Читать книгу Die Gegenstimme - Thomas Arzt - Страница 6
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ОглавлениеSteht der Huber Seppl, steht der Seppl am Eck hinter dem Gemeindeamt, genehmigt sich einen Schluck aus der Flasche. Steckt die Flasche schnell weg, unterm Janker, damit’s keiner sieht. Weiß er doch, der Huber Seppl, dass am Wahltag nichts Geistiges, bis am Abend nach Wahlschluss nichts vom Geistigen, ist ja nicht blöd, der Seppl, denkt der Seppl, und denkt zugleich, dass das Geistige doch auch guttät, grad wenn allerlei an Dummheit herumgegeistert ist, in den Tagen, Wochen vor der Wahl. Geistert da das Dumme herum, wie vor jeder Wahl, auch diesmal oft nur sinnloses Gerede, abseits von der Wirklichkeit, wie sie ist. Und für den Seppl ist die Wirklichkeit eine andere als für die meisten, weil der ist schon besonders, der Seppl, drum denkt er sich auch, im Grund tät grad jetzt vor so einer enormen Wahl das Geistige in hochprozentiger Dosis am besten, so denkt’s der Seppl, lacht mit dem hochgeistigen Gedanken und dem Schnaps, der den Hals runterbrennt, in sich rein und schaut raus, aufs Tal, das sich öffnet unter ihm.
Schlängelt sich der Fluss dort im Tal in der Au, durchs Sumpfgebiet, dahinter heben sich leicht die Hügel an, bewaldet, und wenn er sich anstrengt, der Seppl stellt sich auf die Füß, die Zehenspitzen, dann lugt doch irgendwo auch der Traunstein. Nein, nicht von herunten, Seppl, denk doch nach, musst rauf auf den Hügel hinterm Kloster. Da oben, wo die Aussicht dich bei guter Wetterlage bis zur Landeshauptstadt schauen lässt, sogar darüber hinweg, als würdest schon die Grenz nach Böhmen, da am Hügel oben schaust auch auf den Felsen, die Traunsteinspitze vom Salzkammergut. Auch der Priel aus dem Stodertal glänzt mit seinem Schneefeld heraus. Und davor freilich immer, mit ihrer schroffen Nüchternheit, die Kremsmauer.
Nüchternheit tut heut nicht gut, denkt der Seppl und nimmt einen zweiten Schluck, zieht die Jacke fest zu, als würd’s ihn frösteln. Sollt wärmer werden, das Wetter, hat’s geheißen, die Zeitung schreibt von allmählicher fortschreitender Besserung, wenn auch der April, wie er eben ist, in einer enormen Wechselhaftigkeit. In der Nacht hat’s sogar einen Frost gehabt, das wird auch heut erwartet, schreibt die Zeitung. Und der Seppl liest die Zeitung genau. Will am Laufenden sein, damit ihm keiner was, niemand soll ihm was erzählen. Ist doch nicht dumm, der Seppl, wiederholt er nun mit den eigenen Lippen und tut’s so, als müsst man’s merken, wie sehr es ihn schmerzt, das Wort von der Dummheit, das ihm anhaftet.
