Читать книгу Humoristische Geschichten - Dritter Band - Theodor Oelckers - Страница 5

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„ttilie, in dem Schranke da hinten in der Kammer sind noch einige Kleidungsstücke von der seligen Frau Bürgermeisterin aufbewahrt, nicht wahr?“ sagte der Herr Bürgermeister Müller zu seiner Tochter. „Ich brauche ein solches Kleid und zwar das allerschlechteste, was vorhanden ist; dazu noch ein Mäntelchen oder ein großes Umschlagetuch und eine alte Haube.“

„Um des Himmels willen, Vater, was willst Du denn damit machen?“ fragte Ottilie, die sich weit erstaunter stellte, als sie es in der Tat war, denn sie ahnte bereits, was der liebe Vater mit den alten Kleidern im Werke hatte.

Der Herr Bürgermeister Müller (dem, beiläufig bemerkt, sein allzu gewöhnlicher Name oft einigen Kummer machte), war erst vor kurzem zu dem wichtigen Posten gelangt, den er bekleidete.

Im Übrigen war er Apotheker und auch als solcher der Einzige im Städtchen.

Das letztere: ist aus preußischem Gebiet im südlichen Schlesien unweit der österreichischen Grenze gelegen und die Zeit, wo der Herr Bürgermeister nach den alten Kleidern seiner längst verstorbenen Gemahlin forschte, war der Monat August des Jahres 1769.

Er erteilte der Tochter in freundlichem Tone einen kleinen Verweis für die unnütze und neugierige Frage, befahl ihr, das Verlangte ungesäumt hervorzusuchen und bereit zu legen, und wendete sich dann nach der Tür des benachbarten Zimmers, welches er seine Studierstube nannte.

Ottilie hielt ihn zurück und sagte:

„Bitte, lieber Vater, lass die alten Kleider! Würd’ es nicht eine Art Entweihung sein, wenn Du sie gebrauchen wolltest?“

„Ach, Narrenspossen, Mädchen! Was weißt Du von meinen Absichten? Ich habe einen sehr ernsten Zweck im Auge und dabei entweiht man nichts. Lebte die selige Frau Bürgermeisterin noch, sie würde billigen, was ich vorhabe.“

„Nein, Vater, sie würde es ganz gewiss nicht billigen.“

„Ei, Mädchen, hab’ ich denn Dich zu meiner Vertrauten gemacht?“

„Ach, leider, nein! Aber ich will Dir’s nur gestehn, ich weiß doch, was Du vorhast. Einige Deiner Äußerungen haben mir Dein Geheimnis; zum Teil entdeckt und das Übrige kann ich erraten.“

„Nun?“

„Du hast Dir zu Herzen genommen, was ich Dir neulich von dem Kalifen Harun al Raschid vorlas, wie der in allerhand Verkleidungen in der Stadt umherging, um die Gesinnung und die Ansichten des Volkes zu erforschen. Du hast Dir nun vorgenommen, es ebenso zu machen, und willst, weil Du jetzt Bürgermeister geworden bist, die Gedanken der Leute hier auf so abenteuerliche Weise kennen lernen. Ist es nicht so?“

Der Herr Bürgermeister schloss die schon halbgeöffnete Tür wieder, setzte sich auf einen Stuhl und blickte die Tochter sehr ernst an.

„Ottilie“, sagte er, „ich bewundere Deinen Scharfsinn, der Dir mein Geheimnis halb und halb verraten hat. Aber weil Du ein kluges und verschwiegenes Mädchen bist, will ich Dir denn auch gestehn, dass Du recht hast:

ich will es allerdings machen wie Harun al Raschid.“

Ottilie fiel dem Vater um den Hals und flehte ihn mit den liebreichsten Worten, den gefährlichen Plan doch aufzugeben. Sie empfand keine geringe Angst, während sie der Gefahr gedachte, und konnte sich doch auch wieder des Lachens nicht enthalten, wenn sie sich vorstellte, wie sich der Vater ausnehmen werde, wenn er in den alten Kleidern der seligen Mutter in der Stadt unterm Volke umherwandelte.

„Sieh, Vater“, bemerkte sie, „ich habe auch gelesen, wie es dem Harun al Raschid einige Mal recht schlecht gegangen ist. Einmal hat man ihn aus einer Schenke hinausgeworfen und ein paarmal hat er sogar Schläge bekommen.“

„Weil er nicht vorsichtig genug war, Ottilie, und weil er mit den Leuten nicht gehörig umzugehen verstand. Ich fühle mich sicher vor solcher Gefahr, denn ich bin ein ebenso behutsamer als erfahrener Mann.“

„Dein beabsichtigtes Unternehmen ist doch aber auch gar nicht notwendig, sollt’ ich meinen, „ fuhr Ottilie fort. „Die Gesinnung der Leute hier ist ja doch bekannt genug; Geheimnisse zu erforschen gibt es unter ihnen sicherlich nicht; sollte das indes dennoch der Fall sein, so gibt es für Dich doch ein weit bequemeres Mittel, dahinter zu kommen. Du brauchtest nur —“

Ottilie hielt inne.

