Читать книгу Der Tod hält Einzug: Kriminalroman - Theodor Horschelt - Страница 7
1.
ОглавлениеEine Frau zwölf Stunden kennen und danach sofort heiraten – das muss schief gehen!, hatte sich John Lee in verschiedenen lichten Momenten immer wieder selbst vorgehalten. Die Tatsachen wussten es jedoch anders, und das allein zählte. Charlie war eine zärtliche, nachgiebige, großzügige und erfahrene Ehefrau. Immerhin war es bereits ihre zweite Ehe, und sie war acht Jahre älter als achtzehn.
Am Abend des vierten Tages nach ihrem ersten Kennenlernen erreichte das frischgebackene Ehepaar Lee London.
„Bitte Rauchen einstellen! – Passagiere bitte anschnallen, wir landen in drei Minuten!“
Überall leuchteten an den Kabinenwänden rote Warntafeln auf, außerdem sagte es die Stewardess mit freundlich-überredendem Tonfall über die Bordsprechanlage durch.
„Wir sind in der alten Heimat, meine liebe verehrte Mrs. Lee!“ John sah seine schöne Frau von der Seite her an, die die Blicke der Männer wie ein Magnet auf sich zog. „Morgen schließe ich mit The British eine Artikelserie unter dem Titel Ich heiratete Miss World ab!“
Zehn Minuten später rollte die Maschine zum Abfertigungsgebäude im Zentrum von London Airport, wurde immer langsamer und blieb am Ende ganz stehen.
London bereitete den Lees, die jahrelang nicht mehr in ihrer Heimat gewesen waren, einen hässlichen Empfang. Es goss wie aus Kannen, die Nacht hatte einen nebeligen Anstrich, kaum konnten sich die vielen verwirrenden roten, grünen und gelben „Feuer“ und Scheinwerfer gegen Nacht und Wolkenbruch durchsetzen.
Galant half John seiner Frau in den Regenmantel hinein, ehe er den eigenen anzog; das Ehepaar war auf schlechtes Wetter vorbereitet. An Handgepäck nahm er seine Aktenmappe und einen kleinen Saffiankoffer, Charlie seine zweite Aktenmappe, ihre große Handtasche und ihren Necessairekoffer an die Hand.
Vor der Zollschleuse herrschte wegen des Unwetters ein schreckliches Gedränge.
Vorübergehend wurde Charlie von John getrennt. Ein mittelgroßer, sportlich-eleganter junger Mann in einem vor Nässe glänzenden Lederölmantel und einem breitkrempigen Wetterhut kam mit seltsam wabbelnden Schritten aus dem Dunkel näher und prallte im nächsten Augenblick so heftig mit Charlie Lee zusammen, dass sie entsetzt ihr Gepäck fallen ließ und um ein Haar gestürzt wäre. Der Schuldige bekam sie gerade noch an beiden Armen zu fassen und stellte sie unter gemurmelten Entschuldigungen wieder auf die Beine. Danach half er ihr beim Aufsammeln ihrer Gepäckstücke.
Ein überaus großes und dickes Ehepaar versperrte John vorübergehend die Sicht. Erst bei der Zollabfertigung bemerkte er plötzlich, dass er hinter Charlie stand. Die Beamten vom Dienst waren sehr großzügig; von einer exakten Durchsuchung des Reisegepäcks konnte nicht die Rede sein.
Der Bus der PAA brachte das Ehepaar zum Waterloo-Air-Terminal. Die Fahrt dauerte „nur“ eine volle Stunde. Danach fuhren sie im Taxi noch einmal fünfzehn Minuten bis zum Scotch Guard Hotel, wo John telegrafisch ein Appartement vorausbestellt hatte.
Erst beim Auspacken im Schlafzimmer fiel ihm das Fehlen von Charlies Necessairekoffer auf, und er machte sie sofort darauf aufmerksam.
„Ich weiß auch nicht, wo er geblieben ist“, rief er ärgerlich. „Erinnerst du dich nicht? In dem Gedränge bei der Zollschleuse bist du mit einem jungen Mann zusammengestoßen. Er hat sicher den Koffer gestohlen ... “
„Seit wann verdächtigst du Unbekannte so ungerecht?“, fragte sie kopfschüttelnd. Triumphierend öffnete sie seine zweite Aktenmappe, die sie auf dem Weg vom Flugzeug ins Hotel ständig bei sich getragen hatte, und öffnete sie. Ihre Schmuckkassette purzelte heraus, sowie der übrige Inhalt des Necessaires.
