Читать книгу Stopp. Play. Schneller Vorlauf - Théo alias Hugluhuglu - Страница 5
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Оглавление»Was machen sie?« »Sie sehen sich Schneewittchen an. Und es gefällt ihnen.«
Das Rattern der Regionalbahn dröhnte in meinen Ohren, die Bremsen kreischten, bis es schließlich flackernd hell wurde. Die Neonlichter sprangen an, mischten sich mit dem Tageslicht, das von oben in die riesige Bahnstation fiel. Es tat noch einen Ruck, dann stand der Zug.
Ich blinzelte, holte tief Luft, nahm meine beiden Taschen und trat auf den Bahnsteig. So also sah ein Neuanfang aus. Die Station von Chessy/Marne-La-Vallée war weiß gefliest, steril wie ein Kreißsaal, mit viel gebürstetem Edelstahl und dem Geruch von Reinigungsmitteln.
Hinter den Drehkreuzen, am Ende einer sich beinahe geräuschlos bewegenden Rolltreppe, sprach mich ein junger Mann an. Er trug einen blauen Trainingsanzug, die Hosenbeine hatte er in die weißen Socken gestopft. Eine Baseballkappe bedeckte das kurz geschorene Haar. Ich stellte den Walkman ab. Schnaufte kurzatmig. Wollte nach den Narben tasten.
Eine Sekunde lang stellte ich mir wieder die Frage, ob es richtig war, hierher zu kommen, doch der Gedanke tauchte sehr schnell wieder in mein Unterbewusstsein ab, wo er immer wieder nagen würde, obwohl ich niemals eine Alternative hatte. Du suchst dir nicht aus, ob du wiedergeboren werden willst – du wirst es einfach.
Der Typ klopfte sich mit Zeige- und Mittelfinger an die Lippen. Ich hob die Schulter. »Je ne comprends pas...«, stotterte ich. Mein Herz schlug angestrengt. Er winkte ab, arrogant grinsend, und ging langsam mit wiegenden Schritten davon. Seine Turnschuhe quietschten.
Crocodile Dundee (Peter Faiman, AUS 1986) kommt aus dem Busch in die Zivilisation. War ich wirklich hier? Ein paar Tage zuvor hatte ich noch in Hamburg auf meiner Matratze gelegen, mit dem Irrealis als meiner liebsten Ausdrucksform im Kopf und meinem ständig harten Schwanz in der Hand. Alles um mich herum wirkte künstlich, falsch, wie zu viel Make-up auf einem vernarbten Gesicht.
Die automatischen Türen führten ins Freie auf einen runden Platz. Kalter Wind blies mir ins Gesicht, die blasse Sonne verschwand hinter dunklen Wolken, das Wasser in den Pfützen kräuselte sich. Konnte das nicht auch Hamburg sein? Hinter jeder Ecke Geisterbilder, wie auf schlecht gelagerten Videobändern. Das ist nicht Hamburg, dachte ich, das ist nicht St. Georg.
Zwei Männer mit Funkgeräten in den Händen standen an einem durch einen Zaun abgetrennten Bereich, gleich links vom Ausgang. Hinter dem Zaun erkannte ich Leuchtreklamen - Restaurant, Bar, Billy Bob’s, Sportsbar, Planet Hollywood. Kinder mit Ballons, alte Männer mit Micky-Maus-Ohren und junge Frauen mit blauen Plastiktüten, auf denen Disneyland Paris stand, wurden beim Passieren von den zwei Männern misstrauisch beäugt. Auf ihren grünen Windjacken über den kleinen Namensschildern stand Security gedruckt.
Vor der gehechelten Frage setzte ich die Taschen auf dem rissigen Beton ab. Meine Rettungsringe störten. Fettes, wichsendes Schwein auf deiner Matratze, nackt in deiner Wohnung, dachte ich, immer und immer wieder, wie ein Mantra, weil ich es so oft gesagt hatte, alleine in meiner Wohnung. Ständig fürchtete ich, meine Hose, die viel zu eng auf meinen dicken Hüften saß, würde im Schritt reißen.
»Housing? C’est au Centre, non?«, sagte Paul.
»Mais non, c’est à la marina«, erwiderte Jean.
»Non, pas encore. Ils sont en train de déménager.«
»Excusez-moi...« Der eine schlug den anderen vor die Brust und zeigte rechts am Bahnhof vorbei. Der andere hob beide Hände vors Gesicht, sagte laut »Quel con!« und zeigte links am Bahnhof vorbei. »C’est par la«, sagte Paul, und Jean sagte »Ta gueule. C’est par la.«
Ich sah wieder über den Platz zurück zum Bahnhof. Hinter ihm erhob sich ein Turm eines rosafarbenen Schlosses. Eine überdimensionale Narrenkappe zierte die Spitze, auf ihr prangte eine große 5. Der Drang, zurück in die RER-Station zu gehen, mich der Hilflosigkeit hinzugeben und alles abzublasen, wurde größer.
Ich gehörte hier nicht her, das war nicht meine Welt. Das war verrückt. Ich sollte Pornos gucken, gehörte auf die Matratze, oder nicht? Pornos machten glücklich. Und als ich so guckte und der Streit der beiden Wachleute heftiger wurde, lief ein Typ Ende zwanzig, unrasiert und mit Brille, an mir vorbei. Unter seinem Arm klemmte ein großes, weißes Stoffkaninchen.
»Verdammt, ich komm’ zu spät, zu spät, oh fuck«, fluchte er auf Deutsch und rannte in Richtung des Turms, dem Besucherstrom entgegen. Er rannte, er hatte keine Micky-Maus-Ohren und keine Plastiktüte in der Hand, und er lief nicht mit der Masse. Dieser Mann mit dem Stoffhasen unter dem Arm war kein Besucher, war kein Gast und sprach Deutsch. Auch er war hier fremd, konnte Auskunft geben. Oder nicht? Du gehörst nicht hierher, dachte ich wieder, du musst wichsen, Glück herbeimasturbieren oder dem Kaninchen folgen, dem Kaninchen folgen.
»He, warte!« Ich packte meine Taschen und folgte ihm. Er lief quer über den Bahnhofsvorplatz und hielt sich links. Ich ächzte unter meiner Last, es hatte wieder zu regnen begonnen. Leichter Nieselregen, der das Pflaster rutschig machte. Der Typ stoppte nicht und behielt seinen Vorsprung von etwa zehn Metern. Ich dachte an die Wachleute, die ich ohne Untertitel nie verstehen würde. Ob die beiden miteinander fickten?
Der ferne Turm rückte näher, Menschenmassen strömten mir zwischen Bäumen und penibel geharkten Beeten hindurch aus einem rosaroten Gebäude mit rotem Dach entgegen, das sich von links nach rechts über etwa dreihundert Meter erstreckte. Ich hörte Kinder schreien und Frauen schimpfen.
Noch während ich überlegte, verschwand der Typ hinter einem Tor. Keuchend blieb ich davor stehen. Castmember only stand auf dem verschlossenen Tor. Rechts davon begann ein dichter Maschendrahtzaun, dazwischen befand sich eine kleine Lücke.
Ich zuckte mit den Schultern und schlüpfte durch den schmalen Durchgang. Ein gepflasterter Weg führte hinter dem Tor links um das rosa Gebäude herum. Ich folgte dem Weg und erreichte ein kleines Pförtnerhaus, das wie eine Grenzstation den Durchgang verwehrte.
»Housing?«, fragte ich keuchend einen Mann hinter einer Glasscheibe, wieder in grün, wieder mit einem kleinen Namensschild auf der Brust. Wo war das Kaninchen? Mein Herz schlug hart, meine Lunge brannte. Zehn Meter mehr und ich wäre umgekippt und verreckt.
»Vous travaillez ici?« Ich verzog das Gesicht. »Are you working here?«
»Ich muss durch... das Kaninchen...«
»Votre contract de travail...«
»Wie komme ich da nur hin?« Ich durchsuchte meine Taschen nach dem Anschreiben, nach etwas Offiziellem.
»Your workin’ contract... Arbeitsvertrag«, sagte der Mann ungeduldig. Er sprach das deutsche Wort so gelassen aus, als hätte er es bereits hundert anderen fetten, verpickelten Rekruten an den Kopf geworfen, die so verpeilt wie ich gewesen waren. Den Arbeitsvertrag hatte ich im Rucksack. Immer wieder hatte ich ihn während der langen Bahnfahrt angestarrt, wie eine Geburtsurkunde, die bewies, dass ich ein neues Leben startete. Der Mann beäugte das Papier kritisch, nickte, wies mit der Hand auf das Drehkreuz und ließ mich hindurchtreten.
Ein paar Meter weiter links befand sich eine Bushaltestelle. Davor stand wieder der Typ mit Brille und dem weißen Kaninchen unter dem Arm. Gegenüber, hinter einem hohen Wall, über den die Wipfel einiger Tannen ragten, tauchte eine Wasserfontäne auf. Rattern und vielkehliges Schreien hallten wie von einem Jahrmarkt herüber.
»He.« Ich holte viel Luft, unterdrückte den Brechreiz und stellte mich neben den Typen. Er sah auf die Uhr und nickte mir dann zu.
»Hallo«, sagte er kurz.
»Entschuldigung. Aber kannst du mir helfen?«
»Ja, aber ich hab’s eilig.«
»Ich will zum Housing. Wie komme ich da hin?«
Er sah mich lange an. »Du bist neu?« Ich nickte. »Ist ganz einfach. Ich muss in die gleiche Richtung.« Und dann murmelte er wieder mit einem Blick auf die Uhr: »Ich komm’ zu spät, wo bleibt der verdammte Bus?«
Wir warteten ein paar Minuten, die Haltestelle füllte sich mit Menschen jeder Hautfarbe und Sprache. Ein vollbesetzter Bus kam, leerte sich rasch, wir stiegen ein. Ich spürte den Hintern einer kleinen Frau an meinem Oberschenkel. Mit freien Händen hätte ich den straff gespannten Stoff ihres Hosenrocks an meinen Fingerspitzen ertasten können.
»Das Kaninchen...«
»Für eine Freundin. Wo wirst du arbeiten?«
»Im Santa Fe«, sagte ich. »An der Rezeption.«
»Na, dann sehen wir uns ja noch.« Der Bus hielt wieder. Wir stiegen aus, und er zeigte statt mit dem Zeigefinger mit der ganzen Hand durch den Regen in eine Richtung. »Durch das Hauptgebäude, geradeaus und links. Gleich die erste Tür wieder links.« Er sah wieder auf seine Uhr. »Ich muss los.«
»Und wo arbeitest du?«, rief ich ihm hinterher, doch er war bereits im großen, zweistöckigen Betonklotz verschwunden. Vielleicht zu einem Videodreh. Die Franzosen machten gute Pornos.
Zwei Schritte geradeaus, an einer Kantine vorbei, wieder heraus aus dem Gebäude, hinein in die Pfütze. Man sah mich an, als trüge ich statt meiner Taschen ein Paket Pampers mit mir herum. Mitleidiges Lächeln, sofern man mich auf meinem Weg überhaupt beachtete.
Close-up: Nervös kaue ich an den Fingernägeln,
Close-up: Eine Maschine ratscht über meine Kreditkarte, jemand sagt etwas auf Französisch, in den Untertitelten steht ›Mietkaution‹.
Totale: Man verfrachtet mich zusammen mit zwei anderen Mädchen in ein Auto. Kalte Tropfen klatschen mir ins Gesicht. Ob die beiden Mädchen fickten? Ob ich sie bitten konnte, sich für mich auszuziehen? Die eine hatte sehr große Titten, aber ein langweiliges Gesicht. Die andere war viel zu mager.
Ich wagte nicht zu fragen wohin die Reise ging. Die Frau hinter dem Steuer redete ohne Unterlass auf Französisch. Französisch, ein Synonym für Oralverkehr. Ob sie mir einen blies, wenn ich sie darum bat? Oder reichte mir die Fantasie? Der Wagen schaukelte durch ein Tor, verließ das Gelände. Meinen nassen Rucksack umklammernd sah ich zu, wie wir uns langsam vom Park entfernten.
