Читать книгу Humoristische Geschichten - Dritter Band - Theodor Oelckers - Страница 6
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ОглавлениеGesetzt, die Herren Müller der Politiker und der Praktiker, die jetzt in Gestalt einer Bettlerin in die dunkle Nacht hinaustraten, wären von der Natur keineswegs mit Mut und Entschlossenheit ausgestattet gewesen, so würden sie ihren Weg dennoch unbedenklich und voll Zuversicht angetreten haben, weil sie im Namen und im Auftrage des Treubundes handelten. Das Bewusstsein, im Namen einer Autorität aufzutreten, stößt auch dem Schwachen Zuversicht und Entschlossenheit ein und daher vermag sich wohl ein einziger Gendarm ganz allein mitten unter eine wildbewegte Menge zu wagen. Das hätte der verkleidete Herr Bürgermeister auch gern getan, wenn er nur die Gelegenheit dazu gehabt hätte; aber in den dunkeln Gassen des Städtchens bewegte sich nur da und dort eine Gestalt und dieser Mangel an Leben bildete für den neuen Harun eine Hauptschwierigkeit. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als sich in die Häuser zu wagen. Schon war er von drei Türen wieder zurückgetreten, ohne sie geöffnet zu haben, weil es ihm doch gar zu seltsam vorkam, in den Häusern zu betteln und dabei auch noch Gespräche mit den Leuten anzuknüpfen.
Vielleicht hätt’ er noch lange gezögert, den ersten Versuch zu machen, wenn ihm nicht von Gasse zu Gasse eine, so weit sich in der Dunkelheit erkennen ließ, sehr verdächtige Gestalt nachgeschlichen wäre, welcher er um jeden Preis entgehen wollte. Verstellungsgabe und Schauspielertalent besaß der Herr Bürgermeister so gut wie gar nicht und es ward ihm daher außerordentlich schwer, seiner Rolle treu zu bleiben. War er doch schon nahe daran gewesen, die ihm augenscheinlich nachschleichende Landstreichergestalt im bürgermeisterlichen Amtstone zur Rede zu setzen, was sich aus dem Munde eines alten Bettelweibes doch wunderlich ausgenommen haben würde. Der kleine durch ein Ölflämmchen nur dürftig beleuchtete Laden eines Viktualienhändlers dünkte ihm der geeignete Plan für das Debut der Bettlerin und er trat hinein.
„Wollen Sie nicht einer armen alten Mutter eine kleine Gabe schenken!“ murmelte er in weinerlichem Tone, der ihm wider Ermatten gut gelang.
„Nehmt Euch in Acht, Mutter“, sagte der Händler, während er der Bettlerin ein Stückchen Brod reichte, „das Betteln ist jetzt eigentlich hier streng verboten und unser neuer Bürgermeister versteht da keinen Spaß. Wo seid Ihr denn her, Mutter?“
„Ich bin über der Grenze drüben zu Hause, im Österreichischen. Vor einem halben Jahre bin ich abgebrannt, habe all mein Bisschen Hab‘ und Gut verloren und muss nun gute Menschen um einen Bissen Brot ansprechen!“ sagte schluchzend Herr Müller der Politiker oder der Praktiker.
„Kann ich hier ein Glas Branntwein haben?“ fragte in diesem Augenblick eine Stimme und als sich der Herr Bürgermeister umsah, erblickte er die Landstreichergestalt, die in den Laden getreten war.
„Das kann ich nicht geben“, antwortete der Händler. „Früher wagt’ ich es wohl, obwohl mir die Konzession dazu fehlte; aber jetzt ist man sehr streng geworden und das Branntweinschenken ist mir bei schwerer Strafe verboten.“ „Da ist gewiss auch der neue Bürgermeister daran schuld“, bemerkte der Fremde; „man hört ja allgemein hier die Klage, dass der Mann sich als ganz abscheulicher Tyrann gebärdet?“
„Na, ich mag da gar nichts sagen!“ erwiderte der Viktualienhändler mit einem bedeutsamen Blicke. „Aber so viel ist gewiss: Hochmut kommt vorm Falle, und die armen Leute hart zu behandeln, hat noch keinem Menschen Segen gebracht. Den besten Branntwein findet Ihr übrigens bei meinem Schwager, dem Schenkwirt dicht vorm Tor; es ist gar nicht weit, Ihr braucht nur die Gasse hier vollends hinauszugehen.“
„Richtig, ich kenne das Haus, bin früher einmal da gewesen“, sagte der Fremde. „Kommt mit, alte Mutter; der Abend ist kühl und ich lass’ Euch da draußen eine warme Suppe vorsetzen.“
Der Herr Bürgermeister hätte am liebsten mit Dank abgelehnt; seine Rolle machte es indes ratsam, die Einladung anzunehmen und er tat dies umso eher, als ihm das Benehmen des Fremden, obwohl dessen dürftige Kleidung eine wahre Landstreichertracht war, doch einiges Vertrauen einflößte. So verließen denn beide den Laden und wandelten die Straße entlang.
