Читать книгу Auf dem Schachbrett der Sowjetunion, die DDR - Thilo Koch - Страница 5
Auf dem Schachbrett der Sowjetunion: die DDR
ОглавлениеDer Blick auf eine Mauer führt nicht zur Ensicht in die Dinge, die dahinterliegen. Wer mit dem Kopf gegen Mauern anrennt, bringt sie nicht zum Einsturz. Die Mauer quer durch Berlin, die tiefgestaffelten Grenzbefestigungen quer durch Deutschland machen es uns Deutschen im Westen schwer, zu verstehen, warum diese Ärgernisse politische Realitäten sind. Es ist auch nicht leicht zu verstehen.
Deshalb geht man im allgemeinen zur westlichen oder östlichen Tagesordnung über – in der Bundesrepublik oder in der DDR – und läßt diese Realitäten auf sich beruhen. Ein zur Routine gewordenes Propagandageräusch auf beiden Seiten trug dazu bei, besonders die jungen Deutschen mißtrauisch zu stimmen gegenüber Erörterungen der deutschen Frage. Umfragen erweisen, daß immer mehr junge Westdeutsche dafür sind, einen Schlußstrich zu ziehen und die DDR ohne Einschränkung, also auch völkerrechtlich, anzuerkennen.
DDR und Bundesrepublik wurden in diesem Jahr 1969 zwanzig Jahre alt. Das ist im Leben der Völker keine sehr eindrucksvolle Zeitspanne. Aber in unserem motorisierten Jahrhundert scheint auch das Geschick der Nationen rascher voranzustürmen. Was ist nicht alles dahingegangen über Deutschland in den vergangenen 70 Jahren: ein Kaiserreich, eine Republik, eine »tausendjährige Diktatur«, vier Besetzungen und Militärregierungen – und nun haben wir da zwei neue deutsche Staaten auf einem Territorium, das nur noch ein Torso, ein. verstümmelter Rumpf des ehemaligen Deutschen Reiches ist.
Wie kam es zu der Situation, vor der wir heute stehen? Was bedeutet diese Situation eines geteilten Volkes im Herzen Europas? Wie steht es um die Sicherheit, um die Zukunft dieses Gebietes? Ich glaube, daß eine Antwort darauf nicht gegeben werden kann, ohne Einsicht in die Absichten jener Weltmacht, die nach 1945 zur stärksten Kraft auf dem europäischen Kontinent wurde, deren Politik entscheidend dazu beitrug, daß Deutschland schrumpfte und geteilt wurde. Ein unvoreingenommenes Verständnis der sowjetischen Deutschlandpolitik tut not.
Ich möchte in diesem Versuch einer politischen Bilanz einmal soweit wie möglich von der Mauer abrücken und untersuchen, was die DDR »auf dem Schachbrett der Sowjetunion« für eine Figur abgibt, welche Funktion diese Figur im großen weltpolitischen Spiel Moskaus heute macht. Der in Ostberlin mit Pomp begangene 20. Jahrestag der Gründung der DDR ist zudem keine schlechte Gelegenheit für diesen Versuch einer politisch-navigatorischen Standortbestimmung.
Der Führer der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnjew, erklärte am 20. Jahrestag der Gründung der DDR in Ostberlin: »Wir sind mit Ihnen sozusagen doppelt verbündet, durch den Vertrag zwischen unseren Ländern und durch den Warschauer Vertrag. Wer sich anmaßen sollte, die Festigkeit unserer Freundschaft sowie die Unantastbarkeit der Grenzen unserer Staaten zu prüfen, der muß im voraus wissen: er wird sofort und vernichtend zurückgeschlagen unter Einsatz der gesamten Macht . . . ich wiederhole, der gesamten Macht der Streitkräfte der Sowjetunion und der ganzen sozialistischen Gemeinschaft.«
Walter Ulbricht ergänzte: »Wenn wir zurückblicken auf unserem Weg, von der Beseitigung der Trümmer bis zum sozialistischen Aufbau, so sind wir uns bewußt, daß unsere großen Erfolge nicht möglich gewesen wären ohne die Befreiertat des Sowjetvolkes.«
Welche politischen Absichten stehen hinter diesen Worten? Sind es überhaupt klare, vorausschauende Absichten, die das ganze komplizierte Schachspiel der weltpolitischen Verflechtung im Auge haben? Handelt Moskau nach einem sorgfältig programmierten Konzept, und wird dieses Konzept Zug um Zug verwirklicht – ähnlich exakt und berechenbar wie die Entsendung des ersten Sputnik und des ersten Menschen – Juri Gagarin – in den Weltraum? Oder machen auch die Russen nur eine opportunistische Politik, richten sie ihre Handlungen und Schachzüge nach dem Stand des Spiels, wie es sich aus den tausend Unvorhersehbarkeiten der lebendigen Geschichte ergibt? Ferner: sind die Russen immer »die Russen«, d. h. geht die politische Willensbildung in einem kommunistisch-totalitären System ohne innere Widersprüche vor sich?
Natürlich nicht. Der Sturz Chruschtschows 1964 ist ein Beispiel für die Spannungen in den obersten Führungskadern. Auch Russen sind Menschen. Und Menschen irren. Menschen handeln unlogisch. Menschen müssen sich arrangieren – innerhalb des eigenen Herrschaftsapparates und nach außen. Geben wir also getrost erst einmal die Vorstellung auf, Lenin und Stalin und ihre Nachfolger hätten immer alles richtiger vorausgeplant und verwirklicht als Churchill, Roosevelt, de Gaulle, Kennedy.
