Читать книгу Humoristische Geschichten - Erster Band - Theodor Oelckers - Страница 6

2.

Оглавление

Der Rote Ochse war allerdings, wie Herr Mittag der Wahrheit gemäß bemerkt hatte, ein Fuhrmannsgasthof, aber in seiner Art fein sehr gutes solides Haus. Unten im Erdgeschoss, rechts und links neben der geräumigen Einfahrt, befanden sich zwei Gaststuben. In der zur Rechten hausten die Fuhrleute und deren Genossen; die Stube zur Linken dagegen war von feinerer Art, man sah da nur selten eine Tabakspfeife, sondern fast nur Zigarren; desgleichen verirrte sich dahin nur selten ein Schurzfell oder ein Leinwandskittel und die Stube war meist nur mit modischen Röcken gefüllt, deren Träger sich wenigstens für Gentlemen hielten, wenn sie es nicht waren. Den ehrenden Besuch dieser Gäste verdankte der Rote Ochse seinem allezeit guten Biere. Wenn in der ganzen Stadt geklagt wurde, ,,man findet jetzt nirgends ein ordentlich Glas Bier, “ so galt diese Klage doch sicherlich nicht vom Roten Ochsen, denn dort blieb das Getränk jahrein jahraus von gleicher Güte.

Auch herrschte in dieser Bierstube ein freier, unbefangener und gemütlicher Ton, den man umso erquicklicher empfindet, je häufiger man ihn an dergleichen Orten vermisst. Man weiß ja, wie oft in deutschen (besonders norddeutschen) Bierstuben selbst heutzutage noch — wenn auch glücklicherweise seltener als ehemals—die deutsche Neigung zur Absonderung zu bemerken ist, besonders an gewissen großen Tischen, wo sich sogenannte Stammgäste regelmäßig versammeln und das fast ausschließliche Niederlassungsrecht beanspruchen. Da kann es geschehen, dass der Fremdling, der in seiner Harmlosigkeit wähnt, an solcher Stätte könne es keine Territorialstreitigkeiten geben, und der sich, der Friedenspfeife gewärtig, heitern Mutes niederlässt, gar bald die bittere Erfahrung machen muss, dass da nicht jeder erste Beste die Rolle des lieben Nächsten spielen darf; — je nach dem Charakter des Stammes, unter den ihn sein unfreundlich Schicksal geführt hat, wird er etwa ein unheimliches banges Schweigen, ähnlich der Stille vorm Ungewitter, eintreten sehn, seinen arglosen Fragen wird entweder keine oder nur eine solche Antwort, auf die ein Altmeister in lakonischer Ausdrucksweise mit Recht stolz sein dürfte, eiskalt, noch tief unterm Gefrierpunkte, halblaut und so einsilbig, dass selbst die karge Silbe noch beschnitten erscheint, als wäre sie unter den Händen der weiland Kipper und Wipper gewesen; vom Kreisen der Friedenspfeife ist keine Rede, die Häuptlinge stecken die weisen Köpfe zusammen und der Fremdling wird in jene unbehagliche Lage versetzt, wo man nicht genau weiß, ob man sich für verraten oder verkauft halten soll. Gehört er unter die einigermaßen Gewitzigten, so entschließt er sich bald zum freiwilligen Rückzuge, bevor ihm, sei es von einem der jungen Krieger, sei es von einem der bejahrten Häuptlinge, entweder im Tone einer Herausforderung oder der Mittheilung eines fürchterlichen Geheimnisses die Erklärung wird, dass dieser Tisch und diese Stühle insgesamt Tabu sind. Ist aber der Stamm sehr kriegerisch, so ist auch der Prozess weit kürzer und der Fremdling wird ohne vorherigen Kriegsrat sofort genötigt, seinen Skalp durch die Flucht zu retten. Manche Stämme sind auch wohl so weit zivilisiert, dass sie den fremden Gast nicht als Feind im kriegerischen Sinne des Worts, sondern als, Squatter betrachten, der ein unvermeidlich Übel ist und den man zwar notgedrungen sitzen lässt, aber nicht um ihn freundnachbarlich zu behandeln, sondern ihm das Leben und sein Glas Bier so sauer als möglich zu machen.

Solchen und ähnlichen Gefahren war man in der Gentlemenstube des Roten Ochsen niemals ausgesetzt. Hier galt für Alle gleiches Recht und jeder neue Gast war den alten Gästen willkommen, denn es war bekannt, dass jeder, der hier eintrat, recht gut wusste, was er wollte und unmöglich ein Friedenstörer sein konnte.

