Читать книгу Neue Briefe aus Krähwinkel - Thilo Koch - Страница 6

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eine grausliche Kriminalität muß in Deinem New York obwalten. Es stand in der »Frankfurter«, also ist es wahr. Überall müßt Ihr damit rechnen, unversehens drei Zoll kalten Eisens zwischen die Rippen zu kriegen – in der subway, im Fahrstuhl, im Central Park. New York, die Rauschgift-Metropole der Welt, und der Süchtige killt hemmungslos, um sich die paar Dollars für seinen täglichen »Schuß« Heroin zu rauben. Die Bibel hat wieder einmal doch recht: Sodom und Gomorrha. Ob denn da Euer smarter neuer Bürgermeister Lindsay was gegen tun kann? Der Mann sieht tatsächlich handsome aus – Kennedy-Typ. Wir in Germanien entwickeln da nicht so viel Charme. Unsere Politiker gleichen Gartenzwergen, Mumien aus der Ming-Dynastie, Hofbräuhausbierkutschern, pfeiferauchenden Nußknackern, oder sie sind gleich so schön wie eine Haarwasserreklame oder haben sich durch unzeitgemäßes Tragen der falschen Uniform ein für alle Mal das Image verbogen. Schade. Pech.

Immer hübscher dagegen werden auch diesseits des großen Teiches, der uns trennt, Tochter (ach ja), die jungen Damen – und nicht nur die jungen. Dein abgeklärter Vater betrachtet das alles natürlich nur heiter-kontemplativ, aus gemessener Distanz. Infolgedessen schüttelt er manchmal leise sein ergrauendes Haupt, wenn die Mädchen sich mit viel Kunst so zurichten, als kämen sie alle immerfort gerade aus dem Bett, o la la.

Kommen sie aber zweifellos gar nicht alle immerfort gerade. Und dieser Trauerrand um die Augen, dieses cleopatraeske Wimpernklimpern. Der ewige Fasching scheint ausgebrochen, hoppla. Je mehr die echte Prostitution, mit Verlaub, verschwindet, desto heftiger geben sich all die ehrsamen Liesels und Bettys wie Irma La Douce. Und so frischauf und nur Courrège, pardon Courage: die Röcke hoch, die Knie fest geschlossen. Ach, Ihr armen, willigen Sklavinnen des Sex-Rummels einer werbewütigen Epoche.

Der Schnee in Krähwinkel ist zur Zeit herrlich pulvrig, fast zu »schnell« für Deinen alten Vater. Du erinnerst Dich an den Waldweg auf dem Zundelberg, den wir zuletzt im Herbst miteinander gingen? Das braune Laub ist vermodert, und der lange Stapel frischgeschlagenen Holzes ging längst als Zeitungspapier den Weg alles Irdischen. Just dort lag heute morgen ein Eichelhäher kopfüber im Schnee. Ich schnallte die Bretter ab und nahm den Vogel auf. Er hat ja diese kleinen, eleganten, leuchtend blauen Federn an den Flanken. War noch ein bißchen warm, keine Wunde, irgendwie tot vom Himmel gefallen. Ich legte ihn zurück in den Schnee.

So habe ich einmal, kopfüber, ein englisches Kampfflugzeug im Sand stecken sehen, das wir abgeschossen hatten, über der Mittelmeerinsel Kreta. Im »Gränzboten« stand zum Jahreswechsel, daß über Vietnam bisher fast tausend amerikanische Flugzeuge verloren gingen. Du wirst drüben täglich mit Vietnam-Nachrichten zugedeckt werden, denn natürlich blicken die USA heute mehr nach Asien als irgendwo sonst hin. Ich finde es richtig, daß Du Dich mit Meinungsbekundungen zurückhältst, wenn Deine Mitstudenten sich pro oder kontra Vietnam-Krieg ereifern. Nur eines kannst Du, meine ich, auch als Ausländerin durchaus tun, gerade Du als Berlinerin darfst es: die falsche Parallele Vietnam/Berlin kritisieren.

