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TÉTOUAN & CHEFCHAOUEN/MAROKKO Endlich Afrika

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Gleich hinter den Kontrollen ist alles gut organisiert. Sammeltaxen, sogenannte „Grands Taxis“, warten auf die Grenzgänger. Für 1,70 € geht es zügig die knapp fünfzig Kilometer an der Mittelmeerküste entlang Richtung Tétouan. Komfortabel über breite palmengesäumte Boulevards, vorbei an endlosen weiß getünchten Resorts für marokkanische Sommerfrischler. In den anmutigen Pinienwäldern entlang der Küste leben seit vielen Jahren gestrandete Afrikaner fast unsichtbar, praktisch vogelfrei. Bis nach Europa haben sie es nicht geschafft, können aber nicht in ihre Heimat zurückkehren. Entweder weil das Geld fehlt, oft auch, weil die Schande zu groß ist, daheim als Versager angesehen zu werden. Wovon sie leben, ist mir schleierhaft. Die Staatsmacht lässt sie in Ruhe, solange sie sich nichts zuschulden kommen lassen, erzählt Ahmed, unser Chauffeur. In wilden Camps fristen kleine Gemeinschaften, fast unbemerkt von der marokkanischen Gesellschaft, ihr Dasein. Dort werden Kinder geboren, die ohne Schule aufwachsen, berichtet er.

Nichts davon sieht man auf der Fahrt an der Küste entlang. Links das Meer, rechts die eindrucksvolle Silhouette des Rif-Gebirges am Horizont. Bis in die Neuzeit war die Küste berüchtigt für ihre Seeräubernester. Nach der Vertreibung der letzten Muslime aus Spanien machten Korsaren von dieser Küste aus das Mittelmeer unsicher, erpressten Lösegelder und mischten im Sklavenhandel mit. Die Rif-Berge sind heute die Heimat der marokkanischen Drogenbarone. Marokko ist einer der größten Exporteure von Haschisch. Angeblich siebzig Prozent des in Europa verkauften Cannabis sollen aus dieser Gegend stammen. Jede Grünfläche, die nicht von einer Straße eingesehen werden kann, soll als Anbaufläche für Hanfpflanzen dienen, behaupten böse Zungen. Aus Publicity-Gründen steckt der marokkanische Staat ab und zu ein paar Felder in Brand, hat aber wohl den Kampf gegen die rebellischen Berber im Großen und Ganzen aufgegeben. Vor Nachtfahrten in den Bergen wird dringend gewarnt! Denn dann muss der Stoff irgendwie zur Küste, transportiert von rauen Gesellen, mit denen wohl nicht gut Kirschen essen ist. Dort wird die entspannende Droge in Boote nach Europa verladen. Nicht nur Flüchtlinge sind an dieser Küste illegal unterwegs.


Tétouans gute Stube: Pflasterornamente an der Place Feddan, im Hintergrund Teile der Medina

Spätestens in Tétouan habe ich Europa hinter mir gelassen. Die verwinkelten Gassen der Medina sind vollgestopft mit Menschen. Viele Männer tragen die Djellaba, den traditionellen Kapuzenmantel der Berber. Geschäftstüchtige Händler rufen Passanten im Souk ihre Angebote zu. Der männliche Teil der Bürger bevölkert Tee trinkend die Cafés und der Muezzin versucht sich Gehör zu verschaffen – hier besteht kein Zweifel mehr, dass diese Stadt eine nordafrikanische ist, der Maghreb erreicht ist.

„Es riecht so gut! Pass auf, dass du nicht geschnappt wirst, sie sind nämlich hinter dir her, du alter Kiffer!“, war in den 1980ern Nina Hagens fürsorglicher Rat. Nun ja, ernste Sorgen muss sich diesbezüglich in Chefchaouen, nur knapp siebzig Kilometer südlich von Tétouan, wohl niemand machen. „Legalize it“ ist Alltag. Schon allein diese Tatsache sichert der malerischen Kleinstadt im Rif-Gebirge einen beständigen Besucherstrom. Tatsächlich riecht es oft sehr würzig. Selbst den öffentlichen Gebrauch des Stoffes im Teehaus – obwohl haram (nach islamischem Glauben verboten) – scheut der rebellische Rif-Berber nicht. Angeblich ist der König der größte Landbesitzer in der Region. Ein Schelm, wer bei der Vielzahl der Anbauflächen Böses denkt! Doch auch dies ist ein Gerücht, das sich nicht überprüfen lässt. Denn eigentlich ist Mohammed VI., kurz M6, ja ein Guter, wie ich erfahre. Sein Volk liebt den omnipräsenten Monarchen jedenfalls. Aber zu M6 später mehr.