„Nun, was sollt‘ ich denn tun?“

„Ich meinte nur“, fuhr die Tochter zögernd fort, „Du könntest jemand anders für Dich forschen lassen. Sieh, Vater, ein Arzt, besonders wenn er der einzige am Orte ist, kommt doch täglich in der ganzen Stadt umher, bei Vornehm und Gering, bei Arm und Reich, und hat da die beste Gelegenheit, Alles zu erfahren. Wenn Du nun den Doktor Ritter —“

Die gute Laune des Herrn Bürgermeisters war flugs verschwunden und er unterbrach die Rede der Tochter mit zornigen Worten.

„Wie oft soll ich Dir wiederholen, dass Du mir diesen Menschen gar nicht erwähnen darfst!“ rief er. „Ich habe Dir es ausdrücklich verboten und Du sollst mir gehorchen. Er ist mir ein Dorn im Auge, ich hasse ihn oder ich verachte ihn vielmehr, und es ist mir leid genug, dass ich ihn beinahe täglich sehen und zum wenigsten seine jämmerlichen Rezepte besorgen muss, weil er jetzt der einzige Arzt hier ist, ebenso wie ich der einzige Apotheker.“

„Lieber Vater,“ sprach Ottilie im weichsten Tone, „wie kannst Du mir nur im Ernste verbieten, von dem Doktor zu reden, da Du früher doch selber befreundet mit ihm warst, auch unsre beabsichtigte Verbindung billigtest, und während Du doch weißt, dass wir beide einander lieb haben und Keines von dem Andern lassen kann noch will.“

„Ich befreundet mit ihm gewesen? mit dem jungen Menschen? Nun ja, ich war eine Zeit lang sein väterlicher Freund, bis ich ihn genauer kennen lernte und fand, dass er nur meine Verachtung verdient.“

„Weißt Du auch, was Dir die Leute nachsagen, Vater?“

„Kann mir irgendjemand was Schlechtes nachsagen?“

„Sie meinen, Du könnest den Doktor Ritter deshalb nicht mehr leiden, weil er stets nur sehr wenig Medizin verschreibt und seine Rezepte meist so einrichtet, dass sie der Apotheke nur wenig Geld einbringen.“

„Ottilie, es ist lächerlich, wenn die Leute das sagen. Jedermann weiß ja, dass ich nicht ängstlich nach Pfennigen und Hellern zu haschen brauche, dass übrigens rücksichtlich der Einnahme mein schwunghaftes Materialgeschäft die Hauptsache ist und dass ich mich der Apotheke weniger des Einkommens wegen, als aus Liebhaberei und der Wissenschaft willen widme.“

„Freilich, aber die Leute schwatzen nun einmal gern. Und weißt Du, was sie nach sagen? Der Doktor habe einige Mal Deine Gelehrteneitelkeit gekränkt und das könnest Du ihm nicht vergeben.“

Der Herr Bürgermeister suchte seine Miene zu beherrschen, um seine Empfindung nicht zu verraten, er fühlte sich aber durch Ottiliens letzte Bemerkung umso mehr getroffen, je richtiger sie war. Der junge Doktor hatte wirklich etlichemal seine Eitelkeit verletzt und namentlich einmal vor zahlreicher Gesellschaft, wo er, seinerseits durch anmaßliches Benehmen des Herrn Apothekers gereizt, dem künftigen Schwiegervater seine Überlegenheit fühlbar und zugleich bemerklich gemacht hatte, dass er kaum ein halber, höchstens einer der Viertelsgelehrten sei, deren Selbstgefälligkeit und Dünkel sich gewöhnlich ebenso maßlos, wie ihr Wissen beschränkt erweise.

Das war ein Pfeil gewesen, der bis zum Herzen gedrungen war und von Stund’ an hatte der Herr Apotheker mit dem jungen Manne gebrochen und seiner Tochter erklärt, sie müsse jedem Gedanken an eine Verbindung mit dem Doktor Ritter entsagen.

Die Tochter hatte dies indes nicht allzu ernst aufgenommen; sie glaubte ihren Vater zu kennen und hoffte, über lang oder kurz eine Versöhnung herbeizuführen.

„Ottilie“, bemerkte der Herr Bürgermeister jetzt, „ich hoffe, Du selber glaubst nicht an das dumme Zeug, was die müßigen Leute schwatzen.