Solche empfehlende Umstände wusste der junge Künstler, Karl Morgen, zwar vollkommen zu schätzen, doch waren sie es keineswegs, was ihn veranlasst hatte, in diesem Hause sein Quartier zu nehmen. Ungefähr ein Jahr früher hatte Karl seinem Oheim und seiner Vaterstadt einen kurzen Besuch geschenkt. Schon im Begriffe abzureisen, hatte er damals aus seinem Wege durch die Stadt eine über alle Beschreibung anmutige Jungfrau (unartige Leute würden sagen „Backfisch“) erblickt und sich sofort unheilbar verliebt. Er war der holden damals vielleicht kaum sechzehnjährigen Erscheinung nachgegangen, um wenigstens zu erforschen, wo sie wohnte. Sie war in einem Hause verschwunden, das dem Roten Ochsen gerade gegenüber lag. Damals hatte Karl dieses Gasthaus zum ersten Mal betreten und sich am Fenster der Bierstube postiert, um das Haus gegenüber zu beobachten. Zugleich hatte er den Kellner zu Rate gezogen, um Auskunft zu erhalten, wer da drüben wohnte, und es war ihm in der Tat gelungen, zu erfahren, dass sie so und so hieß und mit ihrer Mutter, einer Witwe, da drüben im dritten Stock wohnte. Das war leider vor der Hand Alles gewesen. Er hatte sie nicht wieder gesehen, er hatte abreisen müssen, ihr Andenken mit hinweggenommen und sein Herz dafür zurückgelassen. So etwas kommt sehr oft vor, um sich sehr bald als flüchtige Neigung zu erweisen. Bei Karl erwies es sich jedoch als eine sehr ernste Neigung und kaum ein Tag war vergangen, wo er nicht aus dem Gedächtnis ihr Bild skizziert hätte.

Als er nun endlich in seine Vaterstadt zurückgekehrt war, welche das unerhörte Glück hatte, das herrlichste Wesen, das die Erde jemals gesehen, in ihren Mauern zu besitzen (die dumme fühllose Stadt machte sich am Ende gar nichts daraus!), da hatte er seine Schritte zunächst nicht nach der Wohnung des lieben Oheims gelenkt, sondern nach dem Roten Ochsen. Auf Befragen hatte er zu seiner Genugtuung vernommen, dass gegenüber noch die nämlichen Leute wie vorm Jahr wohnten, und zum Glück waren im dritten Stock des Roten Ochsen gerade zwei kleine Stübchen frei gewesen. Die hatte er flugs gemietet, ohne um den Preis zu feilschen.

Er hatte sie wieder gesehen. Vorm Jahr würde er es für unmöglich gehalten haben, dass sie noch schöner werden könnte; sie hatte es aber möglich zu machen gewusst und hatte sich, während sie damals eigentlich noch Knospe gewesen, im Laufe des verflossenen Jahres zu einer Blume entfaltet, die — ja, zu beschreiben ist sie nun einmal nicht!

Der Engel hatte ganz gewiss keine Ahnung davon, dass er von einem jungen Manne gegenüber (die Straße war zwanzig Ellen breit) mit Eifer, mit Andacht, mit Inbrunst beobachtet, noch dazu mit Hilfe eines vortrefflichen Guckers beobachtet und sogar gezeichnet wurde. Dann und wann legte sie ihr Nähzeug oder ihre Stickerei bei Seite und verschwand von ihrem Sitz am Fenster. So tritt der Mond bisweilen hinter eine Wolke. Glücklicherweise blieb sie nie lange weg. Bisweilen erhob sie sich auch nur, um mit dem Kanarienvogel zu sprechen, der ihr kleine Krümchen Zucker oder Backwerk von den Lippen nehmen durfte. Glückseliger Kanarienvogel! Allen Feuer- und Wasserproben, allen erdenklichen Gefahren und Schrecknissen würde Karl Morgen sich mit Freuden unterzogen haben, hätte er dafür das Glück erkaufen können, nur ein einzig Mal an der Stelle des Kanarienvogels zu sein! Er erschrak beinahe über die Kühnheit dieses Gedankens; — denn so keck und leichtherzig Karl auch unter allen andern Umständen war, in Betreff seines unvergleichlichen Gegenübers empfand er doch eine nicht geringe Scheu und Schüchternheit. So oft sich der Blick des arglosen Engels ganz zufällig herüber nach dem dritten Stock des Roten Ochsen wandte, senkte der junge Künstler schleunig seinen eigenen Blick — denn, hätte sie sich nicht empört fühlen müssen, wenn sie bemerkt hätte, dass ein junger Mann da drüben es wagte, sie zu beobachten? Es war übrigens ein großes Glück, dass sie so ohne alle Ahnung war; denn hätte sie nur das Geringste von den indiskreten Blicken des jungen Mannes gemerkt, dann würde sie sicherlich entweder ihren Sitz am Fenster gänzlich verlassen haben, oder sie hätte wenigstens das Auge nie mehr von ihrer Arbeit abgewandt. Jetzt aber, während sie sich offenbar ungesehen glaubte, wandte sie das Auge sehr oft von der Arbeit, legte diese auch häufig ganz bei Seite, um sich mit dem Vogel oder den Blumenstöcken zu beschäftigen oder mit ihrem Bruder, einem etwa zwölfjährigen Knaben, bald sehr ernsthaft zu sprechen, bald zu schäkern und zu lachen. Hätte der Künstler all die reizenden Bilder auf dem Papiere zu fesseln vermocht, die ihm dies einzige Fenster im Laufe etlicher Stunden darbot!