Das also war Frankreich, war das Disneyland Paris. Mein Vater lebte in Frankreich, in einer Kommune irgendwo am Mittelmeer. Frankreich war Niemandsland. Vergeblich suchte ich den Turm des Märchenschlosses hinter den regennassen Fensterscheiben. Außer Sichtweite bogen wir von der Hauptstraße ab in ein von Regentropfen gebrochenes Neubaugebiet. Zwischen Neubaugebiet und Themenpark lag eine riesige Brache, durch Bahngleise von der Straße getrennt. Als wir ausstiegen, ratterte ein TGV vorbei.
Der Regen hatte aufgehört, der Himmel blieb grau. Ich nahm meine Taschen aus dem Kofferraum, mein Blick fiel auf das Schild neben dem am Eingang zu einer Wohnanlage stehenden Gebäude, in dem die Mädchen verschwanden.
Les Pleiades bestand aus etwa einem Dutzend Häusern, drei Stockwerke hoch, rosa angemalt die Holzfassade, mit Sprossenfenstern und kleinen Balkonen. Farbe brachte mich zum Lächeln. Den französischen Mietvertrag verstand ich nicht, den Kollegen fehlte die Geduld, mir jedes Detail zu erklären. Keine Untertitel. Ich nahm es hin, ebenso wie den Code für die Haustür und den Schlüssel für mein Apartment. Höflich, aber bestimmt begleitete man mich hinaus.
Helles Treppenhaus mit Sprossenfenstern, Linoleum voller Brandflecken auf den Stufen, weiße Wände übersät mit gelblichen Spritzern, struppiger Filz auf dem dunklen Korridor, dritte Tür rechts mit Guckloch. Wie in Amerika. Dunkle Gänge, anonym. Wie in den Filmen. Wie in... Ich kniff die Augen zu.
Durch die geschlossene Tür dröhnte laute Musik. In den zweiundzwanzig Quadratmetern, die sich Apartment 203 nannten, stopfte ein junger Typ gerade seine Sachen in den Kleiderschrank neben der Kochnische.
Er erschrak, beugte sich zur Seite, drehte die Musik leise, grinste. Seine Hand war warm und trocken. »Hi, ich bin Jeremy.« Kurze blonde Haare standen hart gegelt nach oben, sein kariertes, zugeknöpftes Hemd hing aus der Jeans. Jeremy mit dem festen Händedruck und dem eckigen Kinn im glattrasierten Gesicht. Ein bisschen Ewan McGregor in Trainspotting (Danny Boyle, UK 1996). Der Film, in dem Kelly McDonald eine geile 15jährige spielte, die sich ficken ließ. Im Kino hatte ich bei der Szene, in der sie auf Ewan ritt und ihre Titten zeigte, eine Erektion bekommen. Wippende, perfekte Titten.
»Stört dich die Musik?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »White Rabbit von Jefferson Airplane. Kennst du das?« Wieder schüttelte ich den Kopf. Natürlich kannte ich es. In Platoon (Oliver Stone, USA 1986) hören es die Hauptfiguren im Bunker beim Kiffen. Als er mich fragte, was ich von unserem Apartment hielt, suchte ich nach dem Wort für Backofen. Jeremy lachte wieder.
»Backofen? Sag bloß, du kannst kochen, mate«, sagte er und hielt dabei einen Wasserkocher hoch. »Hauptsache wir haben eine Kaffeemaschine.«
»Ich dachte an Tiefkühlpizza.« Deep freezer, bucket, stove und hometown. Ich zapfte mein Hirn an und suchte nach Vokabeln wie ein Pionier nach Panzerminen. Und wenn ich länger überlegte, stand Jeremy geduldig neben mir, sah mich amüsiert an und half mir manchmal.
Jeremy drehte die Musik auf, tanzte armkreisend ein paar Schritte vor und zurück und schüttelte den Oberkörper. Ich trat hinaus auf den Balkon und sah über das Feld zum Disneyland, in dem sich der Turm des Märchenschlosses aus der Ebene erhob.
»Wie gut ist dein Französisch?«, fragte er über meine Schulter, und ich sagte: »Kaum vorhanden. Wie lange bleibst du?« Es dauerte eine Weile, bis Jeremy antwortete.
»Bis Anfang September. Weshalb bist du hier?«
Eine hektische Montage von Bildern und Geräuschen: 756 verfickte Filme, Kerzen, Gurken und Holzkisten, Nutten und leere Spritzen, eine Matratze und Regen, eine Null auf dem Kontoauszug, das schwarze Blut. Stimme aus dem Off: Blinddarm, Null-Wissen. 756.
Ich weiß nicht, ob ich zusammenzuckte, aber ich presste ein »Kein Kommentar« heraus. Die neue Haut an meinen Handgelenken juckten zum ersten Mal seit Tagen wieder. Zitternd starrte ich auf mein Spiegelbild in der Balkontür. Immerhin hatte ich eines, nicht wie Dracula, (Francis Ford Coppola, USA 1992.)
Kneift jemand, der Erinnerungen verdrängen will, wirklich die Augen zusammen und senkt den Kopf, oder ist das nur eine stereotype Einstellung aus schlechten Filmen?
Zwei Gestalten standen nach einem Klopfen in der Tür, üppig im Umfang doch überraschend flink. Sie sprangen am Kleiderschrank, den vier Quadratmetern Badezimmer und der Kochnische vorbei in unser kombiniertes Wohn- und Schlafzimmer.
»Was ist los...«, sagte der eine.
»...wollen wir gehen?«, fragte der andere.
»Was sind das für niedliche kleine Kerle?«, fragte ich, um witzig zu sein.
»Wir sind keine Kerle, wir sind Herren«, sagte ernst der eine.
»Du kannst mit uns reden wie mit vernünftigen Menschen. Willkommen«, sagte streng der andere. Ich lief rot an und wurde ausgelacht.
»Darf ich vorstellen?« Jeremy zeigte auf den rechten. »Das hier ist Svante.«
Svante hatte schütteres Haar, einen spitzen Bierbauch und eine bemerkenswert große Nase in seinem schmalen Gesicht. Als er mir grinsend die Hand gab, sah ich ein strahlend weißes Gebiss. Er erinnerte mich an Harpo von den Marx Brothers, nur viel dicker. »Wir haben uns auf dem Weg hierher im Flughafenbus getroffen.«
»Und ich bin sein Mitbewohner Lewis«, sagte der andere, noch umfangreicher als Svante, Orson Welles’ Doppelgänger auf der Fähre nach Hongkong. Ich kam mir dünn vor.
»Ich hoffe, er schnarcht nicht«, sagte Svante.
Lewis hob den Zeigefinger der rechten Hand »... und du auch nicht...«
»Dann hoffen wir, dass wir nicht schnarchen«, sagten sie gleichzeitig.
»Ich wache manchmal von meinem Schnarchen auf«, sagte ich.
»Warum?«, fragte Svante.
»Warum?«, fragte Lewis.
Svante packte mich am Kragen meiner Lederjacke und kam mit seinem Gesicht ganz dicht an meines heran. Unsere Nasen berührten sich beinahe. »Kennst du die Geschichte vom Walross und dem Zimmermann?«
Svante hatte Pickel dort, wo die Nasenflügel aufhörten. Sein Atem roch nach Pfefferminz.
»Später.« Lewis rückte seine Baseballkappe zurecht. »Später.«
»Welchem Comic seid denn ihr entsprungen?« Jeremy grinste herausfordernd. »Oder seid ihr Zwillinge?«
»Ich glaube, wir sollten das jetzt nicht diskutieren.« Lewis kniff Jeremy in die Nase und gab mir einen leichten Schlag gegen die Brust. »Nun los. Der Supermarkt ruft.«
Svante ging in die Knie, bis die Gelenke knackten, lief auf der Stelle, der Fußboden vibrierte.
»Warum macht er das?«
»Weiß ich nicht, mate«, gab Jeremy zur Antwort. »Und jetzt komm.«
Der Supermarkt war weit. Weit weg, dachte ich, weil wir mit Bus, RER und zu Fuß mindestens eine Stunde nach Torcy unterwegs waren. Sollte so mein neues Leben aussehen? Eine Stunde fahren, wenn ich neues Wasser brauchte? Und während wir zwischendurch immer wieder auf Anschluss warten mussten, hüpften Svante und Lewis herum, erzählten, was sie in ihrem vorigen Leben gemacht hatten.
Svante hatte Stockholm vor drei Jahren verlassen und in der Schweiz eine Hotelfachschule besucht, Lewis lernte Koch in London. Jeremy flüsterte, sie seien bestimmt harmlos, und klopfte mir auf die Schulter.
Im Supermarkt beim Waschmittel fragten sie schließlich, was ich vorher getan hatte. Wortlos bog ich ab zur Käsetheke und tat, als hätte ich die Frage nicht gehört. Kaufhaus. Sven im Kaufhaus, Zombie im Kaufhaus, Zombie (George A. Romero, Dawn of the dead, USA 1977.) Null. Blind. Hier hingen Kondome und Gleitgel so selbstverständlich im Regal wie Kaugummis und Gurken. Gurken und Gleitgel. Karotten.
Ob es an der Kasse Pornos gab? Vor ein paar Jahren, als ich auf Interrail-Tour in Spanien gewesen war, hatte es noch Pornos mit Tieren zu kaufen gegeben. Wie genau nahmen es die Franzosen mit der Pornografie? Spanien. Mein Herz klopfte hart. Sonja auf allen Vieren. Ich wünschte mich zurück auf meine Matratze, wollte die Kiste am Fußende öffnen.
Ich hatte das Gefühl, der Boden bebte, wenn Lewis neben mir die Kühlregale abschritt und sich nicht für einen Käse entscheiden konnte.
Fump, fump, fump, machte es, und Jeremy und Svante lachten meckernd dazu. Dumpf klangen sie dabei und langsam. Fump, fump, fump, und Lewis bewegte wie ein Walross die Hüften.
»Wir feiern«, rief Jeremy.
»Was feiern wir?«, fragte ich.
»Geburtstag«, sagte Lewis, und Svante lachte wieder. Tief aus dem Bauch und meckernd hell zugleich. Dabei wippten seine wenigen Haare träge auf dem kantigen Schädel.
»Wer hat Geburtstag?« Für die Frage erntete ich Gelächter.
»Du auch nicht? Dann wird das eine Nicht-Geburtstags-Feier.«
Sie federten durch die Gänge des Supermarktes. Fump, fump, fump, hörte ich, Lewis stoppte beim Bier. Lewis trank viel, manchmal konnte er einen dieser Pappkartons Brückbier alleine austrinken, die kleinen 0,25 Liter-Flaschen verschwanden mit einem Schluck. Lewis trank und rollte dann durch die Gänge in Maya 4 wie ein außer Kontrolle geratener Supertanker durch den Suezkanal.
»Ick bin Space Mountain«, grölte er manchmal auf Deutsch dazu.
Sie schnappten sich jeder einen Karton Bier, ich füllte meinen Einkaufswagen mit Käse und lief vor zur Kasse. Ein Franc war 30 Pfennig, Francs mal drei durch zehn sind Deutsche Mark. Zwei Deutsche Mark für einen Pornofilm in der Videothek. Back to Nature. Doppelpenetration für zwei Mark, zwei Stunden lang. Ich schloss die Augen und öffnete sie langsam wieder.
Wieder dauerte der Rückweg eine halbe Ewigkeit. Man zog mich, obwohl es schon nach acht Uhr war, zu Lewis und Svante ins Apartment 314.
»Eine Tasse Tee«, sagte ich und lehnte Svantes Bier ab. Nach fünf Stunden sprachen die drei schon im Chor: »Was? Du trinkst kein Bier?«
»Keinen Alkohol«, sagte ich und holte aus meinen Einkäufen eine Packung mit Teebeuteln. »Davon bekomme ich sofort Kopfschmerzen.«
Jeremy sah mich an, als hätte ich Micky Maus eine verfickte Ratte genannt.
»Ich brauche nur an einer Flasche Beck’s zu riechen, und mir brummt der Schädel.« Mein Lächeln fiel sehr unschuldig aus. Aber eine leere Beck’s-Flasche passte mit genügend Gleitgel sehr gut in meinen Hintern, aber noch besser waren Gurken und Karotten, während ich an nackte Haut dachte und an einen dicken Schwanz in meinem Arsch.