„Sagt, Mutter, wozu braucht Ihr denn eigentlich Euren Stock?“ fragte der Fremde.
„Ach, wie sollt’ ich denn sonst vorwärts kommen und mich aufrecht halten auf meinen schwachen Füßen, lieber Herr!“ wimmerte der Herr Bürgermeister.
„Hm, Alte, da vorhin, als Ihr in der Gasse vor mir her gingt, hab’ ich Euch doch ein paarmal drauflos rennen sehen, als könntet Ihr noch jede Stunde Schnellläufer werden.“
„O, lieber Herr, da hat Euch nur die Dunkelheit getäuscht. Eine arme alte Frau muss sich auch wohl noch verspotten lassen.“
„Na, seid nur ruhig, Mutter! dort ist unsre Schenke und da sollt Ihr Euch pflegen!“
Die Beiden bildeten ohne Zweifel ein recht sehenswürdiges Paar, als sie in die Schenkstube traten. Von den ziemlich zahlreichen Gästen, die da bei Bier, Branntwein, Kartenspiel und Gespräch an den Tischen saßen, wurden sie mit sichtlicher Teilnahme gemustert und der Herr Wirt schien geneigt, Sie alsbald wieder zur Tür hinauszuweisen.
Der Fremde sah jedoch, trotz seinen defekten Kleidern, gar nicht darnach aus, als werde er sich so etwas gefallen lassen.
„Setzt Euch hier auf die Bank, Mutter, „ sagte er zur Bettlerin, „und macht’s Euch bequem; Ihr sollt gleich was zu essen bekommen.“
Darauf wendete er sich an den Wirt, den er bei Seite nahm und sagte, während er seine Zahlungsfähigkeit durch einen Schlag auf seine Tasche bewies, worin man Münze klimpern hörte: „Freund, der armen Alten dort müsst Ihr sogleich eine warme Suppe besorgen. Sie ist nicht recht wohl; seit zwei Tagen hat sie fast gar nichts zu sich nehmen können; Sie leidet an Obstruktionen. Habt Ihr denn nicht vielleicht ein gutes Hausmittelchen wider dies Übel?“
„Ach ja, da hätt’ ich schon etwas.“
„Sie mag aber durchaus keine Medizin nehmen, man müsst’ es Ihr daher insgeheim beibringen. Habt Ihr ein Mittel, das sich in die Suppe mischen ließe?“
„Ja, solch’ ein Mittel hab’ ich; ich mache selber manchmal Gebrauch davon. Aber sagen Sie, lieber Freund, könnte denn die Alte ihre Suppe nicht draußen in der Vorhalle essen? Sie sieht mir nicht recht reinlich aus und ich fürchte Ungelegenheit zu haben, wenn meine Gäste —“
„Herr Wirt, „ fiel ihm der Fremde ins Wort, „macht Euch da gar keine Sorgen und lasst mich nur Alles verantworten. Übrigens hütet Euch wohl, die Alte zu beleidigen oder auch nur misstrauisch anzusehen, denn das könnt’ Euch Unheil bringen! Die kann mehr als Brot essen, verlasst Euch darauf! Ich kenne das Weib erst seit dieser Stunde, aber ich habe schon gemerkt, wes Geistes Kind sie ist. Sie ging vor mir her die lange Gasse heraus; da mochte sie sich müde fühlen und was tat sie? sie setzte sich rittlings auf ihren Stock und ritt fünf Ellen hoch überm Erdboden bis hierher an die Tür.“
Der Wirt hatte genug gehört, er bekreuzte sich und befahl seiner Frau, die Suppe für das alte Weib so gut wie nur möglich zu tauchen, während der Fremde ein Gespräch mit einigen der Gäste anknüpfte. Diese, die übrigens nicht zu den Honoratioren der Stadt gehörten, empfingen den neuen Gast anfangs etwas misstrauisch, ließen sich aber schnell durch seine spaßhaften Reden und lustigen Schwänke gewinnen, die er nur so aus dem (am Ellbogen mit einer Öffnung versehenen) Ärmel schüttelte. Sie waren neugierig und fragten ihn auch nach seinem Woher und Wohin, sowie nach der „alten Hexe“, die inzwischen auf der Bank an der Tür nicht ohne Behagen die wirklich recht schmackhaft bereitete Suppe auslöffelte. Der Fremde erklärte, er sei reisender Schauspieler und suche ein Engagement; die alte Frau aber hab’ er selber soeben erst kennen gelernt.