Gewiß, die Sowjetunion ist zur Weltmacht aufgestiegen, zur zweitstärksten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das ist eine Leistung. Aber dieser Aufstieg war nicht geradlinig, verlief vielmehr dialektisch, um es marxistisch auszudrücken, d. h. im dramatischen Prozeß zwischen Pro und Kontra, These und Antithese und jenem Dritten, das daraus resultiert, und immer so fort . . . Lassen wir gleich auch die andere Stereotype hinter uns, als handelten die Führer der Sowjetunion in erster Linie als Kommunisten und erst in zweiter Linie als Russen. Es ist umgekehrt.
Spätestens seit der Invasion der ČSSR ist dieser Punkt klar. Hierzu äußert sich Kamil Winter, der bis zur Okkupation der Tschechoslowakei Chefredakteur der Fernsehtagesschau in Prag war; heute lebt er in England, wohin er schon einmal emigrieren mußte: 1939, damals auf der Flucht vor der deutschen Okkupationsarmee:
»Die DDR, so glaube ich, erfüllt gleich mehrere Funktionen zu gleicher Zeit. Wenn ich die Rolle der DDR oder besser gesagt des Ulbricht-Regimes vom Gesichtspunkt der Tschechoslowakei aus betrachte, aufgrund unserer eigenen langjährigen Erfahrungen, so würde ich sagen: das Ulbricht-Regime fühlt und handelt als Gendarm der Sowjetunion im Ostblock – natürlich nicht nur in deren, sondern auch in seinem eigenen Interesse. Lassen Sie mich daran erinnern, daß es das DDR-Regime war, das als allererstes gegen die ersten Schwalben des ›Prager Frühlings‹ zu Felde zog, lange vor 1968, zur Zeit, als der Versuch unternommen wurde bei uns, die Rolle des Prager Dichters Franz Kafka neu, positiv einzuschätzen. Damals wurde eine wüste Propagandakampagne vom Stapel gelassen von der SED-Führung, und besonders hat sich der Chefideologe Professor Hager hervorgetan. Die Methode, die hierbei angewandt wurde, war derartig, daß sie selbst den damaligen tschechischen Staatspräsidenten Novotný in Harnisch gebracht hat.
Sehr beliebt waren auch die unablässigen Warnungen, die das DDR-Regime Bruderparteien und Regierungen anderer Ostblockstaaten erteilte, wann immer es vermutete, eine Abweichung von der Linie des reinen Marxismus-Leninismus feststellen zu können. Und besonders tat sich das Regime in Denunzierungen hervor, wenn es um Ansätze einer selbständigen nationalen Außenpolitik dieser anderen Länder ging, insbesondere in ihren zweiseitigen Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland. Ich würde in dieser Tätigkeit, für die ich nur einige Beispiele angeführt habe, auch den bedeutendsten Beitrag der DDR speziell zu der Initiative sehen, die der Vorbereitung des bewaffneten Angriffes gegen die Tschechoslowakei im August 1968 gedient hat.
Selbstverständlich liegen dieser Tätigkeit des SED-Regimes und der DDR nicht nur ihre subjektiven Wünsche und Interessen zugrunde, sondern sie wird auch mitbestimmt von den objektiven Bedingungen der Existenz des Regimes im Rahmen des gesamten Ostblocks. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, daß die DDR-Führung heute der verläßlichste Wachhund des Sowjetgefängnisses ist, in dem Moskau die Nationen Mittel- und Osteuropas abgeriegelt hat.«
Ulbricht wäre also jetzt gewissermaßen der deutsche Schäferhund Moskaus, der die Satellitenherde der Sowjetunion zusammenzuhalten hätte. Das ist eine These, die der Auffassung zu widersprechen scheint, die DDR sei zu allererst der westliche Brückenkopf der Sowjetunion, ihre Lanzenspitze, mit der sie auf das Herz Mitteleuropas ziele.
Welche Bedeutung haben die 300 000 Mann Rote Armee – 20 Divisionen –, die zwischen Elbe und Oder stehen, und dazu die Nationale Volksarmee? Hat der deutsche »Läufer« oder »Bauer« auf dem Schachbrett der Sowjetunion einen offensiven oder einen defensiven Auftrag?
Diese Frage beantwortet General Graf Kielmansegg. Er war bis 1968 als NATO-Oberbefehlshaber der verbündeten Streitkräfte für die militärische Verteidigung des Abschnitts Europa-Mitte verantwortlich:
»In das Bild vom Schachbrett der Sowjetunion ist die DDR mit ihrer Volksarmee wohl am richtigsten als Bauer zu ordnen, das heißt als Damen-Bauer, denn der Stein deckt zunächst die wichtigste Figur auf dem Brett, dann öffnet er ihr den Weg und, wenn möglich, begleitet er sie. Die Position dieses Bauern ist wichtig, aber sie kommt erst ganz heraus, wenn man die Position der DDR mit derjenigen der Tschechoslowakei zusammen sieht, denn beide zusammen ergeben ein sehr günstiges Vorfeld mit einer doppelten Eigenschaft: mit der politischen Eigenschaft des Riegels und der militärischen Eigenschaft der Plattform für einen möglichen Angriff.
Daraus muß sich auch der Auftrag für die sechs Divisionen der Volksarmee und die 18 bis 20 Flugzeugstaffeln ableiten, wobei es auf die Einzelheiten nicht so sehr ankommt, die wir ja auch nicht wissen. Worauf es aber ankommt, ist, daß man mit Sicherheit annehmen kann, daß der Auftrag der Volksarmee auf der gleichen Linie liegen wird wie der der sowjetischen Streitkräfte.