»Keinen Alkohol«, flüsterte Svante, Lewis machte große Augen, Jeremy hob die Schultern. »Na, macht nix. Wenn er lange genug mit uns zusammen ist, lernt er das auch noch.«
Der Wasserkocher pfiff, Svante fing zu singen an, Lewis stimmte sofort mit ein.
»Ich habe heut’ nicht Geburtstag, hurra.« Erst zusammen, dann nur Svante: »Viel Glück zum Nichtgeburtstag.«
»Für wen?«, fragte Lewis. Svante sprang auf die Füße und zeigte auf sich. »Für mich.«
Lewis schlug sich vor den Kopf. »Ach dich.«
»Viel Glück zum Nichtgeburtstag«, sang Svante. Lewis zeigte abwechselnd auf mich, Jeremy und seinen Mitbewohner.
»Für dich!«
»Für mich!«
»Für dich!«
»Die Tassen hoch, der Nichtgeburtstag, der ist da, den wollen wir heut feiern, hurra«, sangen sie im Chor. Jeremy starrte mich mit offenem Mund an, ich starrte zurück. Svante warf Lewis eine Flasche Bier zu, gleichzeitig drehten sie die Deckel ab, setzten die Flaschen an den Hals und ließen sie, gluckgluckgluck, leer laufen. Unter dem anschließenden Rülpser erzitterten die Wände des kleinen Apartments. Ich rieb mir die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte Jeremy eine Flasche in der Hand. »Na dann, cheers.«
Nach ein paar langen Zügen landete die leere Flasche im Mülleimer. Erschüttert hielt ich mich an meinem Becher Tee fest. Tee war ein guter Einlauf, Kamillentee. Ich war nicht wirklich hier, nicht in diesem Zimmer. Das war hier nur Kulisse eines schlechten Films, wackelig und schlecht gebaut.
»Spielst du Karten?«, fragte Svante, ich gähnte unwillkürlich. »Und dann sag uns bitte den Grund deines Hierseins.«
Warum bin ich hier? Wo bin ich? Zitat aus 33 bekannten Filmen, Labyrinth war einer davon, (Reise ins Labyrinth, Jim Henson, USA 1985.) Warum ich bin hier? Wie lange tun Erinnerungen weh? Wie lange muss sich die Hauptfigur winden und die Augen zusammenkneifen, um glaubwürdig zu wirken? Du Praktikant, kannst nicht einmal Action rufen. McDonald’s war viel zu gut für dich. Ein kurzer Blick noch ins Leere, eine leise Stimme, nur ein Zischeln im Hintergrund. (Null-Wissen, Blinddarm). Lewis schlug in die gleiche Kerbe. »Kamst du mit einer bestimmten Absicht hierher?«
Als er meine vor den Mund gehaltene Hand sah, winkte er ab. Ins Bett und nicht mehr daran denken. Die anderen protestierten schwach. Leise schloss ich die Tür hinter mir, auf dem Flur hörte ich sie wieder singen. Diesmal erkannte ich auch Jeremys helle Stimme: »Lirum, larum, Löffelstiel, wer drüben sitzt, der ist zu viel...«
Ich legte mich ins Bett und lauschte dem Ticken des Regens an der Fensterscheibe. Praktika statt McDonald’s, Schülerfilmgruppe statt Schlafen. Ein Stück Zimmerdecke am Fußende meiner Liege wurde durch die Laterne auf der Straße aus der Dunkelheit gerissen. Ein Schatten wie der einer Spinne (Arachnophobia, Frank Marshall, USA 1992.) Jeden einzelnen meiner 756 Filme. Scheiß Null-Wissen. Weiße Wände, leer und ohne Schmuck, ohne Firlefanz. Wie im Krankenhaus, dachte ich, in der Station für Neugeborene.
Flashback: Im fahlen, blauen Mondlicht schimmerte das Blut an meinen Handgelenken schwarz. Immer wieder fiel ich auf den Rücken, zog mich an den Ästen von Tannen wieder hoch, kroch über die Gräber, taumelte zwischen Grabsteinen hindurch und versuchte, den Schmerz an meinen Armen zu ignorieren.
Dann schloss ich die Augen und schlief ein, träumte von Hamburg und einem Berg Videokassetten, träumte davon, den Nachtzug zu verpassen, unter einer dicken Schicht Eis im Wasser zu treiben und nach Luft zu schnappen, und immer wieder tauchte die Holzkiste am Fußende meines Bettes auf.
Wenn ich längs geschnitten hätte statt quer? Ganz sicher hätte es dann nicht einfach nur wehgetan. Schließlich konnte ich anhand eines beliebigen Zwei-Sekunden-Ausschnitts jeden einzelnen meiner 756 Filme, die auf etwa 370 Videokassetten gespeichert an meiner Wand gestapelt waren, zweifelsfrei identifizieren.
Mein Filmwissen nützte mir nichts, absolut nichts, kein einziger von 756 verfickten Filmen half mir, kein einziger. Null-Wissen. Unnütz wie ein Blinddarm. Markus und ich, ich und Markus. Er machte mich wahnsinnig. Der Gefangene von Alcatraz. Und sein Wärter. 756 Filme und Tausende Filmszenen hätten zu irgendetwas nützen sollen. Null-Wissen. Blinddarm. Alles Scheiße.
»Traditions!« Svante hüpfte auf dem Weg zum Bus um uns herum. Der Morgen war grau und kalt, ich fröstelte. Meine Augen brannten, ich fühlte mich wie gerädert. Was machte ich hier? War das Leben nicht scheiße? Und ich war nur Praktikant. Warum hatte noch niemand Action gerufen? Lewis rückte seine Krawatte zurecht. »Seh’ ich gut aus? Seh’ ich gut aus?«
»Was ist das da am Kinn?«, war alles, was mir einfiel. Welche Rolle spielte er? Lewis blieb stehen, fasste sich ans Gesicht und erstarrte.
Svante rannte »Rasieren« rufend die letzten Meter zur Haltestelle. Jeremy und ich sahen Lewis achselzuckend an. »Und dann zu spät kommen«, sagte ich.
»Rasieren muss ich mich doch nicht...«, sagte Lewis. Wir stellten uns neben den Schweden. »...ist was für Spießer«, ergänzte dieser. In der Ferne tauchten die Scheinwerfer des Busses auf. Ich setzte mich auf einen freien Platz, schaltete meinen Walkman ein und starrte in den trüben Morgen. Es war halb neun. Ich gähnte und freute mich auf Supertramp und das Verbrechen des Jahrhunderts als Soundtrack zum Film. Der Bus machte eine Tour über die Dörfer und hielt an der RER-Station.
Mit uns stieg der Typ vom Vortag aus, und wieder hatte er ein weißes Kaninchen im Arm. Ich wollte ihm etwas hinterher rufen, doch da war er bereits verschwunden. Svante und Lewis zogen mich zu einem gelben Bus unter den grauen Dächern der Haltestelle.
Die Disney University war ein kleiner Bau neben dem Hotel Cheyenne. Svante erzählte von Seminarräumen und einem Schulungsraum für Computer. Woher wusste er das? Hinter den Automatiktüren roch es nach Kaffee und Croissants. Nichts von dem, was ich sah, war echt, alles Plastik und Kulisse. Ich war nicht wirklich hier, in dieser künstlichen Welt, in der jeder Tisch an seinem Platz stand, jedes Schild an der richtigen Stelle klebte und jeder Mensch eine Aufgabe hatte. Die Wolken blau, die Bäume grün, mit einem scharfen, flimmernden Rand wie X-Wing-Fighter vor dem Bluescreen. Alles Trick, Kulisse, nicht echt.
Wir bekamen unsere Namensschilder ausgehändigt. Sven auf Plastik, darüber der Turm vom Märchenschloss mit der Narrenkappe. Um uns herum etwa dreißig junge Leute und mindestens zehn europäische Sprachen. Der Kakao im Pappbecher verbrannte mir die Lippen. Er war zu süß, um echt zu sein, und das Croissant roch zu sehr nach Croissant.
An den Wänden hingen Glaskästen, in denen Poster von BuenaVista-Produktionen, Videokassetten von Disneyfilmen und Baseballkappen mit dem Logo der Mighty Ducks (Mighty Ducks, das Superteam, Stephen Herek, 1992) ausgestellt waren. Requisiten für meinen Film, und ich war was war ich? Komparse? Sollte ich Action rufen?
Ich war nicht der Regisseur, nur der Regisseur konnte Action rufen, ich war nur Praktikant, nur ein fettes, wichsendes Schwein. Neben Lewis tauchte in Anzug und Krawatte ein Mann auf. Was er sagte ging im Lärm unter. Lewis folgte erschrocken dreinblickend dem Mann.
»Seine Hose war zerknittert«, sagte Jeremy.
Svante biss in sein drittes Croissant. »...oder seine Schuhe nicht geputzt!« Ich trank noch einen Kakao. Kurz vor neun tauchte Lewis wieder auf. Sein Gesicht glatt wie ein Babypopo.
»Rasieren oder nach Hause fahren, hat er gesagt. Fuck, zehn Francs hat mich das Rasierzeug gekostet«, schimpfte er auf dem Weg in den Seminarraum. Unser Trainer hieß Richard, war Engländer und nicht ganz dicht.
»Wir sind alle verrückt.« Er ging von links nach rechts und zurück. »Will jemand eine Tasse Tee?«
»Jederzeit«, rief Svante und hob die Hand.
»Nicht vor den Gästen«, erwiderte Richard in seiner perfekt einstudierten Rolle. Wann rief jemand Cut? Mit der ganzen Hand zeigte er auf Svante, bis dieser verlegen zu Boden blickte. Dann griff er nach drei Kollegen der ersten Reihe und zerrte sie vor die Tafel. Ausziehen. Jetzt alle ausziehen und dann fickt euch gegenseitig. Als Aufnahmeprüfung. Nur wenn wir uns richtig durchfickten, durften wir hier arbeiten.
»Gäste«, sagte Richard und richtete die drei mit einem Schlag in den Rücken auf, »sind unser ein und alles. Und warum sind sie das?«
Die Kollegen an der Tafel sahen sich ratlos an.
Lewis sprang auf. »Weil sie Geld bringen?«
»Setzen.« Richard wies auf seinen frei gewordenen Stuhl. Lewis senkte den Kopf.
»Das ist ja richtig«, munterte ihn unser Trainer gleich wieder auf. »Aber sagen dürfen wir so etwas nicht.«
Für sein anschließendes »Fuck!« bekam Lewis einen bösen Blick.
»Und das sagen wir auch nicht vor den Gästen.« Richard hob Zeigefinger und Augenbrauen. »Nur Backstage.«
»Merk ich mir«, sagte Lewis, ballte die Fäuste und murmelte: »Nur Backstage.«
Backstage. Back to Nature, mein Lieblingsporno. Viele Arschfickszenen und immer von hinten.
»So. Und jetzt das erste Quiz.«
»Au, fein. Quiz«, rief Svante. Ein Murmeln ging durch die Menge. Neben mir sagte jemand »Quel con.« Alle schienen begeistert.
»Wann...«, begann Richard, »... kam Dagobert Duck zu seiner ersten Milliarde?«
Ein Raunen ging durch die Reihen. Eine Hand hob sich.
»Kurz nach dem Bau von Disneyland Anaheim?«, fragte jemand mit südeuropäischem Akzent. Andrews Arm streckte sich, seine Hand wies in Richtung des Antwortgebers.
»Rrrrrrrichtig!«, rief er.
Svante klatschte begeistert in die Hände. »So habe ich mir das gewünscht.« Dann wurden wir gefragt, wann Disneyworld Florida errichtet, wann Disneyland Tokyo seine Pforten geöffnet und gegen welche Widerstände man Disneyland Paris gebaut hatte. Kurz nachdem Jeremy neben mir zu schnarchen begonnen hatte, wurden wir in die Mittagspause entlassen. Erinnerungen wie Geisterbilder tanzten vor meinen Augen. Alles war voller Titten, voller gespreizter Schenkel, voller Sperma und steifen Schwänzen. Wann hörte das auf? Wann konnte ich das Band zurück spulen und neu bespielen?
Man karrte uns in einem gelben Bus in den Bereich hinter dem Park, in dem ich das Housing gefunden hatte. Bus, Schulbus (Nightmare on Elm Street II, Jack Sholder, USA 1985).