„Wenn die keine Hexe ist, will ich mich hängen lassen“, sagte einer der Gäste. „Man sieht ihr’s von weitem an.“
„Ja, ihr Äußeres ist ein wenig verdächtig, „ bestätigte der Fremde, „und ich zweifle nicht, dass sie zum wenigsten wahrsagen kann und gestohlene Sachen zu entdecken weiß. Möglich aber auch, dass noch ganz andre Dinge hinter ihr stecken.“
„Ei, was denn?“ fragten mehrere neugierige Stimmen.
„Hm! wer mag das erraten!“ antwortete der Fremde. „Es hat ganz gewiss eine Geheimnisvolle Bewandtnis mit ihr. Ich möchte glauben, sie ist nicht ganz was sie scheint. Wie, wenn sie so eine Art Sendbotin, um nicht zu sagen Spionin, des jungen Kaisers wäre, dem viel daran gelegen sein kann, insgeheim die Gesinnung der Leute hier im Lande erforschen zu lassen? Der junge Kaiser hat sich selber schon bisweilen verkleidet unterm Volke bewegt, um unbeobachtet mit eigenen Ohren zu hören. Überall kann er natürlich nicht sein und folglich braucht er Gehilfen, die in mancherlei Gestalt umherschleichen mögen. Eine alte Bettlerin erregt am wenigsten Verdacht und kann ihm daher vortreffliche Dienste leisten.“
„Es geht ja die Rede“, bemerkte ein Gast, „der Kaiser werde nächstens selber durch unsre Gegend kommen, um den König in Neiße zu besuchen?“
„So ist’s“, sagte der Fremde, „und Joseph ist sogar schon unterwegs. Die Alte dort weiß gewiss Näheres, wenn sie auch nicht in des Kaisers Diensten steht; sie versteht wenigstens die Kunst, anzugeben, wo er sich in diesem Augenblicke aufhält.“
Der Herr Bürgermeister, der bemerken konnte, wie die Gäste die Köpfe zusammensteckten und fortwährend neugierig nach ihm hinblickten, begann sich unsicher zu fühlen und dachte schon daran, die Nähe der Tür zu benutzen, um hinauszuschlüpfen.
Der Fremde ahnte dies und war entschlossen, es zu verhindern.
„Seht, Leute“, sagte er, „es kann auch noch eine ganz andre Bewandtnis mit der Alten haben. Man hat mir erzählt, der neue Bürgermeister unterhalte eine Anzahl Spione, die überall umherhorchen müssen, um zu erforschen, was die Leute über die vielen neuen Anordnungen und harten Maßregeln sagen. Die Alte ist vielleicht eine solche Späherin?“
„Da sollte man sie doch am nächsten Baume aufknüpfen!“ rief einer der Gäste.
