Читать книгу Neue Briefe aus Krähwinkel - Thilo Koch - Страница 7

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beinahe hätte ich Dir gekabelt: »Sofort New York verlassen Stop Lebensgefahr!« Du erinnerst Dich gewiß an die Nachricht, daß neulich an der spanischen Mittelmeerküste eine Atombombe verlorenging – beim Absturz einer B-52. Und so produzierte gestern morgen meine manchmal überaus lebhafte Phantasie zwischen Traum und Tag folgende Geschichte: sieben Froschmänner in blutroten Gummianzügen fischen die verlorene Bombe aus dem Meer, transportieren sie – nunmehr in grauen Flanellanzügen – als normale Fracht in den Hafen von New York und stellen Präsident Johnson aus geheimem Versteck heraus ein Ultimatum: entweder Rückzug aus Vietnam, Friedensvertrag mit einem dreigeteilten Deutschland, Abzug aller US-Streitkräfte aus Europa – oder die Bombe (ein Vielfaches so stark wie die von Hiroshima) wird mitten in Manhattan gezündet.

Stell Dir vor! Wär das nicht ein dramatischer Stoff für Arthur Miller? Was würde der Präsident tun? Was würdest Du tun? Panik im Babylon des 20. Jahrhunderts, falls das Ultimatum ruchbar wird. Oder die Froschmänner machen ihre Drohung wahr: das entsetzlichste Inferno der Geschichte. Oder ganz anders: ein US-James Bond des FBI macht die roten Flanell-Banditen unschädlich – nicht jedoch ohne Hilfe eines Sabotage-Trupps der Tschiang Kai-schek-Chinesen. Diese aber haben flugs natürlich nichts anderes im Sinne, als die Bombe nach Peking einzuschmuggeln. Ultimatum an Mao Tse-tung etc. pp.

Glücklicherweise studierst Du nicht in Peking, sondern in New York, und das ist schlimm genug. Daß Du nach Greenwich Village gezogen bist, will mir nicht recht gefallen. Da wärst Du mir lieber in Schwabing. Ja sogar in St. Germain, obwohl in Paris ja auch Mord und Totschlag den berühmten Charme der Capital du Monde beeinträchtigen.

Da wird ein marokkanischer Oppositionsführer totgeschlagen, und höchste Polizeigewaltige, ja Minister, sind in den Skandal verwickelt.

Der Zustand der Welt, liebe Tochter – offensichtlich ist er besorgniserregend. Aber das schon ein Weilchen. Ist es nicht der natürlichste Wunsch eines Vaters, seine Tochter da rauszuhalten? Er kann es nicht. In München so wenig wie in New York, in Paris nicht und sogar hier in Krähwinkel könnte er es nicht. Wenn ich von meinem Brief an Dich aufblicke, liegt links hinter den »Forchen«, wie man die Kiefern hier nennt, der Hohe Karpfen. Du erinnerst Dich an den heißen Sonntagnachmittag, als wir auf diesem kleinen Kegelberg zwei junge Männer trafen, die in den Trümmern der Burgruine herumstocherten. Sie faselten etwas von Ausgrabungen fürs Heimatkunde-Museum. Aber ich glaubte ihnen die Archäologie schon damals nicht recht. In einer vergilbten Heimatchronik las ich inzwischen, daß die Sage gehe, auf dem Hohen Karpfen läge ein ungehobener Schatz unter den Verliesen, in die man die Gefangenen warf. Hoffentlich stoßen unsere »Folkloristen« nicht auf eine verlorene mittelalterliche Bombe . . . 1633 wurde die Burg von den Kaiserlichen geplündert und brannte aus. Das war also fünfzehn Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges. Nur ein Drittel der Bevölkerung des damaligen Krähwinkel überlebte diese Metzelei, die von allen Seiten als Kampf »um den rechten Glauben« ausgegeben wurde. Der Zustand der Welt war immer besorgniserregend. Ich schmökere abends im Bett zur Zeit in dem Tagebuch eines Boris Uxkull, der an den Feldzügen gegen Napoleon teilnahm. Der junge baltische Baron gefiel den Frauen und hatte eine gute Beobachtungsgabe. Von beidem machte er nützlichen Gebrauch.