Richard verteilte an der Bustür gelbe Plastikkarten. »Damit könnt ihr in der Kantine essen. 18 Francs steuert Disney dazu, alles andere bezahlt ihr zur Hälfte. Das wird sich aber bald ändern.«
Es war das Paradies. Salate, Steaks mit Pommes, Schokoladenpudding und Reisgerichte, Couscous und Tomatensauce, Pizza und Schnitzel, Joghurts und Früchte, Fisch und Kartoffeln, und ich brauchte nur zu wählen. Nicht wie in Hamburg. Assoziationen waren der Bandsalat, hinderten mich daran, den Counter auf null zu stellen. Hamburg, Titten, gespreizte Schenkel, der Konjunktiv, die Matratze.
»Ich muss nicht einmal den Abwasch machen«, sagte ich zu Jeremy. Dieser drehte sich nach einer jungen Dame im engen Mieder um. Sie hätte Pirat sein können. Und wo war Kapitän Hook? Die verlorenen Jungs? Tinkerbell? Hinter dem Mieder dicke Titten. Scheiß Konditionierung.
Nach dem Mittag landeten wir wieder bei Richard. Er ließ uns die Schuhe ausziehen und auf die Stühle steigen. Misstrauisch beäugte er unsere Füße. Ich schämte mich nicht wegen meiner weißen Sportsocken, aber die junge Dame neben mir, auf ihrem Namensschild stand Marijke, versuchte vergeblich, ihre Ottifantenstrümpfe zu bedecken.
»Das ist nicht Micky Maus«, sagte Richard und fixierte Marijke aus Augen, die zu Schlitzen wurden.
»Nein, das sind... «, sagte sie noch. Im Raum wurde es still, die Vögel verstummten, der Dschungel erstarrte. Ka, die Schlange, zeigte ihr wahres Gesicht. In Richard Augen drehten sich auf einmal Spiralen. Marijke erstarrte.
»Und jetzt sprich mir nach«, sagte Richard.
»...nach«, murmelte Marijke.
»Es gibt für mich nur noch die Maus...«
»...die Maus... «
»Maus!«
»Maus!«
»Mausmausmaus!«
»Ausausausaus!«
Richard drehte sich weg. »Gut«, sagte er, nahm einen Boardmarker und schrieb ›Synergie‹ an die Tafel. Neben mir hörte ich Marijke murmeln.
»Mausmausmaus...«
»Alles klar?«, flüsterte ich und schubste sie mit dem Ellenbogen an. Sie hatte lange, blonde Haare, ein hübsches Gesicht und trockene Lippen.
»Alles klar«, sagte sie laut und kassierte dafür einen strafenden Blick von Richard. »Mir geht’s mausgezeichnet.«
»Und jetzt«, sagte Richard, »singen wir gemeinsam. Ich beginne, lasst währenddessen die Zettel mit den Texten herumgehen«
»Ich hab es gewusst.« Jeremy stöhnte. »Die können nicht ohne zu singen.«
Ich beugte mich zu ihm herüber und flüsterte: »Oh, du liebe Zeit, wenn die hier alle so sind, hoffentlich werde ich dann nicht auch noch verrückt!« Richard räusperte sich, wir verstummten.
»Kennst du das Disneyland«, begann unser Trainer mit Blick auf das Papier. »Als Kind hast du es doch gekannt, über den Bergen dort im Tal gibt’s Wunder ohne Zahl. Die Wolken ziehen mit, und Sonne, Mond und Stern zu dritt ins Eurodisney, das keiner sieht...« Jetzt stockte er, sah uns verdutzt an, starrte auf den Zettel, wendete ihn und forderte uns hastig auf, die Zettel zurückzugeben.
»Das ist alt«, sagte er. »Das ist... das stammt aus der Zeit, als wir noch Verluste... als nicht so viele Gäste... da hießen wir noch Eurodisney... aber das ist... «
Er blätterte durch einen Stapel Dokumente und holte dann einen weiteren Packen Kopien hervor. »So, das sind die richtigen...«
Er vergewisserte sich noch einmal und schmetterte uns dann entgegen:
»Santa Fe und das Cheyenne
haben beide tausend Betten
Wo ich sehr gerne penn’,
darauf möcht’ ich wetten.«
Dann gibt es auch noch die Sequoia
Lodge, dazu die Davy Crockett Ranch,
im Disneyland Hotel wird’s teuer,
bleib doch im Newport Bay Club, Mensch.
Und jetzt der Refrain, alle aufgepasst!
Im Disneyland Paris
Da geht es uns nicht mies,
Dem Gast zu dienen ist das Ziel
Doch Geld bekommen wir nicht viel.«
Richard machte eine Pause, sah uns an. »Wollt ihr noch die dritte und vierte Strophe hören oder erst einmal singen?«
Für einen Augenblick tuschelte jeder mit jedem und ich hörte Satzfetzen heraus wie »... total bekloppt...« und »... Scientology...«. Richard rief zweimal zur Ruhe. »Ihr bringt nicht genug Ernst für die Geschichtsstunde auf. Und nun singt. Santa Fe und das Cheyenne...«
Erschöpft gingen wir am Ende des Tages nach Hause. Lewis fragte, ob ich auf eine Tasse Tee vorbeischauen wollte. Müde sagte ich ab. Ich konnte meine Augen kaum noch aufhalten. Außerdem fürchtete ich die Fragen, und mir fiel nichts ein, was ich hätte erzählen können.
»Machst du dir nichts mehr aus Tee?«
»Ich liebe Tee«, sagte ich. Svante rollte mit den Augen. »Wenn du dir nichts aus Tee machst, dann mach wenigstens Konversation.«
Ich lachte und ging. Hinter mir hörte ich Svante rufen. »Warum ist der Kopf dicker als der Hals?«
Im Bett starrte ich zur Decke, vermisste eine Sekunde lang die Sterne an der Decke, die Holzkiste, hörte Stühlerücken, tastete nach den Narben an meinen Armen und schlief ein.
In dieser Nacht träumte ich davon, in Hamburg aufzuwachen, nach meinen Videokassetten zu greifen, nach der Fernbedienung, die links von mir auf dem Boden lag, nach den Pornoheften. Fettes, wichsendes Schwein, mit Pickeln und stumpfer Haut.
In Serris, neben Jeremy aufgewacht, richtete ich mich schweißbedeckt in meinem Bett auf und starrte so lange in die Dunkelheit, bis sich meine Augen an das trübe Licht, das von der Laterne vor dem Haus durch die Balkontür fiel, gewöhnt hatten.
»Kein Hamburg mehr«, flüsterte ich. »Kein Null-Wissen.« Nachdem ich die Augen geschlossen hatte, lief etwas Feuchtes an meinem Gesicht hinunter. Ich schwebte über der Matratze, hörte Markus in der Küche singen und wünschte mir, ich hätte längs geschnitten statt quer.
Das Band zurückspulen und einen neuen Film aufnehmen. Counter auf null.
Flashback:
Ich hatte das Kino verlassen wollen, gewünscht, es würde alles aufhören, schnell schwarz werden und bleiben. Aber man verblutet nicht, wenn man die Haut an den Handgelenken nur quer ritzt. Dann tut das Leben nur noch mehr weh.
Der Regen schläferte mich ein, das Knacken der Gasheizung war mein Rhythmus: Tick... tick... tick... nur zehn Mal die Minute.
Stillstand ist der Tod.
Ohne zu klopfen öffnete Markus meine Zimmertür, ich murmelte müde ein Herein und versteckte die verbundenen Handgelenke. Was er mir auf den Schreibtisch legte, war die Januarausgabe der Prinz.
Zwei oder drei Mal las ich die Anzeige. Die Buchstaben taumelten zusammenhanglos durch meine Synapsen und verloren sich in der Leere. War es so offensichtlich gewesen? Mister 756 Filme? Mister Null-Wissen. Mister Blinddarm. Schreib die Bewerbung für das Disneyland Paris. Ein Amokläufer schießt um sich, und die Menschen im Film ducken sich ganz automatisch.
Ich war vierundzwanzig. Ich duckte mich einfach. Ein Reflex. Keine Ahnung warum. Ende Februar, nach den Interviews und dem Vertrag, stand ich vor dem Spiegel in meinem Bad, die bandagierten Hände auf das Waschbecken gestützt, den Blick auf den Wasserhahn gerichtet. Zäh bildete sich ein Tropfen, löste sich und schwebte langsam nach unten, bis er auf der weißen Keramik des Waschbeckens zerplatzte.
Ich zog eine lange Strähne nach vorne vor meine Augen und schnitt sie ab. Wieder bildete sich ein glitzernder Tropfen am Wasserhahn, löste sich und schwebte träge in das Waschbecken zwischen meine Haare.
Das Interview war lächerlich einfach gewesen: ich hatte einen Satz auf Französisch hervorgestottert und die Schwäche mit meinem Englisch wieder ausgebügelt. Zwei Tage später wurde ich angerufen und beglückwünscht. Kurz darauf hatte der Vertrag in meinem Briefkasten gelegen.
Schwitzend wachte ich in Serris wieder auf. Erst als ich sicher war, nicht mehr in Hamburg zu sein, ohne eine Kiste am Fußende meines Bettes, erst dann beruhigte sich mein Atem, konnte ich mich auf den Rücken legen, Jeremys leisem Schnarchen lauschen und wieder einschlafen.
Counter auf null.
Der gelbe Bus aus dem Cheyenne spuckte uns kurz vor Mittag am Bahnhof aus. Wir sollten uns die Zeit nehmen, bis zum Ende zu bleiben, hatte Richard gesagt, uns die Karten in die Hand gedrückt und Gutscheine für das Mittag gegeben. Damit wir auch ja alle verrückt werden, hatte Jeremy geflüstert und weiter über den Zwangsbesuch des Parks gespottet.
»Toon Town«, sagte er. »Ich hasse Toon Town.«
»Wer bist du?«, fragte ich. »Eddie Valiant?«
»Wer ist Eddie Valiant?« Die Engländerin Carol hatte sich uns am Ende der Traditions angeschlossen. Ihre Lippen waren tiefrot angemalt, die Augen starrten vor Mascara – die schwarzweiße Betty Boop rot angemalt. Ihr Gesicht war eines der Gesichter, die in der Menge nie auffielen.
»Eine Filmfigur«, sagte ich. »Aus einem Disneyfilm.«
Zwei Tage hatten mich nicht auf das vorbereiten können, was hinter der RER-Station kam. Der mahnende Finger des Turmes mit der Narrenkappe ragte vor uns in den Himmel, Musik plätscherte dahin wie ein dünnes Rinnsal. Ich war wieder zurück im Zug, im Tunnel. Es wurde hell, ich schlug die Augen auf, machte einen neuen Schritt. Der erste große Schritt, der Kaninchenbau, der Fall in Richtung Erdmittelpunkt.
Kein unbemerkter Rollentausch, kein Wechsel des Bandes. Erst zwei parallellaufende Filme, Split-Screen, wie bei Carrie (Brian de Palma, USA 1976). Und dann eine ganz sanfte Überblendung.
Je näher wir dem Eingang kamen, umso tiefer fiel ich. 756 Schritte, 756 verfickte Filme, kein einziger, Null-Wissen. Blinddarm, Kerzen, Gurken und Karotten, Filmakademie Baden-Württemberg, den Lichtschacht im Haus hinunter vor eine U-Bahn, mit einem kurzen Schritt, mit jedem Schritt wurde die Musik lauter.
Ich kannte die Musik, kannte den Ragtime aus alten Filmen, aus alten Hollywoodfilmen, aus Zeichentrickfilmen, aus einer anderen Welt, aus der Welt hinter dem Bildschirm mit Titten, Ärschen, Schwänzen, Pornofilmen, ficken, in die Fresse schlagen, fettes, wichsendes Schwein, Rasierklinge und Friedhof mit dem Kirchturm hinter dem rosa Gebäude, das vor uns aufragte, davor ein großer Brunnen, viele kahle aber penibel getrimmte Bäume, der Regen wehte in Schleiern über den Vorplatz, verwehte Musik, verwehte 756 ve ckte Fi en, kein e iger, Null-W sen, Blin rm, K r en, Gurk n und.Kar ten, F mie B temberg, den Li cht im Hau hi ter U-B , Är che, S änze, Porno e, fic en, i ie Fress agen, fett wichs des S ein, Ras klin e u d F dhof mit Kreuzen auf der rechten Seite, Drehkreuze für unsere Magnetkarten. Eine hübsche junge Dame half mir mit der Magnetkarte. Mit meiner Karte.