„Ich will das Weib noch ein Bisschen aushorchen“, sagte der Fremde, indem er aufstand und zu dem Herrn Bürgermeister hinging, neben dem er sich niederließ. „Hört, Mutter“, begann er. „Ihr dauert mich, die Leute dort denken recht übel von Euch. Die einen halten Euch für einen verkleideten Spion, die Andern glauben steif und fest, dass Ihr eine Hexe seid.“ „Es ist doch schmachvoll, „ schluchzte der Herr Bürgermeister, „eine harmlose alte Frau so zu verlästern. Aber ich will den bösen Menschen lieber aus dem Wege gehen; der liebe Gott wird mir wohl noch anderswo ein Obdach verschaffen.“
Mit diesen Worten wollte sich der neue Harun erheben, um hinwegzugehen; aber der Fremde hielt ihn zurück und sagte:
„Ja, Mutter, so leicht kommt Ihr doch nicht weg. Die Leute sind entschlossen, Euch auf den Zahn zu fühlen und meine eigne Sicherheit zwingt mich, Euch fest zu halten, denn wenn ich Euch entschlüpfen lasse, werden sie glauben, ich spiele mit Euch unter einer Decke und dann komm’ ich hier nicht lebendig vom Platze.“
Dem Herrn Bürgermeister begann Höllenangst zu werden. Er machte einen Versuch, seinen Wächter zu bestechen.
„Seht, „ sagte er, „wenn Ihr mich fortlasst, kann ich Euch sehr nützlich werden. ich kenne einen wohlhabenden und mildtätigen Mann hier in der Nähe: wenn ich dem ein Wort sage, schenkt er Euch einen vollständigen guten Anzug, den Ihr doch recht nötig habt, und gibt Euch auch noch ein Zehrgeld mit auf den Weg.“
„Ei, Mutter, wenn Ihr so reiche Freunde habt, warum geht Ihr denn als dann an den Türen betteln? Es ist also doch richtig, Ihr seid eine Kundschafterin und vermutlich im Solde des Herrn Bürgermeisters! Etwas Schlimmeres könntet Ihr gar nicht sein! Ich sag’ Euch, schon als sich der bloße Verdacht regte, waren die Leute dort ganz toll und wütend; Sie schwuren, Euch ohne weiteres zu erdrosseln, wenn Ihr eine solche Späherin sein solltet. Nu, fasst nur guten Mut, ich mein’ es gut mit Euch und möcht’ Euch herzlich gern aus der Tinte retten. Die Hauptsache ist: gesteht nicht ein, dass Ihr eine Späherin seid, denn das wär’ Euer augenblicklicher Tod. Sie werden dann freilich wieder darauf zurückkommen, dass Ihr eine Hexe seid und jedenfalls eine Probe mit Euch anstellen; aber sie töten Euch dann wenigstens nicht sogleich, Ihr werdet bloß ein Bisschen gestoßen und gepufft und kommt ins Gefängnis, behaltet aber die Aussicht, Euch mit Hilfe Eurer Kunst über lang oder kurz befreien zu können.“
Der Herr Bürgermeister begann jetzt zwiefach zu leiden, nämlich nicht allein durch seine moralische Angst, sondern auch physisch durch einen Aufruhr in den Eingeweiden, dessen Ursache er nicht ahnen konnte, der aber von dem in die Suppe gerührten Heilmittel des Wirtes herrührte, welches zu wirken anfing.
„Es ist wirklich noch das Geratenste, Ihr lasst die Hexenprobe über Euch ergehen“, fuhr der Fremde fort, indem er das Gesicht der Bettlerin betastete. „Ihr meint, Ihr wäret keine Hexe? nun seht, ich fühle da doch einen Bart! er ist glatt rasiert, ja, aber man fühlt ihn, und Hexen haben gewöhnlich einen Bart, wie ich gehört habe. Im Grunde ist’s auch gut, wenn Ihr wirklich eine seid, denn dann sinkt Ihr nicht unter, wenn man die Wasserprobe mit Euch macht und die wird man freilich mit Euch machen. Der Teich ist ganz nahe, gleich aus der andern Seite der Straße.“
Den Gästen dünkte die geheime Unterredung der Beiden zu lang. Sie näherten sich Einer nach dem Andern und mischten sich ins Gespräch.
„Verantwortet Euch, so gut Ihr könnt“, flüsterte der Fremde dem Herrn Bürgermeister zu, indem er sich von der Bank erhob. „Ich will Euch unterstützen, so gut ich es vermag, aber es muss den Anschein haben, als wär’ ich nicht auf Eurer Seite.“
Nun ließ er es sich angelegen sein, die Gäste zu überreden, dass die Alte denn doch keine Hexe sei, wohl aber, wie man ganz richtig vermutet, eine Kundschafterin des Herrn Bürgermeisters. Diese Ansicht fand rasch allgemeinen Glauben, man umringte die vermeintliche Bettlerin, warf ihr die Anschuldigung ins Gesicht und bedrohte sie mit den grausamsten Strafen.