„Sie sind ein oberflächlicher Beobachter, Mr. Lee!“, neckte sie ihn. „Sie sehen Gespenster, also in unserm Falle, Dinge, die es gar nicht gibt. Der Necessairekoffer schwimmt nämlich mit dem großen Gepäck auf dem Wasser. Er war mir viel zu unhandlich. Deshalb habe ich mir erlaubt, das Wichtigste und Kostbarste in deine zweite Aktentasche zu packen, und deren Inhalt unauffällig in deine erste mit einzupacken. Und du, Darling hast gar nichts davon bemerkt. So ein tüchtiges Frauchen hast du!“ Lachend warf sie sich in seine Arme und es dauerte keine Minute, bis er den unwichtigen Necessairekoffer vergessen hatte ...
*
IN JENEN TAGEN BETRACHTETE John seine wunderschöne Frau nicht selten neugierig, wenn er sich von ihr unbeobachtet wusste. Er konnte einfach nicht glauben, dass er sie erst eine Woche kannte. Ihm war zumute, als hätte es in seinem Leben nie eine Zeit ohne Charlie gegeben.
Manchmal kamen freilich auch Augenblicke, wo er sich besorgt fragte, ob er sie wirklich kenne. An ihrer Haltung und an ihrem Benehmen gab es nichts zu klagen, wogegen sie in anderer Hinsicht ausgesprochen desinteressiert erschien.
Er war sehr stolz auf seine schöne, lebenslustige junge Frau und gern bereit, ihr jeden gewünschten Luxus zu gönnen.
Dabei machte er die neue Entdeckung, dass es schwer war, ihr einen Luxus zu gönnen, den sie noch nicht besaß. Ihre Ausstattung an Kleidern, Wäsche und Koffern war dem Umfang nach bescheiden, nicht aber in der Qualität. Alles, was sie besaß, war vom Teuersten und Besten. Dass es so war, schien sie als selbstverständlich hinzunehmen. Wie viele Menschen, die sich ihre Position in der Sonne hart erringen müssen, war John sparsam, aber er neigte nicht zu Geiz. Im Gegenteil, er hatte eine ausgesprochen großzügige Ader. Schon vor dem Flug über den Atlantik hatte er die erstbeste Gelegenheit ausgenützt, mit Charlie über ihr zukünftiges gemeinsames Leben zu sprechen, und dabei den Versuch gemacht, ihr ein äußerst wohlwollend bemessenes Taschengeld aufzudrängen.
Sie hatte das weit weggetan und eine vage Ausrede gebraucht des Inhalts, sie besitze selbst genug und würde sich, falls eins Tages der eigene Mammon ausginge, schon an ihn zu wenden wissen.
Manchmal überfiel ihn eine heiße Angst, sie habe ihn vielleicht in ganz bestimmter Absicht – die er freilich nicht ergründen konnte – geheiratet und betrachte ihre Ehe mit ihm als eine Art Übergangsstadium, aus dem sie sich nach Lust und Laune oder bei Bedarf jederzeit wieder lösen könne.
Noch bestürzender war für ihn die klare Selbsterkenntnis, dass er ohne sie nicht mehr leben mochte. Er konnte es sich einfach nicht mehr vorstellen, einspännig durchs Leben zu gehen, nachdem einmal eine Charlie Eshley Seite an Seite mit ihm gewandelt war.
Sie bewohnten ein sehr schönes und entsprechend teures Zimmer in der dritten Etage, Nummer 67. Alles war in Lindgrün und Altgold gehalten. Es war ein richtiges Hochzeitskabinett, eigentlich schon ein Appartement, denn es besaß einen abgeteilten Wohnraum und ein Bad. Telefonanschluss war hier selbstverständlich.
Am Sonntagabend begannen die geheimnisvollen Vorgänge und Verwicklungen, die ihm so sehr zu denken gaben, und die einen unguten Ausgang nehmen sollten.
Kurz vor dem Abendessen saß Charlie in einem verführerischen Bademantel vor dem Frisiertisch. Sie hatte eben ihr herrliches Haar mit hundertfünfzig Bürstenstrichen bearbeitet und war jetzt dabei, ihre Fingernägel blutrot zu lackieren.
„Vermutlich haben Sie sich für heute Abend viel vorgenommen, Mrs. Lee“, neckte er sie. Er trat hinter sie, beugte sich zu ihr nieder und küsste sie auf die Schulter.