Die Musik wurde wieder lauter. Der Regen ließ nach. Eddie Valiant, der es in Toon Town hasste, verpasste eine Menge. Er verpasste bunte Fassaden und Musik von Trompeten, Posaunen und Klarinetten. Verpasste die andere Seite, die Seite hinter dem Bildschirm, hinter der Leinwand, Kinder mit Ballons in der Hand, mit Zuckerwatte und Cowboyhüten. Hinter den Drehkreuzen ein Vorplatz.
Bahngleise auf einer Brücke trennten uns vom Ursprung der Musik. Meine Füße auf bunten Steinen. Meine Finger klebten. Ein Herzschlag wie kochender Haferschleim. Über uns die Eisenbahn. Der Zug pfiff, eine Glocke läutete, die nächste Bahn zum Frontierland, wo auch immer das lag, wurde angesagt. So laut wurde die Musik, dass ich kaum noch etwas anderes hörte. ckte Fi en, kein e Null-W Bl n rm, K Gurk n ten, F tembe , d Li ch H hi ter U-B , Är c . Die Luft roch nach Zuckerwatte, Honig und Zimt, nach Erdbeeren, Kirsche, Schlagsahne und Schokolade.
Vor uns öffnete sich ein weiter, kreisrunder Platz mit einem Pavillon in der Mitte. Um die Insel mit dem Pavillon rumpelte eine Straßenbahn aus den Zwanzigerjahren. Auf dem Platz gaben Balou und Pluto Autogramme. Comicfiguren gaben Autogramme. Mein Fallschirm öffnete sich und ich fand mich ganz unten am Anfang wieder. Ich schüttelte den Kopf, versuchte das Kribbeln abzuwerfen, schluckte die Pille, nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, leckte am Morchel. Null-W Bl n rm, K Gurk n ten, F tembe , d Li ch H hi ter U-B , r c Null-W ten, F H hi ter U-B , r c Null-.
Aufnahmebereit.
Ich breitete die Arme aus. Jemand spielte Klavier, die Band wechselte das Tempo. In den zweistöckigen Häusern am Central Plaza gab es einen Zahnarzt, einen Photoshop, Candystores und das Depot der Straßenbahn, Souvenirläden und Arkaden hinter rosa Fassaden.
Kinder rannten über die Main Street auf den Central Plaza, um sich von Goofy ein Autogramm geben zu lassen, Pluto zu umarmen und Balou zu kitzeln. Ich holte uns an der Information im Rathaus eine Landkarte. Hinter uns, am Eingang zum Park, lag laut Karte das Disneylandhotel, der war Rest Terra Incognita, bereit, entdeckt zu werden. Im Frontierland gab es das Phantom Manor und im Discoveryland den Space Mountain. Irgendwo im Schloss würde ich den Drachen finden, im Fantasyland die böse Königin, und Piraten trieben ebenfalls ihr Unwesen.
»Los jetzt«, rief ich den anderen zu. »Nicht so langsam.«
»Bindet ihn fest«, sagte Jeremy. »Sonst rennt er mit der Karte weg.«
»Dann folgt mir«, entgegnete ich, klappte den Kragen meiner Lederjacke hoch und schwang die rechte Hand durch die Luft. »Der Kutscher kennt den Weg. Hüah!«
»Wie alt ist er?«, fragte Carol, als ich voranging, mich immer wieder umdrehte und wartete. Wovon sprach sie? Weiter voran, durch die Neue Welt. In der Main Street schlug uns noch feiner Nieselregen entgegen, im Frontierland hörte er auf. Ich stürmte in das Phantom Manor und versteckte mich vor den Geistern, den Skeletten und Totengräbern. Wieder im Freien rissen die Wolken auf. Der Turm des Märchenschlosses blinkte in der Ferne in einem einsamen Sonnenstrahl auf wie die vergoldete Spitze einer Kirche.
»Da ist er!«, rief ein kleines Kind, lief an uns vorbei zur Comicfigur, die vor der Anlegestelle für die Riverboats Autogramme gab. Micky breitete die Arme aus. Kinder und Erwachsene mit Ballons in den Händen zückten kleine Autogrammbücher mit vielen weißen Seiten. Eines der Kinder trat nach Micky.
»Kreuzigt ihn!«, rief Lewis, Svante fügte hinzu »Kill your idols!«
»...denn sie wissen nicht, was sie tun«, sagte Jeremy. Ich bekam meine Unterschrift auf dem Plan des Parks.
Musik begleitete uns auf Schritt und Tritt, jedes der fünf Länder hatte sein eigenes Thema, jede Attraktion eine Melodie. Beton sah wie Fels aus, wie Holz, wie Ziegelsteine. Plastik ähnelte Metall, flatternder Stoff zusammen mit Licht brennendem Feuer.
»Mund zu.« Carol drückte meinen Unterkiefer hoch. »Wo hast du gelebt, die letzten Monate, im Keller?«
»Auf Alcatraz.«
»Unser Sven«, sagte Svante. »Der kann staunen.«
Staunen. Ich konnte mehr als das. Ich drang in die Stadt ein. Mein Degen schlackerte beruhigend an meiner Hüfte. Die rechte Hand am Heft ging ich hinter einer Mauer in Deckung und hörte die Piraten singen. Sie sangen von Gold und Frauen und anderen Dingen, die ich nicht verstand. Das Licht der Fackeln zuckte über die groben Steine im Inneren der Festung.
Vorsichtig schlich ich an den Männern vorbei und versteckte mich hinter einem Weinfass. Eine Katze strich zwischen meinen Beinen herum, erschrak durch das plötzliche Johlen betrunkener Plünderer. Von Ferne drang das Prasseln der brennenden Häuser zu mir herüber. Es roch nach Rauch und Meersalz, nach Fisch und Moder.
In einem günstigen Augenblick sprang ich in ein vorbeifahrendes Boot und wischte mir erleichtert über die Stirn. Das war knapp. Es wurde Zeit für mich, in die Mine zu gehen.
Ich schulterte die Spitzhacke und stellte mich in die Reihe. Meine Hand glitt über das glatte Holz des Geländers. Während ich auf die nächste Bahn wartete, sah ich an den dunklen Holzpfosten hinauf. Unter einer rußgeschwärzten Decke hingen Pfannen und Schaufeln, jemand spielte auf seinem Banjo.
Dann kam die Bahn und raste mit mir durch die Goldmine. Mit ausgestreckten Händen schrie ich, bis ich mir fast der Hut von den Fledermäusen herunter gerissen wurde.
Schnell, schnell, noch zu Schneewittchen und den sieben Zwergen, gucken, wie die Hexe mit dem Apfel lockt, rasch zu Kapitän Hook auf sein Piratenschiff, danach in die Höhle zum Schatz, bevor es hinauf geht auf das Baumhaus der Familie Robinson, wo ich am liebsten einziehen würde.
Im Märchenschloss stand ich staunend vor den Regalen des Souvenirladens, der das ganze Jahr über Weihnachtsartikel verkaufte, lief überdreht durch Korridore und über Treppen, Svante und Lewis auf meinen Fersen, und wich ängstlich vor dem Drachen in der Höhle zurück.
Zwischen Kristall und Glas in Merlins Laden suchte ich mein Spiegelbild, doch ich erkannte mich nicht zwischen all den Kindern. Dann erreichte mich Lewis.
»Los jetzt, kleiner Mann, wir wollen gehen«, keuchte er. Ich schnappte nach Atem und lachte ihn aus, lachte hell und von ganz tief unten. Svante stellte sich neben ihn. »Ja, gehen wir«, hechelte auch er.
»Hatten wir nicht von Martin den Auftrag bekommen, bis um sechs Uhr im Park zu bleiben und uns alles anzusehen?«, fragte ich vorsichtig nach. Ich hatte das weiße Kaninchen noch nicht gefunden. Svante packte mich wieder am Kragen. Er roch nach der Pizza, die wir in Buzz Lightyear’s Pizza Planet gegessen hatten.
»Auftrag? Bin ich James Bond? Die Königin will deinen Kopf!«
»Nicht schlagen«, flehte ich und strich meinen Kragen glatt, als er mich losließ.
»Rrrichtig«, stimmte Lewis an. »Ich glaube, da warten zwei Dutzend Kronenbourg im Kühlschrank.«
»Aber ich will zum weißen Kaninchen...«
Lewis schüttelte den Kopf. »Wohin?«
»Zum Kaninchen, das muss hier irgendwo sein.«
»Unsinn«, sagte Svante, Jeremy sah mich an, als käme ich vom Mars. Lewis aber flüsterte mir ins Ohr: »Jedenfalls, wenn ich das weiße Kaninchen suchen würde, würde ich den verrückten Hutmacher suchen, oder den Märzhasen.«
»Lewis«, sagte Carol, hakte mich wortlos unter und zog mich zum Ausgang. »Red’ nicht so’n verrücktes Zeug.«
Lewis grinste breit und rollte mit den Augen. »Die meisten von uns sind verrückt, oder hast du nicht gemerkt, dass ich sie nicht alle beisammen habe, mein Liebling?«
Ich hätte mich wehren können, mich mit Händen und Füßen gegen die Entführung aus dem Paradies stemmen können, doch der Gruppenzwang war stärker. Später bei Svante und Lewis im Zimmer mit Spielkarten in der Hand redete ich wie ein Wasserfall vom Park, erzählte von den Zwergen, davon, wie ich bei den Piraten im Boot gesessen hatte. Die anderen sahen mich grinsend an. Lewis und Svante wollten wieder singen. Woher kannten sie nur die Lieder?
»Ein Veilchen auf der Wiese stand... das Gänseblümchen Duett. Kinder, wir singen jetzt: das goldene Abendsternchen. Das gefällt allen gut.«
Ich trank drei Becher Tee.
»Hör auf, an deinen Fingern zu knibbeln, setz die Füße gerade, und sprich mir nach«, bölkte Lewis. Ich versteckte meine Hände hinter dem Rücken. Carol sah mich ernst an.
»Woher kommst du denn und wo willst du hin?«, fragte Svante.
»Ich suche meinen Weg«, antwortete ich. Das überzeugte. Sie ließen mich in Ruhe.
Gegen zehn Uhr wurde ich müde und verabschiedete mich höflich. In der Nacht träumte ich von Carol, die mich nach ihrem Namen fragte, aber jeder Name, den ich ihr gab, war der falsche. Dabei hüpfte sie um mich herum, lief durch das Fantasyland, bis wir beide an der Bahnstation Chessy standen und ich mich von zwei alten Schulfreunden verabschiedete, deren Namen mir nicht einfallen wollten.
Der nächste Tag fing früh an und gab mir kaum Zeit, meine Gedanken zu sammeln, ehe mich die englische Bande in den Bus schleppte. Obwohl ich meinen Walkman anstellte, hörten Svante und Lewis nicht auf zu reden, schubsten mich immer wieder an und lachten und hüpften im leeren Bus, der sich auf dem Weg zum Bahnhof füllte.
»Wo müssen wir hin?«, fragte Lewis, und Svante sagte »Du ins Hotel New York und Jeremy ins Cheyenne...«
»Und ich in den Newport Bay Club...«, seufzte Carol.
Svante erzählte die Geschichte vom Seemann und der Auster, die ich nicht verstand.
»Was ist mit dir?«, fragte Jeremy. »Fährst du auch erst einmal ins Hotel?«
Seufzend nahm ich die Kopfhörer ab. »Wie man mir gesagt hat.«
Jeremy klopfte mir wieder auf die Schulter und zwinkerte mir zu. »Wir sehen uns heute Abend.«
Svante stand mit mir ein paar Minuten später an der Rezeption. Er sprach für mich, und dafür war ich dankbar. Zwei Cowboys schmetterten ihr Lied in die schlichte, weiß gekalkte Eingangshalle. Kein Teppich, nur glatter, glänzender Estrich, viel Gedränge und Kindergeschrei.