Ich gebe Dir die Versicherung, ich habe mehr als einen guten triftigen Grund, dem jungen Menschen mein Wohlwollen zu versagen. Übrigens ist er auch ein eingefleischter Preuße und schwärmt für den alten Friedrich, den — den Usurpator!“

„O, Vater, das ist doch Etwas, was Du nicht laut und öffentlich vor der Welt sagen dürftest! Und hat denn Doktor Ritter nicht ganz recht? Er ist ein Patriot, willst Du ihm das zum Verbrechen machen? Ist er denn nicht ein Preuße? sind wir’s nicht auch?“

„Nein, Mädchen, wir sind Schlesier und keine Preußen. Wir sind unserm rechtmäßigen Oberherrn entrissen, geraubt. Wir sind gezwungen, dem Usurpator zu dienen, diesem Friedrich, den man so über die Maßen rühmt, mit dem es aber sicherlich noch ein schmähliches Ende nehmen wird. Unsre neue Sonne ist jetzt noch im Aufgange; ich meine Joseph II., unsern rechtmäßigen Fürsten. Ich hoffe die bessern Tage noch zu erleben, wo er zum Schwerte greifen wird, um sein Schlesien, dieses köstliche Juwel seiner Krone, wieder zu erobern.“

„Darf ich versuchen, Dir einen Rat zu geben, Vater?“

„Ha, ha, ha! über die kleine Ratgeberin! na, sprich nur, Mädchen.“

„Hüte Dich ja, solche Ansichten vor andern Leuten hören zu lassen, Vater. Ich hab’ eine wahre Angst, wenn ich nur daran denke! Mein Gott, wenn eines Tags eine Abteilung Husaren kämen, das Haus hier umringten, Dich gefangen nähmen und als Hochverräter hundert Meilen weit nach einer Festung schleppten, dass Du nie wieder ans Tageslicht kämest !“

„Kind, es kann keinem Menschen Gefahr bringen, offen auszusprechen, dass er den jungen Kaiser bewundert und alles Gute von ihm hofft; er ist unser Aller Kaiser, des Königs Friedrich ebenso gut wie der unsere. Aber recht hast Du freilich, dass hier bei uns ein gut österreichisch Gesinnter seine Herzensmeinung nicht offen aussprechen darf, und das unterlass’ ich auch. Du bist mein gutes folgsames Kind und weißt zu schweigen. Die Wände des häuslichen Herdes dürfen keine Ohren haben. Sieh, Ottilie, ich bin von Jahr zu Jahr behutsamer geworden, und jetzt, in meiner wichtigen Stellung als Bürgermeister, bin ich es mehr denn je. Ehemals, ja noch vor wenig Jahren, dacht’ ich wohl oft, dass es schön sei, Vertraute zu haben, mit denen man in treuester Gemeinschaft ein großes Ziel erstreben könne. Davon bin ich in Folge meiner Erfahrungen ganz und gar zurückgekommen und beobachte in allen Stücken jetzt nicht bloß die gute alte Regel, Selber ist der Mann, sondern ergänze diese noch, indem ich sage: Selber und ganz allein! Man darf sich nur auf sich selbst verlassen, wenn man sicher gehen und vor Verrat vollkommen geschützt sein will. Ehemals hielt ich es für möglich, mit Hilfe langer und gründlicher Prüfung eine Schaar zuverlässiger Freunde zu sammeln, die treuverbindet ständen, verschwiegen wie das Grab wären und mit denen sich etwas erreichen und durchsehen ließe. Auf wen darf man sich aber in dieser Welt ganz fest verlassen? Welche Bürgschaft hat man, dass sich unter einer größeren Anzahl nicht stets am Ende Einer findet, der aus Unvorsichtigkeit oder Schlechtigkeit zum Verräter wird? Und droht bei einer kleinen Anzahl nicht die nämliche Gefahr? Selbst wenn ich mit nur zwei Andern verbunden bin, kann nicht einer von ihnen dennoch treulos werden oder können sich nicht beide wider mich verschwören? Ja selbst wenn ich mich nur einem Einzigen anvertraue, muss ich nicht stets fürchten, dass dieser Eine mich täuscht, mich preisgibt und verlässt? Nein, mein Kind, es gibt nur einen völlig zuverlässigen Treubund in der Welt, und das ist der, den man mit sich selber ganz allein schließt, worin man das einzige Mitglied ist. Nur in diesem Bunde mit sich selber ganz allein hat man nichts zu fürchten von unberechenbaren Zufälligkeiten oder von der geschwätzigen Zunge des Vorwitzes, der Unbedachtsamkeit und des Verrats. Siehst Du, einen solchen sichern und unerschütterlichen Bund hab’ ich mit mir selber geschlossen, und nun mag Alles wider mich heranstürmen, ich stehe fest wie ein Fels im Meere.“

