Читать книгу Reise Know-How ReiseSplitter: Im Schatten – Mit dem Buschtaxi durch Westafrika - Thomas Bering - Страница 15
LAÂYOUNE & DAKHLA/MAROKKO, PROVINZ SAHARA ODER DEMOKRATISCHE ARABISCHE REPUBLIK SAHARA (DARS) Brennend heißer Wüstensand
ОглавлениеM6 besuchte gerade einen Hammam, als ihm ein Flaschengeist erschien. „Einen Wunsch hast du frei“, bot ihm der Geist an. „Ich möchte wirklich gerne noch einmal mit meinem verstorbenen Vater König Hassan II. plaudern.“ „Oh, einen Toten zum Leben zu erwecken, das ist ein schwieriger Wunsch“, entgegnete der Flaschengeist, „Hast du nicht noch einen anderen Wunsch?“ „Na ja, ich möchte auch gerne, dass die Westsahara ein Teil Marokkos wird“, sagte M6. „O.K., lehn dich einen Moment zurück, entspann dich. Ich schaue derweil, dass ich deinen Vater auftreiben kann!“
Saharawi-Witz
Langsam kriecht das fahle Märzlicht über den Horizont. Es ist acht Uhr morgens und immer noch saukalt, als der Bus Laâyoune, die größte Stadt der ehemals spanischen Sahara, immer noch mehr als 500 Kilometer von Dakhla, verlässt. In Laâyoune war kaum Zeit für einen Tee im Marmorpalast des modernen Busbahnhofs. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise lassen sich Fahrer und Passagiere eine solch gute Gelegenheit für eine anständige Mahlzeit auf einer Langstrecke nicht entgehen. Ich habe den Eindruck, dass man sich in dieser Unruheprovinz nicht länger als nötig aufhalten will. Der Bus hat sich nach Stopps in Agadir und Tan-Tan spürbar geleert. Das ist angenehm, denn ich kann mich über zwei Sitze fläzen. Trostlose, sandfarbene Ortschaften ducken sich alle paar hundert Kilometer unter dem grauen Dunst des Himmels, fade Bedeutungslosigkeit in einem Meer aus Schotter. Hier und da stehen ein paar Zelte im Nichts, ein Fischer an der Steilküste, selten ein paar stromernde Dromedare. Highlight sind ein paar Wüstenblumen an einer sandigen Böschung. Während die gleichförmige Landschaft am Fenster vorbeizieht, nähere ich mich langsam einem meditativen Zustand, tief in mir ruhend. Wenige Pixel im großen Wüstengemälde. Das Meer, wenn es zu sehen ist, wirkt wenig einladend. Meer und Himmel haben die gleiche milchige Farbe und verschmelzen miteinander, ohne dass der Horizont klar auszumachen ist. Die Kontrollen der Sûreté Nationale, der Staatspolizei, häufen sich inzwischen. Der Bus wird durchsucht, zum ersten Mal will jemand meinen Pass sehen.
Pinkelpause in einem Café im Nirgendwo. Eine kaum frequentierte Tankstelle, durch die der Wüstenwind fegt, ein paar weißgetünchte Zementkästen, die das Café und ein paar winzige Motelzimmer beherbergen. Verschlafene Langeweile bis vielleicht einhundert schwer bewaffnete Polizisten der Sûreté Nationale per Jeep, SUV und in Bussen auf einen Kaffee eintrudeln. Zu den Aufgaben der Truppe, die für Marokkos innere Sicherheit zuständig ist, gehört die Grenzüberwachung und die Terrorismusbekämpfung. Sie besitzt mobile Interventionscorps und arbeitet eng mit den Moroccan Auxiliary Forces, einer paramilitärischen Einheit, zusammen. Ihre Ausrüstung erweckt nicht gerade den Eindruck, als würden sie Hühnerdieben nachstellen. Die Scheiben ihrer schicken SUVs sind vergittert. Die höheren Offiziere haben ihre Augen fast ausnahmslos hinter Sonnenbrillen versteckt. Ein surreales Frühstück zwischen schwer bewaffneten Uniformierten, die uns Busreisende völlig ignorieren, folgt. Der Colt muss nicht an der Bar abgegeben werden. Die Zivilisten senken verschüchtert Stimme und Blick, Gespräche verstummen. Fotos verboten. Mehr Kasernenkantine als Raststätte. Offensichtlich muss dieses Meer aus Sand und Steinen schwer gesichert werden.
