Pascal war ein unternehmungslustiger Mann, er würde sich nicht für eine Frau interessieren, die es nicht einmal schaffte, allein einkaufen zu gehen.

So wie sie es mit ihm ausgemacht hatte, schickte sie ihm eine SMS: »Gute Besserung, Fenja«, schrieb sie. Sie war gespannt, ob er ihr antworten würde.

*

Kendra fuhr im Schritttempo durch die abgemähten Weizenfelder hinter dem Haus der Kirchners. Sie bremste das Fahrrad immer wieder ab und schaute sich um. Aber die Drohne war nirgendwo zu sehen. Mit dem Fernglas, das sie bei sich hatte, konnte sie die stoppeligen Felder gut überblicken. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welche Anstrengungen sie die Suche ein paar Wochen zuvor gekostet hätte, als der Weizen noch hoch auf den Feldern stand.

»Ich brauche ein System«, flüsterte sie und setzte das Fernglas wieder ab. Sie legte es in den Einkaufskorb, der auf dem Hinterrad des türkisfarbenen Rades befestigt war, und zog ihr Handy aus der Jeanstasche. Sie loggte sich in das Internet ein, ließ sich eine Karte des Gebietes anzeigen und markierte die Strecke, die sie die Drohne hatte fliegen lassen. Wenn sie nicht ganz falsch lag, musste die Drohne genau über einem Waldstück in Pascals Schirm geflogen sein. Vielleicht war sie aber auch in den Bach gestürzt, der an den Feldern entlang in Richtung Dorf rauschte, oder in einen Garten in der Nachbarschaft.

Bei dem Gedanken, jemand könnte die Drohne vor ihr finden, wurde ihr ganz heiß. Einen Absturz auf einen weichen Boden würde sie auf jeden Fall überstanden haben. Ihre einzige Hoffnung war, dass sie auf einem Felsen aufgeschlagen war und zerstört wurde, dann konnte niemand mehr das Filmmaterial sichten.

Dass ein Paraglider über Bergmoosbach abgestürzt war, würde sich schnell herumsprechen. Ein Fluglehrer kannte viele Leute, die wieder viele Leute kannten. Falls jemand die Drohne fand und sie noch funktionierte, würden die Filmaufnahmen verraten, wo sie gestartet war. Die Spur würde unweigerlich zu Fenja und schließlich zu ihr führen.

Schließlich überzeugte sie sich davon, dass die wahrscheinlichste Absturzstelle im Wald zu vermuten war. Um in das Waldstück zu gelangen, musste sie die Straße zur Jugendherberge hinauffahren, die sie nur über die Brücke hinter dem Rathaus erreichte. »Also dann«, murmelte sie und machte sich auf den Weg.

Ziemlich protzig für ein Dorf, dachte sie, als sie an dem imposanten Gebäude mit seinem prächtigen Portal und dem hochaufragenden Turm vorbeikam. Sie zuckte verächtlich mit den Schultern, als sie auf den bevölkerten Marktplatz gegenüber schaute. Die Häuser mit ihren Lüftlmalereien, der alte Brunnen, die historischen Straßenlaternen, alles erschien ihr künstlich und nur für Touristen erschaffen. Das Messingschild, das am Brunnen befestigt war und darauf hinwies, dass er 1759 von einem Johannes Schwartz gestiftet wurde, ignorierte sie.

Hätte sie nicht diese Mission mit der Drohne erfüllen wollen, wäre sie niemals auf die Idee gekommen, länger als einen Tag in diesem Dorf zu verbringen. Ein Dorf hatte einfach nichts zu bieten. Obwohl, wenn man hier einen Grund hat, zum Arzt zu gehen, dann hat es schon etwas zu bieten, dachte sie schmunzelnd.

»Geht’s noch?!«

»Verzeihung«, entschuldigte sie sich und machte einen Schlenker um die Frau in dem weißen Hosenanzug, die sie beinahe mit ihrem Fahrrad gestreift hätte, weil sie an Sebastian Seefeld gedacht hatte.

»Alles gut, Miriam?«, erkundigte sich der Mann in dem eleganten Anzug, der aus dem Rathaus kam und die Treppe hinuntereilte.

»Es ist mir nichts passiert, Harald«, sagte Miriam Holzer, die Erbin des Bergmoosbacher Sägewerks, und warf ihre langen blonden Locken zurück.

»Manche Leute kennen nur sich«, schimpfte Harald, als Kendra sich noch einmal umdrehte, bevor sie in den Weg neben dem Rathaus einbog.

»Lass es gut sein, gehen wir weiter«, bat Miriam ihren Assistenten, der ihr beruflich und privat immer zur Seite stand.

»Irgendwo habe ich diese Frau schon gesehen«, sagte Harald und fuhr sich nachdenklich durch sein stufig geschnittenes rotes Haar.

»Da wir sie nicht kennen, ist sie vermutlich eine Touristin, und die begegnen dir überall hier im Dorf.«

»Ich denke, ich habe sie nicht in Bergmoosbach gesehen. Es war woanders.«

»Ist es wichtig für dich herauszufinden, wo das war? Willst du sie gern wiedersehen?«

»Nein, will ich nicht, vergiss es einfach wieder.«

»Dann lass uns weitergehen«, sagte Miriam und hakte sich bei Harald unter.

Eine halbe Stunde später hatte Kendra den Teil des Waldes erreicht, in dem sie die Drohne vermutete. Sie hatte das Fahrrad den halben Weg den Berg hinaufgeschoben, weil es nur ein Dreiganggetriebe besaß und sich für einen steilen Anstieg nicht eignete. Warum sollte sich jemand, der nie das Haus verlässt, auch Gedanken über die Gangschaltung machen, dachte sie und lehnte das Rad an einen Baum neben der schmalen Straße, die zur Burgruine hinaufführte.

Das wird nicht leicht, dachte sie, als sie auf den bewaldeten Hang schaute, in dem sie nach der Drohne suchen wollte. Die Tannen standen dicht beieinander und ließen nur wenig Licht hindurch. Zusätzlich erschwerte der Farn, der dort überall wuchs, die Suche. »Hilft ja nichts«, murmelte Kendra und stapfte in ihren Wanderschuhen, die sie zu Jeans und Pullover trug, in den Wald.

*

Fenja verfiel immer wieder ins Träumen, während sie an ihrem Computer saß und nach sinnvollen Sprüchen suchte, die sich als Glückskeksweisheiten eigneten. Sie stellte sich vor, wie es wäre, Pascal wieder zu sehen, vielleicht sogar mit ihm ausgehen zu können. Bisher hatte er sich noch nicht bei ihr gemeldet, vielleicht war das auch das Beste für sie. Sie würde sein Leben nur komplizieren.

Später am Nachmittag holte ein älterer Mann, der als Mechaniker am Flugplatz in Garmisch arbeitete, Pascals Gleitschirm ab. Er versicherte ihr, dass es Pascal gutging. Sie wollte sich schon damit abfinden, dass sie von ihm nichts mehr hören würde, als kurz darauf ihr Handy läutete und der Name Pascal auf dem Display aufleuchtete. »Hallo, Pascal, wie geht es Ihnen?«, fragte sie ihn und sah hinaus in den Garten auf die Hecke, auf der er gelandet war.

»Mir geht es schon wieder ganz gut. Doktor Seefeld hatte recht. Ich habe nur eine leichte Rippenprellung. Sie wollen mich aber zwei Tage zur Beobachtung hier behalten.«

»Das sind gute Nachrichten.«

»Ja, allerdings. Wurde der Schirm schon abgeholt?«

»Vor ein paar Minuten.«

»Gut. Was Ihre Hecke betrifft, ich komme natürlich für den Schaden auf.«

»Der Schaden lässt sich noch nicht beziffern. Vielleicht reicht es, wenn wir die Bäumchen zurückschneiden.«

»Wir? Sagten Sie nicht, Ihre Freundin wohnt im Gästezimmer? Ich dachte, sie sei nur zu Besuch bei Ihnen«, wunderte sich Pascal.

»Das stimmt auch. Wir bezieht meine Eltern mit ein. Ihnen gehört das Haus. Sie sind im Moment verreist. Eigentlich sind sie die meiste Zeit des Jahres verreist. Sie arbeiten als Reiseleiter für ein Tourismusunternehmen.«

»Das heißt, Sie haben sicher auch schon viel von der Welt gesehen.«

»Ich habe sie hin und wieder begleitet.« Was ich auch irgendwann wieder tun werde, dachte sie.

»Sie könnten mir von diesen Reisen erzählen. Was ich damit sagen will, ich würde mich freuen, wenn Sie mich besuchen würden«, sagte Pascal.

»Sie besuchen?«

»Tut mir leid, das war wohl keine gute Idee«, entschuldigte er sich, weil er Fenjas überraschte Nachfrage als Ablehnung verstand.

»Doch, natürlich, das ist eine gute Idee. Ich würde Sie sehr gern besuchen. Ich war nur überrascht.«

»Weil ich Sie gern wiedersehen möchte?«

»Wir kennen uns ja kaum.«

»Das würde ich gern ändern. Wie wäre es mit morgen Vormittag?«

»Einverstanden, ich werde Sie besuchen.«

»Also dann, bis morgen.«

»Bis morgen«, sagte Fenja und beendete das Gespräch. Ich werde es schaffen. Ich will ihn unbedingt wiedersehen, und er will mich offensichtlich auch wiedersehen, dachte sie. Sie würde ihm einfach von Anfang an die Wahrheit über sich sagen, dann konnte er selbst entscheiden, ob er sich noch ein weiteres Mal mit ihr treffen wollte.

Als Kendra eine Stunde später von ihrer Fahrradtour zurückkam, stand Fenja vor ihrem Kleiderschrank und dachte darüber nach, was sie für ihren Besuch im Krankenhaus anziehen sollte. Sie besaß so viele Kleider, die sie schon lange nicht mehr getragen hatte.

»Hallo, Süße, was hast du denn vor? Willst du dich für unser Abendessen hübsch machen?«, fragte Kendra lächelnd, als sie auf der Suche nach Fenja in ihr Schlafzimmer kam.

»Pascal hat vorhin angerufen.«

»Wie geht es ihm?«, fragte Kendra und sah Fenja skeptisch an. Sie würde doch nicht etwa planen, Pascal zu besuchen?

»Doktor Seefelds Diagnose hat sich bestätigt. Er hat nur eine leichte Rippenprellung.«

»Dann hatte er wohl einen Schutzengel.«

»Könnte man so sagen. Er muss zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Ich werde ihn morgen besuchen.« Fenja zog ein langärmeliges Kleid aus brombeerfarbener Viskose aus dem Schrank. »Was denkst du, kann ich das anziehen? Oder wirkt es zu übertrieben für einen Vormittag im Krankenhaus?«

»Für einen Krankenbesuch musst du dich nicht so in Schale werfen.« Zumal du ohnehin nicht dorthin gehen wirst, dachte Kendra. Das würde den Plan, den sie sich zurechtgelegt hatte, zerstören. Da sie die Drohne bisher nicht gefunden hatte, musste sie unbedingt in Kontakt mit Pascal bleiben, um herauszufinden, was er tatsächlich über die Ursache seines Absturzes wusste.

»Was ist mit dir? Warum bist du auf einmal so nachdenklich?«, riss Fenja sie aus ihren Gedanken.

»Ich mache mir Sorgen um dich, Schätzchen, und zwar ernsthaft.«

»Warum?«, fragte Fenja und sah auf das Kleid, das sie an die Tür des Kleiderschrankes gehängt hatte.

»Wenn ich das richtig sehe, gefällt dir dieser Mann.«

»Schon«, gab Fenja mit einem schüchternen Lächeln zu.

»Wenn das so ist, dann solltest du ihn auf keinen Fall im Krankenhaus besuchen. Ich meine, ein Krankenhaus, hältst du das wirklich für den geeigneten Ort, um deine Belastbarkeit zu testen?«

»Zumindest bekäme ich gleich Hilfe, sollte ich ohnmächtig werden oder mich sonst irgendwie unwohl fühlen.«

»Mag sein, aber wie würde das auf Pascal wirken? Du weißt, wie es dir geht, wenn du einen Panikanfall bekommst, dass du dann nicht mehr klar denken kannst.«

»Ich werde ihm von meiner Krankheit erzählen.«

»Falls du es noch vor dem Panikanfall schaffst. Ich meine, wenn er dich unvorbereitet so erlebt, dann wird er sich so seine Gedanken um deinen Zustand machen.«

»Sollte mir so etwas passieren, dann kann ich es ihm doch später erklären.«

»Ja, sicher, das kannst du. Aber dann hat er schon diese Bilder im Kopf. Er kennt dich doch noch gar nicht und dann sieht er dich, vor Angst schwitzend und mit weit aufgeris­senen panischen Augen. Was würdest du denn umgekehrt denken, wenn er dir so begegnen würde und du hättest keine Ahnung, was das zu bedeuten hat?« Kendra gab sich äußerst besorgt.­

»Ich weiß nicht«, entgegnete Fenja verunsichert.

»Willst du wirklich riskieren, dass er dich so sieht? Ich meine, du kannst dich doch auch in ein paar Tagen mit ihm treffen. Du lädst ihn zum Kaffee zu dir ein und erzählst ihm in aller Ruhe, was mit dir los ist. Wäre das nicht der bessere Weg, wenn du darauf aus bist, ihn näher kennenzulernen?«

»Auf jeden Fall wäre es der leichtere Weg. Andererseits habe ich mich bereits auf diesen Besuch im Krankenhaus eingestellt. Ich denke, ich werde das schaffen.«

»Fenja, denk nach, wenn du wirklich mehr von ihm willst, dann sollte er dich als selbstbewusste junge Frau sehen und nicht als Nervenbündel, das heulend neben seinem Bett auf den Boden sinkt.«

»Das ist ein gruseliges Bild, das du da gerade von mir zeichnest.«

»Aber genauso würde es auf ihn wirken – gruselig. Stellt sich die Frage, ob es dir am Ende nicht auch schrecklich peinlich wäre, wenn er Zeuge einer deiner Panikanfälle wäre. Vielleicht würdest du ihn dann gar nicht mehr treffen wollen.«

»Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Vermutlich wäre es mir peinlich, äußerst peinlich sogar. Du hast recht, ich sollte nicht riskieren, dass so etwas passiert«, lenkte Fenja ein.

»Gute Entscheidung«, antwortete Kendra sichtlich erleichtert.

»Und was sage ich ihm jetzt?«

»Du sagst ihm gar nichts. Ich werde jetzt gleich zu ihm in die Klinik fahren, ihm einen Strauß Blumen von uns bringen und ihm erklären, dass du einen unerwarteten Auftrag bekommen hast, den du schnellstmöglich erledigen musst, und dass du dich bei ihm melden wirst, sobald du damit durch bist.«

»Klingt das nicht nach einer Ausrede? So, als wollte ich ihn gar nicht sehen?«

»Ich werde das schon so formulieren, dass er es richtig versteht.«

»Du wirst ihm aber bitte nichts von meiner Krankheit erzählen, das möchte ich selbst tun.«

»Versprochen.«

»Danke, dass du mich nicht einfach hast losrennen lassen«, sagte Fenja und streichelte Kendra über den Arm.

»Dafür sind Freundinnen da, dass sie aufeinander aufpassen.«

»Ehrlich gesagt, ich dachte schon, dass dir an unserer Freundschaft nicht mehr so viel liegt. Wir hatten in den letzten Monaten nicht besonders viel Kontakt.«

»Ich hatte einfach viel zu tun. Aber zeichnet das nicht auch eine gute Freundschaft aus, dass man sich auch nach einer längeren Ruhepause immer noch gut versteht und genau da weitermachen kann, wo man aufgehört hat?«

»Du hast recht. Es liegt wohl an meiner selbst gewählten Isolation, dass ich mich manchmal verstoßen fühle, obwohl ich doch diejenige bin, die sich zurückgezogen hat.«

»Lass es gut sein, wir müssen nicht über so etwas nachdenken. Ich bin hier, wir verstehen uns, alles andere ist doch nicht wichtig.«

»Stimmt, du bist hier, und darüber freue ich mich«, antwortete Fenja lächelnd. Als Kendra sie vor ein paar Wochen anrief, um sie zu fragen, ob sie sie besuchen dürfe, hatte sie ihr von der Reise ihrer Eltern erzählt. Kendra hatte sofort angeboten, solange zu ihr zu kommen. Sie musste Kendras Freundschaft nicht hinterfragen, ihr schien wirklich etwas daran zu liegen, dass sie sich nicht aus den Augen verloren.

»In der Küche steht das Essen, das ich im Bräustübel der Brauerei Schwartz für uns geholt habe. Kassler und Kartoffelsalat«, sagte Kendra.

»Du kannst mich anrufen, wenn du wieder auf dem Rückweg von der Klinik bist, dann wärme ich das Kassler auf.«

»Erwartest du jemanden?«, fragte Kendra überrascht, als es an der Haustür läutete.

»Nein, ich erwarte niemanden.«

»Soll ich an die Tür gehen?«

»Ich gehe schon«, sagte Fenja, weil sie sich nicht erlauben wollte, auch noch Ängste vor dem Öffnen der Haustür zu entwickeln.

»Guten Abend, mein Name ist Tobias Meier. Ich komme vom Bergmoosbacher Tagblatt«, stellte sich der junge Mann vor, der vor der Tür stand. »Sie sind Fenja Kirchner?«

»Was kann ich für Sie tun, Herr Meier?«, fragte Fenja freundlich. Sie war eine eifrige Leserin des Tagblatts und hatte schon häufiger ein Foto von Tobias gesehen. In Wirklichkeit schien er noch schlanker zu sein, als er auf den Fotos wirkte.

»Es geht um den Absturz des Paragliders«, sagte Tobias und wischte die blonde Haarsträhne aus seiner Stirn, die ihm auf den Rand seiner runden Brille mit dem hellblauen Rahmen gefallen war.

»Woher wissen Sie denn davon?«

»Der Krankenwagen heute Morgen hat bereits Fragen im Dorf aufgeworfen, und da wir recht gute Kontakte in der Gegend haben, die uns über Neuigkeiten informieren, haben wir von dem Absturz erfahren. Ich habe inzwischen auch schon mit Herrn Malen gesprochen. Offensichtlich hat er bisher keine Erklärung für den Absturz. Haben Sie eine?«

»Vermutlich war es ein Strömungsabriss«, mischte sich Kendra ein, die nun auch zur Tür kam.

»Und wer sind Sie?«

»Kendra Leistner. Fenja und ich haben uns um den Verunglückten gekümmert.«

»Wieso vermuten Sie einen Strömungsabriss?«

»Ich habe den Gleitschirm aus der Hecke geholt und zusammengelegt. Er war vollkommen intakt.«

»Soweit Sie das mit bloßem Auge beurteilen konnten.«

»Ein Loch oder so etwas wäre mir nicht entgangen. Meine Sehkraft ist hervorragend, wissen Sie«, sagte Kendra und schaute auf Tobias‘ Brille.