Der Seppl ist eben der Seppl. Und die Leut sagen es mit einer Milde, er sei eben anders. Schon als Kind hat man ihm diesen Satz gesagt, dann wird’s schon stimmen, hat er irgendwann selbst gesagt. Aber ist er deswegen verrückt? Jetzt muss er lachen, laut, aus einer Plötzlichkeit raus, der geistig Zurückgebliebene mit dem Hochgeistigen unterm Janker, lacht am Wahltag übers Tal hinweg, warum? Die Reflexe meiner Muskulatur sind unergründlich, denkt er als Antwort. Das Lachen ein bitteres bald, es verzerrt seine Wangen. Das Verrückte lacht auf seine eigene Weis. Bin nicht verrückt, sagt er dann immer. Ist eine Entrückung. Der Seppl einfach etwas neben der Spur. Musst drum nicht alles auf die Waagschale legen, beim Seppl, nicht für bare Münze nehmen, seine Wort. Die Zurechnungsfähigkeit ist so eine Sach. Auch wenn er fleißig und auch arbeitsfähig und drum auch angesehen und keiner, der am Rand, der Seppl, nein, der ist mitten im Dorf, da kennt man ihn, da lacht er einen an, ein verlässlich freundliches Gemüt. Mei, der Seppl. Nur weil’s die Geburt nicht so gut gemeint hat mit ihm. Das ist aber jetzt kein Grund hierzuland ihn ins Abseits zu drängen. Ist ein gutes Land, hierzuland. Und überhaupt muss man von Glück reden, dass der Seppl das alles durchgestanden, dass er nach der Geburt durch den Winter, als ein Siebenmonatskind, allerhand. Einen Lebenswillen, der Seppl. Im Ofen ist er gelegen, die Mutter hat ihn zum Feuer, das ihn warmgehalten hat, damit der Junge ausgebacken wird. So hat man’s gemacht, und so ist was geworden aus ihm. Ein Gemeindeangestellter. Wenn auch die Leut immer mit diesem Seufzen, sobald sein Name fällt, im Reden, das merkt er schon, der Seppl. Der ist eben nicht ganz hell! Derweil kommt’s ihm übermäßig hell vor, die Welt, grad heut wieder, grad jetzt. Eine Geblendetheit erwischt den stillen und bedächtig nun dreinschauenden Schnapstrinker hinterm Gemeindeamt, weil ein Sonnenloch hat sich aufgetan, unerwartet, mitten in der Nordwetterkammbewölkung, ist das nun die allmähliche Besserung?
Wo steckst? ruft forsch eine Männerstimm aus dem Amt raus, der Nagl bückt sich vor, es geht gleich los. – Ich komm schon, sagt der Seppl, sein hochprozentiges Geheimnis wahrend. Was treibt er denn, der Seppl, ruft ein anderer, der Gemeindesekretär Krumm redet neuerdings in einer Akkuratheit, so als würd ein Regiment antreten zu einem außerordentlichen Marsch, aber wohin? Kontrollier nur noch das Blumengehänge, so sagt’s der Seppl, damit er noch einen heimlichen dritten Schluck. Der Seppl kontrolliert noch das Blumengehänge, wiederholt’s der Nagl dem Krumm, der wiederum zurückbrüllt, das Gehänge sei ein Kontrolliertes, das hätt schon die Hanni heut um sechs. Außerdem muss nach hinten raus kaum was sichtbar sein vom Dekorativen. Aber grad das, meint der Seppl, sei ja das Versäumnis, und er steckt weiteren Blumenschmuck provisorisch in die Girlanden, soll doch auch ins Tal raus strahlen, die Gemeinde. – Da hat er recht, sagt jetzt der Edelbauer, der heut ein Beirat ist und der den Vorschriften, die neuerdings in einer ungewöhnlichen Schnelle und auch Präzision ans Amt herangetragen werden, mit äußerster Gewissenhaftigkeit zu folgen gedenkt, Vorschrift ist Vorschrift, so hat’s der Seppl noch genau im Ohr, das Protokoll von vor drei Wochen: Großbeflaggung hat zu erfolgen, wenn ein hervorragendes Mitglied der Reichsregierung oder der Reichsparteileitung zu einem offiziellen Besuch anwesend ist und eine offizielle Ansprache oder Rede halten wird. Großbeflaggung und Großschmuck erfolgen, wenn der Reichskanzler selbst anwesend ist und spricht. Unabhängig von den vorbezeichneten Anlässen gilt in der Zeit vom 6. April 1938 früh bis 10. April 1938 abend für das ganze Landesgebiet Österreichs Großbeflaggung und Großausschmückung.
Seither haben alle im Ort damit zu tun, dass die Herausgeputztheit der Anordnung von oben entspricht, wobei gar nicht klar ist, wo dieses Oben neuerdings sein soll, jedenfalls verweist die Bezirksbehörde auf die Landesbehörde und die wieder auf die Bundesbehörde, die doch immer das letzte Wort gehabt hat, die aber, und so viel ist dem Seppl klar, nun auch nur mehr die Worte nachspricht, die wiederum von einem anderen Oben heruntergesendet worden sind, oder eigentlich von draußen herein, von B erlin nämlich. So läuft hier neuerdings ein jeder wie verrücktfür Berlin.
