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Stopp

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»Es ist besser, auszubrennen als zu verblassen.«

Im fahlen, blauen Mondlicht hatte das Blut an meinen Handgelenken schwarz geschimmert. Immer wieder war ich auf den Rücken gefallen, hatte mich an den Ästen von Tannen wieder hochgezogen, war über die Gräber gekrochen, zwischen Grabsteinen hindurch getaumelt und hatte versucht, den Schmerz an meinen Armen zu ignorieren.

Wenn ich längs geschnitten hätte statt quer? Ganz sicher hätte es dann nicht einfach nur wehgetan. Schließlich konnte ich anhand eines beliebigen Zwei-Sekunden-Ausschnitts jeden einzelnen meiner 756 Filme, die auf etwa 370 Videokassetten gespeichert an meiner Wand gestapelt waren, zweifelsfrei identifizieren.

Mein Filmwissen nützte mir nichts, absolut nichts, kein einziger von 756 verfickten Filmen half mir, kein einziger. Null-Wissen. Unnütz wie ein Blinddarm. Markus und ich, ich und Markus. Er machte mich wahnsinnig. Der Gefangene von Alcatraz. Und sein Wärter. 756 Filme und Tausende Filmszenen hätten zu irgendetwas nützen sollen. Null-Wissen. Blinddarm. Alles Scheiße.

Angefangen hatte alles mit einem Praktikum bei einer Fernsehserie für RTL. Fast drei Monate lang hatte ich Kaffee gekocht, Brötchen geschmiert und Straßen gesperrt.

Markus, den ich noch von meinem Nebenjob bei McDonald’s kannte, hatte mir die Telefonnummer des Produktionsleiters gegeben. Rein zufällig hatte ich den großen, spindeldürren Markus mit der winzigen Brille und den strähnigen Haaren im Schwimmbad getroffen, kurz nach dem ich aus meinem Wehrdienst im Juli entlassen worden war.

Probier es, sagte er, vielleicht brauchen wir einen Praktikanten. Sie brauchten einen. Ich zog zu Markus in ein freies WG-Zimmer im fünften Stock eines heruntergekommenen Hauses direkt am Hansaplatz in St. Georg und fing im September an. Als Praktikant der Aufnahmeleitung wurde ich Arsch für alles und jeden. Wenig Geld, viel Verachtung. Niemand machte sich die Mühe, sich meinen Namen zu merken.

Praktikanten kommen und gehen, sagte eine Kollegin von der Requisite. Die Schauspieler, die ich in die Maske brachte und danach zum Set, sprachen nicht einmal mit mir. Hübsche Kolleginnen sah ich an, mehr nicht. Nur eine hübsche Schwarzhaarige vom Kostüm wollte ich einmal ins Kino einladen, aber die Gelegenheit sie zu fragen kam nicht. Auf der Abschlussfeier fehlte sie, und ich ging früh.

Ich hielt diese drei Monate durch, weil ich schließlich nicht Aufnahmeleitung machen, sondern Regisseur werden oder Drehbücher schreiben und viel Geld verdienen wollte mit dem, was mich schon immer begeistert hatte. Anhand eines beliebigen Zwei-Sekunden-Ausschnittes konnte ich jeden einzelnen meiner 756 Filme identifizieren.

Im Januar ging ich erst zum Arbeitsamt und fragte anschließend im Studio Hamburg nach Arbeit. Erst zum September konnte ich mein Studium an den Filmhochschulen in München, Ludwigsburg oder Berlin beginnen. Und meine Aufnahme dort stellte ich niemals in Frage. Jeden einzelnen meiner 756 Filme, jeden einzelnen, nach zwei Sekunden.

Ich dachte, mit meinem Traum vom Film und einem Praktikum würde ich mit offenen Armen empfangen. Bis zum Juli erhielt ich nur Absagen auf meine Bewerbungen bei den Produktionsfirmen im Studio Hamburg, im Juli blätterte ich noch in den Stadtplänen der Studienorte, Ende Juli kamen die Briefe: »...dass die Aufnahmekommission der Filmakademie Baden-Württemberg Sie nicht zur Aufnahmeprüfung... dass die Begabung und Eignung nicht nachgewiesen werden konnte...«

Nicht einmal zu den Vorstellungsgesprächen wurde ich eingeladen.

Da Markus mir im August einen Job als Komparse bei einer neuen Produktion besorgte, betrachtete er mich bald als sein persönliches Eigentum. Immer wieder lief ich durch die Produktionsbüros, immer wieder hörte ich: »Produktion schon besetzt. Noch kein Produktionsbeginn absehbar. Wir haben unser altes Team übernommen. Wir rufen Sie an.«

Niemand rief mich an, so oft ich auch meine für fünf Mark am Automaten im Hauptbahnhof gedruckte Visitenkarte hinterließ. Mein Filmwissen nützte mir nichts, absolut nichts, kein einziger von 756 verfickten Filmen half mir, kein einziger. Null-Wissen. Unnütz wie ein Blinddarm.