„Lieber Vater,“ warf Ottilie ein, „der einsame Fels im Meere zu sein, dünkt mich doch eine recht langweilige Rolle; zwei Felsen dicht neben einander sind sicherlich schon weit besser und ein zweiter solcher Fels für Dich wäre ganz gewiss Doktor Ritters.“

„Ottilie, Du missbrauchst meine Langmut!“

„Aber, Vater —“ „

„Sieh, Kind, Du weißt, dass ich Dich lieb habe und Dir gern jeden Wunsch erfüllen möchte, aber verlange nichts Unmögliches. Den Mann, der mein Schwiegersohn werden soll, muss ich achten können und ich muss bei ihm den Respekt finden, der meinen Jahren, meinen Erfahrungen und meinen Kenntnissen gebührt. Es tut mir wirklich leid, dass mein Neffe, der Falkenstein, ein lockerer Zeisig geworden und nun verkommen und verschollen ist. Der war von der Natur mit tüchtigen Eigenschaften ausgestattet; es hätte was Ordentliches aus ihm werden können und er wär’ auch der rechte Mann für Dich gewesen, „

„Er war aber leichtfertig, ist davon gelaufen und verschollen; und wär’ er auch was Ordentliches geworden, dann würd’ ich ihn zwar geachtet, aber dennoch niemals lieb gehabt haben, am allerwenigsten so lieb wie —“

„Hör’, Ottilie, Ihr beide vertrugt euch doch stets recht gut mit einander, wenn er mit Ritter während der Ferien hierherkam.“

„Er war Ritter’s Freund und überdies unser naher Verwandten den ich ja schon früher kannte, schon vor fünf Jahren, als ich beinahe noch ein Kind war.“

„Noch ein Kind? Ottilie, Du warst vor fünf Jahren schon sechzehn Jahr alt und nahmst es jedes Mal gewaltig krumm, wenn man Dir sagte, Du seiest noch ein halbes Kind. Doch, was verplaudre ich da die Zeit und hab’ ein dringendes Geschäft! Ich werde jetzt ein Stündchen in meiner Studierstube arbeiten, Ottilie, und es soll mich da niemand stören, hörst Du? Inzwischen tu’, was ich Dir befahl.“

„Du meinst doch nicht alles Ernstes — die Kleider?“

„Ja, die Kleider!“ erwiderte der Herr Bürgermeister mit Nachdruck und begab sich in seine Studierstube. —

„Wüsst’ ich ihm nur die abenteuerliche Schrulle auszureden oder die Ausführung zu verhindern!“ sagte Ottilie seufzend zu sich selbst, als sie allein war. „Aber ich weiß schon, der Treubund wird jetzt Sitzung halten und da wird die Sache wahrscheinlich unwiderruflich beschlossen.“

Die oben angeführten eigenen Worte des Herrn Bürgermeisters haben schon im Allgemeinen angedeutet, was der „Treubund“ war. Freilich hatte der würdige Herr eigentlich nur die Grundsätze eines solchen Bandes angegeben und aus seinen Äußerungen ging nur hervor, dass er entschlossen sei, sich bloß auf sich selber zu verlassen, aber er hatte nicht gesagt, dass ein förmlicher Klub unter jener Benennung schon bestand und sich unter seinem — des Bürgermeisters — Vorsitze zu versammeln pflegte. Das war natürlich tiefstes Geheimnis, wovon kein Mensch etwas erfahren durfte. Ottilie wusste gleichwohl Alles ziemlich genau. Das kam daher, dass der Herr Bürgermeister, sobald er sich allein glaubte, laute Selbstgespräche führte und dass er besonders während der Klubsitzungen, wo es oft stürmisch zuging und die in der an Ottiliens Zimmer Grenzenden Studierstube stattfanden, so laut sprach, dass man Alles deutlich vernehmen musste, auch wenn man gar nicht aufs Lauschen ausging. Der wackere Mann war viel zu sehr von seiner großen Vorsicht überzeugt, als dass er von der eigenen lauten Stimme etwas hätte bemerken sollen. Alle Andern, auch die Besten, konnten möglicherweise Verräter werden, das stand bei ihm fest; aber er ahnte nichts davon, dass er in Wahrheit tagtäglich sein eigener Verräter war.