Der Seppl hat die ausgebrochene Ausschmückungshysterie mit einem Achselzucken hingenommen, ist wie an jedem Tag davor aus dem Bett und hat sich streng an seine eingeübte Routine gehalten. Kein Grund, nun alles auf den Kopf zu stellen. So sagt er’s und sagt auch nicht Heil, wie’s neuerdings gesagt wird, sondern noch sein Grüß Gott. Das Grüß Gott ist seine Routine, wie das Waschen des Körpers und das Anlegen der Kleidung nach dem Aufstehen. Wie die Kniebeugen, er macht zwanzig jeden Morgen, das hat ihm die Hanni als Übung beigebracht, um seinen Körper besser in den Griff zu bekommen, und wie das Lesen der Zeitungen von der Trafik unten im Bleimfeldnerhaus, Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Illustrierte und Spezialmagazine, Motorsport, Fußball. Und da vor allem das Auswendiglernen der Namen der österreichischen Fußballnationalmannschaft, die neuerdings eine deutschösterreichische ist. Platzer, Schmaus, Sesta, Skoumal, Mock, Wagner, Pesser, Binder, Sindelar, Stroh, Hahnemann. Ersatzleute Zöhrer, Marischka, Laudon, Neumer.
Schieb deinen Arsch herein, Seppl, und die Stimme jetzt ist die bestimmteste, der Seppl weiß, er hat zu spuren, wenn der Herr Bürgermeister ruft. Er schleicht, so schnell er kann, hinterm Gemeindeamt herum, steckt seine Schnapsflasche seitlich an der alten Mauer ins Gebüsch, sein geheimes Depot, tritt in einer rasch vorgespielten Adrettheit auf die Ortsstraße raus, wo schon allerhand Leut sich versammelt haben, alle den Sonntagsanzug angelegt, das fesche Kleid, die Haare hübsch gemacht, während die Kirchglocken läuten. Heil Hitler, grüßt ihn der Förster in einer übermäßigen Lautstärke und einer Aufmachung, als würd der Kaiser heut erscheinen wollen. Der Seppl duckt sich, als hätt er’s nicht gehört, denkt nur, der Förster, der doch die Wälder vom Kloster betreut, sollt lieber bei der Mess sein, grad heut, ist doch ein Palmsonntag, stattdessen will er als ein Vorzeigenazi gelten, da schallt’s erneut, hörst Seppl, heil Hitler hab ich g’sagt, und der Seppl spielt sein dümmliches Lachen vor, damit man’s ihm durchgehen lässt, dem Verrückten, grüß Gott, lieber Förster, grüß Gott.
Überm Gemeindeamt hängt eine Aufschrift, der Seppl schiebt seinen Kopf drunter durch, da steht’s, weswegen hier alle heut erscheinen werden: Wir stimmen für Deutschland. Drinnen im Amt hat sich die Runde versammelt, denn noch ehe das Volk hereindrängt, in die kleine Stube, haben die Bediensteten selbst ihre Stimme abzugeben, weil, so sagt’s jetzt der Herr Bürgermeister, die Gemeinde geht geschlossen voran. Stolz schaut da jetzt aus den Augen, vom Gemeindesekretär Krumm, vom Beirat Nagl, vom Beirat Edelbauer, oder ist’s was anderes? Der Seppl hat gelernt, nicht immer jedem Anschein sogleich zu glauben, oft tut der Mensch Dinge, die er unter anderen Umständen als Irrsinn erachtet. Und in einer ungewohnten Aufregung wiederholt der Seppl seine Routine, um sich zu beruhigen: Platzer, Schmaus, Sesta, Skoumal, Mock, Wagner, Pesser, Binder, Sindelar, Stroh, Hahnemann. Ersatzleute Zöhrer, Marischka, Laudon, Neumer.
Na, alles gut, Seppl? Der Herr Bürgermeister sieht heute noch aufgeplusterter, fast wie ein Auerhahn aus, mit dem Federbüschel und den Orden am Revers. Ja, alles gut, kommt’s wie von selbst aus dem Seppl, doch dann räuspert er sich und schluckt, was ist? Was hat er, der Seppl? Warum trinkt er denn heimlich den Schnaps in der Früh? Sie haben zum letzten Mal gespielt. Der Kern verharrt in einer Verwirrtheit, was der Seppl jetzt wieder redet, will’s schon abtun, da meint der Nagl, der Seppl mache sich nur Sorgen um den österreichischen Fußball. War doch das letzte Spiel der Nationalelf. Ja, und was für eins! Die Deutschen hätte man direkt niedergeschossen. Der Bürgermeister Kern starrt auf den Krumm, weil doch vom Niederschießen der Deutschen keine Rede sein darf, gerade heute nicht, und sagt halb streng, halb salopp: Na, da hat der Gemeindesekretär wohl seinen Altpatriotismus nochmals ausleben wollen, sei’s drum. Heut wird ganz neupatriotisch das Kreuz am rechten Fleck gemacht. Und da legt er dem Seppl die Hand auf die Schulter, mit einer sonderbaren Schwere.