„Sei vorsichtig, Darling“, bat sie ernsthaft, „sonst verschmierst du mir den Lack. Nein, nicht küssen, fang nicht schon wieder damit an, sonst ist die ganze Mühe vergebens gewesen. Hilf mir lieber beim Anziehen. Du weißt doch, dass ich bei den engen Kleidern den Reißverschluss nicht ohne deine Hilfe zu bekomme.“
„Muss es denn immer ein hautenges Kleid sein, Schätzchen?“, fragte er, immer noch gutgelaunt. „Du bist auf dem besten Weg, im Scotch Guard Hotel eine Palastrevolution zu entfesseln. Die Damen werden grüngelb vor Neid, wenn sie dich nur auftauchen sehen, und die Herren zwischen achtzehn und achtzig bekommen wankende Knie.“
Charlie zuckte die Achseln. „Daran sind sie nur selber schuld!“ Sie grinste, was ihr reizend stand, und fuhr sich blitzschnell mit der Zunge über die Lippen. „Sie brauchen ja nicht hinzusehen. Ich bin nicht scharf auf sie.“ Sie erhob sich und streifte, ehe er ihr hatte helfen können, den Bademantel ab. Was sie danach noch am Leibe trug, war nicht der Mühe wert, beschrieben zu werden.
„Und jetzt hilf mir bitte ...“
Sie wählte für diesen Abend ein graues Seidenkleid, das sie überaus jugendlich erscheinen ließ.
Wenn es nach John gegangen wäre, hätte man das Abendessen auf dem Zimmer eingenommen. Er wagte es aber nicht, Charlie einen entsprechen den Vorschlag zu machen, denn damit wäre er schön bei ihr angekommen.
Sie verfügte über einen beneidenswerten Appetit und gab sich nicht die geringste Mühe, ihn zu zügeln. Sorgen mit der Figur schien sie nicht zu kennen.
„Tja!“, sagte sie, als sie angezogen war, und drehte sich noch einmal begutachtend vor dem Spiegel. „Gehen wir also hinunter, gehen wir essen! Ich habe einen Hunger wie eine ganze Meute sibirischer Steppenwölfe. Aber vorher noch etwas anderes, Liebling: Wenn man eine junge Frau sein eigen nennt, hat man auch gewisse Verpflichtungen. Zum Beispiel die, sie am Abend in ein Nachtlokal auszuführen.“
Er lachte sie einfach aus. „Manchmal frage ich mich, Liebes, ob du wirklich eine Engländerin bist“, sagte er achselzuckend. „Denn als gebürtige Engländerin müsstest du wissen, dass es an Sonntagen kein Nachtleben gibt.“
Sie musterte ihn aufmerksam. „Ich kann dir das gepfefferte Kompliment zurückgeben. Der, der sich nicht im Londoner Nachtleben auskennt, heißt John Robson Lee! Natürlich gibt es kein öffentliches Nachtlokal, das auch am Sonntag geöffnet hat. Aber es gibt Clubs, wo man nur Mitglied zu werden braucht und dann zu allen Zeiten ankommt. Auch am Sonntagabend.“
„Hast du einen bestimmten Club im Sinn?“
„Habe ich. Den Holborn Club am Vitch Lane.“
„Und kennst du jemand, der dich dort einführt?“
„Ich kenne jemand, der dich dort einführt, mein Herr und Gebieter, nämlich mich. Mit anderen Worten: Ich bin dort Mitglied. Wenn ich die gepfefferten Jahresbeiträge nachbezahle, kann ich meine Mitgliedschaft wieder aufleben lassen. Vielleicht erlässt man mir auch die Nachzahlung, sofern ich dem Clubsekretär schöne Augen mache.“
„Sie sind eine verheiratete Frau, Mrs. Lee!“, warnte er sie, „und ich untersage Ihnen ganz energisch, irgend jemand schöne Augen zu machen außer dem eigenen Mann.“
„Dann lasse ich’s sein und greife in die Tasche. Dem Hausfrieden zuliebe.“ Sie erhob sich, drehte sich rasch um, legte ihm die Arme um den Hals und schmiegte sich an seine Brust.
„Und jetzt habe ich wirklich Hunger“, flüsterte sie. „Komm, wir wollen hinuntergehen. Gehen, habe ich gesagt, denn der verflixte Aufzug ist bereits wieder außer Betrieb. Eine Schande in einem so teuren Hotel.“
Gemeinsam verließen sie das Zimmer und traten auf den Korridor hinaus.
John wandte sich um, um die Tür zu schließen und abzusperren, und hörte in diesem Augenblick hinter seinem Rücken eine anmaßende Stimme erstaunt sagen: „Guten Abend, Mrs. Herbert! Auch wieder einmal in London?“
Verwundert drehte er sich um und sah, dass ein schlaksiger Mann mittleren Alters im Abenddress bei Charlie stehengeblieben war. Ein einziger Blick in Charlies Gesicht zeigte ihm die Sturmwarnung. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen und auf ihrer Stirn stand eine steile Falte.
„Ich bin nicht Mrs. Herbert, Sie verwechseln mich“, sagte sie unwillig.