Die Gesamtstärke der Streitkräfte des Warschauer Paktes auf dem Boden der DDR und der Tschechoslowakei liegt nur geringfügig unter derjenigen, die für einen Angriff notwendig wäre, d. h. es bedarf nur einer geringen und rasch heranführbaren Verstärkung, um eine Aggression beginnen zu können. Dann nämlich, wenn die Sowjetunion sich einmal entschließen sollte, politische Ziele mit Waffengewalt zu erreichen, und insbesondere dann, wenn der Westen durch zunehmende Schwäche sie in diese Versuchung führen würde. Ohne die DDR-Plattform wäre das alles sehr viel schwieriger. Die strategische Bedeutung der DDR liegt also darin, daß sie der Sowjetunion die Aufrechterhaltung einer latenten Drohung ermöglicht, die jederzeit in militärische Aktion umgesetzt werden kann. Der DDR-Bauer ist also besonders für die Eröffnung wichtig. Aber er kann auch eine entscheidende Rolle im Endspiel haben, wenn die Partie nach den Vorstellungen der Sowjets verläuft, und diese Rolle würde dann nicht nur militärisch sein, sondern vor allem auch politisch.«
Ihr defensives Interesse an einer militärischen Riegelstellung zwischen der Ostsee und den deutschen Mittelgebirgen können die Russen aus der Geschichte herleiten. Immer wieder wurden Angriffe gegen Rußland aus der norddeutschen Tiefebene heraus vorgetragen. Nicht nur 1941 und 1914 von den Deutschen, sondern schon 1812 von Napoleon, übrigens mit vielen zwangsrekrutierten deutschen Soldaten. Auch damals gingen ungezählte deutsche Männer in den russischen Steppen und im russischen Winter elend zugrunde.
Das Sicherheitsbedürfnis der Russen, ihre Furcht vor Überfällen, kann historisch gerechtfertigt werden. Entschuldigt dieses Sicherheitsbedürfnis aber den aggressiven Imperialismus der Sowjetunion? Entschuldigt es die Gewalt, mit der Moskau seine deutsche Kriegsbeute festhält? Mit der es den Arbeiteraufstand von 1953 niederschlug?
Entschuldigt dieses Sicherheitsbedürfnis die Unterdrückung des Reformkommunismus in der ČSSR 1968, den Prager Staatsstreich 1948, durch den eine europäische Republik ihre gerade wiedererlangte Freiheit verlor und ein stalinistisches Terrorregime hinnehmen mußte? Gibt es eine Rechtfertigung für die blutige Unterdrückung des Ungarischen Aufstandes 1956 und – weiter zurückliegend – die Teilung Polens 1939 durch einen Pakt Stalins mit Hitler, die Verschiebung ganz Polens um Hunderte von Kilometern nach Westen?
Weiter: entschuldigt dieses verständliche russische Sicherheitsbedürfnis die unmenschliche Behandlung von Millionen deutscher Kriegsgefangener, die noch nach der Kapitulation 1945 nach Sibirien transportiert wurden, obwohl die Sowjetunion nicht einmal in der Lage war, das eigene schwer geschlagene Volk zu ernähren? Die deutschen Verbrechen gegen und in Rußland rechtfertigten nicht den Wandalismus der Roten Armee bei der Eroberung Berlins und der deutschen Ostprovinzen 1945; die grausame Vertreibung von zwölf Millionen Deutschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien, eine Vertreibung, bei der drei Millionen Ostdeutsche starben.
Rechtfertigt das russische Sicherheitsbedürfnis den Raubkrieg gegen das entschlossen Widerstand leistende kleine Finnland 1939? Und vergessen wir nicht die unendlichen Leiden, die im Namen eines russischen Sicherheitsbedürfnisses dem russischen Volk selbst zugefügt wurden, insbesondere von Stalin.
Dies alles ergibt eine erdrückende Anklage gegen das kommunistische Regime in Moskau. Und selbstverständlich kann ein noch so berechtigtes Sicherheitsbedürfnis nicht als Entschuldigung dienen.
Aber: welche Nation gehörte hier nicht auf die Anklagebank? Kann man, darf man, muß man das politische Handeln der Völker und ihrer Führer in die moralischen Schranken fordern? Als Idee der Philosophen wird diese Frage schon so lange bejaht, wie Menschen ein menschenwürdiges Zusammenleben fordern – zwischen Individuen wie zwischen Völkern. Als Maxime praktischer Polemik machte erst unser Jahrhundert Ansätze zur Verwirklichung dieser Idee einer humanen Politik.
Der Nürnberger Prozeß 1945 verurteilte die Hauptschuldigen des Hitler-Staates wegen ihrer Kriegsverbrechen und ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ein internationales Recht schien zu triumphieren. Aber das große »Schuldig!« wurde auch von einem sowjetrussischen Ankläger ausgesprochen, dem General Rudenko. Und hätten nicht auch die Verantwortlichen für die sowjetischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf eine zu erweiternde Anklagebank gehört? Die Verbrechen Stalins standen denen Hitlers wohl kaum nach. Und – ich möchte auch das aussprechen: die Bombardierung Dresdens, die Atombombe auf Hiroshima und Nagasaki waren auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Wenn wir dies klar und ruhig sehen – ohne moralische Entrüstung, ohne Rache-für-irgendwas-Geschrei, dann gewinnen wir eine Chance, den Völkerhaß zu überwinden, das Aufrechnen von Schuld beiseite zu lassen, weil uns die Forderung nach Sühne nur in neue Schuld führen würde. Mir schien dieser Blick in die tieferen Gründe und Abgründe, in den Zusammenhang von Sicherheitsbedürfnis und Aggression notwendig, weil jedem Begreifen russischer Politik bei uns Deutschen dieses ewige Gegeneinander-Aufrechnen von Wechselweise zugefügter und erlittener Schuld im Wege steht. Lassen wir es also beiseite und blicken wir über die Mauer zwischen uns hinweg, über die Mauern quer durch Berlin und über die Mauern in uns selber. Versuchen wir: zu verstehen.
1955 reiste der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nach Moskau. Als Rundfunkberichterstatter hatte ich damals Gelegenheit, an Ort und Stelle zu beobachten, wie die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Moskau manchen der engsten Berater Adenauers überraschte, ja bestürzte. Dennoch war sie ein Akt des Realismus. Allerdings, deutsche Botschafter in Moskau konnten bisher wenig ausrichten. Wie nimmt sich die Schachfigur DDR auf dem Brett der Sowjetunion aus, wenn man sie von Moskau her betrachtet?