Ist das die Schwere seines Amts? fragt sich der Seppl. Wie leicht fällt’s, wenn sich ständig alles dreht, im Politischen? Da war grad eben noch das eine zu tun und jetzt wieder doch nicht, und der Herr Bürgermeister war grad eben noch bei der einen Partei und jetzt wieder doch nicht. Hat sich da gut durchmanövriert, so hat’s die Hanni gestern unter der Hand gesagt, als nur noch sie und der Seppl da waren, sie waren die Letzten und haben sogar die Fahnenstange noch poliert, bis die Sonn untergegangen ist, aber behalt’s für dich, Seppl, darfst nicht allzu viel mehr offen sagen. Der Seppl sagt’s trotzdem, als er sich am Dach vom Amt festkrallt, der Fahnenstange zum Glanz verhelfend: Ist ein Schlitzohr, der Kern, weil ist doch nach Bayern. Spricht’s aus, was alle wissen, hat sich doch der Kern in den letzten Jahren irgendwann aus der alten Partei heimlich geschlichen, auch wenn er kurz davor noch groß am Redenschwingen war, fürs Vaterländische, da ist er plötzlich leiser geworden, hat sich mit dem Herrn Schwager auf einige Fahrten ins Nachbarländische begeben, was tust im Bayrischen, Kern? fragt unschuldig die Ortsjugend beim Bier. Und er sagt immer nur, fast als wär’s ein Volkslied, es g’hört zsamm, was zsamm g’hört, und außerdem sei es doch ein schöner Landstrich, man wird doch auch mal fortfahren dürfen. Zurückgekommen ist er als ein Nazi. – Sag das nicht so, Seppl. Aber die Hanni weiß das doch auch, ist doch nicht dumm. Keiner im Dorf hier ist so blind, das nicht gesehen zu haben. Hat eben den Zeichen der Zeit als ein erster nicht nur nachgeschaut. Ist ihnen nachgegangen. Nachgetrottelt. – Geh, Seppl. – Wenn’s wahr ist! Und wie dann der Abend vom 11. März gekommen ist, da ist er mit seinem Wagen hoch zum Altbürgermeister von der Altpartei, auf den Bürgermeisterhof, hat sich noch Verstärkung mitgenommen in seinem Wagen, weil sollst doch immer in der Überzahl, das hat er wohl dort draußen gelernt, in Bayern. Das Überraschungsmoment der Überzahl gegenüber der Unterzahl, die eigentlich, wär sie nicht überrascht worden, die Überzahl gewesen wär, wobei man eine Eigentlichkeit der Mehrheit ja immer nur schwer erkennen kann, was denkt sie denn wirklich, die Mehrheit? Die Hanni schweigt. Was denkt denn die Hanni im Herzen? Ist sie Marxistin? Revolutionärsozialistin? Erzkatholikin? Deutschnationalistin? Die Wörter fallen im Hirn vom Seppl durcheinander, so viel Geschrei in den letzten Wochen. Er weiß nur, wie’s dann weitergegangen ist, dass nämlich das Schlitzohr von Kern in der Tür vom Altbürgermeister gestanden ist, aufgeplustert und bewaffnet, zieh dir was drüber, ist was zu tun, unten auf der Gemeinde, steig ein. Hätt der Altbürgermeister ihm, dem Aufgeplusterten, nicht einfach die Tür ins Gesicht? Hätt er ihm doch eine drüberdreschen müssen, sagt der Seppl zur Hanni, aber beide wissen, dass allen neuerdings eine absonderliche Furcht im Nacken sitzt. Welche das genau ist, das weiß keiner so sicher, ist nahe der Furcht, die man dem Herrn entgegenbringt, fast in einer Demut. Wir konnten halt nicht aus unserer Haut, wird’s hernach geheißen haben.