„Aber ich bitte Sie! Da ist ein Irrtum gar nicht möglich ...“
Charlie wandte sich brüsk zu John um. Ihre Augen sprühten Blitze. „John, Lieber, würdest du diesem aufdringlichen Gentleman klarmachen, dass ich Mrs. John Robson Lee bin?“, bat sie nervös.
Das Gesicht des jungen Mannes wurde jäh verschlossen. Er machte eine angedeutete Verbeugung. „Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. Erst jetzt sehe ich, dass ich mich tatsächlich geirrt habe“, sagte er mit anmaßender Stimme frostig.
Ehe John eine Bemerkung machen konnte, wandte sich der Fremde um und ging eilig zur Treppe.
Charlie zuckte die Achseln und kniff ein Auge zusammen. Aber es galt nicht ihrem Mann.
John trat einen Schritt zurück und hob langsam den Blick.
Dort, wo der Korridor einen Knick machte, stand ein kräftig gebauter, steifer alter Herr in altmodischer Kleidung und nickte zustimmend mit dem Kopf. Er hatte einen völlig haarlosen Schädel, der an eine riesige Billardkugel erinnerte, und trug im linken Auge ein gefasstes Einglas, von dessen Öse ein Seidenband zum Smoking-Revers herabpendelte. Er war etwa eins-fünfundachtzig groß; John schätzte sein Gewicht auf hundertfünfzig Pfund.
Im nächsten Augenblick wandte er sich ab und verschwand im Seitengang.
„Kennst du den Herrn, der wie ein Schmierenschauspieler aussieht, der den Herzog spielt?“, fragte John unwillig, der solche Typen nicht mochte.
„Du siehst Gespenster, Liebster!“ Charlie lachte mit erzwungener Lustigkeit. Dann hakte sie sich besitzergreifend bei ihrem Mann ein. „Komm, John, Lieber, wir wollen in den Speisesaal gehen, sonst verhungere ich.“
*
GEGEN ZWEIUNDZWANZIG Uhr hielt das Taxi vor einem hässlichen alten Haus am Vitch Lane.
Das Ehepaar stieg aus. John entlohnte den Taxifahrer.
„Hier sollte man eigentlich nur im eigenen Wagen vorfahren“, murmelte Charlie nachdenklich. „Ob ich in den nächsten Tagen versuche, einen zu bekommen?“
„Ist doch nicht nötig“, John grinste stolz. „Die Familie Lee bekommt morgen einen funkelnagelneuen Jaguar F.“
Charlie stieß einen Freudenschrei aus und fiel John auf offener Straße um den Hals. „Schatz, du bist einmalig!“, rief sie erregt, ganz außer Atem. „Du scheinst ein Krösus zu sein.“
John ließ diese Behauptung auf sich beruhen. Ihn quälte augenblicklich eine andere Frage. Er hatte das hässliche, verkommene alte Haus gesehen, in dem sich der Holborn Club befand, und hatte Bedenken, überhaupt hineinzugehen.
Charlie lachte ihn einfach aus. „Sei kein Fisch, Liebster“, sagte sie spöttisch. „Außerdem kann ich dir versichern, dir werden gleich die Augen übergehen.“ Sie fasste ihn am Handgelenk, zog ihn zur Tür und drückte dreimal kurz und zweimal lang auf den Klingelknopf.
Sofort ertönte ein leises Summen. Jemand hatte den elektrischen Türöffner in Betrieb gesetzt.
Sie gingen durch einen langen, schmalen, nur durch nackte Glühbirnen erhellten Gewölbegang zu einer Tür, die sich automatisch öffnete. Dahinter hielt eine Liftkabine.
Sobald John die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging es abwärts.
Als der Lift mit einem Ruck hielt, öffnete sich wieder automatisch die Tür – und jetzt gingen John tatsächlich die Augen über. Er trat heraus und stand in einer mäßig großen, ganz mit rotem Samt ausgeschlagenen, indirekt beleuchteten, gut gelüfteten Garderobe.
Während John Charlie aus dem Mantel half, öffnete sich die Klapptür zum Hauptraum und ein etwa fünfunddreißigjähriger, fuchsgesichtiger Gentleman im Frack trat heraus. Mit strengem Gesichtsausdruck ging er auf das Ehepaar zu und blieb stehen. Er schien Charlie zu erkennen.