Markus klagte, ich würde sein Geschirr nicht abwaschen und nicht kochen, er wüsste gar nicht, warum er mich überhaupt bei sich wohnen ließe, warum er mir überhaupt noch Jobs besorgte. Markus und ich, ich und Markus. Er machte mich wahnsinnig. Nur Markus, der andere Mitbewohner war ständig für Monate im Ausland auf irgendwelchen Fotosafaris.

Der Gefangene von Alcatraz in seiner Einzelzelle. Und der Wärter war drei Monate lang mein einziger Kontakt nach draußen. Keiner meiner Freunde war nach dem Abitur zum Studieren nach Hamburg gezogen.

Kiel und Berlin, München und Braunschweig, aber nicht Hamburg. Und ich hatte nicht eine einzige Person in Hamburg kennen gelernt, weil ich Smalltalk hasste, vom Bier Kopfschmerzen bekam und mir selbst eigentlich genug war.

Kino und der Fernseher vor meiner Matratze waren meine einzigen Interessen. Manchmal hoffte ich auf eine Frau, die so gerne träumte und vor dem Fernseher oder im Kino saß wie ich. Aber die lag wahrscheinlich auch immer zu Hause vor dem Fernseher oder saß im Kino drei Reihen hinter mir.

Ich hätte, dann wäre ich und müsste nicht.

An einem trüben Dezembertag fragte ich bei McDonald’s im Hauptbahnhof nach Arbeit. Die Arbeitslosenhilfe reichte nicht mehr, und Bafög hätte es nur für ein Studium gegeben. Aber ich wollte nichts studieren, was nicht wenigstens entfernt mit Film zu tun hatte. 756 Filme und Tausende Filmszenen hätten zu irgendetwas nützen sollen. Null-Wissen. Blinddarm. Alles Scheiße.

Da war ich also wieder, stand hinter dem Grill meiner ganz persönlichen Gefängniskantine, fragte ‚Auf zwölf‘ und legte Käse auf die Hamburger. Immer wieder ging ich in den nächsten Monaten ins Studio Hamburg und hinterlegte meinen Lebenslauf. Ab und zu schrieb ich an einem Drehbuch, das ich meinen nächsten Bewerbungen an den Filmhochschulen beilegen wollte.

Bis zum Oktober im nächsten Jahr, mehr als zehn Monate, hielt ich es aus bei McDonald’s, weil mein zweiter Versuch, an einer Filmhochschule angenommen zu werden, im Juli wieder kläglich gescheitert war. Da ich mich nur zweimal bewerben durfte, war das Thema erledigt. Kein akademischer Weg zum Ruhm.

Ein dreiviertel Jahr lang kam ich nach Bratfett stinkend nach Hause, die Hände halb gar. Der Geruch von Zwiebeln und Gurken ließ sich nie ganz abwaschen, soviel Seife ich auch benutzte. Ein Makel, ein Stigma, dessen Entdeckung ich immer fürchtete. Ich wurde fett und bekam Pickel von den vielen Burgern mit Pommes und Majo, die ich während der Arbeit in mich hineinstopfte. Blinddarmreizung.

Wenn die Zeit abhängig ist von dem was wir tun, dann glich meine Zeit einem zugefrorenen Entwässerungsgraben. Stillstand, hörte ich irgendwann jemanden sagen, Stillstand ist der Tod. Und wenn ich in meinem Leben einen Punkt erreicht hatte, an dem ich still stand, dann war es in Hamburg.

Ich saß in meinem kleinen mit Filmpostern und Videokassetten vollgestopften Zimmer und wusste nicht mehr weiter. Kein neues Praktikum, keine neue Komparsenstelle, nur McDonald’s. Was hätte ich anders machen sollen in meiner Jugend? Hätte ich während meiner Schulzeit mehr Filme drehen, mich der Schülerfilmgruppe anschließen müssen, statt nur auf dem Bett zu liegen und zu schlafen? Praktika beim NDR machen sollen, statt bei McDonald’s zu arbeiten? Dem verfickten McDonald’s?

Hätte ich meine Bewerbung anders gestaltet, die Fragen anders beantwortet, wäre ich vielleicht eingeladen worden. Ich hätte eine andere Drehbuchidee einreichen sollen. Hätte ich noch ein zweites Praktikum gemacht, wäre ich bestimmt genommen worden. Wahrscheinlich hätte ich nicht bei der Aufnahmeleitung arbeiten sollen. Praktika statt McDonald’s, Schülerfilmgruppe statt Schlafen.

Schokolade produzierte Endorphine, Pizza machte zufrieden und Masturbation glücklich. Fettes, wichsendes Schwein, mit Pickeln und glänzender Haut. Masturbation machte glücklich, machte süchtig, machte krank. Wachte ich morgens auf, nach flachem, hektischem Schlaf, spürte ich den ganzen Ekel umso deutlicher.

Und das Schlimmste stand mir noch bevor. Als ich Tim am Hauptbahnhof traf. Ich kam gerade von der Schicht nach Hause und er lief mir über den Weg. Ich erkannte ihn an seinen langen Haaren und dem Bart kaum, aber anscheinend hatte ich mich nicht verändert. Ich war wohl einfach immer noch fett.