Winterlicher Nachmittagsplausch

Verlieren kann sich der Fremde in „Chaouen“, wie die Einheimischen ihre Stadt nennen, nicht nur beim Genuss weicher Drogen, sondern auch in den Gassen der Medina. Und das stocknüchtern. Offensichtlich sind auch die Stadtplaner Fans des allgegenwärtigen Krauts. Als hätte eine wildgewordene Horde Sechsjähriger ihre King-Size-Packung Bauklötze ausgeschüttet und die kreuz und quer durcheinander liegenden Blöcke anschließend durch Gassen, Tunnel und Treppen miteinander verbunden. Dieser chaotische Häuserhaufen liegt pittoresk an einem steilen Berghang. Hier und da, meist nach hunderten von schweißtreibenden Treppenstufen bergan, finde ich mich in heimtückischen Sackgassen wieder und verfluche die scheinbar tollwütigen Bauherren. All diese wahllos übereinander liegenden Kuben wurden in der Farbe der Weisheit, der Zufriedenheit und Harmonie – also blau – getüncht. Das beruhigt. Sicherlich damit die in diesem Labyrinth seit Stunden Suchenden nicht komplett durchdrehen. Aber diese unterschiedlichen Blautöne schaffen im Häuser- und Treppengewirr tatsächlich eine ganz eigene, melancholische Stimmung. Bezaubernd! Vorausgesetzt man hat kein festes Ziel.


Schulkinder vor der Snack- und Spielwarenauslage an einer Hauswand

Selbst hier oben in Chaouen, weit im Norden Marokkos, sind viele Händler aus dem südlicheren Afrika fleißig. Haratin oder Zugereiste? Haratin, die „Freien zweiter Klasse“, nennen Marokkaner die Nachfahren der „schwarzafrikanischen“ Sklaven, die über Jahrhunderte ins Land verschleppt wurden. Marokko braucht manchmal etwas länger. Erst in den 1960er-Jahren verschwand die Sklaverei in Marokko nach und nach. Die Haratin waren es jedoch gewohnt zu schuften und manche brachten es nach ihrer Befreiung schnell zu bescheidenem Wohlstand. Gewöhnlich weiß kein Haratin, woher seine Ahnen stammen. Der Weg zurück ins südliche Afrika blieb somit für immer versperrt. Die neuen Herren hatten ihre Sklaven bewusst voneinander getrennt. So waren die Haratin gezwungen, die Sprache ihrer neuen Heimat zu lernen. Nur in der Gnaoua, einer mystischen Bruderschaft, die den Islam mit Elementen subsaharischer Riten verbindet, ist es den ehemaligen Sklaven mit unterschiedlichen Muttersprachen gelungen, neue Gemeinsamkeiten zu schaffen.


FEELING BLUE: UNTERWEGS IM GASSENLABYRINTH

CHEFCHAOUEN/MAROKKO

Durch Beobachtung von Sonnenstand, Windrichtung und GPS-Daten finde ich im zartblauen Durcheinander von Treppen, Gassen und Tunneln tatsächlich irgendwann den Heimweg zu meiner Unterkunft. Mohamed, der Hüter meiner bescheidenen Behausung im andalusischen Stil, die filigrane Schnitzereien, üppige Mosaiken und eine kühle Brunnenoase im Innenhof bietet, erzählt mir, dass M6 sehr wohlwollend mit der derzeitigen Fluchtwelle umgehe. Seit ewigen Zeiten mit menschlichen Wanderungsbewegungen vertraut und über Jahrhunderte vom Karawanenhandel abhängig, gewährt der König den 50.000 Subsahara-Afrikanern im Land relativ umstandslos Arbeitsvisa mit bis zu fünf Jahren Gültigkeit. Schließlich kam die ethnische Mehrheit der Marokkaner, die auch das Königshaus stellt, selbst vor langer Zeit von der arabischen Halbinsel. Heute arbeiten Menschen aus Sierra Leone, dem Senegal, Guinea-Bissau und von der Elfenbeinküste in den Souks. Als Fischer oder Straßenhändler, oft als Kellner, wahrscheinlich nicht gerade zu Spitzenlöhnen. Aber auch Ingenieure und Ärzte kommen bisweilen. Denn Marokko blickt auf eine lange Geschichte der Migration zurück und ist für afrikanische Verhältnisse heute wohlhabend. Definitiv kein „Shithole-Country“. In Marokko blühten Kunst, Kultur und Architektur schon mehr als 400 Jahre vor der Entdeckung Amerikas.