»Ich glaube es Ihnen, aber warten wir trotzdem erst einmal die genauere Untersuchung des Schirmes ab. Würden Sie mir erlauben, ein Foto von Ihnen beiden an der Absturzstelle zu machen?«

»Aber ja, natürlich«, sagte Kendra, als Fenja zögerte. Dieser Dorfreporter ist ein Geschenk, dachte sie. Das Foto würde beweisen, dass sie sich fürsorglich um einen Verletzten gekümmert hatte, und es würde keinen Zweifel daran lassen, dass sie noch immer mit Fenja Kontakt hatte, einer früheren Freundin, die tief gefallen war. Sie hatte Fenja auch damals beigestanden, als alle sie mieden. Niemand hatte es ihr verübelt, weil niemand von ihr verlangte, eine gute Freundin, deren Schuld niemals zweifelsfrei bewiesen werden konnte, zu ignorieren. Wer sollte jemals auf die Idee kommen, dass sie es war, die sie zu Fall gebracht hatte?

Das Wichtigste an diesem Besuch des Reporters aber war die Tatsache, dass sie als Absturzursache den Strömungsabriss erwähnt hatte. Sollte Tobias Meier ihre Vermutung veröffentlichen, dann war das ein großer Vorteil für sie. Die erste konkrete Aussage über eine ungeklärte Angelegenheit ließ sich nur schwer wieder ganz verdrängen, egal wie falsch sie auch sein mochte. Das hatte sie schon in den ersten Wochen bei der Zeitung begriffen.

»Verzeihen Sie, Frau Kirchner, sind Sie die Journalistin, die in Verdacht stand, Richter Tanngruber wieder in die Abhängigkeit getrieben zu haben?«, fragte Tobias, als Fenja offensichtlich noch immer zögerte, dem Foto im Garten zuzustimmen.

»Bitte, lassen Sie das. Oder wollen Sie, dass die Leute im Dorf Fenja brandmarken?«, stellte sich Kendra vor Fenja.

»Es war nur eine Frage. Ich werde diese Geschichte nicht erwähnen, das versichere ich Ihnen«, wandte er sich an Fenja, die mit den Tränen kämpfte. Tobias hatte an Tilo Tanngrubers Version dieser Geschichte schon immer gezweifelt, und jetzt, da diese junge Frau vor ihm stand, waren seine Zweifel noch größer. »Es geht nur um den Absturz«, sagte er.

»Siehst du, es ist alles gut. Gehen wir in den Garten«, sagte Kendra und hakte sich bei Fenja unter. Es war ihr in diesem Moment völlig egal, dass ihr Haar zerzaust war und sie nach ihrer Suchaktion im Wald noch immer ein wenig mitgenommen aussah. Das war sogar von Vorteil, weil sie so mehr nach einem hilfsbereiten Menschen aussah, der keine Strapazen scheute, um sich für andere einzusetzen.

»Ich stelle mich kurz unter die Dusche, bevor ich losfahre. Dein Dreiganggetriebe hat mich ganz schön zum Schwitzen gebracht«, sagte Kendra, nachdem Tobias sich verabschiedet hatte und sie ins Haus zurückgingen.

»Mir hat es immer gereicht.«

»In der Stadt, Fenja, aber hier draußen sind die Straßen ein bisschen hügliger. Naja, das wirst du irgendwann selbst herausfinden.«

»Das wünsche ich mir«, antwortete Fenja und sah Kendra nach, die die Treppe zum Gästezimmer hinauflief.

Eine Viertelstunde später kam sie in roter Jeans, weißer Bluse und schwarzen Pumps wieder die Treppe herunter. Sie hatte ihr Make-up erneuert und mit einem dunkelblauen Kajalstift und hellblauem Lidschatten ihre blauen Augen in Szene gesetzt. »Ich gehe dann, bis später«, verabschiedete sie sich von Fenja.

»Grüße ihn von mir«, bat Fenja und hielt der Freundin die Tür auf.

»Selbstverständlich«, sagte Kendra und hauchte ihr im Vorbeigehen einen Kuss auf die Wange.

In Sack und Asche gehst du aber auch nicht zu diesem Krankenbesuch, dachte Fenja lächelnd, als Kendra ihr noch einmal winkte, bevor sie in ihren auffälligen metallicroten Mini-Cooper stieg, der auf der Straße vor ihrem Grundstück parkte. Aber gut, mein Kleid wäre schon übertrieben gewesen, musste sie zugeben.

Nachdem Kendra fort war, fragte sie sich, ob sie Pascal nicht doch anrufen sollte. Aber dann hätte sich Kendra umsonst auf den Weg ins Krankenhaus gemacht, was sie schließlich nur ihr zuliebe tat. Ich kann ihn auch später noch anrufen, nachdem Kendra mit ihm gesprochen hat, dachte sie und dabei beließ sie es erst einmal.

*

Auf dem Weg zur Kreisstadt kam Kendra am Ortsausgang von Bergmoosbach am Haus der Seefelds vorbei. Sie hielt ihren Wagen neben dem Bürgersteig an, als sie Sebastian sah, der mit einem hübschen jungen Mädchen mit rotbraunem langem Haar und einem Berner Sennenhund gerade die Wiese vor dem Haus hinaufgehen wollte.

»Hallo, Doktor Seefeld!«, rief sie, nachdem sie ausgestiegen war.

»Frau Leistner, was kann ich für Sie tun?«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass es Ihrem Patienten von heute Morgen schon wieder recht gut geht.«

»Ja, ich weiß, das Krankenhaus hat mich bereits informiert.«

»Dann sage ich Ihnen ja nichts Neues.«

»Trotzdem, danke.«

»Einen schönen Abend noch, ich bin gerade auf dem Weg zu unserem Paraglider.«

»Ihnen auch einen schönen Abend, und grüßen Sie Herrn Malen von mir.«

»Das mache ich gern, ciao, ciao!«, rief Kendra, stieg wieder in ihr Auto und fuhr weiter.

»Sie kommt aus München«, sagte Emilia.

»Das war nicht schwer zu erraten. Ihr Auto hat ein Münchner Kennzeichen«, entgegnete Sebastian.

»Daran habe ich es nicht festgemacht, sondern an diesem Münchner Schickimicki »ciao, ciao«, das finde ich echt nervig.«

»Was findest du nervig?«, wollte Anna, die Bergmoosbacher Hebamme, wissen, die mit Traudel, der guten Seele im Hause Seefeld, und Benedikt, Sebastians Vater, einem attraktiven älteren Herrn mit dunklen Augen und grauem Haar, auf der Terrasse saß.

»Dieses Münchner Schickimicki Gehabe nervt«, antwortete Emilia und setzte sich auf den freien Stuhl neben Anna.

»Gehabe von wem?«

»Von dieser Frau gerade eben, die mit Papa gesprochen hat.«

»Wir haben gesehen, dass sie mit ihm gesprochen hat. Wer ist sie?«, fragte Traudel, während sie über das weiße Schürzchen strich, das sie zu ihrem dunkelblauen Dirndl trug.

»Sie ist mir heute Morgen begegnet, als ich zu diesem Unfall gerufen wurde.«

»Du meinst den Absturz des Paragliders«, hakte Anna nach.

»Stimmt.«

»Du hast gar nicht erzählt, dass du dort eine attraktive Münchnerin getroffen hast«, sagte Anna lächelnd und sah Sebastian mit ihren strahlend grünen Augen an.

»Ich fand es nicht wichtig«, antwortete Sebastian und betrachtete die schöne junge Frau in dem orangefarbenen Kleid.

»Das ist Doro, entschuldigt mich.« Emilia sprang auf, als ihr Handy läutete, das vor ihr auf dem Tisch lag.

»In zehn Minuten wird gegessen!«, rief Traudel ihr nach, als sie mit dem Telefon in der Hand um das Haus herumging, um ungestört mit ihrer besten Freundin telefonieren zu können.

»Hast du inzwischen etwas darüber gehört, wie es zu diesem Absturz kam?«, wollte Traudel von Sebastian wissen.

»Nein, bisher nicht, das Wichtigste ist erst einmal, dass der junge Mann keine schweren Verletzungen davongetragen hat.«

»Das ist wahr, also dann, gehen wir ins Haus, es wird allmählich kühl. Der Sommer ist vorbei.« Traudel schaute auf die Sonne, die allmählich hinter den Bergen versank und den Himmel in rotes Licht tauchte. Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich um und ging in die Küche.

»In Kanada war der Herbst meine Lieblingsjahreszeit«, sagte Sebastian, und sein Blick verlor sich am Horizont.

Der Indian Summer, wie sie den Herbstanfang dort nannten, mit seinen leuchtenden Farben war unvergleichlich schön.

»Du könntest in den Herbstferien mit Emilia nach Toronto fliegen«, schlug Anna ihm vor.

»Im nächsten Jahr. Emilia und ich sollten noch ein paar Monate Abstand bewahren, es könnte sonst passieren, dass wir uns wieder für Kanada entscheiden.«

»Mit diesem Risiko werden wir hier wohl leben müssen«, sagte Benedikt. Er wusste, wie schwer es seinem Sohn gefallen war, das Land, in dem er so lange glücklich war, zu verlassen. Er hatte ihm damals nach dem Tod von Emilias Mutter vorgeschlagen, die Praxis in Bergmoosbach zu übernehmen. Er hatte seinen Sohn und seine Enkeltochter bei sich haben wollen. Das mochte egoistisch klingen, aber er schämte sich nicht dafür. Und wenn er Sebastian jetzt mit Anna sah und Emilia mit ihren Freunden, wusste er, dass es richtig war, was er getan hatte. »Ich werde Traudel in der Küche helfen«, sagte er und ging ins Haus.

»Weißt du eigentlich, was man sich in der Neubausiedlung über die Frau erzählt, bei der du heute warst, Papa?«, fragte Emilia, als sie wieder zurück auf die Terrasse kam.

»Was erzählt man sich denn?«, wollte Sebastian wissen und sah seine Tochter aufmerksam an.

»Fenja Kirchner und ihre Eltern wohnen doch in dem Haus direkt gegenüber von Doro.«

»Das ist mir heute Morgen nicht entgangen«, sagte Sebastian lächelnd.

»Doro unterhält sich manchmal mit ihr über den Gartenzaun hinweg.«

»Das machen hier viele Leute.«

»Schon, aber Fenja kommt nie hinter dem Gartenzaun hervor. Das heißt, Doro und auch sonst niemand hat sie je außerhalb ihres Grundstückes gesehen.«

»Das heißt aber nicht, dass sie nie aus dem Haus geht. Oder gibt es in der Neubausiedlung eine 24-Stunden-Überwachung ihres Hauses?«

»Nein, das nicht. Aber irgendwann hätte sie ja mal jemand treffen müssen, wenigstens beim Einkaufen. Doro sagt, dass einige Nachbarn schon in den Geschäften gefragt haben, ob sie mal dort war. War sie aber nicht.«

»Das kann alles eine ganz einfache Erklärung haben.«

»Welche denn?«

»Vielleicht geht sie in der Stadt einkaufen.«

»Ihre Eltern gehen aber im Dorf einkaufen, wenn sie nicht gerade unterwegs sind. Sie sind Reiseleiter, weißt du. Vielleicht ist Fenja krank und geht deshalb nicht aus dem Haus.«

»Auf mich hat sie ganz und gar nicht krank gewirkt. Sie hat sich weitaus mehr um den Verletzten gekümmert als ihre Freundin.«

»Weißt du denn, was sie beruflich macht?«, fragte Anna, die bisher nur zugehört hatte.

»Sie denkt sich Sprüche für Glückskekse aus, sagt Doro.«

»Sie arbeitet also zu Hause, das ist doch schon eine gute Erklärung dafür, dass sie oft zu Hause ist.«

»Und wenn sie fortgeht, passt sie auf, dass die Nachbarn sie nicht sehen?«

»Vielleicht«, sagte Sebastian.

»Also ich weiß nicht, Papa. Mal angenommen, sie würde das tun, dann könnte man doch auf die Idee kommen, dass sie sich verfolgt fühlt.«

»Doro könnte sie doch einfach mal fragen, warum man sie nie außerhalb des Hauses sieht«, schlug Anna vor.

»Das hatte sie auch schon vor, aber Fenja erscheint ihr oft so bedrückt, deshalb lässt sie es.«

»Essen ist fertig!«, rief Traudel.

»Was gibt es denn?«, wollte Emilia wissen.

»Hackbrötchen«, antwortete Traudel, die in der Tür zur Küche stand.

»Du meinst wohl Hamburger.«

»Ja, die meine ich wohl.«

»Du bist die Beste, Traudel«, sagte Emilia.

Sie küsste Traudel auf die Wange, legte den Arm um sie und ging mit ihr in die Küche.

»Wie alt ist Fenja?«, fragte Anna, nachdem Emilia ins Haus gegangen war.

»Ich denke so Mitte zwanzig.«

»Sie könnte an Agoraphobie leiden, nach dem, was Emilia gerade erzählt hat.«

»Ja, das wäre möglich«, gab Sebastian ihr recht. »Aber da sie nicht meine Patientin ist, kann ich erst einmal nichts für sie tun. Und bisher ist es auch nur eine Annahme, die gar nicht stimmen muss.«

»Richtig, was aber definitiv stimmt, ist, dass ich Hunger habe«, erklärte Anna.

»Dann wollen wir die anderen nicht länger warten lassen«, sagte Sebastian und nahm sie liebevoll an die Hand.

*

»Schade, dass sie keine Zeit hat. Ich hatte mich schon auf ihren Besuch gefreut«, sagte Pascal, nachdem Kendra ihm erzählt hatte, dass Fenja am nächsten Tag nicht zu ihm kommen würde.

Kendra saß auf dem Stuhl neben seinem Bett und schaute sich in dem Zimmer um. Es war hübsch eingerichtet mit einem Einbauschrank aus rotem Ahornholz, einem kleinen Sofa aus blauem Leder und es gehörte auch ein eigenes Bad dazu. Der bunte Blumenstrauß, den sie ihm mitgebracht hatte, stand in einer Vase auf dem Tischchen neben dem Sofa.

»Sind Sie privat versichert?«, fragte sie Pascal.

»Nein, in diesem Krankenhaus gibt es nur Ein- und Zweibettzimmer.«

»Klingt nach Luxus für alle.«

»Es ist kein Luxus. Mit fremden Menschen ein Zimmer zu teilen, bedeutet für die meisten von uns Stress. Stress ist nicht gut für die Genesung. Ohne Stress werden wir schneller gesund und können früher entlassen werden.«

»Ich sollte mir überlegen, hierher zu ziehen«, sagte sie und hielt Pascals Blick fest.

»Falls Sie das Landleben der Großstadt vorziehen.«

»Worüber ich mir noch nicht im Klaren bin. Es kommt sicher darauf an, ob es hier etwas gibt, was mich stark genug anzieht.« Sie sah ihm noch einmal tief in die Augen, bevor sie das Gespräch auf das Thema lenkte, das ihr überaus wichtig war. »Haben Sie denn inzwischen einen Verdacht, was zu diesem Absturz geführt haben könnte?«, fragte sie ihn.

»Vielleicht hatte sich ein Vogel im Schirm verwickelt.«

»Gibt es denn Spuren, die darauf hinweisen?«

»Ein paar feine Risse im Gewebe. Sie könnten von einem Schnabel stammen.«

»Könnte es auch ein Strömungsabriss gewesen sein?«

»Das fühlt sich anders an. Der Schirm sackt einfach nur zusammen und bläht sich dann wieder auf.«

»Aber ganz ausschließen können Sie es nicht, dass es an der Strömung lag?«

»Nein, aber die Variante mit dem Vogel erscheint mir überzeugender.«

»Dann war es sicher auch ein Vogel. Ich gehe davon aus, dass Sie als Fluglehrer auch das Paragliding beherrschen und die Ursache eines Zwischenfalls einschätzen können.«

»Danke, dass Sie mir das zutrauen«, antwortete Pascal lächelnd.

»Ich traue Ihnen viel zu, Pascal«, entgegnete sie mit sanfter Stimme und hielt seinen Blick fest. Sie war froh, dass die Drohne nicht mehr Schaden an seinem Schirm angerichtet hatte, der dann vielleicht auf ein technisches Gerät hingedeutet hätte.

»Sie sagten, Fenja würde sich bei mir melden, sobald sie Zeit hat?«, hakte Pascal nach und löste sich von ihrem Blick.

»Das hat sie gesagt«, versicherte sie ihm. Aber sie wird es nicht tun, weil ich ihr auch das ausreden werden, dachte sie, während sie Pascal mit einem charmanten Lächeln betrachtete. Stattdessen würde sie Pascal gleich morgen wieder besuchen und ihm erzählen, dass Sie schon länger darüber nachdachte, Flugunterricht zu nehmen. Sie würde ihn bitten, ihr eine Probestunde zu geben, sobald er wieder einsatz­bereit war. Das Thema Fliegen würde für genug Gesprächsstoff sorgen, und währenddessen würde sie ihm schon klar machen, dass er sich gerade in sie verliebte. Nach ein paar Tagen, wenn niemand mehr nach der Ursache für den Absturz fragte, würde sie sich wieder von ihm verabschieden und in ihr Leben zurückkehren.

»Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Besserung, Pascal«, verabschiedete sie sich wenig später, drückte sanft seine Hand und warf ihm noch einmal einen langen Blick zu, bevor sie das Zimmer verließ.

Was soll das werden?, dachte Pascal und schüttelte amüsiert den Kopf. Kendra gehörte nicht zu den Frauen, für die er sich interessierte, dazu war sie zu selbstverliebt. Fenjas liebenswürdige Art gefiel ihm weitaus besser.

Nachdem Kendra das Krankenhaus verlassen hatte, rief sie Fenja an, damit sie das Abendessen vorbereiten konnte. Sie war fest davon überzeugt, dass ihr Krankenbesuch erfolgreich war. Pascal und sie würden sich näherkommen. Fenja würde sie, ganz mitfühlende Freundin, erzählen, dass sie versucht hatte herauszufinden, welche Menschen Pascal interessant fand. Dabei wäre herausgekommen, dass er mit Stubenhockern überhaupt nichts anfangen konnte, dass er sich sogar recht abfällig über Menschen wie sie geäußert hätte. Menschen, die es nicht fertigbrachten, über ihren Schatten zu springen.