So hatte denn Ottilie ohne des Vaters Wissen eine Menge Verhandlungen des „Treubundes“ mit angehört; sie hatte ebenso schon der Stiftung dieses Bundes beigewohnt, sowie der Beratung und Feststellung der Statuten, denn es versteht sich, dass der Bund Statuten und desgleichen eine Kasse hatte. Dann und wann wurde die Aufnahme eines neuen Mitgliedes vorgeschlagen und darüber abgestimmt; auch konnt’ es vorkommen, dass ein Mitglied entweder gänzlich oder nur von gewissen einzelnen Sitzungen oder Beratungen ausgeschlossen wurde. Im Augenblick zählte der Klub nur fünf Mitglieder, die sämtlich in der Gesamtperson des Herrn Bürgermeisters Müller vereinigt waren. Um nämlich mit sich allein überhaupt einen Bund und desgleichen Beratungen und Abstimmungen möglich zu machen, war er aus den, wie ihm schien, sehr sinnreichen Gedanken gekommen, seine eigene Person, sein Gesamt-Ich, in eine Anzahl Unterabteilungen zu zerlegen, was auch gar keine Schwierigkeit machen konnte: war er doch, zum wenigsten seiner Überzeugung nach, in den verschiedenen Lagen, Verhältnissen und Geschäften seines alltäglichen Lebens wirklich allezeit ein Anderer. Die dermaligen fünf Mitglieder des Treubundes waren denn:

Herr Müller, der Gelehrte. (Denn ein Gelehrter war er, namentlich in seiner Eigenschaft als Apotheker.)

Herr Müller, der Praktiker. (Dies war er bezüglich seiner Geschäfte, als Kaufmann.)

Herr Müller, der Politiker oder Staatsmann. (Als solchen fühlte er sich namentlich in seiner Bürgermeisterwürde.)

Herr Müller, der Hausherr und Vater. (Diese Eigenschaften mocht’ er nicht trennen.)

Herr Müller, der Gesellschafter. (Nämlich der gemütliche und oft ein wenig zu offenherzige Mann unter Freunden, besonders im Wirtshause.)

O, er kannte seine schwachen Seiten, er kannte sie recht gut! Er wusste z. B. dass er im Freundeskreise, beim gemütlichen Glase, wirklich etwas zu offenherzig sein konnte; aber er war auch klug und vorsichtig genug (Vorsicht war eine seiner stärksten Seiten!), niemals Herrn Müller den Gesellschafter an Orte zu schicken, wo passenderweise nur ein anderer Herr Müller, z. B. der Praktiker oder der Politiker, am Platze sein konnte.

Vorsitzender des Treubundes war zurzeit Herr Müller der Politiker; Kassierer war der Praktiker und das Amt des Schriftführers war Herrn Müller dem Gelehrten übertragen. Es versteht sich, dass in jeder Sitzung ein Protokoll geführt wurde. Für Sünden wider die Statuten hatten die Mitglieder bestimmte Geldstrafen zu zahlen und am häufigsten fielen die Herren Müller der Vater und der Gesellschafter in Strafe. Der letztere zahlte stets ohne Murren, er brauchte sich ja höchstens einmal ein Glas Bier oder Wein zu versagen, um den Schaden auszugleichen; — stets aber blutete dem Müller’schen Gesamt-Ich das Herz, wenn Herr Müller der Vater eine Strafe zu erlegen hatte, denn dann traf der Schade schließlich doch die liebe Ottilie, deren Taschengeld um ebenso viel verkürzt werden musste. Es ist vorgekommen, dass die andern Mitglieder für den Vater das Strafgeld zusammenschossen, um ihn zu trösten.

Während die Tochter lauschte, um sich nichts von der interessanten Verhandlung in der Studierstube entgehen zu lassen, hörte sie an die Tür ihres eigenen Zimmers pochen und auf ihr „Herein“ trat ein junger Mann ins Gemach, über dessen Erscheinen in diesem Augenblicke sie beinahe erschrak, so willkommen es ihr im Übrigen auch war. Der Eingetretene war Herr Doktor Ritter, der Zeit einziger Arzt im Städtchen, wie man bereits weiß. Der letztere Umstand war sehr günstig für den jungen Mann und für Ottilien, welcher der Vater eigentlich jede Zusammenkunft und allen Verkehr mit dem Doktor untersagt hatte. Dieser besuchte aber natürlich jeden Tag viele Familien, mit deren einigen Ottilie ebenso wie ihr Vater näher befreundet war, und so konnt’ es nicht fehlen, dass sie öfters in dem und jenem Hause anwesend war, während der Arzt dort seinen Besuch machte.

Ja, so bitter auch die Feindschaft, zum wenigsten Seitens des Herrn Bürgermeisters war, blieb es doch unvermeidlich, dass der Arzt beinahe täglich in der Offizin, bisweilen sogar in der Privatwohnung seines Feindes erschien, wenn er mit diesem etwas sprechen musste. Die Geschäfte brachten das nun einmal somit sich und der Herr Bürgermeister musst' es sich gefallen lassen. Aber er benahm sich dann allezeit wortkarg und eiskalt und Alles, was er dem jungen Manne sagte, wurde wie non oben herab gesprochen. Der Arzt sollte die Superiorität des erfahrenen und grundgelehrten Mannes fühlen, — und der Arzt hütete sich wohl, über dies Benehmen zu lächeln; er war klüger geworden und aus Rücksicht auf Ottilien begegnete er jetzt, ohne seiner eigenen Würde etwas zu vergeben, dem Apotheker höchst respektvoll. Es war am Ende kein großes Vergehen, dass er bisweilen auch kam, nach dem Herrn Bürgermeister zu fragen, während er recht gut wusste, dass derselbe ausgegangen war. Das letztere sagte ihm dann in der Regel Ottilie und da er denn einmal da war, konnt’ er auch nicht umhin, nach ihrem Befinden zu fragen und überhaupt Alles zu sagen und zu hören, was er selber und was sie auf dem Herzen hatte.