Es ist ja erschütternd zu sehen, wie die gescheitesten Leute in Washington mehr und mehr zu Gefangenen ihrer eigenen Propaganda werden. Dean Rusk hatte für mich in Washington immer so etwas von einem Buddha – mit seinem unerschütterlichen Lächeln und dem runden Kopf. Aber was er in Paris seinen NATO-Kollegen versetzte, klang mir nicht gerade weise. Die Vereinigten Staaten hätten gegenüber Südvietnam die gleichen Verpflichtungen wie gegenüber ihren europäischen Verbündeten . . .

Das stimmt nicht. Selbst hierher nach Krähwinkel schickte ein schwäbischer Außenposten des weltumspannenden amerikanischen Informationsdienstes eine Broschüre, in der die amerikanische Verpflichtung für Südvietnam dokumentiert ist. Es handelt sich um drei Briefe der Präsidenten Eisenhower und Kennedy an den inzwischen gestürzten und ermordeten Diktator Diem. Kann man das im Ernst gleichsetzen wollen mit dem Vertragswerk der North Atlantic Treaty Organisation?

Du erinnerst Dich an meinen amerikanischen Kollegen P. M., der auch in Berlin am liebsten in Texas-Boots herumläuft und die besten Steaks der Atlantischen Gemeinschaft brät und dazu Zwiebeln und Kartoffeln in der eigenen Schale? Er besuchte uns in Krähwinkel und machte das glückliche Foto von Deiner Mutter und mir bei den Malven vorm Haus, überm Tal. Ich leg’s Dir bei – fürs Heimweh. P. M. sagte gelassen: »Wir können vielleicht irgendwann diesen schmutzigen Krieg gewinnen, niemals mehr jedoch das vietnamesische Volk, für dessen Freiheit, wie wir sie verstehen, wir dort sterben sollen – und übrigens jetzt täglich (täglich!) 200 Millionen Mark ausgeben.« Er fügte hinzu: »Schulter an Schulter mit jenem Herrn Ky, der gesagt hat, er bewundere Hitler, Vietnam brauche vier oder fünf Hitler. Ohne mich. Schulter an Schulter mit Willy Brandt oder Ludwig Erhard – anytime. Kennedy durfte sagen: Ich bin ein Berliner . . . Aber in Saigon wurde ein Kennedy-Denkmal beseitigt.«

Du siehst, auch bei uns ist Vietnam Thema eins. In unserem alten Berlin kam es deswegen zu einigen grotesken Mißverständnissen in Sachen deutsch-amerikanischer Solidarität. Man propagierte da, gut gemeint, eine Sammlung, mit deren Erlös Porzellannachbildungen der Freiheitsglocke an Hinterbliebene von amerikanischen Vietnam-Kriegsopfern geschickt werden sollten. Der Kabarettist Wolfgang Neuss – Du erinnerst Dich an diesen frechsten aller Pauker? – mockierte sich darüber ziemlich drastisch. Daraufhin sperrten Berliner Zeitungen die Theateranzeigen eines Bühnenabends mit Neuss, und hätten die Amis selber nicht großzügig abgewinkt, wäre es womöglich noch zu einem Prozeß gegen den Satiriker vom Ku’damm gekommen. Big deal, wa? Kann ick nur saaren: harn se’s nich’n bißken kleener?

Ja, ich bin politisch-garstig gestimmt, denn heute steht im »Gränzboten« gleich dreierlei, was mich aufregt: 1. Der Jahrgang 48, einer vor dem Deines Bruders, muß sich zur Musterung bereit halten; 2. Der US-NATO-Botschafter erklärte die Entsendung europäischer Truppen nach Vietnam für wünschenswert; 3. Es stürzte schon wieder ein Starfighter der Bundeswehr ab.