Dieser bescheidene Wohlstand ist einer der Gründe für die Beliebtheit der marokkanischen Dynastie und die Verehrung von M6. Das marokkanische Königshaus legt traditionell großen Wert auf Bildung. M6 sorgte nach Jahrhunderten endlich für die Gleichstellung der Berber, Tamazight – die Sprache der Berber – wurde 2011 zur Amtssprache erhoben. Trotzdem gibt es Verfassungsartikel, die dem König unumschränkte Macht garantieren. Aus demokratischem Blickwinkel ist M6 also ein Despot. Staatsrechtler sprechen von einem „Hybridregime“ aus demokratischen und autoritären Elementen. Offensichtlich liegt M6 aber viel an der Bekämpfung von Armut, Analphabetismus und Korruption. Er erließ ein Familienrecht, das Frauen vor dem Gesetz zu hundert Prozent gleichberechtigt. Das steht in einer patriarchalischen Gesellschaft zunächst zwar nur auf dem Papier – aber irgendwo muss man ja wohl mal anfangen.

M6 tanzte im Kreise der arabischen Despoten deutlich aus der Reihe, als er in der fortschrittlichen Verfassungsreform von 2011 freiwillig Macht abgab und sich im Arabischen Frühling an die Spitze der marokkanischen Bewegung setzte. Seitdem gedeiht die Pressefreiheit zumindest als zartes Pflänzchen, Demonstrationen sind möglich. Kritik am Königshaus verbietet sich selbstverständlich weiterhin. Immer noch sitzen Bürgerrechtler und Blogger in Haft. Irgendwo muss ja auch mal Schluss sein mit dem demokratischen Firlefanz. Bereits in Marokko zeigt sich, dass es offenbar ein Drahtseilakt ist, nach Jahrhunderten mit archaischen Herrschaftsformen aus dem Stand eine erfolgreiche, moderne Gesellschaft zu etablieren. Ich kann verstehen, dass sich der Monarch hier ein letztes Wort vorbehält. Zumindest bis eine Gesellschaft entstanden ist, die auf der Basis eines guten Bildungsniveaus in der Lage ist, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Undemokratisch? Vermutlich, mir scheint es jedoch ein gutes Zeichen zu sein, dass M6 von den Marokkanern geliebt und im Gegensatz zu seinem Vater Hassan nicht gefürchtet wird. Mag sein, dass ich hier falsch liege, weil die Kritiker sich nicht aus der Deckung wagen. Doch eins darf man bei allem Wohlwollen für M6 nicht vergessen: Wie ergeht es einem Volk, wenn aus einem „guten“ König ein „böser“ wird oder ein solcher auf ihn folgt?

Das Porträt seiner Majestät gehört natürlich deutlich sichtbar in jedem Geschäft, jeder Imbissbude, jedem öffentlichen Gebäude zum Inventar. Mal traditionell gekleidet, mal in Uniform, mal im Business-Outfit. Mal mit Armee, mal mit Pferden, mal mit Porsche, aber fast immer mit Sonnenbrille – einfach cool. Wie viele Herrscherhäuser in der islamischen Welt sieht sich M6 als direkter Nachfolger des Propheten Mohammed. Mich wundert ein wenig, dass er trotz dieser familiären Nähe zum Begründer des Islam so oft fotografiert werden darf. Fast alle traditionell gekleideten Marokkaner lehnen auch noch so höfliche Fotoanfragen ab. Selbst Motorradfahrer scheinen einen sechsten Sinn zu besitzen und reißen in voller Fahrt, noch hundert Meter vom Fotografen entfernt, den Arm vors Gesicht. Der Islam verbietet die Abbildung des Menschen, sagen mir die Einheimischen. Denn laut Koran kann nur Allah erschaffen. Scheint mir etwas weit hergeholt, insbesondere wenn ich daran denke, wie sich Menschen anderer islamischer Länder mit Begeisterung vor die Kamera werfen. Für den König Marokkos scheinen wohl sowieso andere Regeln zu gelten.


Speisen wie in Tausendundeiner Nacht: Restaurant in Chefchaouen


Café-Dachterrasse bereit für die Nachmittagsgäste

Reise Know-How ReiseSplitter: Im Schatten – Mit dem Buschtaxi durch Westafrika

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