„Guten Abend, meine Herrschaften!“, sagte er aufgeregt. „Der und jener segne meine Augen, wenn das nicht Miss Charlie Eshley ist!“
„Guten Abend, Mike!“, erwiderte Charlie vergnügt. Sie reichte ihm die Hand. Dann wandte sie sich zu John um und sagte erklärend: „Das ist Mr. Mike Dodson, der Clubsekretär. Übrigens haben Sie nicht recht, Mike, ich bin nicht Miss Eshley, sondern Mrs. Lee. Hier haben Sie meinen Ehemann in voller Lebensgröße. Meine Mitgliedschaft gilt hoffentlich noch. Kann ich John mit hineinnehmen?“
„Aber ich bitte Sie, Miss Eshley ...“, Dodson verbesserte sich hastig, „Mrs. Lee, das ist doch selbstverständlich.“ Er trat zur Tür, doch Charlie hielt ihn durch einen Zuruf zurück.
„Einen Augenblick noch, Mike. Ich habe eine Frage an Sie: Wann war eigentlich Vera das letzte Mal hier?“
„Vera? Oh – das ist jetzt schon – warten Sie – vier Jahre ist es her. Im September achtundvierzig waren Sie, wenn ich nicht irre, das letzte Mal hier – Miss Vera sah ich einen Monat später zuletzt, seitdem ist sie nie wieder hier aufgetaucht.“
Diese Mitteilung schien Charlie außerordentlich zu bedrücken, ja aufzuregen.
„Täuschen Sie sich auch nicht“, stammelte sie aufgeregt. „Das ist doch unmöglich! Sind Sie ganz sicher, dass Vera nicht doch ab und zu hier war?“
Mike Dodson zuckte entrüstet die Achseln. „Ich bitte Sie, Mrs. Lee! Mir wird doch nicht entgehen, was in meinem eigenen Unternehmen passiert! Nein, es ist schon so, wie ich Ihnen gesagt habe. Wir haben Miss Vera als Gast und als Mitglied verloren.“
Von diesem Schlag schien sich Charlie nur schwer erholen zu können. Sie sagte zerstreut: „Ist schon gut – ist schon gut!“ Sie wandte sich zu John um und forderte ihn nervös zum Mitkommen auf.
Ein so vornehmes Etablissement hatte Lee, der vom Londoner Nachtleben nur nebulöse Vorstellungen besaß, in dem verkommenen alten Haus nicht erwartet. Das rot gefilterte Licht war gedämpft. Kleine Tische standen angenehm weit auseinander, daneben gab es an der einen Wand Nischen und Separees. Die meisten waren besetzt. Es war ein gutes Publikum. Die Gäste wussten sich zu benehmen, die Unterhaltung wurde leise geführt.
Der Eingangstür gegenüber führte eine Marmortreppe mit einem schmiedeeisernen Geländer freischwebend eine Etage höher. Links daneben saß ein buckliger Pianist am Flügel und spielte verhaltene Jazzrhythmen. Dahinter lag die Bar.
„Nun, gefällt es dir hier, Liebster?“, fragte Charlie und drückte in jäher freudiger Aufwallung den Arm ihres Mannes.
„Bis jetzt habe ich zumindest nichts dagegen einzuwenden“, erwiderte er vorsichtig.
Dodson schob sich von der Seite her heran und führte sie zu einer ungestörten Halbnische. Als der Kellner an den Tisch trat, bestellte John auf Charlies Wunsch „King George on the Rocks“.
Eine aufgedonnerte, etwas üppige Blondine näherte sich mit ihrem Begleiter, einem dicklichen, schwitzenden jungen Mann, der Nische. Sie scherte sich nicht um die Anwesenheit anderer Gäste, sondern sprach kichernd und albern auf ihren Begleiter ein, der weniger durch sympathische Erscheinung und männliche Schönheit, als durch Zahlungskraft zu glänzen schien.
Ihr Blick fiel auf Charlie, die gerade John etwas ins Ohr flüsterte, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
„Coralie!“, stammelte sie. Es war fast ein Aufschrei.
John spürte deutlich, wie Charlies Glieder und Muskeln steif wurden. Sie richtete sich mit einem Ruck auf und wandte sich langsam um.
„Coralie!“, ächzte die aufregende Blondine, die einige Jahre älter war als Charlie. „Coralie – du lebst!“
Charlie sah sie bestürzt an. John sagte mit höflicher Bestimmtheit: „Sie irren sich, Madam. Die Dame heißt Charlie Lee und ist meine Frau. Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: John Robson Lee.“
Die Blondine zitterte am ganzen Körper. Der Blick, den sie auf Charlie warf, zu John weiter gleiten ließ und zu Charlie zurück lenkte, war alles andere als freundlich.
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, sagte sie fahrig. „Mein Name ist Ann McNally. Ja, ich sehe ich es selbst, dass ich mich getäuscht habe. Ich bitte vielmals um Verzeihung.“ Sie lachte unsicher auf. „Das ist eben der Nachteil der Schummerbeleuchtung. Darf ich den Herrschaften Herbert Lom vorstellen, meinen ständigen Begleiter.“ Sie schien mächtig stolz darauf zu sein, einen ständigen Begleiter zu haben.