Sicherlich spielt die DDR für die Sowjetunion auch im Verhältnis zu den anderen Satelliten eine hervorragende Rolle. Sie ist militärisch gesehen die Vorhut im Herzen Europas, sie verhindert das Wiederererstehen der durch die Sowjetunion stets gefürchteten politischen und militärischen Macht in Deutschland. Auf dem Gebiet der Wirtschaft hat die DDR innerhalb des sowjetischen Machtbereichs eine ausgesprochene Spitzenposition, denn was man den »Ulbricht-Staat« genannt hat, was man bei uns lange nur in Anführungsstrichen geschrieben und gedacht hat, die sogenannte »sogenannte DDR« ist in einem Sinne wirklich »ein Phänomen«, wie Kurt Georg Kiesinger die DDR einmal nannte: die DDR ist ein Phänomen als Wirtschaftsmacht. Auch dieser Teil Deutschlands erlebte, nein erarbeitete ein wirtschaftliches Comeback, das vielen Beobachtern als ein ähnliches Wunder erscheint wie das vielzitierte deutsche Wirtschaftswunder in der Bundesrepublik.
Die DDR gehört heute zu den ersten zehn Staaten auf der ökonomischen Weltrangliste – mit nur 17 Millionen Einwohnern. Das Einkommen pro Kopf der Bevölkerung liegt in der DDR vor den vergleichbaren Zahlen aller anderen osteuropäischen Länder und sogar weit vor der UdSSR.
Die DDR-Wirtschaft ist in die Ostblockwirtschaft mindestens so weitgehend integriert wie die Wirtschaft der Bundesrepublik in das System des Gemeinsamen Marktes in Westeuropa. Hier sind auf beiden Seiten der Mauer vollendete Tatsachen geschaffen. Wie ernst müssen gerade sie genommen werden? Sind sie je rückgängig zu machen? Hierzu der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, Staatssekretär Dr. Klaus Dieter Arndt:
»Wenn wir über die DDR nachdenken, vergleichen wir sie unwillkürlich mit uns. Wir kommen zu den Ergebnissen, im Schnitt gesehen sind Produktivität und Lebensstandard dort nicht unerheblich niedriger als in der Bundesrepublik Deutschland. Bei diesem Vergleich übersehen wir etwas Wichtiges. Im Rahmen nämlich der osteuropäischen Volkswirtschaften, verglichen mit ihnen, ist die DDR recht erfolgreich. Sie übertrifft die Staaten des COMECON etwa im selben Maße, wie sie hinter der Bundesrepublik zurückbleibt. Spricht man in Osteuropa von den reichen Deutschen, so meint man alle Deutschen, auch die in Rostock und Leipzig, und man meint, daß so ein reicher Staat besondere Verpflichtungen gegenüber seinen weniger reichen Nachbarn hätte.
Das ist deutsches Erleben in zweifacher Ausfertigung. Die DDR ist eine industrialisierte Volkswirtschaft wie früher, als Mitteldeutschland Teil des Deutschen Reiches war. Nur wickelt sie heutzutage über 70 % ihres Außenhandels mit den COMECON-Ländern ab und weniger als 10 % mit der Bundesrepublik.
Diese DDR-Exporte sind für die Sowjetunion, sind für andere osteuropäische Länder sehr wichtig, mitunter sogar lebenswichtig. Zum Beispiel kommen die gesamten sowjetischen Einfuhren an Maschinen und Ausrüstung allein zu 27 % aus Mitteldeutschland. Bei Einzelerzeugnissen besteht praktisch ein Monopol. Rußland liefert dafür Rohstoffe.
Das ist eine erstaunliche Einengung der internationalen Arbeitsteilung auf wenige Länder. Sie hat politische Gründe, denn wirtschaftlich ist sie unvorteilhaft. Ein Industrieland drängt zum Austausch mit anderen Industrieländern, muß seine Kräfte messen, muß zum Weltniveau aufschließen.
Hinzu kommt der ständige Kampf mit Engpässen und Überschußproduktionen. Dieser Kampf kann ohne Austausch mit den beweglichen Volkswirtschaften des Westen nicht erfolgreich geführt werden. Hier liegt eine ökonomische Chance. Nicht zur Aufweichung, nicht von Umgehungsmanövern, sondern eine Chance zu besserer wirtschaftlicher Entwicklung für beide, für alle, eine Chance, die vor allem der Mensch an Ort und Stelle in seiner Kaufkraft spüren wird.
Freilich gehören zum Nutzen dieser Chance immer zwei, beide Partner. An der Bundesrepublik hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt, und der innerdeutsche Handel hat sich gut entwickelt. Dennoch, die Vergangenheit lastet schwer, sie läßt sich nicht rückgängig machen. 70 % Ostintegration im Warenaustausch lassen sich vermindern, der Schwerpunkt wird jedoch bleiben.«
Der Kommunismus ist eine Ideologie. Was ist darunter zu verstehen? Seine geistigen Väter gingen von der Bedeutung des rechten Bewußtseins im politischen Kampf aus. Bei Marx ist dieses Bewußtsein Ausdruck des Klasseninteresses. Die Frage wurde bereits angeschnitten, inwieweit die Russen noch Kommunisten sind oder heute eine gleichsam klassische nationalistische Real- und Machtpolitik betreiben.
Dehnen wir die Frage auf das politische System der DDR aus. Inwieweit ist Ulbricht Kommunist, inwieweit nur Prokonsul seines östlichen Roms, also Moskaus? Kann er heute eine in etwa selbständige nationale Außenpolitik machen?