Verteidigung ist okay. Ich bin nicht der Auffassung des verehrungswürdigen dreiundneunzigjährigen britischen enfant terrible der Philosophen, Bertrand Russell, »Besser rot als tot«. Aber beim Starfighter sind riesige Summen – jeder einzelne Vogel kostet sieben Millionen Mark – anscheinend fehlinvestiert worden (warum und wer?), und die armen Jungs fallen runter, als hätten auch wir schon wieder Krieg. Die Vorstellung schließlich, daß Dein Bruder dereinst statt Berlin oder Hamburg oder München oder Krähwinkel zu verteidigen, dem Hitler-Verehrer Ky zuhilfe eilen soll, die bringt mich um den Schlaf.

Da wähnt man sich nun, hinter verschneiten Tannen bei vereisten Serpentinen, dem Teufelskreis des Zeitgeschehens idyllisch betrachtsam enthoben – nein, man muß fortfahren, politische Gewissenserforschung zu treiben. Mein Wort zu Vietnam? Die USA als Führungsmacht der westlichen Zivilisation sollen verteidigen, was wert ist, verteidigt zu werden und was selber verteidigt werden will – nur das: die Atlantische Gemeinschaft, Lateinamerika eingeschlossen. Mehr kann auf die Dauer auch gar nicht gehalten werden, gegen eine Milliarde Kommunisten.

Verzeih, ich will ja Deine »Große Anfrage« beantworten, etwas sehr Persönliches. Es kann indessen gar nichts schaden, auch das Persönlichste des kleinen Welttheaters einmal in Relation zum großen Welttheater zu sehen. Das gilt besonders, meine ich, für »erotische Probleme«. Uns werden ja geradezu die Augen verkleistert mit Sex und Sex und Sex. Sind wir nicht drauf und dran, allmählich jede erotische Blähung für Romeo und Julias Nachtigall zu halten? Heideblitz, wie die Leute hier auf der Rauhen Alb sagen, diese Menschheit vermehrt sich rasend – um sechzig Millionen Exemplare im letzten Jahr, um gerade so viele Seelen, wie die Bundesrepublik Deutschland Einwohner zählt. Es funktioniert also offenbar alles nur viel zu gut.

Aber er sollte nicht zynisch sein, Dein herangewachsener Vater. Du fragst mich eine ernste klare Frage. Du sollst eine ebensolche Antwort bekommen. Intime Beziehungen vor der Ehe? Ja, aber unter zwei Bedingungen: erstens, Du mußt den Mann lieben, das heißt Du solltest in ihm den möglichen Vater Deiner Kinder sehen können, sonst nicht; zweitens, Du mußt sicher sein, daß sich keine unerwünschte Nachkommenschaft einstellt. Ausführungsbestimmung zu eins: frage nicht nur Dein Herz, oder was Du dafür hältst, sondern auch Deinen liebreizenden kleinen Kopf, den Du keineswegs nur dazu hast, um zwei entzückende hellhörige Öhrchen auseinander zu halten. Insonderheit wenn Du verliebt bist, betrachte den Herrn gelegentlich unter Verfremdungseffekt, beispielsweise wenn er einen zu viel getrunken hat.

Ausführungsbestimmung zu zwei: »Amerika, du hast es besser . . .« dichtete Goethe in den Sprüchen. Er konnte noch gar nicht wissen, der Geheime Rat, wie recht er auch hinsichtlich alles Vermeidbaren bei Gretchen-Tragödien hatte. Jeder drugstore next door hält die Mittel dazu bereit, zur Selbstbedienung für die Amerikanerinnen, die »es besser« haben – wenigstens in dieser Hinsicht.

Hierzulande blieb noch immer rezeptpflichtig und in fromme Scheu gehüllt, was rechtverstanden bloß ein simpler Akt der Hygiene ist.

Goethe ruft in jenem Spruch den Amerikanern zu: »Benutzt die Gegenwart mit Glück!« Ach ja, möchten sie es tun. Du aber, tu es mit ihnen. Feierlicher Schlußakkord: New York ist dennoch grandios, und in Krähwinkel, schau ich nur aus dem Fenster, ist jeder Tag der schönste Tag. Life is marvellous, isn’t it?

Neue Briefe aus Krähwinkel

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