„Du bist zu unvorsichtig und rücksichtslos, Heinrich sagte Ottilie; „musstest Du nicht fürchten, den Vater hier im Zimmer bei mir zu finden?“

„Dies erwartete ich sogar; ich fragte zuvor unten im Laden nach ihm und man sagte mir, er sei hier in der Wohnung. Ich habe wirklich etwas mit ihm zu sprechen.“

„Das geht jetzt nicht, Heinrich, er hat Sitzung und will nicht gestört sein.“

„So hat denn die Spielerei mit dem Klub noch kein Ende?“

„Spielerei! Es ist ihm der bitterste Ernst damit. Hörst Du nicht, wie es hier drüben zugeht?“

„Freilich, man hört die lebhafte Debatte schon auf der Straße unten und mich wundert, dass die Vorübergehenden nicht stehen bleiben. Ich glaub’s wohl, dass ihm das eine angenehme Unterhaltung und Genugtuung gewährt, denn er herrscht in seinem Klub unumschränkt, niemand widerspricht ihm da, weil alle Opposition wieder nur von ihm selber ausgeht. Überdies vereinigt er alle Ämter in seiner Person und das ist eine Hauptsache. Früher wäre mir dies Treiben allenfalls erklärlich bei ihm gewesen, weil es ihm nie gelingen wollte, in den hiesigen geselligen Vereinen den ersehnten Vorsitz zu erlangen. Nachdem er aber den Bürgermeisterstuhl, die höchstmögliche Rangstufe in unserem Städtchen, erstiegen hat, sollt’ ich doch meinen, sein Ehrgeiz könne soweit befriedigt sein, um den Treubund überflüssig zu machen.“

„Er mag vielleicht noch irgendeinen geheimen Zweck dabei im Auge haben bemerkte Ottilie.

„Vielleicht den Plan, den er für geheim hält und den zum wenigsten ich leicht genug erraten habe, den Plan, unsere Provinz oder doch unser Städtchen samt Zubehör wieder an Österreich zu bringen. Er hofft in dieser Beziehung auf große Ereignisse, wobei er eine glänzende Rolle zu spielen gedenkt. Im Geiste sieht er aber sich selber auch schon im ehernen Standbilde auf unserem mit Gras bewachsenen Markte prangen.“

„Heinrich, Du darfst mir den Vater nicht verspotten!“

„Das tu’ ich ja nicht, Ottilie; was ich sage, ist die einfache Wahrheit. Am Ende ist ja auch bei alldem kein Unglück: wir haben Alle unsere kleinen oder großen Schwächen und die sind nicht allezeit so harmlos, wie die Marotte mit dem Treubund und was damit zusammenhängt —“

Die Stimme des Vorsitzenden im Nebenzimmer wurde jetzt so laut, dass der Doktor und Ottilie ihr Gespräch einstellten, um zu hören, was den Klub beschäftigte.

„Meine Herren,“ sagte Herr Müller, der Politiker, „bezüglich des letzten Gegenstandes, den wir heute noch zu erledigen haben, sind in der vorigen Sitzung die Ansichten der geehrten Mitglieder bereits so erschöpfend ausgetauscht worden, dass die Debatte wohl als geschlossen betrachtet werden darf, und wir würden in diesem Falle sofort zur Abstimmung schreiten können. Der Plan, das Verfahren des alten Harun al Raschid nachzuahmen, — versteht sich, mutatis mutandis, — ist im Allgemeinen als empfehlenswert und praktisch anerkannt worden, und er entspricht auch in der Tat vollkommen den Grundsätzen des Treubundes, welcher fremde Hilfe und fremde Vertraute streng ausschließt. Zudem sagt eine sehr glaubwürdige Kunde, dass auch der junge Kaiser, unser Joseph II., sich des nämlichen Mittels bereits vielfach bedient hat, um die Wünsche und die Gesinnung des Volkes kennen zu lernen. Könnten wir ein würdigeres Vorbild finden?“