Welche Rolle spielte und spielt die kommunistische Ideologie »auf dem Schachbrett der Sowjetunion«? Ich fragte danach Wolfgang Leonhard, der 1945 mit der sogenannten »Gruppe Ulbricht« aus Moskau nach Ostberlin kam, später in die Bundesrepublik übersiedelte und sich seither immer wieder kritisch mit der hier untersuchten Frage beschäftigte.
»In den kommunistisch regierten Ländern sowjetischen Typs – ich möchte mich ausdrücklich auf diese beschränken und Jugoslawien, aber auch China und Kuba ausnehmen – dient die Ideologie in erster Linie der nachträglichen Rechtfertigung politischer Maßnahmen der Führung. Sie dient der Legitimität der neuen Macht, der neuen herrschenden Schicht. Der Marxismus, entstanden als eine Befreiungslehre der Unterdrückten, ist zu einem Rechtfertigungssystem degradiert worden, und zwar für ein System, das mit den ursprünglichen Vorstellungen von Marx und Engels nur sehr wenig gemein hat. Das gilt sowohl für die Sowjetunion als auch für die DDR.
Was die DDR anbetrifft, so müssen wir wohl zwei Phasen unterscheiden. In der ersten Phase, bis etwa Mitte der fünfziger Jahre, folgte die Ulbricht-Führung blindlings und diszipliniert der Sowjetführung. Walter Ulbricht selbst, den ich schon aus meiner Moskauer Zeit kannte und in den ersten vier Jahren der Entstehung der DDR, hat sich kaum für ideologische oder theoretische Fragen des Marxismus interessiert. Probleme der Macht und der Organisation standen und stehen für ihn im Vordergrund.
Aber Ulbricht hatte einen Instinkt, ein Gespür für die Wandlungen der sowjetischen Linie, und er hatte die Fähigkeit, diese rechtzeitig zu erkennen und sich blitzschnell auf die neuen Linien umzustellen. Seit Mitte der fünfziger Jahre begann die DDR einen gewissen eigenen Spielraum für sich zu gewinnen. Dieser eigene Spielraum führte jedoch nicht, weder in der Politik noch in der Ideologie, zu einer Entstalinisierung oder Liberalisierung oder einer Anknüpfung an Gedanken des humanistischen Marxismus. Im Gegenteil.
Für die Ulbricht-Führung ist ausschließlich entscheidend, welche ideologischen Thesen für die Herrscher des Systems nützlich sind und welche eventuell gefährlich werden könnten. Die ersteren werden unterstützt, die zweiten unterdrückt. Zweifellos gibt es in der DDR nicht wenige Menschen, die im Bereich der marxistischen Theorie etwas zu sagen hätten. Aber sie kommen nicht zu Wort. Zu Wort kommen lediglich die offiziellen SED-Ideologen, die mehr Hofberichterstattern ähneln als marxistischen Theoretikern.
Diese blicken immer noch nach Moskau, und sie wirken in der kommunistischen Weltbewegung wie dogmatische Schulmeister, die allen selbständigen marxistischen Gedankengängen hart und scharf entgegentreten und mit recht primitiven Argumenten. So sind die offiziellen SED-Ideologen heute gleichzeitig die Musterknaben Moskaus und die dogmatischen Schulmeister in der kommunistischen Weltbewegung.«
Der DDR kommt auf dem Schachbrett der sowjetischen Europapolitik eine erhebliche und wachsende Bedeutung zu – auch im Bereich jener sowjetischen »Ideologie«, die zur Magd russischer Machtinteressen degenerierte. Moskau wird infolgedessen alles daransetzen, sich diesen wertvollen Stein nicht vom Brett wegspielen zu lassen.
Von dieser Tatsache geht denn auch die Außenpolitik der Westmächte aus, soweit sie sich mit der »deutschen Frage« beschäftigen muß. Ob amerikanische Präsidenten oder englische Premierminister, ob Staatspräsident de Gaulle – es gibt viele Erklärungen dazu, daß man dem ganzen deutschen Volk das Selbstbestimmungsrecht nicht vorenthalten dürfe, daß die Grenzziehungen einem Friedensvertrag Vorbehalten seien usw.
Aber es gibt keine einzige wirkungsvolle politische Handlung von seiten der USA, Großbritanniens und Frankreichs seit 1945, die der Sowjetunion ihre deutsche Beute ernstlich streitig gemacht hätte. Das Gerede von US-Außenminister John Foster Dulles vom ›Roll back‹ und von der ›Liberation‹ der Satelliten Moskaus hatte nie reale politische Chancen.
Was die europäischen Nachbarn Deutschlands angeht, so haben sie nicht nur nie etwas für die Wiedervereinigung der auseinandergerissenen Teile Deutschlands getan – sie fürchten sogar diese Wiedervereinigung. Nicht nur die osteuropäischen Nachbarn Deutschlands, aber freilich gerade die osteuropäischen, denn sie mußten im Zweiten Weltkrieg am meisten unter Hitlers »Lebensraum«-Ideologie leiden. Mit Furcht oder Eifersucht schrecken alle Nachbarn Deutschlands vor dem Gedanken zurück, sie könnten einmal mit der geballten politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kraft von 80 Millionen Deutschen konfrontiert sein.
Die Ausstrahlung dieser Kraft nach Osteuropa wäre so stark, daß sogar die mächtige Sowjetunion in ihr ein gefährliches Gegengewicht gegen die eigenen Hegemonialansprüche sehen müßte.
Diese Überlegung macht es unwahrscheinlich, daß die Russen jemals die Absicht hatten, ein wiedervereinigtes neutrales Gesamtdeutschland zuzulassen. Auch eine Détente, eine Entspannung größeren Ausmaßes, etwa Fortschritte in den Abrüstungsvereinbarungen zwischen Ost und West, dürften an dieser Grundtatsache nichts ändern.