*

Fenja fühlte sich noch immer nicht ganz wohl dabei, dass sie Pascal nicht persönlich abgesagt hatte. Kendra hatte ihr zwar gerade am Telefon versichert, dass sie alles für sie geregelt hätte, aber das beruhigte sie nicht sonderlich. Es war schon so lange her, dass ihr ein Mann wirklich gefallen hatte, und nun war ihr Pascal in den Garten gefallen. Sie war noch immer erstaunt, wie schnell sie einander gestanden hatten, dass sie zur Zeit in keiner festen Beziehung lebten. Ich werde meinem Gefühl folgen, dachte sie. Dass ihr Herz schneller klopfte, als sie seine Nummer in ihrem Handy aufrief, war für sie ein weiterer Beweis, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte.

»Hallo, Fenja«, meldete er sich.

»Hallo, Pascal. Kendra hat Ihnen ja gesagt, dass ich morgen nicht kommen kann.«

»Was ich sehr schade finde. Sie hat mir aber auch gesagt, dass Sie mich anrufen werden, sobald Sie mehr Zeit haben. Kommen Sie mich morgen doch besuchen?«

»Nein, das wird nicht gehen«, sagte sie, und vermutlich war das sogar die Wahrheit, weil sie vielleicht im letzten Moment wieder der Mut verlassen hätte.

»Ich habe doch größeren Schaden in Ihrem Garten angerichtet, und Sie denken, eine Begegnung mit mir reicht Ihnen?«

»Aber nein«, sagte sie und musste lachen, weil sie an seinem Tonfall erkannte, dass er das nicht wirklich ernst meinte. »Sie können sich gern selbst davon überzeugen, dass es meiner Hecke gutgeht. Kommen Sie auf einen Kaffee zu mir, sobald es Ihnen besser geht.« Sie war ihm dankbar, dass er es ihr, wenn auch unbeabsichtigt, so leicht gemacht hatte, ihn zu sich nach Hause einzuladen.

»Diese Einladung nehme ich gern an. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich wieder zu Hause bin.«

»Dann auf bald.«

»Auf bald, Fenja.«

Es war richtig, ihn anzurufen, dachte Fenja, nachdem sie das Gespräch beendet hatte. Gut gelaunt stellte sie den Braten aus dem Biergarten zum Aufwärmen in den Backofen und deckte den Tisch.

Als Kendra eine Viertelstunde später eintraf, wartete sie, bis sie beide in der Küche am Tisch saßen, bevor sie ihr von ihrem Telefonat mit Pascal erzählte. Sie hoffte, dass sie daraus nicht den Schluss zog, dass sie ihr nicht vertraute.

»Aber wir hatten doch ausgemacht, dass du dich nicht bei ihm meldest«, entgegnete Kendra verwundert.

»Mir geht es jetzt aber besser.«

»Schön für dich. Wenn ich gewusst hätte, dass du ihn sowieso anrufst, hätte ich mir die Fahrt in die Kreisstadt ersparen können.«

»Du hast ihm Blumen gebracht und dich nach seinem Befinden erkundigt, darüber hat er sich bestimmt gefreut.«

»Mag sein. Bleibt es denn dabei, dass du ihn nicht im Krankenhaus besuchst? Oder muss er auch noch glauben, ich hätte ihm Unsinn erzählt, weil ich ihm erklärt habe, dass du keine Zeit für einen Besuch hast, weil du so viel Arbeit hast?«

»Es bleibt dabei, er kommt zu mir. Es ist die beste Lösung, ihm hier meine Probleme zu gestehen. Damit hast du völlig recht. Bitte, sei nicht böse mit mir.«

»Schon gut, ich verstehe dich. Du willst ihn wiedersehen und willst sicher sein, dass er dir das auch glaubt.« Dass Fenja mit ihm telefoniert hatte, machte ihr ursprüngliches Vorhaben, die beiden voneinander fernzuhalten, erst einmal zunichte. Fenja würde ihr nicht glauben, dass Pascal sich abfällig über sie geäußert hatte, da er doch offensichtlich höchst interessiert daran war, sie wiederzusehen. Sie musste sich etwas einfallen lassen, was ihn dazu brachte, freiwillig auf ein Wiedersehen mit Fenja zu verzichten.

»Schmeckt es dir nicht?«, fragte Fenja, als Kendra mit ihrer Gabel den Kartoffelsalat von einer Seite ihres Tellers auf die andere schob.

»Verzeih, ich war ganz in Gedanken, wir haben heute recht viel erlebt«, sagte Kendra und versuchte von dem Kartoffelsalat und dem Braten. »Köstlich«, stellte sie fest und ließ sich das Essen schmecken, weil sie sich beruhigt hatte und davon ausging, dass ihr noch genügend Zeit blieb, Pascal für sich zu erobern. »Habe ich dir schon gesagt, dass ich morgen zum Shoppen nach Garmisch fahren möchte?«, fragte sie Fenja, um ihren nächsten Besuch bei Pascal vorzubereiten. »Willst du versuchen, mitzukommen?«, hakte sie mit gespielter Anteilnahme nach, als sie Fenjas traurigen Blick bemerkte.

»Es wird nicht funktionieren, noch nicht.« Fenja wurde allein bei dem Gedanken, durch die Fußgängerzone in Garmisch spazieren zu müssen, ganz flau im Magen.

»Ich freue mich darauf, wenn wir irgendwann wieder etwas zusammen unternehmen können. So wie früher, da hatten wir doch auch immer jede Menge Spaß.«

»Ja, ich weiß, ich erinnere mich gern daran.«

»Vielleicht hätte dir die Wahrheit damals nicht ganz so wichtig sein sollen.«

»Wenn du damit den Artikel über Tanngruber meinst, da ging es nicht nur um die Wahrheit, sondern um Gerechtigkeit.«

»Du hast die Arbeit der Anwälte der betroffenen Beschuldigten übernommen. Sie hatten einfach keine gute Verteidigungsstrategie. Vielleicht konnte Tanngruber aufgrund der schlecht vorgetragenen Fakten gar nicht anders urteilen. Ich meine, vielleicht hatte das gar nichts mit seinem Alkoholkonsum zu tun.«

»Verteidigst du ihn gerade?«

»Es war nur eine Überlegung.«

»An den Anwälten lag es nicht, sonst hätten sie keine Revision durchgesetzt.«

»Die du mit deinem Artikel unterstützen wolltest.«

»Hat ja auch geklappt, die Fehlurteile wurden aufgehoben.«

»Du hast deine Karriere dafür geopfert.«

»Das war nicht meine Absicht gewesen, das hat jemand für mich arrangiert. Vermutlich war es jemand aus Tanngrubers Umfeld.«

»Ist anzunehmen«, sagte Kendra, ohne Fenja anzusehen. »Wir könnten uns nach dem Essen einen Film ansehen, vielleicht eine Komödie«, schlug sie vor, um dieses unangenehme Thema zu beenden.

»Gute Idee«, stimmte Fenja ihr zu. Eine Komödie wurde diese traurigen Erinnerungen wieder vertreiben, die sie gerade überfielen.

*

Am nächsten Tag nach dem Mittagessen fuhr Kendra in die Kreisstadt, um Pascal zu besuchen, während sie Fenja in dem Glauben zu Hause zurückließ, sie würde nach Garmisch zum Shoppen fahren. Sie hatte für diesen Besuch ein knielanges pinkfarbenes Kleid mit U-Boot-Ausschnitt und langen schmalen Ärmeln gewählt, das ihre schlanke Figur betonte.

Als sie in der Lobby des Krankenhauses vor dem Lift wartete, um in den zweiten Stock hinaufzufahren, in dem Pascal untergebracht war, sah sie ihn mit einer kleinen Reisetasche in der Hand die Treppe herunterkommen.

»Sie wollen heute aber nicht zu mir, nehme ich an«, sagte er, als Kendra auf ihn zuging.

»Doch, Pascal, ich bin wegen Ihnen hier«, antwortete sie mit einem charmanten Lächeln. »Aber wie es aussieht, sind Sie bereits auf dem Nachhauseweg.«

»Die Abschlussuntersuchung heute Vormittag hat ergeben, dass ich vollkommen gesund bin. Ich musste nur noch auf die Unterlagen für meinen Hausarzt warten.«

»Hätten Sie noch Zeit für einen Kaffee?« Sie musste schnell handeln, bevor er noch auf die Idee kam, Fenja aufzusuchen.

»Eigentlich wollte ich gleich nach Hause.«

»Ich muss Ihnen aber etwas sagen, etwas Wichtiges.«

»Können Sie mir das nicht hier sagen?«

»Es geht um Fenja. Sie sollten etwas über sie wissen.«

»Etwas, was sie mir nicht selbst sagen kann?«

»Sie würde es Ihnen sicher gern sagen, aber es würde ihr schwerfallen.«

»Gehen wir in das Café auf der anderen Straßenseite.« Was auch immer es war, es schien dieser Frau ein Bedürfnis zu sein, es ihm mitzuteilen. Da sie Fenjas Freundin war und sie gut kannte, sollte er es sich anhören.

»Niedlich«, sagte Kendra, als sie ein paar Minuten später das Café betraten.

Die dunklen Holztische, die Stühle mit den roten Polstern, die Jugendstillampen mit ihren tulpenförmigen Schirmen, die an den Wänden hingen, und das betagte Parkett verliehen dem Raum ein nostalgisches Ambiente. Die Kuchen und Torten hinter dem Glas der Theke dufteten verführerisch.

»Setzen wir uns dort hin.« Kendra deutete auf einen Tisch im hinteren Teil des Raumes, der durch eine Kommode, auf der eine hübsche alte Kasse stand, zum Teil verdeckt wurde. Sie wollte nicht unbedingt mit Pascal gesehen werden.

»Was wollen Sie mir sagen?«, fragte Pascal, nachdem sie beide eine Cappuccino bestellt hatten.

»Es fällt auch mir nicht leicht, Ihnen davon zu erzählen«, seufzte Kendra und gab sich zögerlich.

»Aber deshalb sind Sie doch zu mir gekommen, damit sie es mir erzählen«, entgegnete Pascal und sah sie skeptisch an.

»Es ist aber trotzdem nicht leicht. Gut, Fenja hat ein großes Problem, sie ist nicht in der Lage, das Haus zu verlassen, und sie fürchtet sich vor fremden Menschen.« Kendra sah Pascal direkt an. Sie hoffte, dass er über diese Eröffnung erschrak. Aber er blieb ganz ruhig.

»Gab es einen Auslöser?«, fragte er.

»Das lässt sich nicht sagen. Sie fühlte sich wohl in ihrem Beruf überfordert. Als Journalistin für eine Tageszeitung zu arbeiten, ist ein harter Job.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Fenja ist recht zart besaitet, wissen Sie. Sie gibt es nicht zu, und gestern konnte sie es auch überspielen, aber Ihr Sturz in ihren Garten hat sie sehr mitgenommen.«

»So verstört kam sie mir gar nicht vor.«

»Wie gesagt, sie hat es überspielt. Jetzt ist sie allerdings völlig aufgelöst. Ehrlich gesagt, es ist nicht Ihre Arbeit, die sie davon abgehalten hat, Sie heute zu besuchen, es ist ihre psychische Verfassung.«

»Sie hat mich gestern angerufen, nachdem Sie bei mir im Krankenhaus waren, da klang sie völlig entspannt.« Pascal nahm die Tasse mit dem Cappuccino, die inzwischen vor ihm auf dem Tisch stand, in beide Hände.

»Sie hat es mir erzählt, auch dass sie Sie zum Kaffee eingeladen hat. Aber glauben Sie mir, eine Begegnung mit Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt würde sie nur tiefer in die Depression stürzen. Geben Sie ihr ein paar Tage, um wieder ruhiger zu werden. Sie muss dieses Erlebnis erst verarbeiten, dazu braucht sie absolute Ruhe. Ich habe ihren Eltern versprochen, auf sie Acht zu geben, solange sie verreist sind, und ich möchte sie nicht enttäuschen. Es bereitet mir schon große Sorgen, wenn ich morgen zu einer Redaktionssitzung nach München muss.«

»Wer wird sich in dieser Zeit um sie kümmern?«

»Ich sage den Nachbarn Bescheid. Ich nehme an, sie wird wie immer, wenn sie in eine dieser Phasen abrutscht, viel schlafen. Das hilft ihr meistens, vorausgesetzt, sie wird nicht gestört. So eine Störung endet immer mit einem Panikanfall, und das ist ganz fürchterlich, für sie und ihre Angehörigen.«

»Hat sie denn eine gute Therapeutin oder einen Therapeuten?«, fragte Pascal besorgt.

»Sie hat die Therapie leider abgebrochen. Sie meinte, sie bringt ihr nichts. Ihre Eltern und ich bemühen uns nun, sie zu einer neuen Therapie zu bewegen. So sehr wir ihr auch beistehen, ohne professionelle Hilfe wird sie nicht gesund werden. Versprechen Sie mir bitte, dass Sie Abstand zu ihr halten, bis es ihr wieder besser geht«, bat Kendra. Sie legte ihre Hand auf seine und sah ihn flehentlich an.

»Ich will ihr auf keinen Fall schaden«, sagte Pascal.

»Gut, dann wäre das geklärt. Ich habe da noch ein anderes Anliegen.«

»Das wäre?«

»Ich denke schon seit längerem darüber nach, Flugstunden zu nehmen. Bietet Ihre Flugschule so etwas wie Probestunden an, damit man einen Einblick gewinnt, was auf einen zukommt, sollte man sich für diese Ausbildung entscheiden?«

»Wir bieten schon eine Probestunde an.«

»Könnte ich die mit Ihnen machen?«

»Ich gebe erst ab nächster Woche wieder Flugstunden.«

»Kein Problem, ich bin noch eine Weile da.«

»Dann sollten wir nächste Woche darüber sprechen.«

»Sehr gern. Wie kommen Sie nach Hause?«

»Ich rufe mir ein Taxi.«

»Wo wohnen Sie denn?«

»In Garmisch in der Nähe der Fußgängerzone.«

»Ich bin gerade auf dem Weg dorthin, zum Shoppen. Ich kann Sie mitnehmen.«

»Gut, danke.« Pascal wusste nicht, wie er dieses Angebot ablehnen sollte, ohne unhöflich zu wirken. Kendra war ihm nicht unbedingt sympathisch. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Fenja das Ereignis vom Vortag tatsächlich so sehr belastete, wie sie ihm das weismachen wollte.

Andererseits, was wusste er denn schon von dieser hübschen jungen Frau, die sich so liebevoll um ihn gekümmert hatte? Und welchen Grund sollte Kendra haben, ihm eine solche Geschichte zu erzählen? Mal sehen, was ich morgen davon halte, dachte er und verschob seine Entscheidung, ob er Fenja trotz Kendras Warnung anrufen würde, auf den nächsten Tag.

*

Kendra empfand es als wunderbaren Zufall, dass Pascal in der Nähe der Fußgängerzone in Garmisch wohnte. Dieser Zufall würde ihr helfen, Fenja davon zu überzeugen, dass dieser Mann absolut nichts für sie war. Nachdem sie Pascal vor seiner Haustür abgesetzt hatte, suchte sie sich einen Parkplatz und spazierte durch die Fußgängerzone, die an Häusern mit Lüftlmalereien und üppig bepflanzten Balkonkästen vorbeiführte. Sie fragte sich, wie Menschen diese auf Idylle getrimmte Umgebung auf Dauer aushalten konnten. Sie war sicher, dass sie dazu nicht in der Lage wäre.

Zwei Stunden später kehrte sie mit zwei Kleidern, die sie in einem kleinen exklusiven Modeladen erstanden hatte, und einem Seidentuch für Fenja wieder nach Bergmoosbach zurück. Bevor sie Fenja von ihrem Ausflug erzählte, bereitete sie einen beruhigenden Kräutertee für sie zu. Sie würde die Geschichte, die sie gleich von ihr zu hören bekam, ertragen müssen, und sie hatte keine Lust darauf, dass sie einen Panikanfall bekam und sie sich dann um sie kümmern musste.

»Tee? Du trinkst doch nachmittags immer Kaffee«, wunderte sich Fenja, die aus ihrem Arbeitszimmer gekommen war und in der Tür zur Küche stand.

»Ich hatte schon einen Kaffee. Komm, setz dich zu mir, wir müssen reden«, sagte Kendra und stellte zwei Tassen mit dem noch heißen Tee auf den Tisch.

»Über was müssen wir reden?«, wunderte sich Fenja, weil Kendra auf einmal so ernst wirkte.

»Wie gesagt, ich hatte schon einen Kaffee.« Kendra setzte sich auf den Stuhl gegenüber von Fenja und sah sie einen Moment lang schweigend an.

»Was ist? Mach es nicht so spannend«, bat Fenja.

»Ich habe Pascal getroffen.«

»Warst du wieder im Krankenhaus?«

»Nein, er ist bereits entlassen. Ich habe ihn in Garmisch getroffen. Er wohnt in der Nähe der Fußgängerzone. Er hat mich auf einen Kaffee eingeladen, und wir haben ein wenig geplaudert.«

»Wie geht es ihm?« Fenja atmete innerlich auf. Es ging wohl doch nicht um etwas Unangenehmes. Kendra wollte ihr nur von ihrer Begegnung mit Pascal erzählen.

»Es geht ihm gut, deshalb wurde er auch heute schon entlassen.«

»Was ist?«, fragte Fenja, als Kendra innehielt und sie mit einem bedauernden Blick betrachtete.

»Ich muss dir etwas sagen, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, gab sich Kendra zerknirscht.

»Um was geht es denn?«

»Um Pascal, wir haben uns recht gut unterhalten, so richtig vertraut, weißt du.«

»Und?« Fenja spürte ihr Herz schneller schlagen, als Kendra zuerst einen Schluck Tee trank, bevor sie weitersprach.

»Wir haben uns auch über Freunde unterhalten, was wir so an ihnen schätzen, und er meinte dann …«

»Was meinte er?«, hakte Fenja nach, als Kendra sich räusperte.

»Er hat gesagt, dass er mit Stubenhockern absolut nichts anfangen kann. Er liebt das Abenteuer und will ständig unterwegs sein. Ich denke, du solltest dir genau überlegen, ob du ihn wirklich wiedersehen willst. Wäre es nicht schrecklich für dich, wenn er für dich nicht mehr als Mitleid übrig hätte oder vielleicht nur Verachtung empfinden würde?«

»Du denkst also, ich sollte ihn vergessen?«

»Das wäre für dich sicher besser. Es tut mir echt leid, Schätzchen, aber eigentlich hätte uns beiden bewusst sein müssen, dass ein Mann wie Pascal sich nicht mit Kaffeetrinken im Garten zufrieden gibt.«

»Hat er nach mir gefragt, als du ihn heute getroffen hast?«

»Er wollte wissen, wie du mit deiner Arbeit zurechtkommst.«

»Vielleicht würde er anders auf meine Krankheit reagieren, als du annimmst.«

»Ehrlich gesagt, ich bin nicht sicher, ob er deinen Zustand überhaupt als Krankheit einordnen könnte. Er ist Fluglehrer, und seine Schüler sind alle mutige selbstbewusste Menschen, sonst würden sie es nicht wagen, Flugunterricht zu nehmen, selbst sein Hobby ist pures Abenteuer. Denkst du wirklich, er kann sich vorstellen, dass sich jemand zu Hause einsperrt, aus einer diffusen Angst heraus, die mit nichts zu erklären ist?«

»Ich weiß nicht, ich fühle mich gerade wie eine Ausgestoßene«, sagte Fenja und kämpfte mit den Tränen.