„Liebe Leute“, wimmerte der Herr Bürgermeister, „Ihr tut mir wahrlich großes. Unrecht und verkennt mich ganz und gar. Wie sollte sich denn so ein vornehmer Herr mit mir, mit einer armen alten Bettelfrau, zu schaffen machen! Ich bin ja gar nicht hier im Orte zu Hause und kenne den Mann nicht einmal, von dem Ihr sprecht. Ich habe nur gehört, er sei ein hartherziger Tyrann, der den armen Leuten nichts Gutes gönnt und der es verdient, dass ihn alle ordentlichen Leute verachten und hassen. Es ist auch wirklich himmelschreiend, dass ein solcher Mensch, so ein Taugenichts und Menschenschinder, zum Bürgermeister gemacht worden ist. Wär’ ich König, ich beföhle noch heute, dass er wieder abgesetzt würde, der Bösewicht!“
Einigen der Anwesenden missfielen diese Äußerungen nicht und sie waren nahe daran, eine günstigere Meinung von der Bettlerin zu fassen, als sich der Fremde ins Mittel legte und sagte:
„Aber nun bitt’ ich Euch, Ihr Leute, sagt, wollt Ihr Euch das gefallen lassen? Von einer fremden Landstreicherin? Sie sagt ja selbst, sie komme herüber vom kaiserlichen Gebiete. Wollt Ihr es leiden, dass sie sich erfrecht, hier mitten unter Euch aufzutreten und Euren Herren Bürgermeister, Eure eigene Obrigkeit, so arg zu schmähen und zu lüstern? Es würde Euch ja eine ewige Schmach vor aller Welt sein, wenn Ihr das dulden und ungeahndet hingehen lassen wolltet! Ich bin selber hier fremd, aber es empört mich, so schnöde von Eurer Obrigkeit reden zu hören und noch dazu von einer alten Hexe!“ In Folge dieser Rede fühlte sich alsbald auch die Menge der Anwesenden empört. „Sie muss bestraft werden, die freche Landstreicherin!“ „Fort mit der Hexe zum Teiche!“ schrie es wild durch einander und viele Hände streckten sich aus, das Opfer zu packen.
„In diesem Augenblicke machte der Herr Bürgermeister in seiner Verzweiflung noch einen Versuch, dem Ärgsten, womit man ihn bedrohte, zu entgehen. Er sprang empor, um die Tür zu gewinnen. Dieser Sprung nahm sich äußerst seltsam aus und kaum die Ungläubigsten zweifelten fest noch, es mit einer Hexe zu tun zu haben. Aber dieser unselige Sprung vollendete auch das Unglück des Herrn Bürgermeisters, denn er verhinderte diesen, dasjenige länger zu zügeln, was er bis dahin noch mühsam unterdrückt hatte, nämlich den Ausbruch der Revolution seines Inneren, welche durch des Wirtes Heilmittel angestiftet worden war. Die Katastrophe war eingetreten.
„Wahrhaftig, sie ist eine Hexe!“ riefen die Nächststehenden, indem sie von dem halb ohnmächtig auf die Bank zurückgesunkenen Herrn Bürgermeister einige Schritte zurückwichen. „Man könnte sich die Finger an ihr verbrennen, sie verbreitet eine Höllenluft um sich „
In diesem Augenblicke hätte der Herr Bürgermeister vielleicht ohne Schwierigkeit entweichen können, aber es fiel ihm nicht ein, den Versuch zu erneuern: die schreckliche Katastrophe hatte seinen Mut völlig gebrochen und er ruhte erschöpft auf der Bank wie ein in Alles ergebenes Opferlamm.
Dieser Anblick beschwichtigte aber keineswegs die erregten Gemüter der Anwesenden. „Man hielt Alles nur für eine schlaue Hexenfinte und aufs Neue wurden Stimmen laut, welche verlangten, man solle die Sünderin ungesäumt nach dem Teiche führen, um sie der Hexenprobe zu unterwerfen.