Es könnten dereinst wieder »kleine Schritte« möglich werden, vielleicht auch kleine Schritte der Deutschen in West und Ost aufeinander zu. Die Grenzen, wie sie der Krieg 1945 und seine Folgen neu in die mitteleuropäische Landkarte eingruben, werden bestehen bleiben. Dahinter steht die Weltmacht Sowjetunion, wer immer in Moskau regieren möge.
Jede realistische politische Analyse wird von der Unabänderlichkeit der Grenzen der DDR für alle absehbare Zeit auszugehen haben. Das ist schon längst keine »Anerkennungsfrage« mehr, es ist bereits ein Stück Geschichte, mit dem wir fast ein Vierteljahrhundert leben.
Diese Einsicht zwingt auch, meine ich, zu einer »Entmythologisierung« der Berlinfrage.
Auf dem Schachbrett der Sowjetunion hat diese Berlinfrage in der Vergangenheit eine wechselhafte Rolle gespielt. Am Anfang standen unklare Vorstellungen und Abmachungen der vier Siegermächte – sie rächen sich bis heute. Stalin sah in Berlin eine Geisel. Sein Würgegriff 1948/49, die Blockade Westberlins, scheiterte. Der russische Diktator erwies sich bei diesem Schachzug als schlechter Spieler.
Berlin wurde zu einem Symbol der westlichen Verteidigungsanstrengungen. Berlin, der Staatsstreich 1948 in Prag und der Koreakrieg verstärkten das entschlossene militärische und wirtschaftliche Engagement der Vereinigten Staaten in aller Welt, vor allem in Westeuropa, und hier an der Spitze in Westdeutschland – und eben in Westberlin.
Stalins Aggressionspolitik bewirkte das Gegenteil von dem, was er erreichen wollte: der Westen einigte sich. Anstatt Berlin preiszugeben und in Südkorea zurückzuweichen, beschlossen Präsident Truman und sein Außenminister Dean Acheson eine Politik des Containment, der Eindämmung des sowjetischen Imperialismus. Eine strategische Einkreisung des Ostblocks von globalen Ausmaßen wurde Zug um Zug verwirklicht.
Dennoch blieb Berlin gefährdet. Auch Stalins Nachfolger bedrohten Westberlin, Chruschtschow 1959 sogar mit einem Ultimatum, von dem er später freilich nichts mehr wissen wollte. Die Mauer 1961 war eine defensive Maßnahme, ein Eingeständnis dafür, daß die mächtige Sowjetunion das kleine, praktisch wehrlose Eiland in der Mitte ihres deutschen Besatzungsgebietes nicht schlucken konnte, ohne den dritten Weltkrieg zu riskieren, und daß zweitens die DDR durch Abwanderung von Millionen ihrer Bürger ausblutete.
Die schrecklichste Kriegsmaschine der ganzen Geschichte, die amerikanische Atomstreitmacht, schützte und schützt den westlichen Vorposten im Herzen der DDR. Auch diese Tatsache ist nicht mehr anerkennungsbedürftig und wird von Moskau anerkannt, realistischer als von Ostberlin.
Freilich werden die Russen immer alles Mögliche versuchen, um das Interesse der Amerikaner an Westeuropa erlahmen zu lassen. Ihr Fernziel bleibt ein gesamteuropäisches »System kollektiver Sicherheit«, in dem sie dominieren und die Amerikaner höchstens noch mit der Unterschrift unter ein Vertragswerk vertreten wären, nicht mehr aber mit atomar bewaffneten Streitkräften auf europäischem Boden.
Hegen also – parallel hierzu – die politischen Führer der DDR nicht doch die Hoffnung, eines Tages das ganze Berlin als Hauptstadt der DDR ausrufen zu können?
Diese Hoffnung haben sie sicherlich. Fest steht aber zur Zeit folgendes:
1 Die Russen wollen keinen neuen Berlinkonflikt;
2 Ostberlins Stellung im Ostblock ist stärker und selbstbewußter geworden, was sich auch auf die Westberlinfrage auswirkt;
3 eine entweder den Osten oder den Westen voll befriedigende Lösung der Berlinfrage ist nicht in Sicht.
Das bedeutet: die DDR-Figur auf dem Schachbrett der Sowjetunion hat einen, von Moskau aus gesehen, unheilbaren Schönheitsfehler – es ist, salopp gesprochen, der westliche Wurm drin. 2,3 Millionen Westberliner bleiben dem Westen verbunden, inmitten einer Stadt, die die DDR-Führer als ihre Hauptstadt bezeichnen.
Die menschliche Geschichte hat zu allen Zeiten viele Absurditäten hervorgebracht: diese ist eine ihrer »gelungensten«, um es ironisch auszudrücken. Offensichtlich können Menschen, Völker, Politiker aber erstaunlich gut mit Absurditäten auskommen.
Die Absurdität Berlin bedroht den Weltfrieden heute weniger, als es oftmals aussah oder als so manche scheinbare Normalität in dieser sich rasch wandelnden Welt den Frieden heute bedroht – etwa die revolutionären Situationen in der Dritten Welt, von Asien über Afrika nach Südamerika.
Mit ihnen haben die Supermächte Amerika und Rußland denn auch viel mehr Sorgen als mit Deutschland, als mit Berlin. Ein wichtiger Grund mehr dafür, daß sie in Mitteleuropa Ruhe wünschen und sich vor einer Konfrontation hier hüten.
Im letzten Teil dieses Berichtes möchte ich dann auch die DDR als Schachbrettfigur im großen Spiel der Sowjetunion um eine Weltmachtrolle in den globalen Zusammenhang rücken.
Dieser Zusammenhang muß erkannt werden, wenn wir verstehen wollen, wohin die vermutliche Entwicklung von hier und heute geht. Wir leben im Zeitalter der Interdependenz. John Kennedy führte diesen Begriff in den allgemeinen politischen Sprachgebrauch ein. Er verstand unter Interdependenz die wechselwirkende gegenseitige Abhängigkeit politischer Probleme rund um den Globus herum.