»Tut mir leid, dass ich das so drastisch formuliert habe. Aber ich möchte dir gern eine schlimme Enttäuschung ersparen. Verzeih, vielleicht irre ich mich auch, und er ist ganz anders.« Sie ging um den Tisch herum, setzte sich auf den Stuhl neben Fenja und nahm sie in den Arm. »Ich bin die letzte, die dir wehtun will«, beteuerte sie.

»Ja, ich weiß«, entgegnete Fenja leise.

»Stell dir vor, er lehnt dich wegen deiner Ängste ab. Du würdest dich noch viel schlechter fühlen als jetzt. Im Moment bist du doch auf einem guten Weg. Du fühlst dich in diesem Dorf wohl, und es wird nicht mehr lange dauern, bis du dich auch nach draußen wagst. Diesen Fortschritt darfst du nicht riskieren. Arbeite weiter an dir, und in ein paar Wochen besuchst du Pascal auf dem Flugplatz. Das wäre doch ein weitaus besserer Start für eine Beziehung. Ein Start auf dem Flugplatz, das klingt nach etwas, was Erfolg verspricht«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Wenn ich ihm sage, dass ich ihn erst einmal nicht treffen kann, dann wird er davon ausgehen, dass ich kein Interesse daran habe, ihn wiederzusehen.«

»Du könntest ihm sagen, dass du für länger verreisen musst.«

»Oder ich vergesse das Ganze. Wenn er so wenig Verständnis für Leute aufbringt, die nicht ebenso abenteuerlustig sind wie er, dann ist er ohnehin nicht der Richtige für mich«, erklärte Fenja mit einem tiefen Seufzer.

»Das ist eine kluge Entscheidung. Ich wusste, dass du vernünftig sein würdest. Danke, dass ich mir keine Sorgen um dich machen muss.« Kendra küsste Fenja auf die Wange und stand auf. »Darf ich noch mal dein Fahrrad ausleihen?«, fragte sie.

»Du kannst es so oft haben, wie du willst.«

»Danke, ich möchte nur ein paar Runden drehen. Mir fehlt das Fitnesscenter.«

»Fahrradfahren draußen in der Natur ist ebenso effektiv.«

»Auf jeden Fall«, stimmte Kendra ihr zu. Sie wollte noch einmal oben im Wald nach der Drohne suchen, irgendwo musste sie doch sein.

*

»Hallo, Harald, wie geht es Ihnen?«, fragte Emilia, als sie mit Nolan von einem Spaziergang nach Hause zurückkam.

Harald Baumann saß auf der Bank unter der alten Ulme und blätterte in der aktuellen Ausgabe des Bergmoosbacher Tagblatts.

»Danke, mir geht es gut. Ich warte auf Miriam. Sie ist bei deinem Vater. Sie hat sich vorhin an einem Holzsplitter verletzt, der im Hof herumlag«, erzählte er, während er Nolan streichelte, der ihn freudig begrüßte.

»Holzsplitterunfall im Sägewerk«, entgegnete Emilia schmunzelnd.

»Kann schon mal passieren«, antwortete Harald lächelnd. »Da du gerade hier bist, Emilia, deine Freundin Doro wohnt doch in der Neubausiedlung.«

»Richtig.«

»Dann sieh dir bitte mal dieses Foto an.«

»Ein Artikel über den Absturz des Paragliders«, sagte Emilia, nachdem sie sich neben Harald auf die Bank gesetzt hatte und in die Zeitung schaute, die er hochhielt. »Er hat riesig Glück gehabt«, stellte sie fest und sah auf das Foto von Pascal, das neben dem Foto stand, das Fenja und Kendra in Fenjas Garten zeigte.«

»Ich meine das Foto der beiden Frauen. Kennst du sie?«, fragte Harald.

»Die habe ich schon gesehen, allerdings sah sie da um einiges gestylter aus«, sagte Emilia und deutete auf Kendra.

»Die andere kennst du nicht?«

»Nein, noch nie gesehen, aber da es um den Absturz geht, nehme ich an, dass es die Frau ist, die dort wohnt und niemals das Haus verlässt.«

»Wer verlässt niemals das Haus?«, wollte Miriam wissen, die mit einem verbundenen rechten Daumen aus der Praxis kam.

»Die Frau, in deren Garten der Paraglider gestürzt ist«, klärte Emilia sie auf.

»Warum geht sie nie aus dem Haus?«, wollte Miriam wissen. Sie setzte sich zu den beiden auf die Bank und zupfte einen Fussel vom Rock ihres roten Kostüms. Harald, der in der Mitte zwischen ihr und Emilia saß, hielt die Zeitung so vor sich hin, dass sie alle drei gemeinsam hineinschauen konnten.

»Vielleicht ist einer der Gründe dafür diese Sache, die ihr vor etwa einem Jahr zugestoßen ist«, sagte Harald nachdenklich.

»Welche Sache?«, fragte Miriam.

»Sie hatte sich mit einem Richter zum Interview getroffen. Es hieß, dass er alkoholabhängig war und einige Fehlurteile auf seine Kappen gingen.«

»Hat er Leute unschuldig ins Gefängnis gebracht?«, wollte Emilia wissen.

»Einige, die Urteile sind inzwischen aber revidiert.«

»Was ist aus dem Richter geworden?«

»Er kandiert inzwischen für den Bundestag. Im selben Wahlkreis wie Edwin Kruse.«

»Edwin Kruse aus Bergmoosbach?«, fragte Miriam.

»Genau.«

»Dieser Richter hat Menschen unschuldig ins Gefängnis gebracht, und das hat ihm nicht geschadet«, wunderte sich Emilia.

»Doros Nachbarin hat unfreiwillig dafür gesorgt, dass man ihn wieder respektiert. Am Tag, nachdem sie sich zu diesem Interview mit ihm getroffen hatte, erschienen Fotos von ihr und dem Richter in einer Münchner Boulevardzeitung. Sie zeigten die beiden am Tresen einer Bar. Während er in eine andere Richtung schaut, gießt sie ihm Wodka in seine Limonade. Er hat behauptet, er sei damals bereits trocken gewesen und sie hätte ihn vorführen wollen. Er hätte nicht gewusst, was er da trank, und bekam einen Rückfall, hat er jedenfalls behauptet.«

»Warum hat sie das getan? Wollte sie eine aufregende Geschichte?«, fragte Emilia ungläubig nach.

»Sie hat behauptet, diese Fotos seien gefälscht. Sie hätte keine Wodkaflasche in der Hand gehalten, sondern ein Mikrophon. Das hat ihr aber keiner geglaubt. Die Zeitung hat ihr dann nahegelegt, sich einen anderen Job zu suchen.«

»Und der Richter als ihr Opfer hat Karriere gemacht.«

»So ist es«, stimmte Harald Miriam zu. »Jetzt erinnere ich mich auch wieder, wo ich diese Frau neben Fenja schon gesehen habe.«

»Ich bin gespannt. Es hat dich gestern ja schon beschäftigt, woher du sie kennst, nachdem sie mich beinahe umgefahren hat.«

»Du hattest einen Unfall?«, fragte Emilia erschrocken.

»Nein, glücklicherweise nicht, sie hätte mich nur fast mit ihrem Fahrrad gestreift«, beruhigte sie Miriam.

»Ich habe diese Frau in München gesehen, als ich mich mit Kruse vor dem Landtag getroffen habe«, sagte Harald.

»Als du wegen des Holzes für sein neues Haus in München, das er bei uns bestellen wollte, bei ihm warst.«

»Herr Kruse bestellt Holz bei euch, obwohl er in München wohnt«, wunderte sich Emilia.

»Er ist eben heimatverbunden. Seine Eltern, seine Geschwister, alle wohnen doch hier, und mit dem Herzen wohnt er auch noch hier, beteuert er stets aufs Neue«, erzählte Miriam.

»Diese andere Frau, diese Kendra«, sagte Harald, nachdem er ihren Namen unter dem Foto gelesen hatte, »sie hat mit Tanngruber, diesem Richter, auf einer Parkbank vor dem Landtagsgebäude gesessen. Sie hatten sich offensichtlich viel zu erzählen und haben sich mit einer freundschaftlichen Umarmung voneinander verabschiedet.«

»Kendra ist mit Fenja befreundet. Vielleicht wollte sie diesen Richter dazu bringen, dass er die Wahrheit sagt.«

»Möglicherweise«, schloss sich Harald Emilias Meinung an.

»Denkst du, Edwin Kruse hat überhaupt eine Chance gegen diesen Mann?«, wollte Miriam wissen, die sich nicht so sehr wie Harald für die Geschehnisse in der Bayerischen Hauptstadt interessierte.

»Ich denke schon. Kruse ist beliebt bei den Wählern. Er spricht ihre Probleme offen an und antwortet ehrlich auf ihre Fragen, auch wenn diese Antworten nicht immer angenehm sind. Aber gerade deshalb vertrauen ihm die Wähler.«

»Du solltest dich seinem Wahlkampfteam anschließen, das würde ihm sicher helfen«, sagte Miriam und klopfte Harald lachend auf die Schulter.

»Solltest du irgendwann für Berlin kandidieren, dann werde ich diesen Job übernehmen, vorher nicht.«

»Ich denke, mir reicht mein Sitz im Gemeinderat Bergmoosbach, mehr Politik will ich gar nicht. Lass uns gehen, ich habe in einer Stunde einen Termin mit einem neuen Kunden«, sagte Miriam.

Nachdem sie und Harald sich von Emilia verabschiedet hatten, liefen sie zur Straße hinunter und stiegen in Miriams gelben Sportwagen, den sie dort geparkt hatten.

»Eigentlich könnte ich mir Miriam ganz gut in der großen Politik vorstellen. Sie versteht es, andere mit ihrem Charme einzuwickeln, stimmt’s, Nolan?«, fragte Emilia, während sie den beiden nachschaute.

»Wuff, wuff«, machte Nolan, seine weise Antwort auf alle Fragen.

*

Am nächsten Morgen fuhr Kendra nach München. Ihre erneute Suche nach der Drohne war ebenso erfolglos verlaufen wie die erste. Ihre Hoffnung war, dass sie vielleicht nach ihrem Zusammenstoß mit dem Gleitschirm noch ein Stück weitergeflogen war, schließlich in den Sternwolkensee stürzte und nie wieder auftauchte. Oder sie war an einem Felsen zerschellt und ihre Filmaufnahmen waren für immer verloren, was ihr als die beste Lösung erschien.

Sie hatte beschlossen, in München eine neue Drohne zu besorgen, die sie aber nicht mehr von Fenjas Haus aus starten würden, um nicht erneut in Gefahr zu geraten, entdeckt zu werden. Sie hatte am Abend zuvor noch lange mit Fenja auf dem Balkon gesessen. In warme Decken eingehüllt hatte es sich dort aushalten lassen. Sie hatte ihr noch einmal eindringlich klar gemacht, dass Pascal nicht zu ihr passte. Als sie sich nach dem Frühstück von ihr verabschiedete, war sie sicher, dass sie sie davon überzeugt hatte, ihn zu vergessen.

»Ich wünsche dir eine gute Fahrt«, sagte Fenja, die sie noch zum Auto begleitete.

»Danke, ich bin dann übermorgen wieder bei dir. Ruhe dich aus und mute dir keine Aufregung zu, versprich mir das«, bat sie, bevor sie die Autotür schloss.

»Keine Aufregung, versprochen«, sagte Fenja. Sie ging zurück hinter die halbhohe Mauer, die ihr Grundstück einfasste, und schloss das weiße Holztor. Eigentlich habe ich mir aber ein wenig Aufregung gewünscht, dachte sie, während Kendras Auto aus ihrem Blickfeld verschwand. Dass sie Pascal nicht wiedersehen sollte, machte sie immer noch traurig, aber sie hatte Kendra recht geben müssen, die Gefahr, dass ein Treffen mit ihm sie in eine Depression stürzen könnte, war zu groß.

Ich muss mich ablenken, um ihn aus meinen Kopf zu verbannen, dachte sie und setzte sich an ihren Schreibtisch, um sich die nächsten Weisheiten für Glückskekse auszudenken. »Was mache ich jetzt?«, flüsterte sie, als ihr Handy läutete und Pascals Name auf dem Display aufleuchtete.

»Wäre es nicht schrecklich für dich, wenn er für dich nicht mehr als Mitleid übrig hätte oder vielleicht nur Verachtung empfinden würde?«, erinnerte sie sich an Kendras warnende Worte.

Und falls sie sich getäuscht hatte? Ihn vielleicht missverstanden hatte? Das werde ich niemals herausfinden, wenn ich diesen Anruf nicht annehme, dachte sie. »Hallo, Pascal«, meldete sie sich.

»Hallo, Fenja, es geht um die Taxushecke in Ihrem Garten. Ich würde sie mir gern ansehen. Ich möchte Ihnen die abgeknickten Bäumchen gern ersetzen. Sie sagten zwar, das sei nicht nötig, ich würde es aber trotzdem gern tun.«

»Wann möchten Sie denn kommen?«

»Ginge es heute Nachmittag? Ich werde Sie auch bestimmt nicht lange stören.«

»Um drei, ich lege eine Pause ein und wir trinken den Kaffee, zu dem ich Sie ohnehin einladen wollte.«

»Wunderbar, dann bis später.«

»Bis später«, sagte Fenja. Ich verspreche mir nichts, ich erhoffe mir nichts, ich werde nur eine Tasse Kaffee mit ihm trinken, dachte sie.

Mit ihrer Ruhe war es aber jetzt vorbei. Obwohl sie es nicht wollte, unterbrach sie immer wieder ihre Arbeit und stellte sich vor, wie die Begegnung mit Pascal verlaufen würde. Um zwölf ging sie in die Küche, um einen Käsekuchen mit Kirschen zu backen. Um zwei stand sie vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Da sie ihn in den Garten begleiten würde, musste es etwas Bequemes sein. Sie entschied sich für ihre gelbe Jeans und einen leuchtend blauen Pulli mit dreiviertellangen Ärmeln. Sie trug einen zarten Lippenstift auf, tuschte ihre Wimpern und bürstete ihr Haar schließlich gegen den Strich, was ihm noch mehr Fülle verlieh.

Als es um kurz nach drei an der Haustür klingelte, stand sie noch vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Sie zuckte zusammen, und ihr Herz klopfte schneller. Egal, was sie Kendra versprochen hatte, sie freute sich über diesen Besuch von Pascal.

»Alles in Ordnung?«, fragte Pascal, als sie ihm die Tür öffnete und ihn überrascht anschaute.

»Ja, alles gut, ich sehe Sie nur zum ersten Mal im Stehen«, sagte sie. Pascal war größer, als sie gedacht hatte, sein Haar war gekämmt und der Schmerz war aus seinem Gesicht gewichen.

»Stimmt, bei unserer ersten Begegnung lag ich Ihnen zu Füßen«, entgegnete er lächelnd.

»Wollen wir zuerst in den Garten gehen?«, fragte Fenja.

»Gern«, erklärte er sich mit ihrem Vorschlag einverstanden.

»Sie werden fünf neue Bäume brauchen«, stellte er fest, nachdem er sich die Hecke angesehen hatte. »Ich werde Sie Ihnen nächste Woche vorbeibringen und auch gleich einpflanzen. Im Moment kann ich wegen meiner geprellten Rippen leider noch nicht so gut mit der Schaufel arbeiten.«

»Sie sollten sich ohnehin noch ein bisschen schonen. Schließlich sind sie gestern erst vom Himmel gefallen.«

»Aber ich bin gut gelandet«, sagte er und hielt Fenjas Blick fest.

»Der Kaffee ist schon fertig«, sprach sie schnell weiter, weil sein Blick sie nervös machte. »Kommen Sie, gehen wir ins Haus«, sagte sie.

Sie hatte auch den Tisch schon gedeckt. Der Kuchen stand auf einem gläsernen Tortenteller, den Kaffee hatte sie in eine weiße Porzellankanne gefüllt und auf ein Stövchen gestellt. Sie hatte blaue Stoffservietten auf die weißen Kuchenteller mit dem Veilchenmuster gelegt und die passenden Tassen dazugestellt.

»Selbst gebacken?«, fragte Pascal, als sie ihm ein Stück von dem noch warmen Käsekuchen auf den Teller legte.

»Ich backe ganz gern«, sagte sie, so als sei es überhaupt nichts Besonderes, dass sie für ihn einen Kuchen gebacken hatte. »Ich hoffe, Sie mögen Käsekuchen.«

»Ja, sehr gern sogar«, versicherte er ihr und versuchte ein Stück. »Er schmeckt mir besser als der in dem Café in der Garmischer Fußgängerzone, in dem ich manchmal frühstücke. Und der Käsekuchen dort ist wirklich ausgezeichnet.«

»Danke für das Lob.« Sie trank einen Schluck Kaffee und hoffte, dass er ihr nicht ansah, wie nervös sie war. Wenigstens hier in ihrem sicheren Bereich wollte sie selbstbewusst wirkte. Ihr ursprüngliches Vorhaben, ihm während ihres ersten Treffens zum Kaffee von ihrer Krankheit zu erzählen, hatte sie erst einmal aufgegeben. Wenn es wirklich stimmte, was Kendra über ihn gesagt hatte, musste sie sich diese Blöße erst gar nicht geben.

»Ich weiß von Kendra, dass Sie Sprüche für Glückskekse schreiben. Ich stelle mir das schwer vor, sich ständig etwas Neues auszudenken.«

»Manchmal ist es mühsam, aber meistens geht es ganz gut. Im Gegensatz zu Ihrem Job trage ich keine Verantwortung. Sie müssen Ihren Schülern alles beibringen, was sie für ihre Prüfung benötigen, und Sie sind für ihre Sicherheit verantwortlich. Das stelle ich mir enorm stressig vor.«

»Für mich steht die Ausbildung im Vordergrund, dass wir heil wieder unten ankommen, ist für mich selbstverständlich, darüber denke ich nicht nach. Würde ich in ständiger Angst um eine sichere Landung leben, könnte ich diesen Beruf nicht ausüben.«

»Nein, vermutlich nicht«, stimmte sie ihm zu. Und schon habe ich mich wieder als Angsthase geoutet, dachte sie.