Gäste standen in einer Warteschlange an der Rezeption, ungeduldig und mit hochroten Gesichtern. Dazwischen versuchten die Cowboys, der eine mit einer Mundharmonika, der andere mit einer Gitarre, die Gäste mit dem Gesang zu betäuben.
»Ayayay caramba«, sangen sie und »Rawhide, hey ho...«
Eine blonde Kollegin, das Plastik an der Brust lautete auf Christine, führte uns durch zwei Türen in den Raum hinter der Rezeption. Dort ließ sie uns stehen. Neonlicht erhellte den Raum, zu dem es nur zwei kleine, hoch angebrachte Fenster gab.
Computer summten, neben mir sah uns ein blonder junger Mann an einem Kopierer neugierig an. An den Wänden hingen Filmposter, in der Mitte des Raumes waren vier große Tische zu einer einzigen Fläche zusammengeschoben, darauf standen grüne Holzkisten.
Rechts neben mir führte eine Schwingtür nach draußen zur Mitarbeiterseite der Rezeption, daneben zwei Tische mit Computern, dahinter eine blonde Frau, deutlich älter als alle Castmember, die ich bisher gesehen hatte. Sie sah uns verkniffen über den Rand einer dünnen Brille an.
Ein gutaussehender Typ Ende zwanzig, schwarze Haare, blendendes Lächeln, kam durch die Schwingtür. Seine Kleidung hob sich durch Farbe und Form von der ab, die alle anderen trugen. Er stellte sich als Brian aus Coventry vor, einer von fünf Teamleadern an der Rezeption. Svante und ich sagten ihm unsere Namen.
»Aaaah, deutsch«, dröhnte Brian. »Wir brauchen Deutsche hier. Zu viele deutsche Gäste und zu wenig Castmember, die deutsch sprechen.« Er hielt einen vorbeilaufenden Kollegen am Hemd fest und schickte ihn mit uns in die Kleiderkammer, damit wir uns umziehen konnten.
Bei unserer Rückkehr steckten meine Füße in den neuen schwarzen Schuhen. Nie zuvor hatte ich schwarze Schuhe getragen. Die rote Hose hing bis über die Knöchel und bedeckte meine weißen Sportsocken, das rotgelbgrüne Hemd tat in den Augen weh.
»Heil, mein Fuhrer!« Brian hielt sich den rechten Zeigefinger unter die Nase. »Hatten die keinen Ledermantel und Stahlhelm für dich?«
»Ist der Krieg nicht schon vorbei?«, fragte ich
»Jawohl«, sagte er, »mein Fuhrer.«
Ich versuchte zu lächeln. »Ich bin unschuldig, das nennt sich die Gnade der späten Geburt.«
»Von wegen. Geh mal raus und besetz’ Frankreich, Pardon, die Rezeption.«
»Brian, eines möchte ich zu Beginn unserer Beziehung sagen: wir Deutschen haben nicht nur den Zweiten Weltkrieg angezettelt, sondern sind auch für die letzte Eiszeit verantwortlich. Und für den 22.11.1963 haben die wenigsten ein Alibi.«
Brian begann schallend zu lachen. Er sah noch besser aus, wenn er lachte. »Achtung Blitzkrieg!«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Wir werden viel Spaß haben. Ihr habt ab Montag das allseits beliebte HIS-Training, bis dahin solltet ihr euch ansehen, was wir an der Rezeption so machen.«
Ich verbrachte die nächsten fünf Stunden hinter einem Tisch mitten in der Lobby, an dem jeder Gast, der ein Zimmer reserviert hatte, auf dem Weg zur Rezeption vorbeikam. Das sei der Welcome Desk, erklärte Brian. Der Spanier, dem ich über die Schulter sah, redete unaufhörlich, drehte sich ab und zu um und reichte große weiße Umschläge über den Tisch.
Gäste gaben uns dafür bedruckte Zettel, meist aus einem kleinen Heft herausgerissen. Nach zwei Stunden erklärte mir der Spanier, um was es sich bei diesen Zetteln handelte, zwei weitere Stunden später verstand ich ihn endlich.
Dann nahm auch ich die Gutscheine für die Hotelzimmer entgegen, klammerte sie mit einer Heftmaschine an ein Formular, das die Gäste auszufüllen und an der Rezeption abzugeben hatten. Manchmal fanden wir keine Umschläge, dann verschwand der Spanier, redete aufgeregt mit einer Kollegin hinter der Rezeption und kam meist lächelnd, manchmal kopfschüttelnd und häufig mit einem gestressten Grinsen zurück und redete mit den Gästen.
Wenn ich fragte, was er da täte, übergoss er mich mit einem Schwall spanisch eingefärbten Französisch, lachte dabei, fuchtelte mit den Händen, und ich kratzte mich verlegen am Kopf. In Gedanken jedoch war ich den ganzen Tag im Park, fuhr bei den Piraten mit und kletterte auf den Turm des Märchenschlosses.
»Hey.« Svante klopfte in der Mittagspause in der Kantine des Hotels auf seine Armbanduhr. »Die alte Kartoffel geht zwei Tage nach.«
»Bitte, keine Verrücktheiten mehr.« Ich stellte mein Tablett auf dem Tisch ab. »Wahrhaftig, wenn ich nach Hause komme, drehe ich einen Film über das Ganze.«
Svante sah von seiner Uhr auf. »Tritt nicht auf die Mommratzen.«
Ich sprang zurück. »Was?«
»Eile mit Weile.« Der Schwede grinste. Ich atmete durch, setzte mich und begann zu essen. »Nun sag mir schon, was dich deprimiert.«
»Ich verstehe kein Wort«, erwiderte ich und schaufelte Reis in meinen Mund.
»Das gibt sich.« Svante drückte an einem Pickel an der Nase herum, quetschte erfolgreich etwas Gelbes auf seinen Nagel, hob die Augenbrauen und wischte sich die Hand an seiner roten Hose ab.
»Immerhin weiß ich jetzt, dass wir Plastikkarten als Zimmerschlüssel haben.«
Er lehnte sich zu mir hinüber und flüsterte verschwörerisch: »Aber weißt du auch, wie die funktionieren?«
Ich verzog das Gesicht. »Morgen vielleicht.«
Svante lehnte sich zurück, legte die Hände auf seinen Bauch und seufzte. »Zu viel Bier.«
»Was, gestern?«
»Die letzten drei Jahre.« Seine Augen funkelten. »Oder glaubst du, einen solchen Bauch bekommt man über Nacht?«
»Kommst du nach der Arbeit mit in den Park?«
»Du träumst. Der macht um sechs Uhr zu, mein Lieber.«
Sechs Uhr. Plötzlich fühlte ich mich müde. Am Tagesende verstaute ich mein Kostüm in einer rosa Hülle, gab es beim Costuming ab und entdeckte hinter einem Tresen das weiße Kaninchen. Es hockte auf einem Stuhl, die Ohren hingen schlapp herunter.
»Das Kaninchen...«, flüsterte ich. Dann hörte ich die Stimme hinter mir.
»Na, angekommen?« Mit einem breiten Grinsen sah mich der Typ an, die Brille auf die Nasenspitze geschoben. Das Haar wich ihm bereits in Richtung Nacken und hinterließ zwei tiefe Geheimratsecken.
Heiner streckte mir die Hand entgegen. Er trug eine rote Jeans, statt wie ich eine rote Bundfaltenhose, und das Hemd mit Borte war hellblau, statt rotgelbgrün wie meines.
»Sven«, sagte ich und schüttelte sie. »Das Kaninchen?«
Heiner sah auf den Stoffhasen, behauptete, er gehöre einer Freundin, die er schon wieder verpasst habe, und dann auf die Uhr. Er umkreiste mich, nahm ein Klemmbrett vom Tresen und steckte es sich unter den Arm. »Muss leider los, gibt viel zu tun.«
»Was machst du hier?«, fragte ich, da war er bereits auf dem Korridor. »Später!«, rief er. »Später, habe keine Zeit. O diese Weiber, gehen Sie rein, suchen Sie meine Galoschen. Herjemineh. Marianne!«
Den Walkman voll aufgedreht fuhr ich durch die Dunkelheit zur Boiserie, durch Bailly, an der Louisiane vorbei. An den Pleiades in Serris, wo der Busfahrer umdrehte, um die Tour zurück nach Chessy zu machen, stiegen mit mir nur zwei Italiener aus dem Bus. Oder Spanier. Klangen eh gleich.
Mein Kühlschrank war leer und roch nach Käse. Kein McDonald’s, kein Imbiss und kein Supermarkt rettete mich. Mir blieb nur eine Tütensuppe und ein trockenes Baguette mit Butter und Käse.
Jeremy leistete mir eine Stunde später Gesellschaft.
»Kommst du mit in die Sportsbar?«, fragte er, während er sich umzog.
»Morgen vielleicht, heute nicht. Wie war der erste Arbeitstag?«
»Interessant.« Jeremy zog sich ein Hemd über den Kopf. »Haben Sie ihren Hotelgutschein dabei?«
»Wieso, ich habe doch reserviert«, entgegnete ich und biss in mein Baguette.
»Ja, und das steht auf dem Gutschein.« Jeremy zog einen Gürtel in seine Hose.
»Was ist denn ein Gutschein?«, sagte ich zwischen zwei Löffeln Suppe.
»Das nennt sich auch Reiseunterlagen.« Er prüfte seinen Atem.
»Ich habe nie irgendetwas bekommen«, sagte ich ruhig.
Jeremy lachte, steckte seine Carte Orange ein und tastete nach seinen Schlüsseln.
»Wann hast du dein HIS-Training?«
Ich suchte kurz nach dem richtigen Wort. »Übermorgen.«
Die erneute Aufforderung des Engländers, ihn in die Sportsbar zu begleiten scheiterte an in den Broschüren vom Disneyland, die ich mir aus dem Hotel mitgebracht hatte.
In ihnen blätternd schlief ich irgendwann ein.
Der nächste Morgen brachte trüben Himmel. Die Rinde kahler Bäume glänzte schwarz, von dürren Ästen tropfte Nieselregen. Nur Musik vom Band brachte Farbe ins Bild. ABBA und Sting, die Beatles und Supertramp.
Meine größte Sorge war der Zustand der Batterien im Walkman. Ohne Ersatzbatterie ging ich nirgendwo hin, ohne zwei neue Kassetten in der Jackentasche kam ich nicht zur Arbeit.
Im Hotel babylonisches Sprachengewirr, ich konnte nicht einmal Italiener und Spanier auseinanderhalten. Vom Briefing vor der Schicht an meinem zweiten Tag verstand ich nichts. Fünf Jahre Schulfranzösisch, verkommen zu einem undeutlichen Hintergrundrauschen.
Bonjour, mon nom est Sven, je suis allemand et je ne parle pas très bien français.
Le boef – der Ochs, la vache – die Kuh, fermez la porte – die Tür macht zu. Den Vormittag verbrachte ich wieder am Welcome Desk.
»Votre bon d’échange, s’il vous plait.« Dieser Satz definierte meine Arbeit. Hundertmal am Tag wiederholte ich ihn, er wurde nicht langweilig. Ich betonte ihn auf dreiundzwanzig verschiedene Arten, stellte die Worte um, wartete drauf »Je vous en prie« sagen zu können, wenn die Gäste meinen Schalter verließen. »Je vous en prie.« Ich sagte die beiden Sätze so oft, bis ich meinte, sie akzentfrei aussprechen zu können.
Und nahm mir dann den nächsten Satz vor. Nachmittags sah ich der Dänin Lisa über die Schulter, ließ mir von ihr auf Englisch ein paar Details erklären.
»Bist du sicher?«, fragte ich Lisa, die über dreißig war und verheiratet. »Ab 14h00?«
»Ich war so lange nicht mehr im Park. Willst du da wirklich hin? Der ist doch was für Kinder.«
Ich starrte auf den kleinen Faltplan des Parks und versuchte, mir die Topographie einzuprägen. Fantasyland, Peter Pan, Adventureland, Indiana Jones, Discoveryland, Space Mountain.
»Du kannst es gar nicht erwarten, was?« Sie packte ihre Sachen und machte sich bereit zu gehen. Sie arbeitete Teilzeit und niemals Spätschicht. »Aber das lässt nach. In ein paar Wochen kannst du das alles nicht mehr sehen.«
Ich grinste zweifelnd, sah wieder auf den Plan, dann fragte Brian, warum ich mich noch nicht für die Mittagspause eingetragen hatte.