Interessant, wie der Überfall der Franzosen auf Rußland – 130 Jahre vor dem Überfall der Deutschen auf Rußland – sich in den Notizen eines kaiserlich-russischen Offiziers ausnimmt. War es nicht total absurd, wie da ein Mann namens Bonaparte aus Korsika sich zum Kaiser der Franzosen machte und an der Spitze von fast 500 000 Mann – die Hälfte davon deutsche Vasallen – nach Moskau marschierte? Warum das alles? Nur ein paar Krüppel entkamen dem fürchterlichen Brand der russischen Hauptstadt, dem Winter, den Kosaken. Wieso laufen ganze große begabte Völker hinter ihren Verführern her – ins sichere Verderben, wie Lemminge, wenn sie einem mysteriösen Befehl folgend in Scharen ins Meer marschieren – ohne schwimmen zu können.

Greenwich Village 1966 – Tochter, ich sehe Dich um den nachgemachten Arc de Triomphe auf dem Washington Square schlendern, wo die vielen Maler Klecksel New Yorks Montmartre imitieren, wo die langhaarigen Folksingers Hootenanies improvisieren. Das kann ganz lustig sein, für den Teil einer Saison. Ich erinnere mich an das italienische Kolorit der Gemüse- und Blumenmärkte; denn lies und staune, Dein Vater lebte vor gerade fünfzehn Jahren auch einmal in Greenwich Village, bei einem aus Berlin emigrierten jungen Kollegen, weil mir das Reisegeld schmolz. Er hatte da eine billige Bude unterm Dach juchhe, eines der roten Backsteinhäuser mit den scheußlichen Feuerleitern, und das Klo war auf halber Treppe – ’n paar Minuten hinter Wall Street, wo das Schicksal der Menschheit in der Form von Börsenkursen manipuliert wird.

Bei »Ebe«, so wurde mein Wirt Eberhard von seiner Freundin genannt – sie sprach es »Ibi« aus –, verkehrten komische Leute. Heute würde man sie Gammler nennen. Die Mädchen gefielen mir nicht, auch wenn sie hübsch waren, weil sie sich nicht wuschen, und die Männer gefielen mir nicht, weil sie wirkten, als hätten sie schon in früher Jugend regelmäßig Sauerkraut in großen Mengen genossen – egal sauer aussehen hielten sie für cool. Immerhin lernte man durch sie interessante Plätze kennen, wo es guten Jazz gab und schlechte Drinks, billige Hamburgers mit viel French Fries und Ketschup.

Aber nun Du, Tochter, inmitten von Beat – und . . . niks? Du bist in, schreibst Du, oder sogar hip. Hm. Der generationsbedingte Protest ist okay. Im Hinterhof des »Dollar-Imperialismus« die gewollte, die freiwillige Armut; im Lande des Badezimmers die trotzige Ungewaschenheit; inmitten der bunten Flut optimistischer Reklame das bärtig-pessimistische Muffelgesicht; konträr zur Doppelbödigkeit von Sex-Besessenheit und Prüderie die ach so ehrliche »freie Liebe« und die ach so mutige »Experimentierfreudigkeit«; eine einsame Gitarre und die Vox Humana einer Joan Baez, eines Bob Dylan gegen die Big Bands und die kommerziellen Hits von Frank Sinatra. Okay okay, das alles ist verständlich, und ich finde »A hundred miles« wunderbar:

If you miss the train I’m on,

you will know that I am gone

you can hear the whistle blow

a hundred miles . . .

Wunderbar, Poesie. Aber ich glaube nicht, daß Dir diese Welt der protest-songs liegt. Die Negation, die grundlose und bodenlose Trauer, die Flucht aus »kapitalistischen Ängsten« in »dritte Welten« franziskanischer Bedürfnislosigkeit oder künstlicher Räusche, in die Freiheit interesseloser Passivität – das alles übt Faszination aus. Aber ist es nicht doch bloß saisonal, ein Kapitel Wachstumsschmerzen?