»Ein Fahrlehrer lebt übrigens gefährlicher als ein Fluglehrer. Wir können zwar beide jederzeit das Steuer übernehmen, falls ein Schüler versagt, aber in der Luft sind wir meistens allein und haben genügend Platz, auf der Straße sieht das anders aus. Aber natürlich, die Gefahr eines Absturzes ist gegeben, wenn man sich dort oben bewegt, das habe ich vorgestern bewiesen.«

»Was glücklicherweise gut ausging. Hatten Sie irgendwann den Wunsch, große Maschine zu fliegen?«, wollte Fenja wissen.

»Nein, ich möchte das Fliegen erleben. Eine Verkehrsmaschine ist mit so viel Technik ausgestattet, das hat mit dem eigentlichen Fliegen nicht mehr viel zu tun. Es sei denn, es tritt ein Notfall ein, dann muss der Pilot beweisen, was er kann. Glücklicherweise kommt das nicht oft vor. Was halten Sie von einem Spaziergang, Fenja, bevor sie wieder an ihren Schreibtisch zurückgehen?«

»Tut mir echt leid, das geht nicht, ich muss meinen Abgabetermin einhalten.« Fenja umfasste ihre Tasse und trank einen Schluck Kaffee. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr ansehen würde, dass sie ihn gerade anlog. Sie hätte auch liebend gern etwas mit ihm unternommen, aber solange sie ihm nichts von ihren Problemen erzählt hatte, lief sie Gefahr, dass ihn einer ihrer Panikanfälle unvorbereitet traf, das wollte sie auf keinen Fall riskieren.

»Dann verschieben wir das auf ein anderes Mal.« Auch wenn sie seinem Blick auswich, spürte Pascal doch, dass er sie in eine unangenehme Lage gebracht hatte. Offensichtlich hatte Kendra ihm nichts vorgemacht, was Fenjas psychische Verfassung betraf. Da Fenja nicht erwähnt hatte, dass Kendra ihr von ihrem Cafébesuch gestern erzählt hatte, erwähnte er ihn auch nicht. So brachte er sich nicht in Gefahr, etwas Falsches zu sagen, das Fenja möglicherweise verletzt hätte. »Es wäre schön, wenn Sie mich anrufen, sobald Sie wieder mehr Zeit haben«, sagte er.

»Das mache ich«, versicherte sie ihm.

Vielleicht sollte ich noch hinzufügen, dass ich sie gern wieder besuche, sonst ruft sie mich möglicherweise gar nicht an, weil sie befürchtet, aus dem Haus gehen zu müssen, dachte Pascal, als er sie ansah. Er entschied sich aber dagegen, weil er sicher war, dass ihr dann klar war, dass er ihr Problem kannte, und dann würde sie sich erst recht unwohl fühlen. Als er sich zehn Minuten später von ihr verabschiedete, hoffte er, dass sie den Mut fand, sich wieder bei ihm zu melden.

Kendra hat recht, ich werde mich nicht mehr mit ihm treffen. Ich schaffe es nicht einmal, einen Nachmittag mit ihm zu verbringen, dachte sie, als sie von der Haustür aus zuschaute, wie sein Wagen, ein dunkler Kombi, dessen Kofferraum genügend Platz für seinen Gleitschirm bot, aus ihrem Blickfeld verschwand. Sie hatte bereits vor einem Spaziergang, dessen Verlauf sie selbst hätte bestimmen können, kapituliert.

»Bitte nicht«, stöhnte sie und warf die Haustür zu. Sie stützte sich mit beiden Händen gegen die Wand neben der Tür und versuchte, ruhig zu atmen. Irgendwie musste sie die aufsteigende Panik in den Griff bekommen. »Ich bin im Haus, alles ist gut, es kann mir nichts passieren«, sagte sie laut zu sich selbst und atmete tief ein und aus. Nachdem sie sich ein bisschen beruhigt hatte, kochte sie sich einen Baldriantee und ging in ihr Arbeitszimmer. ›Schließe heute noch Frieden mit deiner Angst, soll sie sich einen anderen Feind suchen‹, war der erste Spruch, mit dem sie ihre neue Poesiereihe für Glückskekse begann, und genau das wollte sie für sich ausprobieren: Frieden mit ihrer Angst schließen.

*

Am nächsten Morgen war Fenja davon überzeugt, dass Pascals Besuch ihr gutgetan hatte. Er warf sie nicht zurück, wie Kendra befürchtete. Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, dass ihr Wunsch, sich mit ihm zu treffen, größer war als ihre Angst davor, das Haus zu verlassen. Selbst wenn es nicht gleich klappen würde, sie würde es schaffen. Sie musste nur den Mut besitzen, ehrlich zu ihm zu sein.

»Leider wirst du daran scheitern, meine Liebe«, sagte sie, als sie im Badezimmer vor dem Spiegel stand und ihr Haar bürstete. Die meisten ihrer früheren Freunde hatten sich zurückgezogen, nachdem sie ihnen erklärt hatte, wie sie sich fühlte. Wie hätten sie auch Kontakt mit ihr halten können, wenn sie jede Einladung ablehnte und immer nur darauf hoffte, dass sie zu ihr kamen? Auch Pascal würde sich schnell zurückziehen, weil der Umgang mit ihr einfach zu kompliziert war. So sehr sie auch daran glauben wollte, dass ihre Begegnung mit ihm ihre Fahrkarte zurück in ein normales Leben sein konnte, so sehr fürchtete sie sich davor, dass er ihr nicht genug Zeit lassen würde, um das herauszufinden.

Aber noch wollte sie die Hoffnung nicht ganz aufgeben. Vielleicht geschah ein Wunder und sie würde schon morgen in der Lage sein, das Haus zu verlassen. Oder vielleicht sogar schon heute, dachte sie. Um für diese Wendung in ihrem Leben gerüstet zu sein, tuschte sie ihre Wimpern, legte Lidschatten auf und benutzte einen hellen Lippenstift. Sie ging ins Schlafzimmer, zog den Kleiderschrank auf und tauschte die Jeans und das weite T-Shirt gegen eine schwarze Leinenhose und eine sandfarbene Bluse mit kurzen Ärmeln. Sie nahm sich fest vor, irgendwann im Laufe des Tages das Haus zu verlassen, um wenigstens ein paar Schritte in Richtung Dorf zu laufen.

Als es um kurz nach neun an der Tür läutete, ging sie davon aus, dass es ein Paketbote war. Sie hatte vor ein paar Tagen Büromaterial bestellt. Sie überzeugte sich davon, dass sie die Textdatei mit den Glückskekssprüchen gesichert hatte und ging zur Tür.

»Haben Sie gestern etwas vergessen?«, fragte sie erstaunt, als nicht der Paketbote, sondern Pascal vor der Tür stand.

»Ja, schon, ich hatte vergessen, Ihnen zu sagen, dass ich heute zum Frühstück vorbeikomme«, sagte er lächelnd und drückte ihr eine Tüte mit noch warmen Brötchen in die Hand.

»Danke, kommen Sie herein«, bat sie und trat zur Seite, um ihm Platz zu machen.

»Ich hoffe, Sie haben noch nicht gefrühstückt.«

»Nein, wenn ich allein bin, begnüge ich mich meistens mit einer Tasse Kaffee. Kendra ist ja zur Zeit in München.«

»Aber Sie haben nichts gegen ein Frühstück einzuwenden.«

»Nein, habe ich nicht. Dann will ich mal sehen, was ich Ihnen zu den Brötchen anbieten kann. Gehen wir in die Küche«, sagte sie.

Fenja zog die Gardinen in der Küche beiseite und öffnete die Flügeltüren zum Garten. Das hereinströmende Sonnenlicht wärmte den Raum, nicht mehr so stark wie noch vor einigen Tagen, aber es war angenehm genug, um die Türen eine Weile geöffnet zu lassen.

Nachdem sie Kaffeepulver in den Filter der Kaffeekanne gefüllt hatte, schaltete sie den Wasserkocher ein, stellte zwei Gedecke auf den Tisch, und Pascal füllte die knusprigen Brötchen in das Körbchen, das sie ihm reichte. Danach übernahm er die Zubereitung des Kaffees, und sie kümmerte sich um den Belag für die Brötchen: Marmelade, Honig, Butter und Käse.

»Falls Sie heute wieder den ganzen Tag arbeiten müssen, könnte ich am Nachmittag mit Kuchen vorbeikommen, um Ihnen eine Pause zu verschaffen«, schlug er vor, als sie ein paar Minuten später zusammen am Küchentisch saßen.

»Ich kann das nie so genau bestimmen, wie lange ich arbeite. Es kommt darauf an, wie schnell mir etwas einfällt.«

»Was machen Sie, falls Ihnen nichts einfällt? Gehen Sie spazieren oder joggen, um den Kopf freizubekommen?«

»Weder noch, ich lege mich aufs Sofa oder gehe in den Garten. Nur in den Garten, nicht weiter.« Sie wollte, dass er nachfragte, was dieses ›nicht weiter‹ bedeutete. In diesem Moment war sie bereit für die Wahrheit.

»Was bedeutet nicht weiter?«, fragte er auch behutsam nach.

»Ich leide an Agoraphobie«, sagte sie und erzählte ihm von ihren Panik­attacken und der Angst, das Haus zu verlassen. »Ich führe zur Zeit ein recht langweiliges Leben, das weiß ich«, sagte sie, nachdem er ihr aufmerksam zugehört hatte, sie aber nur nachdenklich anschaute und schwieg.

»Vertraust du mir, Fenja? Verzeihung, vertrauen Sie mir?«, verbesserte er sich und hielt ihren Blick fest.

»Wir können ruhig beim Du bleiben, und ja, ich vertraue dir«, sagte sie. Sein Blick verriet ihr alles, was sie wissen musste. Da war keine Spur von Verachtung oder Mitleid, das niemals wirklich weiterhalf, weil es nur zum Bedauern taugte, aber keine Lösung anbot. Nein, es war Mitgefühl. Er schien wirklich zu verstehen, was in ihr vorging.

»Komm mit mir, ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er.

»Wohin?«

»Lass dich überraschen.«

»Muss ich das Haus verlassen?«

»Ja, musst du.«

»Aber ich habe dir doch gerade gesagt, dass…«

»Nein, nicht darüber nachdenken, was nicht geht«, unterbrach er sie und legte seine Hand auf ihre. »Hast du deine Lieblingsmusik auf deinem Handy gespeichert?«

»Ja, habe ich.«

»Gut, dann setz dir Kopfhörer auf und lass dich von der Musik ablenken.«

»Das funktioniert nicht.«

»Doch, es funktioniert. Du bist nicht allein, du musst dich um nichts kümmern, höre nur auf deine Musik. Falls es nicht klappt, dann lassen wir es und versuchen es ein anderes Mal«, versicherte er ihr.

»Aber du hast gar nichts dazu gesagt, was ich dir gerade erzählt habe.«

»Weil ich eine Idee habe, wie ich dir vielleicht helfen könnte. Ich denke, ich weiß, wie du diese Ängste wenigstens für eine Weile loswerden könntest.«

»Ich hole mein Handy.« Er wusste jetzt über sie Bescheid, er bot ihr Hilfe an und sie würde sie annehmen, weil sie nicht wollte, dass er gleich wieder aus ihrem Leben verschwand.

»Sieh auf den Boden und schau deinen Füßen zu, wie sie sich Schritt für Schritt vorwärts bewegen. Mehr musst du nicht tun«, sagte er, als sie wenig später zur Haustür gingen.

»Okay, versuchen wir es.« Sie schloss die Tür ab und setzte den Kopfhörer auf, dessen Kabel sie unter der Bluse hindurchgezogen hatte, damit es sie nicht behinderte. Danach schaltete sie die Musik ein und steckte das Handy in ihre Hosentasche.

Fenja machte genau das, was er ihr gesagt hatte. Sie sah auf den Boden und achtete nur auf ihre Schritte. Pascal hielt ihr das Tor zur Straße auf, und sie ging einfach weiter. Als es hinter ihr zufiel, was sie trotz ihrer Kopfhörer wahrnahm, zuckte sie zusammen, ließ sich aber von dieser Schrecksekunde nicht gleich verunsichern. Pascals Auto stand direkt vor dem Tor, und als er die Beifahrertür aufhielt, stieg sie ein. Ich schaffe das, machte sie sich erneut Mut. Sie entspannte sich auch sofort, als Pascal sich hinter das Steuer setzte und den Motor anließ. Jetzt war das Auto ihr sicherer Raum, den sie nur mit Pascal teilte, der ihr mehr Verständnis entgegenbrachte als die meisten ihrer ehemaligen Freunde.

»Du kannst sie auch gern auflassen«, sagte er, als sie die Kopfhörer abnahm.

»Schon in Ordnung, ich brauche sie gerade nicht.«

»Sobald du dich unwohl fühlst, setzt du sie wieder auf.«

»Mir geht es gut«, versicherte sie ihm.

»Das wäre dann wohl ein gelungener Auftakt für unser Vorhaben«, sagte er und streifte sie mit seinem Blick.

»Stimmt, obwohl ich noch immer nicht weiß, was wir vorhaben.« Da sie nun einmal beschlossen hatte, ihm zu vertrauen, hakte sie nicht weiter nach. Sie hatte ihm ihr Problem offenbart, und sie ging davon aus, dass er ihr nichts zumuten würde, was für sie unmöglich zu bewältigen war.

Fenja nahm sich vor, die Fahrt zu genießen. Sie lehnte sich in dem Sitz zurück und schaute aus dem Fenster. Die Straße aus dem Neubaugebiet führte an den roten Backsteingebäuden der Brauerei Schwartz entlang und stieß gegenüber der Apotheke auf die Durchgangsstraße in Richtung Mainingberg.

»Hier ist also die Praxis Seefeld«, stellte sie fest, als sie am Ortsende von Bergmoosbach an dem Haus mit den lindgünen Fensterläden vorbeikamen, das auf einem sanft ansteigenden Hügel stand. Die Wiese vor dem Haus war auf der rechten Seite von einem Steingarten eingefasst und auf der linken Seite von einer Hecke, die die Wiese von der gepflasterten Einfahrt zur Praxis hinauf trennte.

»Du warst noch nie hier?«, wunderte sich Pascal.

»Nein, aber nachdem ich Doktor Seefeld kennengelernt habe, werde ich vielleicht demnächst einmal herkommen. Er hat auf mich den Eindruck gemacht, als läge ihm tatsächlich etwas am Wohle seiner Patienten. Er hat so gar nichts Arrogantes an sich.«

»Deshalb ist er auch der beliebteste Arzt im ganzen Tal. Ich kenne einige Leute, die zu ihm gehen, sogar häufiger, als es notwendig wäre, wobei es sich in diesem Fall ausschließlich um Frauen handelt.«

»Hoffnungen sollte sich aber keine machen. Er und Anna Bergmann, die Bergmoosbacher Hebamme, sind ein Paar. Ich sehe sie manchmal. Wir haben einige Schwangere in unserer Siedlung. Anna ist wunderschön und selbstbewusst und besitzt die gleiche mitfühlende Art im Umgang mit ihren Patientinnen wie Doktor Seefeld, habe ich gehört. Hin und wieder spreche ich mit den Nachbarn über den Gartenzaun hinweg«, sagte sie, als Pascal sie verwundert anschaute.

»Das heißt, du hast dich weniger von dem Leben außerhalb deines Hauses abgekoppelt, als du glaubst.«

»Du meinst, die Brücke ist noch nicht eingestürzt, ich muss sie nur reparieren?«

»Ich denke, so ist es.«

»Dann will ich das mal glauben«, sagte Fenja und sah wieder aus dem Fenster.

Sie fuhren auf der Landstraße an Mainingberg vorbei in Richtung Garmisch, und sie hatte noch immer keine Ahnung, wo sie schließlich anhalten würden. Vielleicht gar nicht, vielleicht will er mir zuerst nur klar machen, dass ich ohne Angst in einem Auto herumfahren kann. Auch ihre Eltern hatten so einen Versuch schon unternommen, aber sie hatten immer ein Ziel eingeplant, an dem sie aussteigen sollte, was sie aber meistens nicht geschafft hatte. In den letzten Monaten hatte sie diese Ausflüge verweigert. Dass sie auf Pascals Vorschlag eingegangen war, bedeutete entweder, dass sie mutiger wurde oder dass sie sich an seiner Seite absolut sicher fühlte. Vielleicht von beidem etwas, dachte sie, als Pascal in einen schmalen Waldweg einbog.

»Ich werde hier nicht aussteigen«, flüsterte sie, als sie kurz darauf das Ende des Waldweges erreichten und das Gelände des Sportflughafens vor ihnen lag. Sie spürte, wie sich alles in ihr zusammenkrampfte, als sie auf die Mechaniker, Piloten und Fluggäste schaute, die sie sich auf dem Gelände aufhielten.

»Das ist in Ordnung. Dann bleiben wir hier sitzen und schauen nur zu«, sagte Pascal.

»Danke.« Ihr Herzschlag beruhigte sich sofort wieder, als ihr klar wurde, dass er keine bestimmte Erwartung an sie stellte.

Sie schaute auf die Motorflugzeuge und Segelflugzeuge, die auf der Wiese neben der Start- und Landebahn standen. Neben den kleinen Flugzeugen für zwei oder vier Personen parkten dort auch größere Maschinen. »Welche Flugzeuge darfst du fliegen?«, wollte sie wissen, als eine der größeren Maschinen über die Startbahn rollte, beschleunigte und wenig später vom Boden abhob.

»Alle, die du hier siehst. Bist du schon einmal mit einem Segelflugzeug geflogen?«

»Nein, bisher noch nicht.«

»Vom Fluggefühl her ist es das Flugzeug, das dem Flugerlebnis mit einem Gleitschirm am nächsten kommt. Du existierst nur im Jetzt, frei von allen Sorgen.«

»Das klingt verlockend.«

»Du könntest es ausprobieren. Oder hast du Flugangst?«

»Früher bin ich ohne nachzudenken in ein Flugzeug gestiegen, wie es heute wäre, weiß ich nicht.«

»Was könnte im schlimmsten Fall passieren, wenn du dich entschließt, mit mir in ein Flugzeug zu steigen?«

»Ich könnte einen Panikanfall bekommen und Todesängste entwickeln.«

»Wenn du keine Flugangst hast, warum sollte das in einem Flugzeug, in dem außer uns niemand ist, passieren? Ein Segelflugzeug lässt sich außerdem fast überall landen. Auf einer Wiese auf einem Acker oder einer Hochalm. Wir könnten diesen Flug jederzeit beenden.«

»Also gut«, sagte Fenja und setzte die Kopfhörer wieder auf.

»Das heißt, du kommst mit?«

»Ich will es auf jeden Fall versuchen.«

»Du wirst es schaffen.« Er stieg aus, ging um das Auto herum und hielt ihr die Wagentür auf.