„Niemand verlangte das Wort und so schritt man denn zur Abstimmung über den Antrag, zunächst nämlich über die Frage: „Soll der Treubund in der Weise Harun al Raschid’s vorgehen, um die Gesinnung und die Wünsche der Bevölkerung zu erforschen?“ Diese Frage wurde gegen die einzige Stimme Herrn Müller’s des Vaters bejaht. Folgte die zweite Frage: „Welche Verkleidung soll bei dem ersten Versuche dieser Art gewählt werden?“ Es waren bereits zweierlei Verkleidungen in Vorschlag gebracht worden, nämlich die eines Bettlers und die einer Bettlerin. Wurde die eine beschlossen, so war damit zugleich die andere selbstverständlich abgelehnt. Der Herr Vorsitzende sprach sich vor der Abstimmung noch ausdrücklich für die Bettlerin aus. Diese, meinte er, pflege im Allgemeinen beim Publikum weniger dem Verdachte ausgesetzt zu sein und mehr Mitleid zu finden; jeder Ort werde ihr ebendeshalb leichter zugänglich und sie selbst auch weit weniger Gefahren und Unannehmlichkeiten ausgesetzt sein; dies sei aber nicht nur wünschenswert aus Rücksicht auf den ersprießlichen Erfolg des Unternehmens, sondern auch deshalb jetzt besonders nötig, weil der Herr Bürgermeister neuerdings selbst eine scharfe Verordnung wider das Betteln erlassen habe; diese müsse man zum Besten des besonderen Zweckes nach Möglichkeit neutralisieren und das geschehe am füglichsten durch die minder angefochtene Maske der Bettlerin. Die Abstimmung erfolgte und es erklärten sich für die Bettlerin die Herren Müller der Gelehrte und der Praktiker, dagegen aber die Herren Müller der Gesellschafter und der Vater. Die fünfte Stimme, die des Vorsitzenden (des Politikers) gab den Ausschlag und entschied zu Gunsten der weiblichen Tracht.

Es konnte wohl auffällig sein, dass der Vater beharrlich mit Nein stimmte und mit Recht hob eine Bemerkung des Vorsitzenden diesen Umstand hervor. Herr Müller der Vater verantwortete sich ziemlich kleinlaut, sein Gewissen war nicht rein. Dass er sich überhaupt gegen den Plan erklärte, wusste er zwar in Betracht seiner häuslichen Stellung ohne zu große Schwierigkeit zu rechtfertigen, aber einige Kreuz- und Querfragen drängten ihn zugleich zu dem Geständnis, dass er seiner Tochter, also einer dem Klub nicht angehörigen Person, den Plan bereits verraten hatte. Dies war ein schweres Vergehen, doppelt schwer, weil die leichtfertige Handlung verübt worden war, bevor noch der Klub Beschluss in der Angelegenheit gefasst hatte. Der Sünder verfiel in die gesetzliche Strafe, d. h. er musste einen Gulden erlegen, und überdies wurde ein Antrag des Vorsitzenden angenommen, demzufolge Herr Müller der Vater fortan von Beratung und Beschlussfassung über den fraglichen Gegenstand, wie überhaupt von jeder Beteiligung an demselben, ausgeschlossen wurde.

„Dein Taschengeld ist also wieder um einen Gulden gekürzt, Ottilie“, sagte Doktor Ritter.

„Daraus mach’ ich mir nichts“, erwiderte Ottilie; „aber es freut mich schon, dass der Vater mit der garstigen Angelegenheit gar nichts mehr zu tun haben soll.“

„Nur Schade, Ottilie, dass die anderen Herren Klubmitglieder sämtlich in der nämlichen Haut wie der Herr Vater stecken!“

Drüben in der Studierstube schritt man nach Erledigung des unangenehmen Zwischenfalls zur Abstimmung über die dritte Frage: „Welchem Mitgliede, respektive welchen Mitgliedern des Klubs der erste Versuch übertragen werden solle?“

„Ein Antrag, dahin gerichtet, den ganzen Klub (das Gesamt-Ich) mit der Sache zu beauftragen, ist bereits wieder zurückgezogen worden,“ bemerkte der Vorsitzende, „und das ist ganz natürlich, nachdem wir ja soeben eines unserer Mitglieder von der Sache ausgeschlossen haben. Das Füglichste dürfte wohl sein, dass wir unserm Mitgliede dem Praktiker die schwierige Rolle überließen.“

Herr Müller der Praktiker erklärte sich zur Annahme bereit unter der Bedingung, dass ihm der Herr Vorsitzende zugesellt würde, und man formulierte demgemäß die Frage. Sämtliche vier Stimmen erklärten sich für den Antrag und so wurde denn beschlossen, dass die Herren Müller der Politiker und der Praktiker noch am selbigen Abend in der Tracht einer Bettlerin das Forschungswerk unternehmen und in der nächsten Sitzung Bericht darüber erstatten sollten. Herrn Müller dem Vater wurde schließlich bemerkt, dass er in dieser nächsten Sitzung nicht zu erscheinen habe. Darauf erscholl ein beinahe donnerndes: „Meine Herren, die Sitzung ist geschlossen!“ und man hörte geräuschvoll einen einzigen Stuhl rücken.