John murmelte einige Nichtigkeiten – dann war der Spuk vorüber. Mrs. McNally und Mr. Lom gingen weiter.
John Robson Lee musterte seine Frau besorgt. „Die beiden haben dir kein Wort geglaubt, Charlie“, stellte er nachdenklich fest. „Wie hat dich diese aufdringliche Blondine angesprochen? Coralie? Coralie und Charlie ...“
„Du stellst schon wieder wilde Spekulationen an!“, erklärte Charlie mit fahrigem Lächeln. „Ist bereits der Augenblick gekommen, wo es dir leid tut, mich geheiratet zu haben? Gib es ruhig zu! Ich kann auch eine unangenehme Wahrheit ertragen.“
„Zum Teufel! Du bist heute einfach ein ungezogenes, launisches kleines Mädchen. Man sollte sonst etwas mit dir tun!“, fuhr ihr John ärgerlich über den Mund. „Du redest Unsinn! Nie werde ich meinen Entschluss, dich zu heiraten, bereuen. Bist du jetzt zufrieden, du weibliches Scheusal?“
Wieder fiel ihm das weibliche Scheusal, das sonst so streng auf Wahrung der Formen hielt, vor aller Augen um den Hals und küsste ihn.
Es war viel zu angenehm, als dass er ihr darob hätte böse sein können.
*
„FÄLLST DU DIR DAS Etablissement ein wenig ansehen möchtest ...“ sagte Charlie wenig später. „Du brauchst es nicht aus Rücksicht auf mich zu unterlassen. Ich setze mich so lange an die Bar und führe schlaue Reden mit dem Mixer. Das tue ich nämlich für mein Leben gern.“
„Vergiss dabei nur nicht, dass du jetzt verheiratet bist“, er drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. Ein wenig Ernst war auch dabei, denn er hatte deutlich gespürt, dass sie ihn vorübergehend aus dem Weg haben wollte.
„Da müsste der Mixer schon überaus nett sein!“ Leise auflachend erhob sie sich und setzte sich in Bewegung.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. Er hatte tatsächlich die Absicht, den sonderbaren Nachtclub etwas näher in Augenschein zu nehmen, unvermutet zurückzukehren, um festzustellen, mit wem Charlie unter vier Augen zu sprechen wünschte.
Er ließ sie allein an der Bar zurück, die nicht sonderlich besetzt war. Ziel- und planlos schlenderte er von Raum zu Raum. Allmählich schlief sein Argwohn ein. Der Betrieb war nicht auf seriös hin getrimmt, es war zweifellos ein wirklich seriöses Lokal. Das Publikum war gediegen, die Kellner vorzüglich geschult, die Musik dezent, nirgends gab es anzügliche oder gar unschickliche Bilder an den Wänden. Der Fußboden war überall mit dicken, schweren Teppichen ausgelegt. Über dem Ganzen schwebte die dezente Musik des Verwachsenen, der eben einen sentimentalen Schlager aus dem Jahre 1911 mit viel Gefühl im richtigen Rhythmus spielte.
Die Gäste waren meist Engländer, wobei die mittleren und jüngeren Jahrgänge vorherrschten. Nur wenige ältere Herren waren anwesend.
Im Schreibzimmer, wohin John einen flüchtigen Blick warf, saß ein Mann südländischen Typs, hatte einen grünen Augenschirm über die Stirn geschoben und schrieb eifrig.
Mit einem geflüsterten „Pardon, Sir!“ wollte sich John sofort wieder zurückziehen, als der andere den Kopf hob.
Jetzt sah John die blutrote Blitz-Narbe auf der linken Wange des Fremden.
Ein unglaubwürdiger Zufall nach dem andern!, durchzuckte es John. In jähem Entschluss ging er auf den Mann zu, klopfte ihm auf die Schulter und sagte mit sattem Hohn: „Ah, trifft man Sie auch hier, alter Freund! Die Welt ist schon ein Dorf! Letzten Sonntag in der Casa Antica in Guatemala City, diesen Sonntag im Holborn Club in London.“
Der Mann mit der Narbe legte unmutig ein Löschblatt über das eben Geschriebene und erhob sich. Er bebte förmlich vor Entrüstung. „Scheren Sie sich zum Teufel, Sir!“ Er sprach nicht englisch, sondern amerikanisch. „Scheren Sie sich zum Teufel! Aber ein bisschen schnell!“
„Mit diesem Ton kommt man bei mir nicht durch, Mister ... ?“
Der andere ließ sich überrumpeln. „Kelley, Hank Kelley aus Chicago, Illinois“, presste er hervor und biss sich sogleich darauf verlegen auf die Lippen. Er hatte etwas verraten, was er nicht hatte verraten wollen.