Während sie über die Wiese liefen, schaltete sie die Musik in ihrem Handy an und schaute nur auf ihre Schritte. Pascal führte sie zu einem Motorsegler mit einer Glaskuppel, klappte das Plexiglasdach zur Seite und half ihr einzusteigen. Nachdem auch er eingestiegen war, sprach er mit dem Tower und erhielt auch sofort eine Starterlaubnis. Er klappte das Dach zu, sie schnallten sich an, dann rollten sie zur Startbahn. Fenja behielt die Kopfhörer auf und schaute nur nach vorn. Sie wollte nicht an ihrem Entschluss zweifeln, sie wollte es einfach geschehen lassen.

*

Zehn Minuten später waren sie in der Luft. Über ihnen der strahlend blaue Himmel, unter ihnen samtig grüne Hügel, glitzernde Seen und Tannenwälder. Fenja schaltete die Musik aus, nahm die Kopfhörer ab und schaute nach oben in das unendliche Blau des Himmels, während Pascal den Motor des Flugzeuges abstellte. Sie nahm die Glaskuppel nicht mehr als Trennung wahr, es schien, als schwebten sie vollkommen frei dem Horizont entgegen.

»Diese Stille ist wundervoll«, flüsterte sie.

»So als würde die Zeit still stehen«, sagte Pascal.

»Ja, genauso fühlt es sich an.« Sie schaute zur Seite, blickte auf die Dörfer und verstreut liegenden Gehöfte, alles schien so weit weg zu sein, eine Spielzeuglandschaft, die nichts mit ihrem Leben zu tun hatte. Nichts war mehr wichtig, ihre Sorgen, ihre Ängste, sie hatte sie dort unten zurückgelassen.

»Könnten wir über die Gipfel hinwegfliegen?«, wollte sie wissen, als sie auf die Berge schaute, die sich vor ihnen an den Himmel streckten.

»Das hatte ich ohnehin vor«, sagte Pascal. Er schaltete den Motor des Flugzeuges wieder an und leitete den Steigflug ein. Sie gewannen schnell an Höhe und bald waren sie über den Gipfeln.

Es dauerte nicht lange, und sie hatten die Zugspitze erreicht. Pascal stellte den Motor wieder ab und sie schwebten über das in der Sonne glitzernde Schneeplatt hinweg, blickten auf die Gipfel der Alpen, einem Meer von über 400 Bergen, das sich bis zum tiefblauen Horizont erstreckte und das sich vier Länder teilten: Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien. Von oben gesehen existierten keinen Grenzen, alles gehörte zusammen, der Himmel, die Berge und die Täler mit ihren Flüssen und Seen.

»Ich empfinde nur noch Glück, vollkommenes Glück«, sagte Fenja. In diesem Moment konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, dass sie so lange so traurig und voller Angst war.

Pascal hatte seine Kopfhörer, über die er den Funk mit den Flughafentowern mithörte, nicht ganz auf die Ohren gesetzt, damit er sich auch noch mit Fenja unterhalten konnte. Er schaute sie an und lächelte. »Es war mein Wunsch, dich glücklich zu machen«, sagte er. »Was hältst du von einem Abstecher nach Salzburg? Wir könnten dort zu Mittagessen.«

»Ja, gern, fliegen wir nach Salzburg.« Fenja hatte das Gefühl, als wäre sie von all ihren Ängsten befreitet. Sie würde endlich wieder leben können.

Sie glitten noch ein paar Minuten über die Berge hinweg, schauten auf Gipfel und Schluchten, bis Pascal schließlich den Motor wieder anschaltete und in einer großen Schleife in Richtung Salzburg flog.

Fenjas Blick wechselte zwischen dem Himmel und der Landschaft, über die sie hinwegflogen, so als betrachtete sie ein Bilderbuch, das so groß war, dass sie sich darin aufhalten konnte. Alles, was sie gerade erlebte, erschien ihr ohnehin wie ein Traum, nur in einem Traum konnte man so glücklich sein.

Gegen Mittag erreichten sie Salzburg. Fenja schaute auf die Stadt, die sich in einem Tal am Rande der Alpen umgeben von ihren Stadtbergen ausbreitete. Sie konnte die Kirchtürme der Altstadt erkennen und die Brücken über die Salzach, die zu den großen Alpenflüssen zählte und mitten durch die Stadt floss. Sie ließ diese Eindrücke einfach nur auf sich wirken.

Zehn Minuten später waren sie gelandet, und Pascal stellte das Flugzeug auf den ihnen zugewiesenen Platz am Rande der Startbahn ab. Fenja ließ ihre Ängste, die sich gleich darauf beim Verlassen des Flugzeuges meldeten, nicht zu. Sie würde sich diesen Tag mit Pascal nicht verderben lassen. Als er vorschlug, mit einem Taxi in die Stadt zu fahren, willigte sie ein. Noch immer erschien ihr alles wie ein Traum. In einem Traum war sie sicher, ihr konnte nichts passieren.

*

Sie stiegen am Ufer der Salzach aus dem Taxi und spazierten über eine Brücke zur Altstadt hinüber. Fenja blieb in der Mitte Brücke stehen und schaute über das Geländer hinweg auf den Fluss.

»Alles in Ordnung?«, fragte Pascal.

»Ja, ich denke, es ist alles in Ordnung«, antwortete sie lächelnd.

Es war ein wundervoller Tag, die Sonne schien, der Himmel war strahlend blau, die Salzach schillerte in den schönsten Blau- und Türkistönen und neben ihr stand ein Mann, in den sie sich verliebt hatte und der ihr das Gefühl absoluter Sicherheit gab. Mehr konnte sie sich von einem Tag nicht wünschen.

Nachdem sie den Fluss überquert hatten, waren sie in der Altstadt. Sie liefen durch die Getreidegasse mit ihren malerischen Häusern, die noch die alten schmiedeeisernen oder vergoldeten Zunftschilder trugen. Pascal nahm Fenja an die Hand, als sie kurz stehen blieb und auf die Touristen schaute, die sich durch die Gasse drängten. Die meisten auf der Suche nach dem Haus mit der Nummer 9, Mozarts Geburtshaus.

»Wollen wir umkehren?«, fragte er sie leise.

»Nein, wir gehen noch ein Stück.« Fenja war fest entschlossen, auch diesen Teil der Herausforderung anzunehmen.

Sie liefen durch die verträumten Gassen, betrachteten die gepflegten Häuser aus vergangenen Jahrhunderten und sahen auch einander immer wieder an. Als sie den Marktplatz der Altstadt erreichten, blieb Fenja vor dem 400 Jahre alten Brunnen stehen und betrachtete das Spiralgitter, ein filigranes Drahtgeflecht, das seinen Rand einfasste.

»Die klaren Linien moderner Bauwerke würden den Menschen, die zur Zeit des Brunnenbaus lebten, nicht gefallen. Sie mochten es verspielt und romantisch. Ich wünschte, wir könnten für einen Augenblick in der Zeit zurückreisen und uns ansehen, wie es vor 400 Jahren hier an dieser Stelle aussah«, sagte Fenja.

»Ungefähr um diese Zeit erhielt die Altstadt ihr heutiges Aussehen. Wir würden vermutlich auf einer Baustelle landen.«

»Was sicher interessant wäre.«

»Schon, aber das 17. Jahrhundert war eine Hochzeit des Hexenwahns. Würdest du in deiner modernen Kleidung dort auftauchen, könnten sie dich nicht in ihr Weltbild einordnen.«

»Was Menschen nicht verstehen, erscheint als Bedrohung. Wir bleiben lieber hier.«

»Eine weise Entscheidung«, antwortete Pascal lachend. »Was hältst du davon, wenn wir dort drüben zu Mittag essen?« Er deutete auf das Restaurant, das nur ein paar Schritte vom Brunnen entfernt war. Der Eingang war von einem dunkelblauen Baldachin überdacht und draußen vor dem großen Rundbogenfenster standen Tische aus dunklem Holz, auf denen weinrote Stoffservietten lagen, und Stühle mit weinroten Kissen. Zwei Tische waren noch frei, und sie wählten den direkt neben dem Eingang. Fenja setzte sich mit dem Rücken zu den anderen Tischen, so fühlte sie sich von den anderen Gästen nicht beobachtet.

Sie tranken Zitronenlimonade, aßen gebackene Käsenockerl und danach ein Heidelbeereis. Pascal erzählte ihr von seinem Traum, eine eigene Flugschule zu eröffnen, und sie sprach darüber, wieder eine richtige Journalistin sein zu können.

»Bevor du nach Bergmoosbach gezogen bist, was ist da passiert?«, fragte er sie und sah sie an.

»Du denkst, meine Ängste haben etwas mit meiner Arbeit zu tun?«

»Du wärst nicht die erste Journalistin, die wegen einer Story oder ihrer Vorgehensweise während einer Recherche angefeindet wird.«

»Du hast recht, es gab einen Vorfall, der mich noch immer belastet. Ob dieses Ereignis allein schuld an meinem Zustand ist, kann ich nicht sagen, aber es hat mich schon sehr belastet«, sagte sie und erzählte ihm von Richter Tanngruber und ihrer Rolle in dieser Geschichte.

»Ich kann mich erinnern, dass ich irgendwann einen kurzen Artikel darüber gelesen habe, aber ohne diese Fotos, und dein Name wurde auch nicht erwähnt. Es hieß nur, dass eine Journalistin diesen Richter wieder in die Alkoholsucht getrieben hätte.«

»Jetzt kennst du diese Journalistin«, sagte Fenja und senkte den Blick.

»Hast du niemals herausgefunden, wer dir das angetan hat?«

»Nein, die Boulevardzeitung, die den Artikel veröffentlicht hatte, wollte ihren Informanten natürlich nicht nennen, was ich auch verstehen kann. Tanngruber hat überall gute Freunde, ich hätte es vermutlich ohnehin nicht geschafft, dass die Öffentlichkeit meine Geschichte glaubt.«

»Es tut mir leid, was dir zugestoßen ist.«

»Ich muss lernen zu akzeptieren, dass ich mich nicht reinwaschen kann. Diese Geschichte wird für immer an mir kleben. Deshalb werde ich vermutlich auch nie wieder als Journalistin arbeiten können, keine Zeitung wird sich jemals wieder darauf einlassen, etwas von mir zu veröffentlichen.«

»Du könntest Bücher schreiben.«

»Ja, vielleicht werde ich das irgendwann versuchen. Vorausgesetzt, ich stoße auf eine interessante Geschichte.«

»Wie wäre es mit einem Roman, der damit beginnt, dass eine junge Frau einen Mann in ihrem Garten findet, der aus dem Himmel gefallen ist?«

»Klingt nach Sciencefiction.«

»Ein bisschen.«

»Obwohl, es wäre schon möglich«, sagte sie, als die Sonne in diesem Moment auf die Tische vor dem Restaurant fiel und Pascals grünbraunen Augen nur noch grün schimmerten.

»Was wäre möglich?«

»Dass ein Außerirdischer in meinen Garten gefallen ist. Du hast mir gerade das Gefühl gegeben, dass du keine Zweifel an meiner Version der Geschichte hegst. Das ist ungewöhnlich, vielleicht sogar außerirdisch ungewöhnlich.«

»Ich denke, wen jemand ungewöhnlich ist, dann du. Für dich hat die Wahrheit noch eine Bedeutung, du hast für sie gekämpft.«

»Mein Einsatz war nicht so hoch. Es gibt andere, die haben um den Preis der Wahrheit richtig viel verloren, auch in der jüngsten Vergangenheit.«

»Du wurdest ausgebremst, bevor du größere Dinge vollbringen konntest.«

»Ich habe mich selbst ausgebremst.«

»Du wirst zurückfinden.«

»Vielleicht«, seufzte sie und tauchte ihren Löffel in das Heidelbeereis, das vor ihr stand.

»Du schaffst es, davon bin ich überzeugt«, sagte Pascal und betrachtete sie mit einem zärtlichen Blick. Obwohl sich Fenja gerade so machtlos fühlte, sah er in ihr eine starke Persönlichkeit, die diese Krise überwinden würde.

»Ich möchte noch eine Schachtel Mozartkugeln kaufen. Ich werde jeden Tag eine essen und mich an diesen Ausflug erinnern«, sagte Fenja, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten.

»Dann lass uns in eine Konditorei gehen.« Pascal nahm sie wieder liebevoll an die Hand und begleitete sie in die Konditorei gegenüber dem Restaurant, einen hübschen kleinen Laden mit knarrendem Holzdielen, schwarzen Lackregalen und einer alten Kasse aus Messing. Er ließ 31 Mozartkugeln in eine bemalte Dose packen und schenkte sie Fenja. »Ein Vorrat für einen Monat«, sagte er.

»Und danach holen wir neue?«, fragte sie, nachdem sie sich bei ihm bedankt hatte.

»Das hoffe ich doch«, antwortete er und half ihr, die Dose in die Papiertüte zu verstauen, die er sich hatte geben lassen, und trug die Tüte dann auch für sie.

Fenja verspürte so etwas wie Wehmut, als sie auf dem Weg zum Taxistand erneut die Brücke über die Salzach überquerten. Noch hatte sie keine Ahnung, wie der Tag sich auf sie auswirken würde, ob sie auf dem, was sie heute geschafft hatte, aufbauen konnte. Als sie eine halbe Stunde später wieder in das Segelflugzeug stieg, verstärkte sich diese Wehmut noch, weil ihr klar war, dass sie nun bald aus diesem Tagtraum erwachen musste, in dem sie für ein paar Stunden glücklich war.

Obwohl sie es nicht wollte, fielen ihr auf dem Rückflug die Augen zu, und als sie sie wieder öffnete und nach oben an den endlosen Himmel schaute, wusste sie für den Bruchteil einer Sekunde nicht, wo sie sich befand. Erst als sie das gleichmäßige Brummen des Motors wahrnahm, fiel es ihr ein.

Sie schaute auf Pascal, der die Kopfhörer aufhatte.

»Du siehst zufrieden aus«, sagte er, als er zu ihr herübersah.

»Das bin ich auch, zufrieden und glücklich«, sagte sie.

Als Pascal gleich darauf mit dem Tower in Garmisch sprach, wusste sie, dass der Alltag als einsame Glückskeksdichterin sie schon bald wieder vereinnahmen würde. Ein paar Minuten später setzte das kleine Flugzeug sanft auf der Landebahn auf.

»Wir können das jederzeit wiederholen. Es gibt noch viele andere Ziele, die wir für einen Tagesausflug nutzen können«, sagte Pascal, als er ihr aus dem Flugzeug heraushalf und sie nicht mehr ganz so glücklich wirkte wie in Salzburg.

»Danke, dass du das sagst, aber vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, wie alles weitergeht.«

»Alles?«

»Mit mir und…«

»Mit uns?«, fragte er, als sie innehielt.

»Ja, auch das«, sagte sie und schaute zu Boden. Vielleicht hatte sie zu weit gedacht und er hatte ihr mit diesem Ausflug einfach nur eine Freude machen wollen.

»Mit uns wird es weitergehen, vorausgesetzt, dass du es willst«, sagte er, als sie wieder aufsah.

»Ich wünsche es mir, aber ob es möglich sein wird.« Sie standen abgeschirmt von dem kleinen Flugzeug am Ende der Wiese neben der Landebahn. Die Nachmittagssonne fiel auf die Glaskuppel, und es schien, als würde das Licht Funken sprühen.

»Warum sollte es nicht möglich sein?«

»Das Leben mit mir könnte kompliziert sein.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach er ihr und nahm sie in seine Arme.

»Heute war ein guter Tag, aber das bedeutet nicht, dass ich meine Ängste besiegt habe.«

»Ich werde dir helfen, sie zu besiegen.«

»Du könntest die Geduld verlieren.«

»Nein, sicher nicht. Gib uns eine Chance, Fenja«, sagte er und dann küsste er sie.

Der Traum geht weiter, dachte sie und schmiegte sich in seine Arme.

*

»Entschuldige mich, das ist mein Kollege, der mich gerade vertritt«, sagte Pascal, als sie vor Fenjas Haus angehalten hatten und sein Handy läutete. »Hallo, Ingo«, meldete er sich. »In Ordnung, ich bin in einer halben Stunde bei dir.«

»Ärger?«, fragte Fenja, nachdem Pascal das Gespräch beendet hatte und sie nachdenklich anschaute.

»Nein, gar nicht. Meinem Kollegen wurde eine achtsitzige Cessna angeboten. Sie steht in Kempten, und er möchte sie sich gern ansehen. Er hat mich gebeten, ihn zu begleiten, was ich ihm ungern abschlagen möchte. Das bedeutet aber, dass aus dem Kaffee, den wir bei dir noch trinken wollten, nichts wird.«

»Dann trinken wir den Kaffee eben morgen. Wir könnten wieder zusammen frühstücken.«

»Das ist eine gute Idee. Ich werde mir morgen noch einmal freinehmen, dann könnten wir nach dem Frühstück wieder etwas unternehmen. Oder auch bei dir bleiben, falls du dir zwei Ausflüge kurz hintereinander noch nicht zutraust.«

»Das entscheiden wir dann morgen.«

»Um wie viel Uhr soll ich da sein?«

»So um halb zehn.«

»Wird Kendra auch da sein?«

»Ich denke nicht, sie schläft gern länger und wird sicher nicht vor elf in München losfahren.«

»Dann bin ich morgen so um neun wieder bei dir.«

»Ich freue mich darauf. Ich danke dir für diesen Tag, es war eine wunderbare Idee von dir«, sagte sie, als er um seinen Wagen herumging und ihr die Autotür aufhielt.

»Ich wollte dich glücklich machen.«

»Was dir gelungen ist.«

»Ich werde es immer wieder tun, so lange du es zulässt«, versicherte er ihr, nahm sie in seine Arme und küsste sie.

»Bis morgen«, sagte sie. Dieses Mal blieb sie vor dem Tor zu ihrem Grundstück stehen und schaute ihm nach, bis die Straße einen Bogen machte und sie ihn nicht mehr sehen konnte. Danach ging sie ins Haus, machte sich einen Cappuccino und setzte sich auf den Balkon.

Hätte ihr jemand am Anfang der Woche erzählt, auf welches Abenteuer sie sich einlassen würde, hätte sie allein der Gedanke daran panisch werden lassen. Stattdessen hatte sie dieses Abenteuer glücklich gemacht, so glücklich, dass sie noch immer das Gefühl hatte, auf Watte zu gehen. Ich habe mich in Pascal verliebt, und dieses Gefühl ist stärker als meine Ängste, dachte sie. Ihr war bewusst, dass ein einziger Tag ihre Krankheit nicht heilen konnte, aber es war ein Anfang, und mit Pascal an ihrer Seite würde sie diese Krise in ihrem Leben überwinden.

Zu ihrer Überraschung kam Kendra schon an diesem Abend wieder aus München zurück. Sie stand gerade in der Küche und schnitt Tomaten für den Salat, den sie sich zum Abendessen zubereiten wollte, als sie ihren Wagen vor der Haustür parkte.