Es bedurfte keiner Erinnerung Ottiliens, Herr Doktor Ritter wusste von selbst, dass es das Geratenste für ihn sei, sich jetzt schleunig zu entfernen und seinen Besuch beim Herrn Bürgermeister auf den folgenden Tag zu verschieben, denn das Gesamt-Ich war voraussichtlich jetzt nicht in der geeigneten Stimmung, sich mit ihm zu unterreden. Er entfernte sich daher eilig und Ottilie konnte sich zu ihrem Kummer nicht einmal die Zeit nehmen, ihn um einen Rat zu bitten, wie das beschlossene Unternehmen verhindert werden könnte.

Der Herr Bürgermeister trat ins Zimmer und gab sich die redlichste Mühe, jetzt nur Bürgermeister zu sein und überdies wie ein Wesen auszusehen, das kein menschliches fühlendes Herz in der Brust trägt. Den Beschlüssen des Klubs musste aufs Strengste gehorcht werden und daher durfte namentlich der Vater kein Wort mehr in der Sache mitreden. Ottilie mochte noch so sanft und schmeichelnd „Lieber Vater“ sagen, er war taub für jedes solche Wort; der Vater war ja gar nicht anwesend! Im kältesten Tone befahl er, die Kleider herbeizuschaffen, was zu seinem Missvergnügen noch nicht geschehen war.

Ottilie musste endlich gehorchen. Über das kalte, ja harte Benehmen des Herrn Bürgermeisters konnte sie sich glücklicherweise trösten, da sie ja selber gehört hatte, dass es dem „Vater“ verboten worden war, sich in die Sache zu mischen. Immerhin hätte sie verzweifeln mögen, als sie sah, dass es nun doch Ernst mit der Maskerade werden sollte.

Die verlangten Kleider waren herbeigeholt und Ottilie musste dem Herrn Bürgermeister, nachdem dieser seinen Überrock und einige andere überflüssige Gegenstände abgelegt, behilflich sein, ein altes unscheinbares Gewand seiner seligen Gattin anzulegen, die er jetzt beharrlich die selige Frau Bürgermeisterin nannte, denn sie musste doch jedenfalls auch im Himmel seine neuerworbene Würde teilen. Über die Schultern nahm der neue Harun al Raschid ein altes Mäntelchen von höchst kümmerlichem Aussehen. Dann suchte er seinem Gesicht mit Kreide und Bolus einen unkenntlich machenden Überzug zu verleihen, band quer über das eine Auge eine schwarze Binde und bedeckte sein der Perücke entkleidetes Haupt so vollständig als möglich mit einer alten schlechten Haube. Ein schmutziges baufälliges Handkörbchen in der einen, ein schlechter Stock in der andern Hand vollendeten die Ausstattung. Der Stock wäre selbst für eine alte Bettlerin allenfalls entbehrlich gewesen, aber der Herr Bürgermeister nahm ihn als Schutzwaffe mit, weil er eine große Scheu vor etwaigen Abenteuern mit Hunden hatte.

Alle Gegenvorstellungen waren vergeblich gewesen und Ottilie hatte am Ende gar keine mehr versucht. Ein ernstes Wort wurde ihr überdies geradezu unmöglich, während die alte Bettlerin unter ihren widerstrebenden Händen zu Stande kam. Das war eine unerhörte Figur und das arme Mädchen mochte kämpfen wie sie wollte, sie konnte den Lachreiz nicht bändigen. Der Herr Bürgermeister beteiligte sich an dieser Kundgebung der Lustigkeit zwar nicht, nahm sie aber auch ganz und gar nicht übel, denn er musste doch gewiss ganz nach Wunsch unkenntlich geworden sein, wenn seine Erscheinung Lachen statt ernster Ehrerbietung erwecken konnte.

Die Straße war völlig dunkel geworden und das halbe Dutzend Laternen, die man in den Hauptstraßen der Stadt anzuzünden pflegte, spendete heute sein spärliches Licht noch nicht. Das war ein günstiger Umstand. Trotzdem mochte der Herr Bürgermeister sein Haus nicht durch die große Haupttür verlassen, sondern beschloss, durch ein gewöhnlich verschlossenes Pförtlein zu gehen, das durch die Mauer des Hofes nach einem einsamen Seitengässchen führte.

Kaum war er verschwunden, als auch Ottiliens beinahe krampfhafter Lachreiz sofort verschwunden war. Die bange Besorgnis gewann die Oberhand und steigerte sich bald zu einer wahren Höllenangst.

Humoristische Geschichten - Dritter Band

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