Diese Stunden waren entschwunden wie ein Augenblick. Der Abend war eingebrochen, die Fenster drüben hatten sich verhüllt und er hatte auch nicht einmal ihren Schatten mehr an den Vorhängen entdecken können.

Am nächsten Morgen hatte er seine Beobachtungen wieder aufgenommen. Dann hatte ihn plötzlich das Gewissen geschlagen, das er noch nicht beim Oheim gewesen. Wie ungern auch, er hatte sich losreißen müssen, um diesen Besuch endlich zu machen. Nachdem er aber von Herrn Mittag Abschied genommen, war er flugs wieder in sein Stübchen hinaufgeeilt.

Ach, der Platz am Fenster war leer, und aus mancherlei Umständen ward es dem Beobachter bald klar, dass sie ausgegangen sein musste. Das war umso mehr zu beklagen, als sich Karl in diesen Augenblicken wirklich jeder Beschäftigung unfähig fühlte. Es war noch eine volle Stunde übrig bis Mittag, wo er sich wieder beim Oheim einfinden sollte. Missmutig griff er nach seinem Hute und ging hinab in die Bierstube, wo er seinen Platz am Fenster nahm, um wenigstens die Haustür gegenüber zu beobachten, über deren Schwelle der Engel über lang oder kurz heimkehren musste.

Während er so, unverwandten Blickes die interessante Tür betrachtend, sein Glas leerte, ward plötzlich die Frage an ihn gerichtet:

„Ist Ihnen ein Lotterielos gefällig, mein Herr?“

Karl sah sich um und erblickte den Sprecher, der ihm zwei Achtellose der Landeslotterie präsentierte.

„Nein, mein Freund!“ antwortete der Künstler.

„Wollen Sie Ihr Glück nicht versuchen? Morgen ist die Ziehung, Sie können auf das Achtel fünfzehntausend Taler gewinnen. Ich besitze nur noch diese beiden Nummern, bitte, wählen Sie, mein Herr!“

„Ich habe wirklich keine Lust!“

„Verschmähen Sie Ihr Glück doch nicht, mein Herr! Ich verstehe mich auf das Geschäft, denn ich treib’ es seit langen Jahren und ich kann Ihnen versichern, diese beiden Nummern sind Glücksnummern. Beide werden gewinnen und auf die eine fällt sicherlich das große Los.“

„Wirklich! auf welche von beiden fällt denn das große Los?“

„Das kommt auf Ihre Entscheidung an, mein Herr! Glauben Sie mir, ich bin mit einem besonderen Blick begabt und seh’ Ihnen an, dass Sie den Hauptgewinn davontragen werden; —und ebenso seh’ ich Ihnen an, dass Sie Ihr Glück verdienen und sich dankbar gegen den Mann zeigen werden, der es Ihnen verschaffte.“

„Das ist eine gerechte und billige Erwartung und ich danke Ihnen für die gute Meinung“, sagte Karl. „Aber in welcher Weise würde ich Ihnen denn meine Dankbarkeit beweisen können, wenn ich mit Ihrer freundlichen Hilfe das große Los gewonnen hätte?“

„Nun dann wird es Ihnen doch wohl auf hundert Taler etwa nicht ankommen?“ antwortete der Lotteriemann lächelnd.

„Mit Geld würde Ihnen also gedient sein? Ei, warum behalten Sie denn alsdann nicht selber die beiden Glücksnummern? Dann wären Ihnen ja gleich die fünfzehntausend Taler und noch ein andrer Hauptgewinn gewiss?“

„Sie belieben zu scherzen, mein Herr! Erstlich ist es mein Geschäft und somit auch meine Pflicht, die Lose zu vertreiben, und sodann macht sich bei einem Christen doch auch die Nächstenliebe geltend.“

„Ah, Sie erblicken in mir Ihren Nächsten! Dann tun Sie jedoch Ihrer Pflicht vollkommen Genüge, wenn Sie mich so lieben, wie sich selbst und kein Jota mehr. Sie dürfen also getrost Ihr Glück behalten und das große Los selber gewinnen.“