Am End ist der Altbürgermeister jedenfalls am Gemeindetisch gesessen, umlauert von den Neuüberzeugten, die ihm ein Dokument hingelegt haben, ab morgen wachelt da ein neuer Wind. Tu ned lang um und setz deinen Haxn drunter. Zögert der Altbürgermeister? Ist er erleichtert, dass alles so schnell geht? Oder trägt er auch schon eine andere Überzeugung unterm Mantel? Er lässt’s geschehen. Und der Kern löst den Gemeinderat auf und setzt sich seine besten Freund ins Amt. Und behält dann doch auch die, die nötig sind, damit alles am Laufen, so ist’s ja nicht. So eine Gemeinde muss ja auch, wenn sie neu besetzt ist, laufen. Und der Seppl spürt in seinem Denken immer schwerer nun wieder die Neubürgermeisterhand, sie drückt ihn runter, setzt’s euch jetzt.
Dann wird das erste Kreuz gemacht. Vor allen anderen macht er’s, der Kern. Dass es jeder sieht. Faltet den Wahlzettel, gibt ihn ins Kuvert, das Kuvert in die Wahlurne und den Schreibstift weiter an den nächsten, das ist der Krumm. Auch er, Blicke treffen sich, es muss nicht viel geredet werden, tut es offen, kein Wahlgeheimnis hier. Für den Führer. Gibt den Stift weiter. Das ist eine sonderbare Art, diese neue Politik. Als würd man das eigene Denken abschaffen. Und wieder, für den Führer, Blicke der Genugtuung, oder ist’s diese absonderliche Ehrfurcht? Was würd passieren, wenn man nun den Tisch verlassen würd, den Stift zerbrechen, draufsteigt am Boden, sich diesem neuen Gleichklang verweigert?
Jetzt ist der Seppl an der Reihe, vor ihm das Papier, von draußen hört er die hereindrängenden Stimmen, das ganze Dorf. Vor die Kommission soll getreten werden, völlig unverhohlen wird das treue Volk sein Ja in aller Öffentlichkeit. Seppl, gemma. Doch der Seppl zögert. Das ist ihm zuwider. Er steht auf, was willst? Nimmt das Papier, den Stift, so wie’s immer gemacht worden ist. Routine ist wichtig, sagt er, will hinter den Vorhang, den er mit der Hanni gespannt, wie auch bei den letzten Wahlen schon, wann waren die? Mach’s doch gleich hier, verdammt. Ist da schon eine Wut in den Worten? Mit Vehemenz will man ihn am Tisch halten. Er reißt sich los, ist immer das Wahlgeheimnis, bei jeder Wahl ist das Geheimnis, so gehört’s, seit dem Anfang, wo man abgestimmt, und so zitiert er aus dem Stehgreif Sätze der Verfassung, das sagt die Verfassung. Seppl, was zählt die Verfassung? Ist aber auch die Verordnung, Herr Bürgermeister, nimmt er sich das tatsächlich heraus, der Seppl, konfrontiert den Bürgermeister? Der steht ihm nun gegenüber, wird ernst in seinem Schauen, der Seppl hebt das Kinn und sagt, was er zu sagen hat, was er auswendig gelernt: Die Stimmzelle ist derart herzustellen, dass der Stimmberechtigte in der Zelle unbeobachtet von allen anderen im Stimmlokal anwesenden Personen den Stimmzettel ausfüllen und in den Umschlag geben kann.
Stille im Raum. Lass dich nicht zu weit raus, Seppl, der Bürgermeister Kern räuspert sich. Und der Seppl setzt nochmals an, die Stimmzelle ist derart herzustellen, dass der Stimmberechtigte … – Schon gut, Seppl. Es ist die gewohnte Milde zurück, mei, der Seppl ist der Seppl. Und der Bürgermeister weiß doch selbst am besten, was drinsteht, in der Verordnung, die ihm die neue Regierung in Wien zukommen hat lassen. Eine freie und geheime Wahl. Dann lass ihn halt. Der Nagl, der schon halb gestanden ist, setzt sich wieder, der Krumm schaut weg, irgendwo runter (neuerdings wird Blicken einfach ausgewichen). Der Bürgermeister hält dem Huber Seppl den Vorhang auf, bitt’schön der Herr. Solang’st weißt, was sich g’hört.