Die Provinz Sahara befindet sich offiziell in einer Art Schwebezustand. Hier, in Afrikas letzter Kolonie, schläft ein fast vergessener Befreiungskrieg, während Marokko Fakten schafft. Wie ist es möglich, sich über den Besitz eines derart trostlosen Landstrichs so sehr in die Haare zu kriegen, dass bislang schon über eine Milliarde Dollar in Frieden stiftende UN-Missionen versenkt werden musste?
1884/85 bekamen die Spanier diese fast menschenleere Wüstenregion zugesprochen, die offensichtlich keine der anderen Kolonialmächte haben wollte. Nach vielversprechenden Phosphat-Funden verlangten Marokko und Mauretanien die Entkolonialisierung der Westsahara. Spanien blieb jedoch und so gründete sich 1973 die linksgerichtete POLISARIO und begann den bewaffneten Kampf der Saharawis gegen die spanische Herrschaft. Inzwischen hatte der Internationale Gerichtshof in Den Haag entschieden, dass die spanische Sahara bei Kolonialisierung kein herrenloses Territorium war, sondern sich in einer Treueeid-Beziehung Marokko unterworfen hatte. Mit diesem Urteil in der Tasche setzte der marokkanische König Hassan II. seinen lang gehegten Plan zur Einverleibung des Territoriums in die Tat um. Im November 1975 marschierten über 350.000 Menschen beim sogenannten „Grünen Marsch“, nur kärglich mit Koran und grünem Stern auf roter Fahne bewaffnet, über die Grenze und holten die verlorene Provinz heim nach Marokko.
Speiseangebot einer kleinen Raststätte im Nirgendwo der Wüste
Bauboom im Art-Déco-Stil: Dakhla wächst!
Teekanne oder Aladins Wunderlampe? Touristenattraktion auf Dakhlas neuer Promenade
Bis heute kämpft die POLISARIO jedoch für eine unabhängige Sahara-Republik der Saharawis. 1976 hat sie die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausgerufen. Die ist immerhin von 46 Staaten anerkannt. Es waren sogar schon einmal um die achtzig, doch die Front gegen die marokkanische Annexion bröckelt. Die Oberhoheit Marokkos über die ehemalige spanische Sahara will hingegen niemand so recht anerkennen. Sogar meine Botschaft vertritt mich aus völkerrechtlichen Gründen in diesem Teil der Welt nicht. Uniformen und Fakten sprechen eindeutig dafür, dass ich mich auf marokkanischem Territorium befinde. Das Völkerrecht sagt jedoch, dass ich mich in einem „Nicht-selbst-regierten-Territorium“ aufhalte.
Währenddessen bekämpft die POLISARIO den marokkanischen Staat aus der Wüste heraus. Auf 2.700 Kilometern Länge quer durch die Sahara hat sich die Provinz hinter dem „Hassan-Wall“ verschanzt. Bewacht von 130.000 Soldaten, alle drei Kilometer mit einem Kommandoposten bestückt, ausgestattet mit jedwedem elektronischen Schnickschnack, Bewegungsmeldern und Stacheldraht, soll ein Streifen Landminen für die Extra-Portion Sicherheit hinter dem „Hassan-Wall“ sorgen. Immerhin ein Drittel von König Mohammeds Provinz liegt jenseits der Mauer und wird von Marokko nicht kontrolliert. Marokko betreibt somit mitten in der Wüste das vermutlich längste durchgängig von Landminen gesicherte Befestigungswerk der Welt.
Aktuell schwelt der Konflikt auf kleiner Flamme mit einer Strategie der gegenseitigen Nadelstiche. Der inzwischen schlafende Krieg hat nach Schätzungen wohl die Hälfte der Saharawis nach Algerien oder in den von Marokko nicht kontrollierten Teil der DARS hinter Hassans Mauer vertrieben. Mindestens 120.000 Menschen sind geflohen, die meisten leben in menschenunwürdigen Flüchtlingslagern in der südalgerischen Wüste.