„Ihr Leute bemerkte der Fremde, „ich bezweifle nicht, dass der Alten gerade in diesem Augenblicke ein Bad recht nützlich sein würde, aber ich möchte Euch doch den Rat geben, nicht eigenmächtig Gericht zu halten. Bedenkt selbst, welche Unannehmlichkeiten dies hinterdrein für Euch haben könnte! Überlasst das Gericht Eurer ordentlichen Obrigkeit. Das Allerbeste würde, denk’ ich, sein, wenn Ihr die Verbrecherin sogleich in die Stadt zum Herrn Bürgermeister selbst transportiertet, gegen den sie sich am schwersten vergangen hat. So wird sie ihrer gerechten Strafe nicht entgehen.“
Die Worte des Fremden fanden auch diesmal Anklang und es ward beschlossen, das gefährliche Weib zum Bürgermeister zu bringen; nur hatte niemand mehr Lust, sie anzufassen und einige der Anwesenden bildeten daher ein kleines Karree, in dessen Mitte die Gefangene marschieren sollte.
„Lasst ihr nur den Stock nicht“, sagte der Fremde, „denn aus dem könnte sie sich in die Luft schwingen!“
Der arme Herr Bürgermeister hatte in diesen bitteren Augenblicken alle Lust zur Verstellung verloren. Während er vorher selbst mit Hilfe des Stockes nur langsam und mühselig gewandelt war, schritt er jetzt in der Mitte der Leute so rasch, als es diese verlangten und als das Gewand seiner seligen Frau Gemahlin es erlaubte. Sein altes Körbchen mit dem erbettelten Stückchen Brod darin musst’ er tragen. Unterwegs hatte er noch viel zu leiden von den Schmähungen, womit ihn seine Umgebung überschüttete, und während man sich durch die Stadt bewegte und das unerwünschte Geleit sich namentlich durch einige Straßenjugend verstärkte, blieb es nicht bei bloßen Worten, was die Schmähungen anlangt, sondern es erreichte auch manches unsaubere Wurfgeschoss die gefangene „böse Hexe“.
Glücklicherweise war der Weg nicht sehr lang und bald erreichte der Zug, den ein Mann mit einer Laterne eröffnete, das Haus des Herrn Bürgermeisters, nach welchem man sogleich fragte.
Unter der Haustür stand Johann, ein derber alter Bursche, der von seiner Soldatenzeit her noch einen Schnurrbart trug. Dieser Johann war ein sehr brauchbarer Mensch, ein Faktotum, denn er war zugleich Hausmann, Gärtner, Markthelfer, Stößer in der Offizin und Bedienter. Um in der letztgenannten Eigenschaft gehörig zu glänzen, hatte ihm sein Gebieter eine Livree machen lassen, die er aber nur bei feierlichen oder wichtigen Gelegenheiten anlegen durfte.
Johann versicherte auf Befragen, der Herr Bürgermeister sei nicht daheim. Der Fremde, der sich auch hier zum Wortführer aufwarf, berichtete in der Kürze, was die Menge hierher führte und worin das Vergehen der gefangenen Landstreicherin bestand. Auf Johann’s Rat, sie sogleich nach dem gewöhnlichen Gefängnisse zu bringen, bewies er mit mehreren Gründen, dass dies jetzt nicht ratsam sei und fragte, ob man nicht ein sicheres Behältnis im Hause habe, wo die Gefangene bis zur Heimkehr des Herrn eingesperrt werden könnte. Ein solches Behältnis, eine jetzt fast ganz leere Vorratskammer im Erdgeschoss, war allerdings vorhanden und Johann nahm es auf sich, sie als einstweiliges Gefängnis dienen zu lassen.
Ohne das geringste Sträuben, ja mit fast auffälliger Bereitwilligkeit ließ sich die Gefangene in dies finstere Kämmerchen stecken, dessen Tür hinter ihr sorgsam verschlossen wurde.
„Sie könnte dennoch Mittel finden, die Tür zu öffnen sagte der Fremde. „Sind nicht ein paar Leute hier, die Wache halten wollen, bis der Ratsdiener kommt, um das Wächteramt zu übernehmen?“
Sogleich waren zwei Freiwillige bereit und postierten sich an die Tür des Gefängnisses.