Was sich gehört, hat er genau im Kopf, der Seppl, er weiß, dass in anderen Gemeinden schon Leute abgeholt worden sind, dass man die zu laut Gewesenen weggesperrt hat, damit sie keine unerwünschte Propaganda verbreiten, und dass einer von der falschen Art sowieso nicht wählen darf, das weiß er auch (er fürchtet den Moment, da einer kommen wird und sie ihm abspricht, die Fähigkeit zur Willensäußerung). Umso eigenwilliger zieht er den Vorhang hinter sich zu, noch den Spott im Ohr: Sag mal, Seppl, was ist noch mal ein Jud? So haut ihm der Edelbauer noch eine Provokation in die Wahlzelle rein, die nur aus einem Theatervorhang aus dem Bühnenfundus des Dorfes besteht, und im Automatismus seiner Routine wird der Seppl zur verlässlichsten Auskunftsperson seiner Gegenwart, erstens, Jude ist, wer von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammt. Als volljüdisch gilt ein Elternteil ohne weiteres, wenn er der jüdischen Religionsgesellschaft angehört hat. Zweitens, als Jude gilt der von zwei volljüdischen Großeltern abstammende jüdische Mischling, der, Zwei, Punkt Eins, am 16. September 1935 der jüdischen Religionsgesellschaft angehört hat oder danach in sie aufgenommen wurde, oder der, Zwei, Punkt Zwei, am 16. September 1935 mit einem Juden verheiratet war oder danach sich mit einem solchen verheiratet hat. Eine Korrektheit, Seppl, schau, schau, da kann sich ein jeder aufrechte Nationalsozialist was abschneiden. Er schluckt.
Er steht hinterm Theatervorhang. Und da sind die beiden Kreise vor ihm. Das Ja und das Nein. Und der Kreis für das Ja, der ist der größere. Alles drängt ihn hier zu einer Zustimmung. Er spürt den Atem der anderen. Jetzt hängt ihm tatsächlich was im Nacken. Nicht die Furcht. Es ist die Zeit, die angebrochen ist. Die Gemeindestube voll von dieser Neuzeit. Wie kannst nur was anderes jetzt? Sie sind gegen mich. Sagt er zur Hanni in Gedanken. Sie werden auch mich versperren. Nicht gleich, aber später. – Geh, Seppl, keiner wird dich wegsperren. Wir halten zsamm. Aber was, wenn der Zusammenhalt bald gespalten? Der Seppl sieht mit einem Mal die Stube auseinanderbersten, zwischen den beiden Kreisen, da tut sich ein gewaltiges Loch auf, es wird uns alle reinreißen, geh Seppl. Du spinnst. Es bebt in seinen Hirnwindungen, es dröhnt das Gelächter und Nachäffen, die vielen Male, da man über ihn hergezogen, ihn zur Zielscheibe einer Erniedrigung gemacht hat. Das alles hat er ertragen, drübergelächelt, ja, der Dumme wird doch jetzt nicht nachtragend sein. Was pocht hier so unendlich schmerzlich? Draußen zieht die Blaskapelle vorbei.
Wir warten, Seppl. Die Milde des Bürgermeisters wird auf die Folter gespannt, wer wird hier noch bald aufgespannt, zurechtgebogen, umerzogen, fallen gelassen? Zeiten kommen, Menschen gehen. Und der Seppl muss sich beruhigen, die Hand zittert ihm, sein Schreibstift wirbelt von Kreis zu Kreis, er wird doch jetzt ein Kreuz, verdammt! Und zählt, in seiner Suche nach Routine, alles auf, was er weiß, über diese seine Gegenwart. Renner, Mayr, Schober Eins, der Eintages-Breisky, Schober Zwei, Seipel Eins, Ramek, Seipel Zwei, Streeruwitz, Schober Drei, Vaugoin, Ender, Buresch, der Heilige Dollfuß, Schuschnigg. Renner, Mayr, Schober Eins, der Eintages-Breisky, Schober Zwei, Seipel Eins, Ramek, Seipel Zwei, Streeruwitz, Schober Drei, Vaugoin, Ender, Buresch, der Heilige Dollfuß, Schuschnigg. Renner, Mayr, Schober Eins, der Eintages-Breisky, Schober Zwei, Seipel Eins, Ramek, Seipel Zwei, Streeruwitz, Schober Drei, Vaugoin, Ender, Buresch, der Heilige Dollfuß … und jetzt kommt halt ein neuer Name dazu. Denkt’s, sieht das nickende Gesicht, innerlich, der Hanni, mach nichts Dummes, lieber kluger Mensch. Allmähliche fortschreitende Besserung. So ist’s doch gestanden. Im Wetterbericht.