»Wo ist die deutsche Gründlichkeit?« Gründlich mit den Achseln gezuckt.
Carol klopfte am Abend an unsere Tür. Jeremy hatte Spätschicht.
»Kommst du mit in die Sportsbar?«
»Nicht so gerne, muss morgen früh raus und brauche meinen Schönheitsschlaf.« Carol sah mich zu lange an, nickte langsam. »Wenn du Lust hast, kommst du einfach nach, okay?«
Leise schloss ich hinter ihr zu und lehnte mich gegen die Tür. Ich war noch nicht bereit. Das Gefühl, etwas zu verpassen, war stark. Ich sehnte mich nach Gesellschaft, nach Austausch. Mein Bedürfnis nach Schlaf jedoch, danach, mich zurückzuziehen, war stärker, und ich war zu schwach, um dagegen anzukämpfen.
»Morgen vielleicht«, flüsterte ich. In der Ferne hörte ich Lachen und leise Musik. »Morgen.«
Bevor ich einschlief, jagten Bilder durch meinen Kopf. Gesichter von Kollegen, Gästen und Anmeldeformularen. Und später im Traum sagte ich immer wieder: »Votre bon d’échange, s’il vous plait.«
Das Computertraining im kleinen Informatikraum in der Disney University bestand hauptsächlich darin, Reservierungen zu erstellen. Mit Babybett, ohne Babybett, vier Erwachsene, zwei Erwachsene und zwei Kinder, Deutsche mit zwei Kindern, Anreise am Montag, Abreise zwei Tage später, Spanier ohne Kinder, ohne Tickets und mit Seeblick.
Wir erstellten Reservierungen für jede mögliche Nationalität, jedes Datum und jeden Sonderwunsch. Nach einer Woche konnte ich das im Schlaf. Während die Reservierungen sieben andere Kollegen, die ich von den Traditions kannte, vor Probleme stellten, war ich immer als erster fertig und staunte über mich.
Die Mädchen an den Nachbarcomputern, Marijke mit den Ottifantensocken und Gabi, wohnten in den Pleiades genau neben mir. In der Woche des Trainings sah ich sie im Bus, lächelte zum Gruß. Manchmal lächelten sie zurück.
»Niemals F9 drücken.« Für das gute Englisch unserer Lehrerin war ich sehr dankbar. »Das wiederholen wir noch einmal.« Sie zeigte mit der ganzen Hand auf Marijke neben mir.
»Was?«
»Was habe ich gerade gesagt?«
»Niemals F9 drücken...«
»Richtig. Und jetzt du.« Damit zeigte sie auf mich.
»Niemals F9 drücken«, sagte ich stolz. Unsere Lehrerin ballte die Faust und klopfte sich auf die Schulter. Svante fragte, warum wir niemals F9 drücken sollten.
»Das ist so«, sagte sie. »Die Details lernt ihr im Hotel. Aber eines lernt ihr im Hotel nicht. Und das ist?«
»Niemals F9 drücken!«, riefen wir ihr entgegen. Sie ballte die Faust und klopfte sich zufrieden auf die Schalter. Mir fielen die Augen zu. Den Abschlusstest bestand ich mit 98%.
Danach klopfte ich mir auf die Schulter. Abends lag ich auf meinem Bett und las, löschte früh das Licht, schlief. Aus der Wohnung über mir hörte ich Stühlerücken, Musik und Lachen.
»Morgen«, flüsterte ich und strich mit den Fingerspitzen abwechselnd über die knotige, vernarbte Haut, die unter den verschorften Wunden an den Handgelenken nachgewachsen war. »Morgen.«
»Die lässt mich gar nicht mehr los.« Jeremy streckte sich. Die Welt hinter dem Fenster war grau, es regnete. Mein erster freier Tag. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen, hörte von einer Holländerin namens Saskia.
»Ich lag mit der nur einmal im Bett, passiert ist nichts, und jetzt redet die mir von Liebe.«
»Saskia?« Und im Bett? Zu zweit?
»Groß, blond, kräftig, laut. Aber ganz hübsch.«
»Ach, das ist dieses geschminkte Pferd. Hut ab, Jeremy, echt mutig.«
Ich hatte sie zusammen auf dem Weg zum Bus gesehen, doch eine Beziehung zwischen ihnen war mir entgangen.
»Da läuft nichts! Nicht wirklich.«
»Na, mein Lieber. Dann wünsche ich dir viel Erfolg, halt dich ran, damit ich nicht umsonst lästern muss.«
Jeremy hatte nur ein mitleidiges Lächeln für mich übrig. »Musst du heute arbeiten?«
»Nope«, sagte ich. »Frei, und morgen auch.«
»Paris?«
»Was ist Paris? Wo liegt das?«
Er lachte. »Warum kommst du nicht endlich mal mit saufen?«
»Ich trinke kein Bier.«
»Hast du das Kronenbourg schon probiert? Oder das Brückbier?« Mein Kopfschütteln registrierte er mit sichtlicher Genugtuung. »Na also, dann hast du ja was vor dir.«
Ich überlegte kurz. Er streckte mir wieder die Hand aus.
Wie lernt man Laufen? Einfach die Knie durchdrücken und einen Fuß vor den anderen setzen? Gleichgewicht ist das Geheimnis.
Ich jagte im Raumschiff durch das All, schrie und hob die Hände über den Kopf. Die Fahrt war lange nicht so schnell wie befürchtet. Nur die Warteschlange am Space Mountain beim dritten Mal machte mich ungeduldig.
Dafür fuhr ich einmal mehr mit den Zwergen.
Später, nachdem ich vergeblich versucht hatte, Excalibur aus dem Felsen zu ziehen, dafür vor der Bohnenranke gestanden und mir vorgestellt hatte, wie es wohl wäre, in den Himmel zu klettern, später setzte ich mich wieder ins Boot und trieb zu den Piraten. Den Drachen konnte ich ein anderes Mal töten.
Am nächsten Tag, zum Beispiel. Punkt 14 Uhr stand ich wieder am Eingang des Parks, zeigte meinen Mitarbeiterausweis vor, bekam eine Karte und trat ein. Ich war Ritter, war Zwerg, Aladdin und Peter Pan.
Gegen 15 Uhr kämpfte ich gegen Captain Hook, eine halbe Stunde später raste ich bereits wieder durch die Minen im Frontierland, danach entdeckte ich einen neuen Geist im Phantom Manor.
Man musste mich um halb sieben zweimal bitten, das Disneyland zu verlassen, weil ich endlich das Labyrinth von Alice gefunden hatte und mich nicht von den hüpfenden Wassertropfen trennen konnte.
Dort traf ich ihn, den weißen Hasen.
Er stand vor dem Labyrinth, ließ sich von mir umarmen und gab mir ein Autogramm. Ich hüpfte um ihn herum, kitzelte ihn, bis mich Alice bat, den armen Kerl nicht zu sehr zu triezen. In einer Boutique wurde ich meine letzten Francs los.
Unser Apartment war leer. Ich stellte den großen Stoffhasen an das Fußende meines Bettes, machte mir Pasta, setzte mich an den Esstisch und blätterte in einem Hotelprospekt. Das weiße Kaninchen schien mich dabei zu beobachten.
Mein eigenes Schnarchen riss mich aus dem Mittagsschlaf. Ich schnappte nach Luft. Meine Zunge klebte am Gaumen.
Jeremys Bett war leer. Er war nicht nach Hause gekommen, ich vermutete Saskia dahinter, machte die Augen wieder zu und schlief erneut ein, bis mein Wecker piepte und ich zur Arbeit gehen konnte. Die nächsten fünf Tage hatte ich Spätschicht.
Lisa tauschte mit mir den Platz. Jetzt kontrollierte sie, ob ich beim Einchecken die richtigen Tasten drückte, Geld anständig im Computersystem verbuchte und dem Gast erklärte, was wichtig für seinen Aufenthalt war.
»Und niemals F9 drücken«, sagte ich.
»Wer hat dir denn diesen Scheiß erzählt?«
»Die HIS-Trainerin.«
»So’n Quatsch.« Lisa lachte schäbig. »Du musst bloß wissen, wann du das darfst.«
Noch verstand ich das Briefing nur, wenn Brian es auf Englisch machte, die anderen Teamleader zogen Französisch vor. Hinter dem Schalter kam ich mit den Sprachen durcheinander, in mein Deutsch mischten sich englische und französische Ausdrücke.
Plötzlich hatte ich mit dem Zählen Schwierigkeiten. Erst zählte ich auf Deutsch, dann auf Französisch, dann auf Englisch und Französisch und schließlich in allen drei Sprachen zusammen.
»Ging mir genauso«, sagte Lisa. »Das gibt sich.« Ich lächelte matt, weil ich neu beginnen musste. Irgendwo zwischen twenty one, vingt-trois und fünfundzwanzig hatte ich den Faden verloren.
Eine Woche gewöhnte ich mich im Hotel ein, lernte das Computersystem kennen und wurde sicherer im Umgang mit den Gästen. Ich sagte zwar immer die gleichen Sätze - hier ist ihr Schlüssel, sie müssen das Zimmer um 11 Uhr verlassen haben, das Gebäude, in dem sie untergebracht sind, befindet sich hier, das Restaurant hat ab sieben Uhr geöffnet, Reservierungen für das Frühstück machen sie bei meinen Kollegen am Informationsschalter gleich gegenüber - aber gerade das gab mir Sicherheit.
Ansonsten fühlte ich mich bald wie in einer Familie. Es duzten sich alle, jeder half jedem, und die Teamleader, die uns lenkten und organisierten, waren ausnahmslos freundlich in ihrer Führung.
Selbst der Manager der Rezeption kam uns zu Hilfe, wenn gegen Mittag die holländischen Reisegruppen ankamen und die Warteschlange vor dem Welcome Desk durch die Lobby hinaus auf die Straße reichten.
Die Castmember des Hotels kamen aus Frankreich, Italien, Spanien und Belgien, nur wenige aus der Schweiz und Österreich. Brian kam aus England. Wann immer ich ihn im Raum hinter der Rezeption sah, hielt er Zeige- und Mittelfinger der linken Hand auf die kleine Grube in der Oberlippe, hob seine rechte Hand und sagte auf Deutsch: ›Ick bin eine kleine schwarze Putzfrau‹.
Sein zweiter Spruch war: ›Ick bin eine kleine rote Feuerwehrwagen‹ und am liebsten fragte er: ›Darf ick meine Saft in deine Mund sprutzen?‹
Brian entschuldigte sich dann mit: ›Sorry, I was being nazi, eh, nasty.‹ Oft genug erwiderte ich ›Achtung, Spitfire‹ oder ›Churchill ist ein fettes, zigarrenrauchendes Arschloch‹. Brian sprach mich auf Wembley 1966 an, ich ihn auf die Europameisterschaft 1996, er betonte meinen Nachnamen immer falsch, so dass aus ›Koch‹ ›Cock‹ wurde, und ich sagte, dass ›Brian‹ leider ganz knapp an ›Brain‹ vorbei sei, und während des Briefings fragte er in die Runde: »Warum hat Sven wieder weiße Socken an? Ist er ein Rassist?«
Natürlich hatte ich auch schwarze Strümpfe, das Paar war bloß gerade in der Wäsche.
»Die waren schwarz heute Morgen«, sagte ich und zog meine roten Hosenbeine bis zur Schuhspitze herunter. »Das kennt man von den weißen Socken, die sind morgens weiß und abends schwarz. Bei mir ist das eben umgekehrt, ich bin anders.«
»Wer macht hier die Witze?«, fragte Brian.
»Also, ich mache die auf Englisch, auf Französisch kannst du die gerne machen.« Zu Svante sagte ich: »Was soll ich mit schwarzen Socken? Die hatte ich noch nie. Äußerlichkeiten.«
»Passt auf F9 auf. Gestern hatten wir wieder drei«, sagte Brian. Ich hob die Augenbrauen. »Immer mit enter/enter updaten, wenn ihr einen Gast eincheckt, nicht mit F9.«
Er machte mit einem Boardmarker einen Kringel um den Briefing-Punkt an der Tafel. »Ihr könnt dem Gast einen Schlüssel geben und mit F9 aus der Folio gehen, und der Gast wird am Abend kommen, und das Zimmer ist ein zweites Mal vergeben.«
Meine Kollegen und ich starrten ihn dann mit großen Augen an. Die eine Hälfte, weil sie diese Predigt schon zum dreißigsten Mal gehört hatten, die andere, weil es für sie neu war. Das Phänomen F9 würde ich noch genauer beobachten.