„Sie waren vorige Woche nicht in Guatemala City?“ Jetzt bereitete es John einen diebischen Spaß, den anderen zu reizen. Hatte Kelley in der vergangenen Woche Streit gesucht und Krach angefangen, so würde heute er, John Lee es sein, der grundlos Krach anfing.
„Ich wüsste nicht, was Sie das anginge, Sir“, sagte Kelley mit deutlichem Unbehagen. „Ich sage es noch einmal: Lassen Sie mich in Ruhe.“
Aber John Lee wollte nicht Ruhe geben. „Heute befleißigen Sie sich aber einer ausgesprochen seriösen Art, Mr. Kelley“, höhnte John. „In der vergangenen Woche hielten Sie es mehr mit dem Zuschlagen.“
„Sie irren sehr“, kam es steif zurück. „Da ich in der vergangenen Woche nicht in Guatemala City war, kann ich dort auch nicht zugeschlagen haben.“
„Das leuchtet ein, Sir“, log John dreist. „Muss mich rein getäuscht haben. Vergessen Sie’s.“
*
ALS JOHN DIE SCHREIBSTUBE verließ, prallte er ohne sein Verschulden mit einer üppigen Blondine mittleren Alters zusammen, die ein tief ausgeschnittenes Abendkleid trug.
Er wich rasch zur Seite aus, sah die Frau wanken, trat deshalb schnell wieder hinzu und bewahrte sie im letzten Moment vor dem Fall. Dabei spürte er, dass sie am ganzen Leibe bebte und wie Espenlaub zitterte.
„Ist Ihnen nicht gut, Madam?“, fragte er besorgt.
„Nein ... ich ... “ Sie schüttelte den Kopf, was ihr sichtlich Mühe bereitete. „Bitte“, flüsterte sie verzweifelt. „Halb links ... ein ... Gesellschaftszimmer.“
Selbstverständlich führte er sie hin. Das dumpfe Ahnungs- und Beklommenheitsgefühl, das wie etwas Fremdes, Unentrinnbares auf sie zukam, konnte ihr selbst ein Blinder anmerken. Sie besaß kaum mehr Aktivität. Willenlosigkeit, Ohnmacht und Platzangst stritten in ihr um die Oberhand.
Abrupt blieb sie stehen und zwang ihn dadurch, seine Schritte ebenfalls zu verhalten. Sie hatte ein feines, pikantes Gesicht; aber Ausschweifungen und Laster hatten es abgestumpft. Es tat John körperlich weh, einem Menschen ins Gesicht zu sehen, der sich entweder selbst systematisch zugrunde gerichtet hatte oder systematisch zugrunde gerichtet worden war.
Sie kicherte dümmlich, haschte nach seiner Hand und legte sie sich aufs Herz. „Vertrauliche Geste“, kicherte sie. „Der Umstand, dass Sie mein Trauzeuge waren und vor drei Jahren gestorben sind, rechtfertigt eine vertrauliche Geste. Nicht wahr, Mr. Cushing?“
John war wie vom Donner gerührt. Ihn beschlich ein böser Verdacht.
„Die Nachricht von meinem Tod war ein Irrtum“, sagte er nüchtern und zog sie weiter.
Sie ließ sich willig über die Schwelle schieben, und warf sich im Zimmer auf die lederbezogene Couch. Sie musterte Lee mit dreisten Blicken. „Sie sind frivol!“, sagte sie und kicherte abermals. Sie hatte eine angenehme Stimme. „Ja, Sie sind frivol! Wenn man gestorben ist, sollte man seriös geworden sein. Da zieht man sich doch nicht wie ein Papagei an!“ Sie wollte sich ausschütten vor Lachen. „Violette Beinkleider und eine scharlachrote Smokingjacke, dazu ein grünes Hemd, nein, das ist sagenhaft, unwahrscheinlich geschmacklos!“
„Mein Smoking ist schwarz und mein Hemd reinweiß!“, versuchte John sie zu überzeugen, obwohl es, wie er wusste, zwecklos war.
„Stimmt nicht! Wenn Sie nicht mein Trauzeuge wären und, uah!“, sie gähnte, „wenn ich nicht viel zu faul wäre, würde ich jetzt ...“
Die Vorstellung dessen, was sie dann tun würde, schien sie so zu erheitern, dass sie in einen Lachkrampf verfiel.
John packte sie an der Schulter, sonst wäre sie von der Couch gestürzt. Der Krampf stieß und beutelte sie nur so. So unvermittelt, wie er sich eingestellt hatte, verging er wieder. Plötzlich nahm ihr Gesicht den Ausdruck listigen Schmunzelns an. Sie richtete sich auf, duckte sich zur Seite und versetzte John einen gemeinen Schlag unter die Gürtellinie.