Eine Karte mit dem Nordpol im Mittelpunkt zeigt deutlicher als die übliche Projektion, in welchen Positionen USA und Sowjetunion einander gegenüberliegen. Diese Karte rückt auch Europa in die richtige Perspektive zwischen Amerika und Rußland. Und wo liegt dann Deutschland? Wie nimmt sich die DDR aus? In der Tat wie die westliche Lanzenspitze einer Großmacht, die die größten Flächen Asiens und Europas bedeckt. Und sehen wir uns die übrige Welt mit ihren Krisenherden aus dieser Perspektive an:
Ein Revolutionsregime auf Kuba verführt einen sowjetischen Ministerpräsidenten zu dem Versuch, auf der Insel sowjetische Atomraketen zu stationieren.
Ein Beistandsversprechen der Amerikaner gegenüber Südvietnam führt sie in den Dschungel eines glücklosen asiatischen Landkrieges, bei dem die Sowjetunion dem kommunistischen Gegner die Bewaffnung liefert.
Auch der sowjetisch-chinesische Konflikt hat seine Auswirkungen auf die Europa- und Deutschlandpolitik Moskaus.
Ein Krieg im Nahen Osten verwickelt automatisch die dort engagierten beiden Supermächte in den Konflikt.
Der Griff der russischen Flotte nach dem Mittelmeer, das sowjetische Vordringen in den Ländern des Mittleren Ostens, hat unmittelbare Auswirkungen auf die NATO-Strategie und damit indirekt auf die Lage im NATO-Kernabschnitt Mitteleuropa.
Ähnliches gilt entsprechend für sowjetische Flottenvorstöße in der Ostsee und im Nordmeer. Zugrunde liegt auch diesen Manövern der russische Wunsch nach größerer militärischer und damit politischer Handlungsfreiheit.
Moskau will den Ring der amerikanischen Stützpunkte rings um die riesige eurasische Landmasse der Sowjetunion sprengen. Während also der Status quo, die festgefrorene Immobilität für die Lage in Mitteleuropa kennzeichnend ist, bewegt sich die Sowjetunion vorsichtig, aber energisch vorwärts an den europäischen Flanken im Norden und im Süden.
Außerdem macht sich Rußland mehr und mehr als große asiatische Macht geltend. Der indisch-pakistanische Konflikt 1966 wurde zum Beispiel von den Russen geschlichtet – im Frieden von Taschkent, einer Stadt in der Sowjetunion.
Nichts lag dem Chef der KPdSU, Leonid Breschnjew, bei der kommunistischen Weltkonferenz im Juni 1969 in Moskau mehr am Herzen als eine gemeinschaftliche Verurteilung Chinas durch die 75 versammelten kommunistischen Parteien aus aller Welt.
Das ausgeprägte Sicherheitsbedürfnis der Russen – es zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Außenpolitik Moskaus seit Jahrzehnten, ja seit Jahrhunderten – führt auch zu einer tief verwurzelten Furcht vor einem Zweifrontenkrieg. Deshalb ist die relative Friedfertigkeit der derzeitigen sowjetischen Regierung in Richtung Westen, vor allem gegenüber den Vereinigten Staaten, sicherlich auch auf die Schwierigkeiten der Russen mit dem China Mao Tse-tungs zurückzuführen.
Hier interessiert uns nur ein Aspekt des russisch-chinesischen Zerwürfnisses: seine Bedeutung und seine Auswirkungen auf Moskaus Deutschlandpolitik, auf die Rolle, die die DDR innerhalb des Sowjetimperiums spielt.
Der Asien-Korrespondent der ARD, Hans Walter Berg, beurteilt von seinem Standpunkt in Hongkong aus diese Frage so:
»Als ein deutscher Bundeskanzler einmal sagte, die Bundesrepublik könne nicht ohne Gegenleistung auf die von Polen und der Sowjetunion okkupierten ehemaligen deutschen Ostgebiete und unter gar keinen Umständen auf seinen Alleinvertretungsanspruch verzichten, da wurde dies von der amtlichen Parteizeitung in Peking ganz schlicht ›Irrtum eines Idioten‹ genannt.
Die Vorstellung also, Bonn könne von dem chinesischen Territorialstreit mit der Sowjetunion profitieren und etwa mit Pekings Rückendeckung gegen Moskau und auch gegen die DDR auftreten, ist eine arge Illusion. Die Bundesrepublik galt jedenfalls bis zum jüngsten Regierungswechsel in Bonn – und daran dürfte sich wahrscheinlich auch in Zukunft sobald nichts ändern – als ein Satellit der sogenannten aggressionslüsternen amerikanischen Imperialisten.
Sie wurde von der chinesischen Propaganda oft sogar als ein Bindeglied zwischen Washington und den sogenannten sowjetischen Sozialimperialisten verteufelt. Zweifellos gilt auch die DDR in Peking als Satellit, als ein Satellit Moskaus, und entsprechend frostig sind die Beziehungen zwischen der chinesischen Volksrepublik und Ostdeutschland bisher gewesen.
Aber die Chinesen haben nie die Hoffnung aufgegeben, daß sich im Verhältnis der DDR zur Sowjetunion einmal Spannungen nach dem Vorbild der Tschechoslowakei-Krise entwickeln könnten. Jedenfalls ist Peking selber vital daran interessiert, gerade im Tschechoslowakei-Konflikt mit Moskau eine solche Entwicklung zu fördern.