Der derzeitige fragile Waffenstillstand wird seit 1991 von der UN überwacht. Klares Ziel der UN-Mission ist die Abhaltung eines Referendums zur Selbstbestimmung der Bevölkerung. Aber wer darf abstimmen? Es scheint unmöglich, hier eine Einigung herbeizuführen. Die POLISARIO besteht darauf, dass nur die Saharawis und deren Kinder stimmberechtigt sind, die zur Zeit der spanischen Kolonialherrschaft, also vor gut 45 Jahren, in dem Territorium lebten. Marokko fasst den Kreis der Stimmberechtigten natürlich weiter. Erschwerend hinzu kommt die Neigung großer Teile der Bevölkerung, einer nomadischen Lebensform zu frönen. Wer war wann wo? Und wer soll das feststellen? In der Wüste gibt es keine Geburtsurkunden. Ein solcher Konflikt ist nicht mehr zu entwirren. Währenddessen errichtet Marokko Straßen und Häfen, baut Hotels, pflastert die Wüste mit Armee-Camps und fördert den Zuzug neuer potenziell Stimmberechtigter aus dem Norden mit Steuer- und Zollfreiheit. Derweil verschwinden kritische, nach Unabhängigkeit oder Selbstbestimmung rufende Stimmen der Saharawis immer noch in den Kellern der marokkanischen Geheimpolizei. So träumt so mancher Saharawi von einer Intifada nach palästinensischem Vorbild, während andere einfach nur ihre Ruhe wollen.
Und was macht die marokkanische und die europäische Jugend vor dem Hintergrund dieses politisch frustrierenden Konflikts in der Westsahara? Sie geht Kite-Surfen! Dakhla, auf einer sandigen, 38 Kilometer langen Landzunge im Atlantik gelegen, bietet in einer Lagune mit beständigem Wind beste Verhältnisse für Kite-Surfer. Marokko hofft, diese Destination auf der Weltkarte der Fun-Sportarten zu etablieren, Arbeitsplätze zu schaffen und die Wüste vielleicht noch ein wenig marokkanischer zu machen. Nach 1.400 Kilometern Fahrt von Marrakesch, auf der es selten mehr als Steine zu sehen gab, wirkt das Meer der bunten Segel über der Bucht von Dakhla wie eine Fata Morgana. Genauso wie die Blechlawine der Wohnmobile, die es zu Dutzenden hierher geschafft haben. Hauptsächlich Franzosen und Spanier überwintern kostengünstig am Strand oder in bewachten Camps irgendwo in der Wüste.
Noch ist in Dakhla der „Traum vom großen Geld“ in weiter Ferne. Von Massentourismus kann keine Rede sein. Abgesehen von ein paar Restaurants und Hotels an breiten, staubigen und menschenleeren Boulevards döst Dakhla in der stechenden Sonne vor sich hin. Ambitionierte Stadtväter werten die Promenade mit der Skulptur einer überdimensionalen Teekanne auf, Schlepper versuchen Fahrten mit dem Elektro-Go-Kart ans Kind zu bringen. Von künftigem Wohlstand träumende Männer hocken stundenlang in den Cafés. Ein paar Kite-Surfer fahren hinaus zu den Stränden. Auf den Märkten findet ein bescheidener Transithandel mit dem Sahel statt, textile Massenwaren werden verhökert. Saharawis sind kaum zu sehen, aber es fällt auf, dass hier und da die Bekleidung der Frauen etwas bunter und luftiger wird. Erst nachts belebt sich das kleine Zentrum um den Markt. Berge billiger Klamotten und ein Meer aus Plastik-Flip-Flops werden feilgeboten. Dakhla mit seinen gähnend leeren Boulevards ist bereit, wartet aber noch auf seine goldene Zukunft im Reich des M6.
Letzte Tankstelle für viele Kilometer Wüste auf dem Weg nach Mauretanien