»Hallo, ich bin wieder da!«, rief sie, als sie die Tür mit dem Schlüssel aufschloss, den sie ihr für die Dauer ihres Aufenthaltes in Bergmoosbach überlassen hatte.

»Du wolltest doch an der Redaktionssitzung heute Abend teilnehmen und anschließend mit den Kollegen essen gehen. Was ist passiert?«, wollte Fenja wissen.

»Die Sitzung war schon am Nachmittag. Und das mit dem Essen war mir nicht so wichtig, ich wollte dich nicht so lange allein lassen.«

»Du lässt dir doch nie ein Essen mit den Kollegen entgehen. Du hast mir doch erst vor ein paar Tagen wieder erklärt, dass du möglichst viel über sie wissen musst, um herauszufinden, wer dir den Posten als Redaktionsleiterin gönnen wird und wer nicht.«

»Ich denke, in diesem Punkt bin ich ein bisschen zu paranoid. Dieser Posten steht mir zu, weil meine Artikel das meiste Aufsehen erregen und die Verkaufszahlen der Zeitung erhöhen. Ich weiß, was unsere Leser wirklich interessiert.« Den wahren Grund für ihre frühere Rückkehr behielt sie für sich. Sie hatte sich mit Tilo Tanngruber getroffen. Er wollte von ihr die Zusage, dass schon in der nächsten Woche ein Zeitungsartikel über Edwin Kruse erschien, der seine politische Karriere zerstörte.

»Kruse wird sich in den nächsten Tagen bei seinen Verwandten aufhalten, wie ich hörte. Eine Aufnahme, wie er eine andere Frau umarmt, ein Gespräch mit einem Lieferanten, erfinden Sie die passende Geschichte, eine die sich nicht auf die Schnelle entkräften lässt. Das genügt, um ihn ins Abseits zu stellen. Die Leute glauben immer das, was sie zuerst hören, das wissen Sie doch«, hatte er zu ihr gesagt.

Für sie bedeutete das, sie musste die neue Drohne, die noch in ihrem Kofferraum lag, möglichst schnell einsetzen, um den Krusehof zu beobachten. Und sie musste darauf vertrauen, dass die erste Drohne nie gefunden wurde. Das wiederum hatte zur Folge, sie musste sich noch mehr anstrengen, Pascal für sich zu gewinnen, um ihm eine mögliche Untersuchung nach der Ursache seines Absturzes auszureden.

»Alles in Ordnung?«, fragte Fenja, als Kendra nachdenklich aus dem Fenster sah.

»Aber ja, alles ist bestens«, versicherte sie ihr.

»Möchtest du auch Tomatensalat und Baguette?«

»Gern«, sagte Kendra. Das mit Pascal würde sie schon hinbekommen, bisher hatte ihr noch nie ein Mann widerstehen können. »Wie war dein Tag heute?«, wollte sie von Fenja wissen, als sie ein paar Minuten später zusammen am Küchentisch saßen.

»Ich hatte einen wundervollen Tag«, verkündete Fenja mit einem strahlenden Lächeln.

»Was war los? Wurde dein Honorar erhöht? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Das klingt, als würdest du glauben, dass mich nur Geld glücklich machen könnte. Ich muss nicht um meine Existenz fürchten, ich habe alles, was ich brauche. Glück bedeutet für mich etwas anderes«, entgegnete sie mit einem verträumten Blick.

»Hattest du Besuch?« Dieser Glanz in Fenjas Augen ließ sie bereits ahnen, was sie gleich hören würde.

»Pascal war hier, und dann sind wir nach Salzburg geflogen und haben in der Altstadt zu Mittag gegessen.« Fenja konnte die Neuigkeit nicht mehr länger für sich behalten.

»Du warst in Salzburg?« Kendra ließ die Gabel mit dem Tomatensalat sinken und sah Fenja verblüfft an.

»Es war unglaublich, Kendra«, sagte Fenja und erzählte ihr von ihrem Frühstück mit Pascal, dem Flug über die Gipfel der Alpen und ihrem Tag in Salzburg. »Warte.« Sie ging in ihr Arbeitszimmer und holte die Schachtel mit den Mozartkugeln. »Eine gute Journalistin will immer einen Beweis für eine Geschichte sehen«, sagte sie lächelnd und stellte die Schachtel auf den Tisch.

»Er konnte dich einfach so zu diesem Ausflug überreden?«, fragte Kendra und schaute auf das goldene Schildchen mit der Adresse einer Salzburger Konditorei, das auf der Schachtel mit den Mozartkugeln klebte.

»Die Idee mit dem Kopfhörer hat geholfen.«

»Bisher hattest du mit dieser Methode aber kaum Erfolg.«

»Mag sein, was vermuten lässt, dass es vor allen Dingen Pascal war, der mir die nötige Sicherheit für diesen Ausflug geben konnte.«

»Die nötige Sicherheit, verstehe.« Kendra hatte Mühe, ihren Zorn auf Pascal für sich zu behalten. Wie konnte er es wagen, sich einfach über ihre Bitte hinwegzusetzen, sich von Fenja fernzuhalten. Ganz offensichtlich war sein Interesse an ihr größer, als sie angenommen hatte. Nach dem, was Fenja ihr gerade erzählt hatte, wusste sie allerdings nichts von diesem Gespräch, das sie mit Pascal nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus geführt hatte. Für diese Geheimhaltung war sie Pascal äußerst dankbar. Sie würde ihr helfen, diese zarte Liebe, die sich zwischen den beiden gerade entwickelte, zu zerstören.

»Fenja, ich muss dir etwas sagen.« Kendra setzte eine bestürzte Miene auf und tat so, als fiele es ihr schwer, weiterzusprechen.

»Gab es Ärger in München?«, fragte Fenja mitfühlend.

»Nein, es geht nicht um mich, sondern um dich.«

»Und um was geht es? Nach diesem wundervollen Tag bin ich nicht so leicht zu erschüttern«, entgegnete sie lächelnd.

»Es tut mir so leid, Fenja, aber Pascal treibt ein ganz böses Spiel mit dir«, sagte Kendra und dabei krampfte sie ihre Hände ineinander, als kostete es sie ihre ganze Kraft, Fenja über Pascal aufzuklären.

»Von was sprichst du? Pascal hat mir geholfen, meine Ängste zu überwinden. Wenn du das als Spiel bezeichnen willst, meinetwegen. Ich bin froh darüber, dass er es getan hat.«

»Du weißt nicht, warum er sich so viel Mühe gegeben hat, dich nach draußen zu locken. Es ging nicht darum, dir zu helfen. Er wollte nur etwas beweisen.«

»Das wäre?« Sie fragte sich, was mit Kendra los war. Warum war sie auf einmal so misstrauisch? Pascal hatte doch Erfolg mit seiner Idee gehabt.

»Pascal hat mit mir gewettet.«

»Über was?«

»Dass es ihm gelingt, dich aus dem Haus zu bekommen.«

»Wie hätte er eine Wette auf etwas abschließen können, von dem er gar nichts weiß?«

»Er wusste es aber, ich habe ihm von deinen Ängsten erzählt. Bevor ich in Garmisch shoppen war, bin ich ins Krankenhaus gefahren, um ihn zu bitten, dich nicht zu überfordern. Er wurde gerade entlassen, und wir sind in ein Café gegangen, um in Ruhe zu reden, später habe ich ihn dann nach Hause gefahren. Ich dachte, ich hätte ihm dieses dumme Vorhaben ausge­redet, mir zu beweisen, dass er dich mit seinem Charme manipulieren kann.«

»Warum hast du mir nicht gesagt, dass du mit ihm über mich gesprochen hast?«

»Weil ich dir nicht wehtun wollte. Sollte ich dir sagen, dass er Menschen wie dich für labile Persönlichkeiten hält, denen man nur ein Zuckerstückchen hinhalten muss, um sie steuern zu können?«

»Das hat er gesagt?«, fragte Fenja mit Tränen in den Augen.

»Und noch mehr, was ich jetzt aber nicht wiederholen will. Dieser Mann ist Gift für dich, Schätzchen. Was hast du vor?«, fragte sie erschrocken, als Fenja zur Fensterbank ging und ihr Handy aus der Ladestation nahm.

»Ich rufe Pascal an«, sagte Fenja und schluckte die Tränen hinunter.

»Wenn du dir das antun willst.« Kendra bereitete sich schon auf ein unangenehmes Gespräch mit Fenja vor. Pascal konnte zwar nicht abstreiten, dass er von ihren Ängsten gewusst hatte, aber dass er schlecht über sie gesprochen haben sollte, schon.

»Hallo, Pascal, ich möchte dich etwas fragen, und ich bitte dich, mir ehrlich zu antworten. Wusstest du von Kendra bereits von meinen Ängsten?«, hörte sie Fenja sagen. »Du wusstest es, danke, das war es schon.«

»Es tut mir wirklich sehr leid.« Kendra sprang auf und nahm Fenja tröstend in die Arme. Dieses Telefongespräch hätte gar nicht besser für sie verlaufen können.

»Ich habe ihm vertraut, und er hat mich nur benutzt, um sein Ego zu stärken. Besitze ich denn gar keine Menschenkenntnis mehr?«, flüsterte Fenja mit tränenerstickter Stimme.

»Du bist eine einsame Seele, da kann so etwas passieren«, bestärkte Kendra Fenja darin, dass sie sich in Pascal getäuscht hatte.

»Entschuldige mich, Kendra, ich muss mich ein paar Minuten hinlegen«, sagte Fenja.

»Schon in Ordnung, wenn du reden willst, komm einfach zu mir.« Was nicht passieren wird, weil du dich wie immer in eine Depression flüchten wirst und dein Bett heute nicht mehr verlassen wirst, dachte Kendra, als Fenja in ihr Schlafzimmer lief.

Sie wartete ein paar Minuten, schaltete dann Fenjas Handy aus, das sie in der Küche hatte liegen lassen, und holte die neue Drohne aus ihrem Auto, um sie auf ihren Einsatz vorzubereiten. Morgen früh würde sie Fenja noch weiter gegen Pascal aufbringen und dafür sorgen, dass sie ihn nie wiedersehen wollte.

*

Um zwei Uhr am nächsten Nachmittag fuhr Pascal nach Bergmoosbach, um mit Sebastian Seefeld zu sprechen. Er war noch in Kempten gewesen, als ihn Fenjas Anruf am Abend zuvor erreichte. Offensichtlich hatte Kendra ihr inzwischen von ihrem Cafébesuch erzählt und was sie ihm dort eröffnet hatte. Er konnte verstehen, dass Fenja sauer war. Er hätte gern mit ihr darüber gesprochen, aber sie ging nicht mehr ans Telefon, weder gestern noch heute. Bevor er einen weiteren Versuch unternahm, mit ihr zu sprechen, wollte er von Doktor Seefeld wissen, ob er Fenja möglicherweise mit diesem Ausflug nach Salzburg überfordert hatte. Er parkte sein Auto auf der Straße vor dem Seefeldanwesen und lief die Auffahrt zur Praxis hinauf.

»Hallo«, sagte er freundlich, als ihm zwei Teenager mit einem Berner Sennenhund entgegenkamen.

»Hallo«, antworteten die beiden ebenso freundlich.

»Moment mal, Sie sind doch Pascal, der Paraglider, der unfreiwillig in unserem Neubaugebiet gelandet ist, richtig?«, fragte das Mädchen. Es war stehen geblieben, warf sein langes rotbraunes Haar zurück und sah ihn mit seinen hellen grauen Augen an.

»Gehöre ich jetzt zu den bekannten Persönlichkeiten im Tal?«, fragte Pascal amüsiert.

»So sieht es wohl aus«, stimmte der großgewachsene Junge zu, der sein hellblondes Haar zu einem Zopf im Nacken gebunden hatte.

»Sie wollen sicher zu meinem Vater. Ich bin Emilia Seefeld, Markus Mittner«, stellte Emilia sich und ihren Freund vor. »Und das ist Nolan«, sagte sie, als der Berner Sennenhund ein leises »Wuff«, hören ließ. »Wissen Sie denn inzwischen, wie es zu dem Absturz kam?«, fragte Emilia.

»Mit Sicherheit weiß ich es nicht, und die Spuren an meinem Schirm sind auch nicht wirklich eindeutig, aber ich vermute, es war ein Vogel.«

»Falls es ein Vogel war, dann könnte er verletzt sein.«

»Ich denke nicht, dass sich das herausfinden lässt. Das Gebiet, in dem er sich aufhalten könnte, ist viel zu groß.«

»Wo genau war denn der Zusammenprall?« Emilia rief eine Karte von Bergmoosbach in ihrem Handy auf und reichte es Pascal.

»Ungefähr hier, über dem Waldstück unterhalb der Burg«, sagte Pascal und deutete auf die Stelle, an der sein Schirm ins Trudeln geriet.

»Danke.« Emilia markierte die Stelle und steckte ihr Telefon wieder ein. »Wir wollten ohnehin einen langen Spaziergang mit Nolan machen. Wir sehen mal dort nach, ob wir den Vogel sehen. Wenn er den Schirm aus dem Gleichgewicht bringen konnte, muss es ein größerer Vogel gewesen sein, der sich nicht so leicht übersehen lässt.«

»Ich halte es nicht für wahrscheinlich, dass du ihn finden wirst, falls es überhaupt ein Vogel war.«

»Versuchen Sie erst gar nicht, es ihr auszureden«, sagte Markus.

»Nein, das bringt nichts«, erklärte Emilia lachend. »Außerdem haben wir Nolan dabei, er sucht gern und ist dabei auch meistens erfolgreich. Falls wir eine Spur finden, die zur Ursache ihres Absturzes führt, melden wir uns.«

»Vielen Dank«, sagte Pascal und ging zur Praxis hinauf.

»Weißt du was, ich rufe Doro an, sie kann uns bei der Suche helfen«, erklärte Emilia und zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Jeans, während sie und Markus zur Straße hinuntergingen.

»Gute Idee«, stimmte Markus ihr zu und auch Nolan ließ ein kurzes »Wuff«, hören, als er den Namen Doro hörte.

Gleich darauf betrat Pascal die Empfangsdiele der Praxis, einen hellen Raum mit Dielenboden und weißem Tresen, hinter dem eine ältere Frau in einem ordentlich gestärkten weißen Kittel stand. Sie hatte die Brille mit dem grünen Rahmen in ihr kurzes dunkles Haar geschoben und schaute auf den Computerbildschirm, der auf dem Tresen stand.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Gerti Fechner, die langjährige Sprechstundenhilfe der Praxis Seefeld.

»Ich würde gern mit Doktor Seefeld sprechen, aber nicht über mich. Ich brauche seinen Rat. Es geht um eine junge Frau, die unter Panikattacken leidet«, sagte er, nachdem er sich mit einem Blick in das Wartezimmer davon überzeugt hatte, dass dort noch niemand saß.

»Und warum kommen Sie damit zu uns?«, fragte Gerti.

»Doktor Seefeld ist der jungen Dame schon begegnet, als ich vor ein paar Tagen in ihrem Garten gelandet bin.«

»Der Paraglider«, stellte Gerti fest und betrachtete ihn mit einem interessierten Lächeln.

»Hallo, Herr Malen, was kann ich für Sie tun?«, fragte Sebastian, der in Jeans und weißem Poloshirt in die Praxis kam.

»Es geht um Fenja Kirchner. Ich brauche dringend Ihren Rat.«

»Kommen Sie mit«, bat Sebastian ihn.

»Ach ja«, seufzte Gerti, als Pascal Sebastian ins Sprechzimmer folgte. Wenn ich noch jung wäre, dann würde ich mir jetzt auch einen großen Garten zulegen und auf das große Glück aus dem Himmel warten, dachte sie und wandte sich wieder ihrem Computerbildschirm zu.

Auch das Sprechzimmer war mit weißen Möbeln eingerichtet, bis auf die schöne alte Vitrine aus honigfarbenem Holz mit den historischen Medizinbüchern hinter den Glastüren, die Benedikt Seefeld im Laufe der Jahre gesammelt hatte. Sie sorgte für ein warmes Ambiente, in dem die Patienten sich wohlfühlten.

»Das war sogar eine ganz ausgezeichnete Idee«, versicherte Sebastian Pascal, nachdem er ihm von seinem Ausflug mit Fenja erzählt hatte. »Sie haben Frau Kirchner damit auf jeden Fall geholfen.«

»Ja, vielleicht, aber jetzt ist sie sauer auf mich, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich will nicht, dass sie wieder zurückgeworfen wird«, sagte Pascal und erklärte Sebastian, warum er Fenja nicht gleich gesagt hatte, dass er über ihre Ängste Bescheid wusste.

»Gehen Sie zu ihr und sprechen Sie mit ihr. Sie haben Ihr Wissen über sie nicht missbraucht, sondern es genutzt, um ihr zu helfen.«

»Ich hoffe, dass sie das auch so sieht.«

»Sie wird es verstehen«, machte Sebastian ihm Mut. »Wie geht es Ihnen denn?«, wollte er wissen.

»Gut, manchmal ziehen meine Rippen noch ein bisschen, mehr spüre ich nicht mehr von dem Unfall.«

»Sie hatten großes Glück.«

»Ich weiß, sogar doppelt. Die Taxushecke war da, und ich bin Fenja begegnet.«

»Denken Sie nicht zu viel darüber nach, wie Sie mit ihrer Krankheit umgehen sollen. Handeln Sie nach Ihrem Gefühl.«

»Das mache ich, ich wollte nur sicher gehen, dass ich ihr nicht zu viel zugemutet habe.«

»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Sebastian und begleitete ihn noch zur Tür.

»Vielen Dank, Doktor Seefeld«, verabschiedete sich Pascal und verließ die Praxis.

»Können wir dann anfangen?«, fragte Gerti, als Sebastian noch einen Augenblick in der Tür seines Sprechzimmers stehen blieb.

»Ja, können wir«, sagte er. Nach dem, was er gerade gehört hatte, hatte Doro ihre Nachbarin ganz offensichtlich richtig eingeschätzt. Und Anna hatte mit ihrer Ferndiagnose Agoraphobie vermutlich recht gehabt.

*

Fenja hatte in der Nacht kaum geschlafen und den ganzen Vormittag auch nichts an ihrem Schreibtisch zustande gebracht. Kendra hatte ihr gleich beim Frühstück noch einmal geschildert, wie wenig Verständnis Pascal für ihre Lage aufbrachte, und das hatte sie zuerst traurig gemacht. Inzwischen war sie nicht mehr traurig, sondern wütend.

Es kam ihr vor, als hätte Pascal sie aus einem Gefängnis befreit, in das er sie dann wieder zurückgestoßen hatte. Nein, das stimmt nicht, ich bin freiwillig zurückgegangen, dachte sie, als sie am Nachmittag auf der Terrasse im Garten saß, während Kendra auf ihrem Zimmer an einem Artikel arbeitete, wie sie sagte.