Hey, sagte er und Hallo. Er sei auf dem Weg nach Berlin, nachdem er in Hamburg auf einem Kongress war. Wie es mir denn ginge. Er habe erst letztens an mich denken müssen, weil seine kleine Schwester auf Interrail gegangen war. Wie wir damals.

Ich lachte. Wenn ich die Erinnerung an Interrail und wie ich damals Sonja gefickt hatte, nicht gehabt hätte, wäre ich vermutlich längst von der Brücke gesprungen.

»Ja, damals, als wir alle Hemmungen hatten fallen lassen.«

Tim sah mich schief an. »Was meinst du?«

»Naja, komm, die Orgien im Nachtzug und dein Coming Out mit Koffer. Schade, dass wir danach überhaupt nicht mehr darüber geredet haben.«

»Ich versteh immer noch nicht. Worüber haben wir nicht mehr geredet? Und welches Coming Out?«

Wollte er mich verarschen?

»Na, über den Sex in der Bahn.« Ich wollte ficken sagen, aber es kam mir nicht über die Lippen.

»Willst du sagen, wir hätten in der Bahn gepoppt?«

»Ja, alle, und Sonja war so durchgeknallt, dass wir Angst hatten, sie würde ein Pony heiraten.«

»Ich steh total auf dem Schlauch… Sonja? Die, mit der wir zur Schule gegangen sind?«

»Aber… Sonja war doch … Borderline, oder wie heißt das? Und dann haben wir sie alle im Zug, du weißt schon, sie war doch total unersättlich. Und dann das mit dem Pony…«

Tim ging einen Schritt zurück. »Sorry, aber an Sex im Zug kann ich mich nicht erinnern. Da hatte niemand mit irgendwem Sex. Ich bin auch nicht schwul, falls du das meinst. Wir haben uns am Ende total gezofft. Darüber haben wir dann tatsächlich nicht mehr geredet. Aber Sonja? Die war nicht durchgeknallt, die war nur immer noch in mich verknallt. In meiner Erinnerung warst du der Durchgeknallte. Hast du eigentlich mal eine Therapie gemacht?«

Das saß. Ich? Therapie? Wieso das denn?

»Warum sollte ich… ich?«

Tim griff die Tasche, die er in der Hand hielt, etwas fester. »Sorry, ich glaub, das ist kein gutes Thema für so eine spontane Begegnung. Vielleicht sollten wir das mal in Ruhe besprechen.«

Er verabschiedete sich, nachdem er mich gefragt hatte, ob ich noch Kontakt zu Bastian habe und vielleicht könnten wir uns alle mal wiedersehen, auf dem Ehemaligentreffen.

Und dann ging er.

In meiner Erinnerung warst du der Durchgeknallte.

Das war noch die harmlose Äußerung, an die ich mich auch Tage danach erinnern konnte. Viel schwerer wog der Satz: Da hatte niemand mit irgendwem Sex.

Ich konnte mich doch erinnern, an alles, daran, wie ich Sonja gefickt hatte und Nicole, wie ich mich von Tim und Michael in die Mitte hatte nehmen lassen. Das konnte doch nicht. Das durfte doch nicht. Er hatte mich ganz offensichtlich verarscht.

Zwei Tage lang suchte ich nach Telefonnummern. Und ich rief sie alle an. Nicole. Michael. Bastian. Sogar Sonja. Über ihre Eltern fand ich ihre Telefonnummern, und obwohl sie freudig überrascht taten, dass ich mich meldete, so ahnte ich, dass sie alle mich für beschränkt hielten, als ich wissen wollte, woran sie sich bei unserer Interrail-Tour erinnerten. Sie alle sagten, es sei eine nette Tour gewesen, aber es sei schade gewesen, dass wir uns gestritten hätten. Keiner erwähnte den Sex, niemand schien sich an die Orgien zu erinnern.

»Geht’s dir gut?«, fragte Nicole und ich hätte heulen können, weil mich das in den vergangenen Monaten niemand gefragt hatte. Anscheinend tat ich das auch, denn als ich Nicole sagen wollte, wie schlecht es mir ging und dass mein Leben eine Katastrophe war, kam nur Jammern heraus.

Ob wir denn nicht miteinander geschlafen hätten, fragte ich sie noch und ob sie sich nicht an Sonja erinnern könnte, die total die Kontrolle verloren habe.

»Ich glaub, das hast du dir nur eingebildet«, sagte sie. Ich legte auf. War es das? Einbildung? Eine falsche Erinnerung? Und was war mit den anderen Erlebnissen? Die Geschichte mit meiner Nachbarin. Mit Judith. Mit Stefan, dem Jungen aus dem Ferienlager. Alles nie passiert?

Das durfte nicht sein, das konnte nicht sein.

Ich wollte das Kino verlassen, wünschte, es würde alles aufhören, schnell schwarz werden und bleiben. Die Rasierklinge hatte einen klaren Schnitt gemacht, der so kalt und rein wie immer gewesen war, doch ich hatte nicht bedacht, dass dabei diesmal mehr als Schmerz hatte herauskommen sollen.

Stopp. Play. Schneller Vorlauf

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