John durchzuckte ein bohrender Schmerz. Er brach in die Knie.
Das letzte, was er von ihr hörte, war ihr hysterisches Kichern. Danach schwanden ihm für Sekunden die Sinne. Als er wieder erwachte, lag sie neben ihm auf den Knien und vergoss bittere Tränen.
„Eigentlich sollte ja mein Mann hier sein, Mr. Cushing“, schluchzte sie. „Der würde Ihnen schon helfen!“ Sie sah sich argwöhnisch um, als ob sie unbefugte Lauscher befürchte, brachte ihre Lippen an sein Ohr und sagte in einem Ton, in dem man ein Staatsgeheimnis preisgibt: „Leider ist George heute noch nicht hier. Er ist bei der Regierung. Verhandelt wegen des Paddington-Bahnhofs.“
John schüttelte sich. „Wegen des Paddington-Bahnhofs?“
„Jawohl, wegen des Paddington-Bahnhofs. Wir brauchen ihn dringend. Für die Spielzeugeisenbahn unseres Sohnes.“
„Wenn Sie ihn so dringend brauchen, wird ihn die Regierung Ihrem Mann sicher preisgünstig überlassen. Mrs. ... Mrs. ... ?“
„Fawld. Gillian Fawld.“
John hatte das, was er später seinen besten Einfall in der verzwickten Situation bezeichnete. Er brachte eine Taschenflasche Whisky zum Vorschein, entkorkte sie und hielt sie der konfusen Frau hin. „Darauf müssen wir trinken“, sagte er überredend. „Auf den glücklichen Kauf des Paddington-Bahnhofs.“
Sie riss die Augen auf. Ein gieriger Ausdruck trat auf ihr Gesicht. „Trinken? – Ja, trinken ist immer gut.“ Wieder kicherte sie.
Als sie mit einem Schluck alles ausgetrunken hatte, holte sie aus und warf die Flasche so heftig gegen die Wand, dass sie in tausend Scherben zerbrach.
Mit dieser Gewaltanstrengung schien ihre letzte Energie erschöpft. Sie ließ sich wieder auf die Couch fallen, schlug die Hände vors Gesicht und begann jämmerlich zu weinen.
Ganz plötzlich schlief sie ein.
Unterdessen hatte Lee auf alle vorhandenen Klingelknöpfe gedrückt. Es dauerte nicht lange, und es näherten sich auf dem Korridor Schritte. Die Tür wurde aufgerissen. Mehrere Köpfe schoben sich herein, darunter auch der des rührigen Clubsekretärs Mike Dodson.
„Oh, Mr. Lee!“, sagte Dodson betreten, als er entdeckte, wer geklingelt hatte.
John blitzte ihn grimmig an. „Sagen Sie, Mr. Dodson: Was geht eigentlich in Ihrem komischen Club vor?“, fragte er barsch. „Ein Glück, dass Mrs. Fawld an mich geraten ist. Telefonieren Sie flugs nach einem Krankenwagen. Die arme Frau muss ins Hospital. Was ihr fehlt, ist eindeutig traurig.“ Sein Blick bohrte sich an die tückischen Augen des Clubsekretärs.
Der zuckte gleichgültig die Achseln. „Sie können doch uns nicht dafür verantwortlich machen, wenn unsere Gäste unpässlich werden!“
„In diesem besonderen Fall doch!“ John ließ den Blick nicht von Dodsons Gesicht. „Denn ich nehme an, dass der Zustand der Bedauernswerten mit Lastern zusammenhängt, denen sie in Ihrem Etablissement gefrönt hat. Körper, Seele und ihre Nerven sind vom Haschischgenuss völlig zerrüttet. Sie wird höchstwahrscheinlich in einer Irrenanstalt landen. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken, Mr. Dodson! Vor allem dann nicht, wenn Sie nicht auf der Stelle einen Arzt und einen Krankenwagen bestellen.“
„Was geht denn hier vor ... ?“ Ein älterer, seriös und vertrauenswürdig wirkender Gentleman, der eine Aktenmappe in der rechten Hand trug, trat eilig herein.
„Eine hochgradig Rauschgiftsüchtige hat einen Zusammenbruch erlitten“, erklärte John unwillig. „Wer sind Sie?“
„Dr. Robinson, Sir. Ich werde mich des armen Wesens annehmen ...“
„Okay, Doktor. Vergessen Sie aber bitte nicht, dass sie schnellstens in stationäre Behandlung muss.“
Er warf Dodson einen messerscharfen, eindeutigen Blick zu und entfernte sich eilig.