Fenja schaute dem Eichhörnchen nach, das durch den Garten flitzte und unter der Hecke verschwand. Sie stand auf, um nachzusehen, wo es wieder herauskam. Kurz darauf sah sie es den Stamm einer Birke hinaufklettern, die am Bachufer stand. So frei möchte ich auch wieder sein, einfach dorthin gehen, wohin ich möchte, dachte sie.

Und dann beschloss sie, zum Bach zu gehen, der nur ein paar Meter von ihrem Haus entfernt lag. Sie hatte gestern so viel Mut bewiesen, es musste etwas bewirkt haben.

*

Pascal hoffte inständig, dass Fenja ihm die Gelegenheit geben würde, ihr alles zu erklären. Er atmete noch einmal tief ein und aus, bevor er auf die Klingel an ihrer Haustür drückte. Kurz darauf öffnete nicht Fenja ihm die Tür, sondern Kendra. Sie hatte das Klingen gehört und war sofort nach unten gerannt, als sie Pascals Auto auf der Straße stehen sah.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie kühl.

»Ich möchte mit Fenja sprechen.«

»Ihr geht es nicht gut. Kommen Sie, wir gehen ein paar Schritte«, sagte sie und zog die Haustür leise hinter sich zu. Sie ging davon aus, dass Fenja ein Beruhigungsmittel genommen hatte und eingeschlafen war, weil sie nicht zur Tür kam. Glücklicherweise war es so, dann konnte sie jetzt dafür sorgen, Pascal endgültig loszuwerden.

»Was haben Sie ihr gesagt?«, fragte Pascal, als sie um das Haus herumgingen und an den hochgewachsenen Büschen entlangliefen, die das Bachufer von dem Weg neben dem Haus trennten.

»Ich habe ihr nur gesagt, dass ich Ihnen aus Sorge um sie von ihren Ängsten erzählt habe.«

»Haben Sie ihr auch gesagt, dass sie mich darum gebeten haben, mich von ihr fernzuhalten?«, wollte Pascal wissen und blieb stehen.

»Was wohl auch besser gewesen wäre. Aber sei es drum, sie will sie ohnehin nicht wiedersehen. Sie hält sie für einen selbstverliebten Menschen, der Spaß daran hat, anderen seinen Willen aufzuzwingen.«

»Das hat sie gesagt?«, wunderte sich Pascal.

»Sie hat noch ganz andere Dinge gesagt. Dass sie gar nicht mit Ihnen fliegen wollte, dass sie sich nur das Flugzeug hatte ansehen wollen und dass sie dann einfach das Dach geschlossen haben und sie sich wie eine Gefangene gefühlt hat.«

Fenja konnte nicht glauben, was sie da gerade hörte. Sie saß auf einem Felsen am Bachufer und schaute auf das in der Sonne glitzernde Wasser, während Kendra Pascal eine Lüge nach der anderen auftischte. Damit war jetzt Schluss. »Hör auf, Kendra, es reicht«, sagte sie und kam hinter den Büschen hervor, die sie vor Kendra und Pascals Blicken verborgen hatten.

»Was machst du hier?«, fragte Kendra verblüfft.

»Ich habe gerade gelernt, dass du es nicht wirklich gut mit mir meinst. Ich denke, es ist besser, wenn du gehst.«

»Aber gern doch, ich habe sowieso genug davon, für eine erwachsene Frau, die sich nicht im Griff hat, den Babysitter zu spielen«, erklärte Kendra. »Dann wird das wohl mit meinen Flugstunden bei Ihnen nichts mehr«, wandte sie sich an Pascal.

»Nein, ich denke nicht«, antwortete er.

»Auch gut«, sagte sie und marschierte auf ihren hohen Absätzen und mit wehendem Haar davon.

»Schickst du mich auch fort?«, fragte Pascal und sah Fenja abwartend an. Sie trug ein hellrotes knielanges Kleid, das Haar fiel ihr in weichen Locken über den Rücken, und sie sah ihn mit ihren großen dunklen Augen an. »Sprich mit mir«, bat er sie.

»Ich habe diese Dinge nicht über dich gesagt, und ich denke, dass das, was du angeblich über mich gesagt hast, auch von ihr erfunden war.«

»Was soll ich gesagt haben?«

»Lass uns auf die Terrasse gehen, dann sprechen wir darüber.« Als sie ihn an die Hand nahm und lächelte, wusste er, dass alles gut werden würde.

Während Kendra im Gästezimmer ihre Sachen packte, klärten Fenja und Pascal unten auf der Terrasse alle Missverständnisse. Fenja hatte danach keine Zweifel mehr daran, dass sie Pascal vertrauen konnte. Sie fand es rührend, dass er sogar Sebastian Seefeld aufgesucht hatte, um ihn um Rat zu fragen.

»Das heißt, du bist mir nicht böse, dass ich mit ihm über dich gesprochen habe?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich werde gleich nächste Woche zu ihm gehen, um mit ihm über meine Probleme zu sprechen. Die allerdings, dank dir, schon beeindruckend nachgelassen haben«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange. Sie war so froh, dass sie sich nicht in ihm getäuscht hatte. Dass sie sich in Kendra geirrt hatte, tat zwar auch weh, aber das würde sie verkraften.

»Ich habe vorhin auch mit Emilia Seefeld und ihrem Freund Markus gesprochen. Emilia hat sich Sorgen um den Vogel gemacht, der möglicherweise mit meinem Gleitschirm kollidiert ist. Sie hat sich von mir die Stelle im Wald zeigen lassen, über der der Schirm ins Trudeln kam. Sie haben sich sofort auf den Weg gemacht, um dort nach dem Vogel zu suchen.«

»Dass sie ihn finden, halte ich für aussichtslos.«

»Ich auch, aber als ich in ihrem Alter war, so fünfzehn, sechzehn Jahre, habe ich auch noch an Wunder geglaubt. Es war eine Zeit der Hoffnung und des Gefühls, dass alles möglich sein könnte.«

»Das, was du bei mir bewirkt hast, grenzt auch ein Wunder«, sagte Fenja und schmiegte sich in seine Arme.

Kendra saß auf dem Bett im Gästezimmer und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Sie hatte am Fenster gestanden und Fenjas Gespräch mit Pascal belauscht. Dass diese Teenager nach einem verletzten Vogel suchten, war äußerst beunruhigend. Möglicherweise hatten sie mehr Glück als sie. Ich muss wissen, was da vor sich geht, dachte sie. Sie nahm ihre gepackte Reisetasche und die Tasche mit der Drohne, ging die Treppe hinunter und verließ das Haus. Sie wollte das Gepäck in ihr Auto stellen und dann nach dieser Emilia und ihrem Freund Ausschau halten. Nachdem sie die Taschen im Kofferraum verstaut hatte und wieder aufschaute, spürte sie ihr Herz schneller schlagen.

Sie wusste gleich, dass dieses Mädchen mit dem langen rotbraunen Haar, das in Begleitung eines großgewachsenen Jungen und eines Berner Sennenhund die Straße heraufkam, Emilia Seefeld war. Das andere Mädchen mit dem blonden kurzem Haar, das ein langes schwarzes Kleid trug, und sie begleitete, kannte sie. Es war Doro Hindelang, die im Haus gegenüber von Kendra wohnte.

Das Beunruhigende war, dass der Junge ihre Drohne in den Händen hielt. Sie konnte davon ausgehen, dass die drei mit einer Drohne umgehen konnten, vermutlich sogar besser als sie. Sollte die Kamera noch funktionieren, hatten sie vermutlich einen Blick auf das Filmmaterial geworfen.

Während der Berner Sennenhund auf das Haus der Hindelangs zustürmte und Doros Mutter, eine hübsche Frau Mitte vierzig, die mit einem Strauß bunter Astern im Arm aus dem Garten hinter dem Haus kam, mit einem tiefen »Wuff, wuff«, begrüßte, kam der Junge mit der Drohne geradewegs auf sie zu.

»Wir wollten Ihnen Ihr Eigentum wiederbringen«, sagte er.

»Mein Eigentum? Wie kommst du darauf, dass dieses Ding mir gehört?« Es ist zumindest den Versuch wert, ihn zu verunsichern, dachte Kendra.

»Da wir wissen wollten, wem die Drohne gehört, haben wir uns ihre Aufzeichnungen angesehen«, klärte Emilia sie auf und sah sie eindringlich an.

»Haben Sie ein besonderes Interesse am Krusehof? Und wenn ja, warum?«, fragte Doro.

»Ich glaube es nicht«, flüsterte Fenja, die mit Pascal aus dem Garten kam und fassungslos auf die Drohne schaute.

»Wir halten uns erst einmal im Hintergrund«, raunte Pascal ihr zu. Kendra stand mit dem Rücken zu ihnen und hatte sie noch nicht bemerkt. Er war gespannt, wie sie auf die Vorwürfe der drei jungen Leute reagierte. Er hatte Nolan an seinem Bellen erkannt, und er und Fenja wollten wissen, ob Emilia und Markus tatsächlich einen Hinweis auf die Ursache des Absturzes gefunden hatten. Wie es aussah, war es so.

»Warum beantworten Sie meine Fragen nicht?«, hakte Doro nach, als Kendra schwieg, weil sie nicht sicher war, was die drei bereits wussten.

»Keine Ahnung, von was du sprichst«, stellte sie sich erneut unwissend. »Ich habe keine Zeit für eure Spielchen, Kinder«, sagte sie und schloss den Kofferraum.

»Nun gut, dann zum nächsten Punkt. Wir gehen davon aus, dass diese Drohne den Absturz des Paragliders auf diesem Grundstück, vor dem wir gerade stehen, verursacht hat«, sprach Doro unbeeindruckt von Kendras Abwehrhaltung weiter.

Sie hatte vor Kurzem beschlossen, Staatsanwältin zu werden, und orientierte sich an dem Auftreten der Staatsanwälte in ihren Lieblingsserien.

»Und? Was kann ich dafür?«, entgegnete Kendra von oben herab.

»Vor dem Absturz ist die Drohne von diesem Grundstück gestartet, hat den Krusehof mehrmals überflogen, wurde dann in eine höhere Flugbahn gesteuert und flog über dieses Haus hinweg in Richtung Burgruine, die sie aber nicht mehr erreichte, weil sie vorher mit dem Gleitschirm zusammenstieß.«

»Interessante Theorie, die beweist aber nicht, dass dieses Ding mir gehört.« Kendra drängte sich an Doro vorbei, um in ihr Auto zu steigen. »Ihr werdet diesen Unsinn doch nicht glauben«, wandte sie sich an Pascal und Fenja, die sie erst bemerkt hatte, als sie sich zur Fahrertür umwandte.

»Sie müssen es nicht glauben. Sie müssen sich nur die Aufnahmen der Drohne ansehen.«

»Darf ich?«, wandte sich Pascal an Markus, der ihm die Drohne auch sofort übergab. »Wie sieht das für Sie aus?«, fragte er Kendra und zeigte ihr die Aufnahme, die sie mit der Steuerung für die Drohne in den Händen auf Fenjas Balkon zeigte.

»Es war ein Unfall, Kendra. Niemand geht davon aus, dass du diesen Absturz beabsichtigt hast. Warum hast du nichts gesagt?«, wollte Fenja wissen.

»Die Drohne war zu hoch, eine Versicherung würde den Schaden nicht regulieren. Sie müsste allein dafür gerade stehen«, sagte Doro.

»Superschlaues Kind«, zischte Kendra Doro an.

»Neidisch?«, entgegnete Doro schmunzelnd. »Kommen wir noch einmal auf Punkt eins zu sprechen. Warum diese Aufnahmen vom Krusehof?«

»Zufall«, sagte Kendra. Sie hatte auf einmal das Gefühl, dass doch noch alles gut für sie ausgehen könnte. Es war ein Unfall, wie Fenja gesagt hatte. Sie würde sich entschuldigen und erklären, dass sie zunächst unter Schock stand und ihr dann der Mut fehlte, die Wahrheit zu gestehen.

»Vielleicht hat Ihr Interesse für den Krusehof auch etwas mit Ihrer Bekanntschaft mit Doktor Tanngruber, dem ehemaligen Richter, zu tun. Vielleicht sammelt er Material über seinen Konkurrenten zur Wahl der Bundestagsabgeordneten«, sagte Emilia. Offensichtlich war diese Kendra nicht ehrlich zu ihrer Freundin, möglicherweise war sie nicht einmal die Freundin, die sie vorgab zu sein.

»Wie kommst du darauf, dass Kendra etwas mit Doktor Tanngruber zu tun hat?«, fragte Fenja verblüfft und sah Emilia an.

»Sie wurde mit ihm gesehen«, sagte Emilia und erzählte ihr, was sie von Harald Baumann wusste.

»Du triffst dich mit Tanngruber?« Fenja sah Kendra fassungslos an.

»Wer ist dieser Harald Baumann, der diesen Unsinn über mich verbreitet?«, fuhr Kendra Emilia an.

»Sie möchten ihn kennenlernen? Das lässt sich arrangieren, ich rufe ihn an. Er kann dann auch gleich Herrn Kruse über die Aufnahmen seines Hofes informieren und ihm sagen, dass er Doktor Tanngruber darauf ansprechen soll.«

»Schon gut«, lenkte Kendra ein, als Emilia ihr Handy zückte.

»Du hast damals die Fotos aus der Bar gefälscht und für diesen Artikel gesorgt, der meine Karriere beendet hat.« Fenja hatte das Gefühl, dass ihr gleich die Beine wegsackten. Diese Frau, die sie für ihre Freundin gehalten hatte, hatte sie nur benutzt. »Du wolltest nicht, dass Pascal den Unfall untersuchen lässt, deshalb wolltest du dich an ihn heranmachen, und ich war dir dabei im Weg. Die Drohne durfte auf keinen Fall gefunden werden, damit du nicht in die Schlagzeilen gerätst. Eine Journalistin, die mit ihm in Kontakt steht und den Hof seines stärksten Konkurrenten ausspioniert, das hätte Doktor Tanngruber nicht gefallen.«

»Bravo, dein Spürsinn ist dir noch nicht abhandengekommen. Der allein reicht aber nicht, um Großes zu vollbringen. Du musst dich schon vor die Tür trauen und den nächsten Gegenschlag aushalten, der dir bei diese Art Journalismus immer droht. Ich kann damit fertig werden«, erklärte Kendra.

»Was hat Tanngruber dir damals geboten, um sich als Opfer darstellen zu können?«

»Damals nur die Leitung der Redaktion.«

»Was in seiner Macht lag, da sein Bruder die Zeitung übernommen hatte. Was hat er dir für diese Sache mit der Drohne versprochen?«

»Einen Posten in Brüssel.«

»Daraus wird wohl nichts, da ich davon ausgehe, dass Doktor Tranngruber dieses Mal nicht das Opfer spielen kann«, sagte Pascal.

»Ach ja? Und Sie glauben, dass könnten Sie steuern?«, fragte Kendra und lachte hämisch.

»Auch andere Menschen haben gute Beziehungen«, antwortete Pascal.

»Wir werden sehen, wer am Ende gewinnt. Die Drohne, bitte«, sagte Kendra.

»Sorry, die ist ein Beweismittel, die müssen wir bei der Polizei abliefern«, erklärte Doro.

»Macht doch, was ihr wollt, ihr Hinterwäldler«, schimpfte Kendra. Sie warf Fenja den Schlüssel für ihr Haus zu und stieg in ihr Auto.

»Diese Dame war leicht zu überführen«, stellte Doro zufrieden fest.

»Das lag an deiner gut durchdachten Befragung, Frau Staatsanwältin«, sagte Emilia und legte den Arm um die Schultern ihrer Freundin.

»Welche Beziehungen hast du denn?«, wollte Fenja von Pascal wissen.

»Mein Bruder ist leitender Redakteur beim bayerischen Fernsehen. Er wird sich über diese Geschichte bestimmt freuen, und ich habe einen guten Freund bei der Garmischer Zeitung. Sobald du so weit bist, werden wir mit ihm sprechen. Ich bin sicher, er wird dich sofort in seinem Team haben wollen.«

»Ich brauche aber noch ein bisschen Zeit.«

»Mag sein, aber du wirst es schaffen«, sagte Pascal und nahm sie zärtlich in seine Arme.

»Wie wäre es mit Kaffee und Kuchen? Oder auch Kakao und Kuchen?«, wandte sich Fenja an Emilia, Doro und Markus.

»Wir trinken Tee«, sagte Emilia lächelnd.

Auch Frau Hindelang, die die Auseinandersetzung mit Kendra mitbekommen hatte, wurde von Fenja zum Kaffee eingeladen, und ein paar Minuten später saßen sie an dem großen Tisch auf Fenjas Terrasse und ließen sich den Apfelkuchen schmecken, den Fenja nach ihrer Rückkehr vom Bach aus der Kühltruhe genommen und im Backofen hatte auftauen lassen. Für Nolan gab es einen Hundekuchen, den Doro schnell von zu Hause holte. Dort stand immer eine Tüte mit Hundekuchen für ihn bereit.

»Mein Vater wird Ihnen ganz bestimmt helfen können«, versicherte Emilia Fenja, nachdem sie ihnen ganz offen von ihren Ängsten erzählt hatte.

»Ich wollte ohnehin zu ihm gehen«, sagte Fenja.

»Das ist eine gute Entscheidung«, pflichtete Karin Hindelang ihr bei. »Sie müssen auch keine Scheu davor haben, den Leuten im Dorf zu erzählen, wie sie sich fühlen. Niemand wird sie schief ansehen. Im Gegenteil, sie werden von allen Seiten Hilfe bekommen. Die meisten Bergmoosbacher sind freundlich und mitfühlend, und wer hier wohnt, gehört zu ihnen.«

»Das klingt, als sei ich im Paradies gelandet«, entgegnete Fenja lächelnd.

»Du bist angekommen, ich bin derjenige, der gelandet ist«, sagte Pascal und dann mussten alle herzlich lachen, und Nolan ließ ein zufriedenes »Wuff« hören.

*

Sebastian vermittelte Fenja eine gute Gesprächstherapeutin. Mit ihrer Hilfe und Pascal an ihrer Seite konnte sie sich schon vier Wochen später bei der Zeitung in Garmisch bewerben und wurde als Journalistin eingestellt. Die erste große Story, die sie dort schreiben konnte, war eine Enthüllungsgeschichte über Doktor Tanngrubers Machenschaften, die sie verleumdet hatten. Der zweite Teil der Story über seine Methode, einen Wahlkampf zu führen, zwang seine Partei schließlich dazu, ihn von der Wahlliste zu streichen.

Fenja hatte Glück gehabt, ihr war Gerechtigkeit zuteil geworden.

Der neue Landdoktor Staffel 9 – Arztroman

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