„Herr Johann“, sagte der Fremde, „Ihr werdet nicht vergessen, diesen beiden braven Leuten eine Flasche Wein zu verschaffen! Und was uns Andere betrifft, meine wackeren Bürger, wir tun wohl am besten, uns zu entfernen, nachdem wir unsere Pflicht erfüllt haben, denn es würde nicht gut sein, vor dem Hause des Herrn Bürgermeisters einen Auflauf zu verursachen.“ Mit diesen Worten wandte sich der Fremde ohne weiteres ab und verschwand eilig im Dunkel der Nacht. Johann schloss seinerseits die Haustür und so blieb denn der Menge nichts übrig, als sich ebenfalls zu zerstreuen.
Die arme Ottilie hatte den Zug anrücken sehn und ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt gefunden. Sie hatte die Verhandlung mit Johann gehört und zu ihrem Troste daraus erkannt, dass man doch nicht entdeckt hatte, wer unter der Maske der Bettlerin verborgen war.
Als sie hörte, dass man die gefangene Hexe im Hause einsperrte, fiel ihr abermals ein Stein vom Herzen; aber die Besorgnis um den Vater und das Mitleid mit ihm waren noch zu groß, als dass sie über seine groteske Figur bereits wieder zu lachen vermocht hätte. Sie suchte sogleich Johann auf, um ihn aufzufordern, auf ihre Verantwortung die beiden fremden Wächter ungesäumt aus dem Hause zu entfernen.
Sie fand Johann in größter Bestürzung.
„Ach, liebe Jungfer!“ sagte er, „die beiden Leute hab’ ich soeben schon aus dem Hause gelassen, aber die Gefangene ist auch fort!“
„Wohin ist sie denn?“
„Ja, wer das wüsste! Ich brachte den Wächtern eine Flasche Wein. Da wollt’ ich gleich auch noch einmal nach der Gefangenen sehn und schloss die Tür auf. Die Kammer war leer. Und es ist doch kein Fenster drin, auch kein Schornstein, bloß eine ganz festverschlossene Hintertür. Ist noch ein Zweifel, dass es wirklich eine Hexe war?“
„Nun, Johann, macht Euch nicht zu große Sorge. Wir wollen vielmehr froh sein. dass wir das böse Weib los sind.“
„Ach, Jungfer Ottilie, wenn wir sie nur auch wirklich los sind! Sehen Sie, da hat mir einer von den Leuten diesen Stock übergeben, den die Hexe gehabt hat. Diesen alten Stock kenn’ ich nun ganz genau, er gehört dem Herrn Bürgermeister. Wie kam er in die Hände der Hexe? sie kann ihn nur gestohlen haben, sie muss also schon im Hause hier gewesen sein, hat vielleicht schon mehr gestohlen, ja sie ist vielleicht nach jetzt irgendwo im Hause versteckt. Es ist ihr ja Alles möglich, da sie durch ein Schlüsselloch zu schlüpfen versteht.“
Ottilie bemühte sich, den getreuen Johann zu beruhigen und begab sich dann, ihrerseits schon sehr beruhigt, nach ihrem Zimmer. Sie zweifelte nicht mehr, dass sich der Herr Vater bereits sicher in dem seinigen befinden werde.
Der Herr Bürgermeister hatte sich nach den ausgestandenen schweren Leiden schon glücklich gepriesen, in das Kämmerchen gesperrt zu werden, denn unter den Schlüsseln, die er bei sich führte, befand sich zum Glück auch derjenige, der die Hintertür dieses Gemachs öffnete, und so war der hartbedrängte Mann schnell und unbemerkt nach seinen eigenen Gemächern gelangt.
Hier hatte er sich sorgfältig eingeriegelt und sein erstes Geschäft war gewesen, nicht nur die weiblichen Kleider abzulegen, sondern sich auch im Übrigen völlig umzukleiden, namentlich die Wäsche zu wechseln. Nach Beendigung dieses dringend notwendigen Werkes fühlte er sich alsbald wieder in seiner Würde und mutvoller denn je. Einen Augenblick dachte er daran, sofort den Treubund zu außerordentlicher Sitzung zu versammeln, um Bericht zu erstatten und weitere Schritte zu beschließen. Indes gab er diesen Gedanken wieder auf und beschloss, die Sitzung auf die früheste Morgenstunde des nächsten Tages zu verschieben, im Augenblick sich aber vor Allem durch ein Abendessen zu erquicken, denn er war sehr hungrig geworden, und dann zu Bett zu gehen.