Wie sollte ich mich nicht erinnern – obwohl ich in Deinem Alter meine Füße in preußischen Knobelbechern durch polnischen Sand schleppte, den »Karabiner 98 K« auf dem Buckel, dazu einen noch mit echtem Fell bezogenen »Affen« plus Kochgeschirr, Gasmaske, Feldspaten. Im Tornister aber, was trug ich da? Zwar nicht den Marschallstab und auch nicht Nietzsches »Zarathustra«, aber doch – man darf es gar nicht laut sagen – den »Faust«, Inseldünndruckausgabe, weinrotes Leinen, Widmung vom Vater in steifer Gotik: »Seinem lieben Sohn: Wer immer strebend sich bemüht . . .« Wir schrieben Anno Domini 1939 und waren unterwegs nach Warschau und – was wir noch nicht wußten – nach Moskau, gewissermaßen auf den Spuren des Monsieur Bonaparte.

Aber da bin ich schon wieder bei mir selber. Notgedrungen, denn von Dir weiß ich wenig. Tochter, ich sorge mich ein bißchen, denn zwar schreibst Du noch, aber lakonisch und seltener und wenig über Deinen Umgang. Jaja, gewiß mußt Du Deine Identität alleine finden. Soll ich Dir was erzählen? Als ich mich noch bücken mußte, um Dir ein Küßchen zu geben, strecktest Du jedem, der Dich streicheln wollte, Deine Puppe entgegen: »Da!« sagtest Du, und es war Dir lieber, wenn die Puppe stellvertretend für Dich empfing, was Dir persönlich unheimlich und zudringlich erschien.

Ich will kein großartiges psychologisches Bla-bla da draufstocken. Klar, man muß sich stellen mit zwanzig, kann keinen Fetisch vor sich hinhalten, keine Puppe, sonst macht man sich selber zu einer Puppe. Aber ist das andere Extrem besser? Partout sich an allem den Magen selber verderben wollen? Warum nicht ein Studienjahr in New York, warum nicht ein paar Wochen im »Village« – all right. Ich vertraue auf den Kompaß in Dir. Der weist Dich aus der Bohème wieder raus, von den zornigen jungen Herren wieder weg, die allzu oft gar nicht so edel-traurig und viel öfter vulgär-faul sind. Aber wohin der Kompaß zeige? Auf die Gefahr hin, eine verächtliche Grimasse auf Dein holdes Antlitz zu zaubern: dorthin, wo Du (a) etwas Brauchbares lernst, (b) einen ordentlichen Lebensgefährten finden kannst, (c) Mittelpunkt einer eigenen Familie wirst, die das Menschengeschlecht um einige anständige Individuen vermehrt. Ich will Enkel um mich sehen, hörst Du, in nicht zu ferner Zukunft. Oder hast Du das Herz, mich um die Freude zu bringen, in 20 Jahren Briefe an eine Enkeltochter zu schreiben? Nimmermehr hast Du dieses Herz.

»Junge, bleib mit den Füßen auf der Erde«, höre ich meine ewig besorgte Mutter sagen. Ich fand diese Mahnung überaus unangebracht, destruktiv und blöde. Tja – und so gebe ich sie denn an Dich weiter, wenn auch etwas salopp modernisiert und weltläufig aufgeputzt. Übrigens, willst Du nicht mal übers Wochenende nach Washington fahren? Ich wüßte zu gern, wie es im Vorort Bethesda jetzt aussieht, wo die Bäume so dicht um unser Haus standen und Deine Mutter, kaum eingezogen, den gelassenen Ausspruch tat: »Sieht aus wie der Grunewald, nicht? Und Amerika dahinter stört fast gar nicht.« Und grüß mir LBJ, und er soll nie vergessen, jeden Abend all seine Atombomben zu zählen . . .

So long,

Neue Briefe aus Krähwinkel

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