Kam ich nach der Arbeit gegen Mitternacht nach Hause, schlief Jeremy. Von Spätschicht zu Frühschicht gewechselt, hatte er feststellen müssen, wie sehr der dritte Arbeitstag nach weniger als drei Stunden Schlaf an der Substanz zehrte.
Die nächsten freien Tage. Wieder lief ich von zwei bis sechs durch den Park, sah mir Attraktionen an, die ich schon kannte und entdeckte neue. Die Grenzen von Realität und Fiktion verschwammen, wo Zeichentrickfiguren Gestalt annahmen.
Und ich ließ sie verschwimmen.
Manchmal kaufte ich mir Zuckerwatte, setzte ich mich auf eine Bank und spürte die Grenzen wie Zucker auf der Zunge verschmelzen. Dann riss ich die Augen weit auf und wusste mich in genau dem Traum, den ich mit zehn Jahren geträumt hatte. Selbst nachts, wenn ich in 3.000 Sprachen die Zimmerschlüssel verteilte, stieg ich auf den Turm des Märchenschlosses und rief über das Disneyland: »Es gibt einen Gott. Er zeichnet Comics!«
Mitfühlend klopfte ich Jeremy auf die Schulter. »Ich wäre froh, wenn sich mal jemand so sehr für mich interessierte.«
»Du kannst sie haben«, seufzte er. »Geschenkt.«
Svante turnte durch den Bus und rief immer wieder ›Yieehaa!‹, schwang ein imaginäres Lasso über den Kopf, bis ihm der angetrunkene Busfahrer schließlich damit drohte, ihn an die frische Luft zu setzen. Den Rest der Fahrt imitierte Svante auf seinem Sitz den Busfahrer. Er drehte das große, unsichtbare Lenkrad, ohne auf die Straße zu sehen, rauchte dabei eine unsichtbare Zigarette und trank ein unsichtbares Bier.
»So irre und so geistgestört, der Uhu schreit, der Hirsch, der röhrt, so irre und so geistgestört«, sang er dazu.
Lewis, der sich am Morgen in der Küche seines Hotels in den Finger geschnitten hatte und jetzt sein Bier von Svante öffnen lassen musste, unterbrach seine Unterhaltung mit Carol.
»Ich habe gehört, du hast gefunden, was dir fehlte?«
»Das weiße Kaninchen...«, sagte ich stolz und griff nach meinem Walkman.
»Steht auf seinem Bett«, warf Jeremy ein. Sonst hatte er genug damit zu tun, Saskias Hände von seinem Knie zu schieben. Sie lachte laut und aufdringlich, erzählte in einem fort von sich und ihrem Newport Bay Club.
Zweimal stellte ich meinen Walkman an, zweimal irritierte mich Lewis’ Blick, und ich setzte die Kopfhörer ab.
»Wie viel Kassetten hast du?«
»40.«
»Was ist da drauf?«
»Rock, Pop, wild durcheinander.«
»Ich habe gehört, die sind nummeriert, stimmt das?«
Ich nickte. »Damit ich nicht immer das Gleiche höre.«
»Und wenn du Nummer 40 gehört hast?«
»Fange ich vorne an.«
Lewis lachte schäbig, und Svante rief: »So irre und so geistgestört, der Uhu schreit, der Hirsch, der röhrt, so irre und so geistgestört.« Mein Gesicht glühte plötzlich.
Die Wild West Show. Büffel, Kühe und Cowboys, ein gratis Cowboyhut, inszenierte Wettkämpfe und viel Animation rissen uns zwangsläufig vom Sitz, wir hatten gar keine Wahl.
»So, Sven.« Eingekeilt zwischen Jeremy und Lewis saß ich in den Rängen auf einer Holzbank, daneben Svante, jeder ein 0,5l Glas vor sich. »Jetzt wird getrunken.«
»Hol schon mal das Aspirin«, erwiderte ich. Das Kronenbourg, von dem Lewis sicher wusste, dass es mit Wasser vermischt war, und wenn es einer wissen musste, dann Lewis, schwamm schaumlos im Glas.
»Muss ich?«
»Trink.«
Ich schloss meine Hand um das kalte Glas und roch daran.
»Come on«, rief Lewis. In der Arena fingen die Cowboys gerade ein paar Rinder ein.
»Guckt mal, Kühe!«, rief ich und zeigte in das Oval. Sand stob auf, die Cowboys johlten, Musik dröhnte.
»Trink!«, riefen Carol, Svante, Lewis und Jeremy im Chor. In den Augen der Holländerin flackerte es irritiert.
Ich nippte an dem Bier, nahm einen großen Schluck, trank das Glas leer und ließ den Castmember der Wild West Show dreimal nachschenken. Ich versuchte Lewis Druckbetankung zu übersetzen, während Jeremy darauf achtete, dass mein Glas nicht leer wurde, damit ich die Bedeutung des Wortes demonstrieren konnte.
»Und?«, fragte Lewis am Ende der Show, beim Wechsel zum ergänzenden Umtrunk in Billy Bob’s Bar. »Kopfschmerzen?«
»Noch nich’«, lallte ich und stützte mich an einem der Holzpfeiler ab, die den Eindruck erweckten, die Bar sei mehr als nur ein Betongerüst mit am Reißbrett entworfener Inneneinrichtung. Meine Augen brannten, die dunklen Dielen auf dem Boden warfen Blasen. Mein Mund war trocken. »Gib mir noch eins.«
Ein halber Liter Kronenburg für 35 Francs. Der Inhalt meines Magens schwamm so erbarmungslos zum Erbrechen in mir herum, dass ich nur noch auf die richtige Gelegenheit wartete, um mich entweder aufs Klo, an die frische Luft oder ins Bett zu begeben, aber Kopfschmerzen hatten sich nicht eingestellt.
»Du siehst blass aus, alles klar?«, rief Jeremy, um den Lärm der Moody Brothers zu übertönen. Er trat eine Zigarette auf den Holzdielen aus. Neben ihm hing ein Sattel an der Wand, darüber das Rad eines Planwagens. Ich fühlte mich hier so fehl am Platz wie ein Kind auf einer Cocktailparty, das der böse Onkel gerade mit Alkohol abgefüllt hat.
»Dassis’ die Countrymusic, von der mussich immer kotzen«, schrie ich zurück. In der Dunkelheit der Kneipe hatte ich Carol aus den Augen verloren. Vielleicht war sie dem Cowboy aus der Show gefolgt. Vielleicht sollte ich das auch tun. Dem Ruf des Bettes folgen und nach Hause gehen.
Plötzlich stoppte die Ballade von Mary-Sue und ihrem Pferd, der Sänger auf der Bühne zählte »One, two, three«, der Leadgitarrist zupfte die Saiten, und der Mann am Schlagzeug sagte: »Tune it up«.
»Was ist das?«, fragte Svante. »Das Lied von den Austern ist das nicht.«
»Sweet home Alabama«, sagte ich, während sich mein Fuß selbstständig machte, im Rhythmus der einsetzenden Drums auf den Boden schlug und mein Bein mitriss. »Von Lynyrd Skynyrd, auf Kassette 33, Lied Nummer 8!« In meinem Kopf summten das Bier und eine Stimme, die ich lange nicht gehört hatte. Stillstand..., rief sie aus dem Off. Lauf, Sven, das ist ganz einfach. Du musst nur einen Fuß vor den anderen setzen.
Ich bewegte bereits meine Hände im Takt. »Ich muss... ich muss...«
»Kotzen?«, fragte Svante
»Tanzen. Ich muss tanzen.«
»Du kannst tanzen?«
»Nein!« Die Schultern nach hinten werfend packte ich meinen Cowboyhut fester und wankte die Treppe hinunter auf die Tanzfläche.
Ich gab meinem Gaul die Sporen, ritt über die Tanzfläche, ruderte von links nach rechts, wirbelte und sprang. Drehte zwischen den Line-Dancern meine Runden, trotzte der Schwerkraft, hatte vier Füße und packte alle meine Luftgitarren aus. Ich trampelte und hackte mit den Stiefeln auf dem Eis herum, wollte endlich durch die Oberfläche brechen. Tauwetter brauchte ich, brauchte Frühling, um in meinen Kahn zu kommen.
Eine halbe Stunde später war das Lied zu Ende. Ich zog meinen Hut vom Kopf, wischte mir über die Stirn. Die anderen jubelten am Rand der Tanzfläche.
»Die Dancing Queen, live im Billy Bob’s! Ich wusste nicht, dass man sich so bewegen kann, mate.«
Lewis klopfte mir anerkennend auf die Schulter und sagte »Great bloke!« An den folgenden Abenden grölten und klatschten Jeremy, Svante und Carol an der Tanzfläche und Lewis rief immer wieder great bloke und klopfte mir auf die Schulter.
Der Rest des Monats war der März in den Pleiades, der ewige März. Ich muss nur in die Pleiades gehen, an der Tür zu Maya 4 den vierstelligen Code, der alle zwei Monate wechselt, in das Tastenfeld tippen, bis der starke Elektromagnet die Tür freigibt, durch das helle Treppenhaus hoch in den zweiten Stock zu Lewis und Svante steigen, ins enge Apartment 314, mit dem gelben, geriffelten PVC auf dem Boden und der kleinen Kochnische mit dem ungespülten Geschirr, und mich auf eines der beiden Betten setzen, mit einem Brückbier in der Hand, und break and enter von Prodigy hören.
Svante beobachten, der sich einen Joint bastelt, und immer wieder Black Jack spielen.
Lewis zuhören, der behauptet: »Ick bin Space Mountain.«
Carol zusehen, die obszön und laut wird, wenn sie betrunken ist.
Im fahlen Licht muss ich auf die Uhr sehen und denken: ›Ach, so früh noch!‹, dann bin ich mittendrin im Monat März, in den Pleiades, in der 314, wo ich in manchen Augenblicken fürchtete, jemand würde plötzlich meinen Arm nehmen, mich rütteln und aus diesem Traum reißen.
Jeremy erzählte uns von einer blonden Holländerin, die gerade in seinem Hotel angefangen hatte. Carol warf ihre leere Flasche hinter sich und schwankte zur Tür. Ich zog meine Jacke über. Mit: »Und wirkt es? - Weiß ich nicht, ich kriege die Flasche nicht auf« beendete ich meinen Witz.
Svante lachte meckernd, Carol kam zu mir zurück, stützte sich auf meine Schultern. Ihr Atem roch nach Bier und Chips.
»Du biss so geil. Ich wusste gar nich’, dass die Deutschen Humor ham.«
»Na, frag mal meine Landsleute, die würden das von mir auch nicht behaupten.«
»Egal, Hauptsache, du komms mit ins Billy Bob’s.«
»Sweet Home Alabama!«, rief ich mit Hüftschwung, »Where the skies are so blue..« Lewis blökte auf dem Flur: »Ick bin Space Mountain!«
»Was ist mit deinem Pferd?«, fragte ich Jeremy.
»Die hat sich ´nen Cowboy aus der Wild West Show gesucht.«
»Muss wohl ordentlich eingeritten werden, was?«
»Ich schwanke jetzt eher zwischen der einen aus meinem Hotel, Janneke, und ihrer Freundin Monique. Beide holländische Stagières, eine hübscher als die andere.«
»Was hast du eigentlich immer mit den Holländerinnen?«
Jeremy sah nach links und rechts. »Die können blasen«, sagte er leise und riss die Augen auf. »Das können nur die Holländerinnen so gut.«
Lewis hängte sich im März ohne viel Erfolg an eine Dänin aus dem Nachbarzimmer, Svante machte sich im März gar nicht erst Illusionen, Carol stürzte im März jede Woche, wenn sie in der Sportsbar oder dem Billy Bob’s wieder zu viel Kronenbourg hatte, mit einem anderen ab, und ich wachte jeden Tag im März mit meiner Morgenlatte auf und wusste nicht, wohin damit.