„Ich bin nicht so selbstsüchtig!“

„Edler Mann, ich bewundere Ihre seltene Großmut! Sie wollen zu meinen Gunsten auf fünfzehntausend Taler verzichten, die Sie sicher in der Hand haben, und wenn ich Ihnen schließlich nur hundert davon zurückgebe, dann wollen Sie meine Dankbarkeit preisen!“

„Gewiss! und für Sie zu Gott beten, dass er Sie ferner segnen möge —“

„Auch für mich beten?“

„Freilich, und das hab’ ich schon bisher getan, ohne Sie persönlich zu kennen, denn ich bete täglich für alle Menschen.“

„Gesetzt nun, ich kaufte, ich gewänne und zeigte mich dann undankbar gegen Sie?“

„Dann würd’ ich erst recht für Sie beten!“

„Oder wenn ich meine Dankbarkeit darauf beschränkte, ebenfalls nur für Sie zu beten?“

„Sie könnten nichts Besseres tun, mein Herr! Aber ich weiß auch im Voraus, dass Sie es dabei nicht bewenden lassen würden.“

„Sie sind ja ein gewaltiger Prophet! Aber sei es denn, ich will mein Glück nicht von mir stoßen!“ sagte Karl, indem er eines der beiden Lose ergriff und dem Manne seinen letzten Fünftalerschein dafür gab.

„Erlauben Sie, dass ich Ihnen das Los ein wenig einwickele“, sagte der Lotteriemann, der sehr zufrieden war, seinen Zweck erreicht zu haben. Er nahm das Los wieder aus des Künstlers Hand und schlug es säuberlich in ein dreifaches Papier ein. Er hatte einen starken Vorrat solcher Papiere in der Tasche.

„Das ist wohl der Lotterieplan?“ fragte Karl.

„Nein, mein Herr. Da sehen Sie, es ist eine erbauliche Abhandlung.“

Karl besichtigte das Papier, womit man so freigebig umging und fand, dass es ein sogenanntes Traktätchen war. Er begriff nun, weshalb der Menschenfreund, der ihn soeben glücklich gemacht hatte, sich als eifrigen Beter kundgegeben.

„Und Sie edler Wohltäter schenken mir die erbauliche Abhandlung gleich in mehreren Exemplaren?“

„O, wenn Sie es wünschen, stehen Ihnen noch mehr zu Diensten. Es können Ihnen ja Personen vorkommen, denen Sie das Blatt mittheilen.“

„Das ist eigentlich nicht mein Beruf; aber auf wessen Kosten werden denn diese Seelenarzneien bereitet?“

„Eine Gesellschaft frommer Männer lässt sie herstellen. Ich erhalte sie von Herrn Dämmer zur Verteilung.“

„Wer ist Herr Dämmer?“

„Sie finden seinen Namen auf dem Lose. Er ist der Hauptkollekteur, von dem ich meine Lotterielose beziehe.“

„So, so! Dieser Herr Dämmer ist also ein frommer Mann? und Sie sind vielleicht selber Mitglied der frommen Gesellschaft? Vielleicht dienender Bruder?“

„Allerdings; dienende Brüder sind wir aber eigentlich alle, auch die reichen Mitglieder. Bitte, mein Herr, lesen Sie in einer ruhigen Stunde die Abhandlung aufmerksam durch; ich zweifle nicht, dass sie den rechten Geist in Ihnen erwecken wird, und wenn Sie dann die Neigung fühlen, an unsern Versammlungen teilzunehmen—“

„Dann wend’ ich mich an Sie. Die Sache wird sich vielleicht machen, wenn auch nicht in den allernächsten Tagen, denn jetzt hat mich der Geldteufel noch ganz fest beim Schopf gepackt und ich bin erpicht auf Ihr großes Los.“

„Lesen und beten, mein lieber Herr!“

„Ihr Herr Dämmer glaubt auch wohl an den Teufel?“

„Können Sie zweifeln? Herr Dämmer ist einer der frömmsten Männer der Stadt!“

„Und geht folglich mit dem Teufel durch Dick und Dünn, natürlich! Nun, mein verehrter Wohltäter, der Sie wildfremde Leute nicht nur reich, sondern auch gleich selig machen, ich muss leider jetzt von Ihnen scheiden. Sie haben ja auch noch Geschäfte, Sie müssen noch Ihr letztes Los vertreiben und einen der lieben Nächsten damit beglücken. Der bekommt nun freilich nicht den Hauptgewinn!“

„Trachtet am Ersten—“

„Ja, ja, ich weiß schon, mein Freund, Adieu!“ mit diesen Worten entfernte sich Karl, um zu Tische zu gehen.

Humoristische Geschichten - Erster Band

Подняться наверх