Nun gibt es zur Zeit gewisse Anzeichen für eine chinesische Entspannungsbereitschaft auch gegenüber der Sowjetunion. Aber selbst wenn die sowjetische Außenpolitik Peking nicht mehr als Feind, sondern nur noch als Rivalen in Rechnung stellen muß, wäre Moskau dennoch gezwungen, um seine Flexibilität gegenüber der chinesischen Volksrepublik zu bewahren, den sowjetischen Einfluß in Osteuropa, in Sonderheit auch in der DDR, weiter zu konsolidieren.«
Wir dürfen also zweierlei für gegeben ansehen:
1 Der chinesische Ärger der Russen wertet für sie die DDR noch mehr auf. Moskau muß sich für den Fall eines Krieges irgendwo entlang der 7 000 Kilometer langen Grenze, die China und die Sowjetunion gemeinsam haben, den Rükken im Westen freihalten. Ein ergebener, zuverlässiger Bundesgenosse an der Westfront des Sowjetimperiums ist also viel wert.
2 Der chinesische Ärger der Russen veranlaßt Moskau zu einer gewissen Entspannungspolitik gegenüber den Vereinigten Staaten, auf die die Sowjetunion nirgendwo direkter stößt als am Checkpoint Charly in Berlin oder entlang der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Peinlich sind die Russen also bemüht, es hier nicht zu unkontrollierten Zwischenfällen kommen zu lassen. Dem Wort von der heimlichen Komplicenschaft der beiden Atomgiganten Sowjetunion und USA kommt also eine sehr reale politische Bedeutung zu – gerade in Deutschland.
Bemerkenswerterweise dringt die russische Außenpolitik nun umsomehr in solche für sie bedeutsame Regionen vor, die nicht klar als Interessengebiete entweder Moskaus oder Washingtons definiert sind.
In dem spannungsgeladenen Raum zwischen Türkei, Ägypten und Pakistan-Indien und darüber hinaus im Mittelmeer ist heute die Sowjetunion so aktiv wie nirgendwo sonst außerhalb der Grenzen ihres Imperiums. Worauf zielt die heutige Mittelost-Politik der Russen ab und wie hängt diese Politik zusammen mit der Konfrontation NATO – Warschauer-Pakt-Staaten?
Mit der Rolle der DDR im sowjetischen Schach gegen den Westen hat diese Entwicklung insofern zu tun, als jede westliche Position überall immer nur so stark ist, wie das schwächste Glied der Kette, die die USA nach 1945 um die Sowjetunion herum schmiedete. Das schwächste Glied ist nicht Berlin – es ist heute die NATO-Südflanke.
Der Kreis hat sich geschlossen. Wir sind einmal rund um die Welt gezogen mit unserer deutschen Frage, und wir haben sie von den verschiedenen Standorten aus gestellt. Hat es genützt, einmal die Mauer zu umgehen oder sie in der betrachtenden, abwägenden Analyse zu überspringen? Was hat unsere tour d’horizon an Erkenntnissen eingetragen? Ich will versuchen, es zusammenzufassen:
1 Die Sowjetunion sieht in der DDR ihr heute wichtigstes außenpolitisches Faustpfand. Das bedeutet: es ist nicht daran zu denken, daß Moskau diesen westlichen Eckpfeiler seiner gesamten Weltpolitik preisgeben oder gegen irgendein westliches Angebot – etwa gegen Abrüstungsvereinbarungen – eintauschen wird. Die Grenzen der DDR, einschließlich der Oder-Neiße-Linie, sind geschichtliche Realitäten; die absurde Insellage Westberlins bleibt ebenfalls eine Realität.
2 Die Sowjetunion sieht ihre Streitkräfte auf deutschem Boden und ihren Satellitenstaat DDR als Doppelgarantie im Rahmen ihrer Sicherheitsvorstellungen. Das bedeutet: die DDR ist in den Augen der Russen die ausschlaggebende Riegelstellung gegen die NATO in Mitteleuropa; die DDR ist die wirksamste Klammer zum gewaltsamen Zusammenhalten des russischen Imperiums, das sich seit 1945 von Wladiwostok bis Eisenach erstreckt.
3 Die Sowjetunion hat mit der DDR ein Wirtschaftspotential in der Hand, auf das sie gemäß ihrer imperialistischen Wirtschaftsplanung nicht mehr verzichten kann. Das bedeutet: Moskau würde auch dann nicht auf eine totale Beherrschung der DDR mit ihren 17 Millionen Menschen verzichten, wenn das russische Sicherheitsbedürfnis auf andere als die herkömmliche Weise befriedigt werden könnte. Neben die militärisch-politischen Gegebenheiten sind die ökonomischen getreten. Sie machen ein Zurückweichen der Russen von ihrer deutschen Plattform in Europa doppelt unwahrscheinlich.
Soweit diese politische Bilanz.
Angenommen, meine drei Punkte stellen die Situation zutreffend dar, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für die Deutschland- und Ostpolitik der Bundesrepublik. Die neue Bundesregierung trägt offenbar solchen Konsequenzen schon eher Rechnung als die Bundesregierungen in den vergangenen 20 Jahren. Es bleibt jedoch eine offene Frage, ob die besonderen Beziehungen zwischen den beiden Staaten deutscher Nation, wie sie Willy Brandt und Walter Scheel vorschweben, auf dem Schachbrett der Sowjetunion Platz haben.
Vielleicht lassen die Russen über die Rechtsform der Anerkennung ihres deutschen Satellitenstaates mit sich reden, so wie sie einer speziellen Regelung der Berlinfrage im Grundsatz schon zugestimmt haben. Aber eine irgendwie geartete, völkerrechtlich verbindliche, vertragliche Anerkennung der durch den Zweiten Weltkrieg in Mitteleuropa geschaffenen politischen Realitäten liegt, wie wir sahen, im vitalen Interesse der Sowjetunion, der zweitstärksten Weltmacht der Gegenwart. Auch persönliche Kontakte mit den Landsleuten drüben und menschliche Erleichterungen für sie werden nicht unter diesem Preis zu haben sein. Wer das nicht sehen will, macht sich und anderen etwas vor.