Читать книгу Die Schneefrau - Thomas Bornhauser - Страница 7
ОглавлениеAbendspaziergang mit einer überraschenden Entdeckung
Sonntag, 16. Februar, 21.30 Uhr: Heinrich von Siebenthal – den in Gstaad alle nur Siebi Heiri nannten – machte den gewohnten Abendspaziergang mit Mephisto, seinem schwarzen, fünfjährigen Labrador. Den Vierbeiner hatte er sich zwei Jahre nach dem Tod seiner Frau als Lebensbegleiter zugelegt. Von Siebenthal, mit dem typischen Familiennamen aus dieser Gegend, war 74 Jahre alt und wohnte in einem Chalet in der Nähe des Sportzentrums Gstaad.
Um etwas Abwechslung in seinen Alltag zu bringen, wählte er jeweils für die zum Teil ausgedehnten Abendspaziergänge mit Mephisto verschiedene Routen in und um Gstaad. Heute gingen die beiden in Richtung Oberbort, wo die Reichen und Schönen zum Teil gediegene, gegen aussen als Chalets gestaltete Villen besassen. Die Bauvorschriften des Oberländer Dorfes – der politischen Gemeinde Saanen angehörend – legten nämlich fest, dass Gstaad, in einer besonders schönen Landschaft gelegen, optisch nicht zu einem Little Dubai mit Wolkenkratzern mutierte, sondern der Formel «Small is beautiful» verpflichtet war.
Und im Gegensatz zu Beverly Hills, wo Touristen Strassenkarten mit Namensnennung der Villenbesitzer kaufen und von der Strasse her die Anwesen bestaunten konnten (sofern es hinter den Sichtschutzwänden überhaupt etwas zu sehen gab), herrschte in Gstaad Stillschweigen darüber, welches Chalet nun wem gehörte. Bernie Ecclestone, Julie Andrews, Valentino, Roman Polanski und andere Prominente, in früheren Jahren auch Liz Taylor und Richard Burton während ihrer verschiedenen Ehen, legten grössten Wert auf Diskretion – einer der grossen Pluspunkte des Oberländer Dorfs im Vergleich zu wesentlich mondäneren und weiteraus bekannteren Ferienorten in aller Welt.
So illuster wie die Gäste zeigte sich auch die autofreie Promenade mit Geschäften wie Louis Vuitton, Hublot, Cartier, Chopard oder Prada. Und wohl auch der Haute Volée zuliebe hiessen hier ganz trivial versenkbare Poller, die Autos an der Weiterfahrt hinderten, vornehm Senksäulen. Von Siebenthal musste beim Anblick des entsprechenden Schildes jedes Mal schmunzeln. Von seinem Chalet herkommend spazierten Siebi Heiri und Mephisto die Promenade entlang, um in der Dorfmitte den Weg in Richtung Oberbort einzuschlagen, linkerhand am legendären Hotel Palace vorbei, das in den letzten Jahren mit dem neuen Luxushotel Alpina spürbare Konkurrenz erhalten hatte.
«Unglaublich», dachte Heinrich von Siebenthal, als er auf der Höhe eines prall gefüllten Abfallcontainers stand, derweil Mephisto kurz das Bein heben musste, gleich drei edle Holzkisten mit ehemals je sechs Flaschen Château Mouton Rothschild 2010 werden da entsorgt – schade, sind sie leer. Darunter lagen mehrere ebenso leere Whisky-Holzkisten, mit «Highland Park 1973» angeschrieben, die Flasche sicher um die 1000 Franken. Wie die Chalets dieser Betuchten von innen aussahen, das konnte Siebi Heiri aufgrund der Stammtischgespräche im Posthotel Rössli erahnen, wo sich die Handwerker jeweils mit Schilderungen ihrer Arbeiten zu überbieten pflegten – auch wenn er sich durchaus bewusst war, dass der Grat zwischen Dichtung und Wahrheit oftmals sehr schmal war.
An einem bestimmten Chalet wollte Heinrich von Siebenthal heute bewusst vorbeilaufen, am vielleicht grössten Chalet im Oberbort überhaupt, an der Hausfassade lediglich mit «Swoboda» angeschrieben. Im Garten stand dort seit ungefähr drei Wochen ein riesiger Schneemann, bestimmt zweieinhalb Meter hoch, in der klassischen Machart, mit vier übereinandergestapelten Schneekugeln, die grösste als stabile Unterlage, die kleinste als Kopf, den ein grosser Schlapphut sozusagen vor Schneefall schützte. Die letzten paar Tage hatten dem Schneemann jedoch arg zugesetzt, hatte sich der Winter doch, bei Tagestemperaturen von weit über der Nullgradgrenze, ein vorübergehendes Timeout genommen. Der Schneemann präsentierte sich deshalb schwer ramponiert, der Hut sass schief, das Rüebli für die Nase und die Zwiebeln für die Augen lagen bereits am Boden. Die Strassen waren auch im Dorf schneefrei.
«Mefi, komm sofort her, dort hast du nichts zu suchen!», rief von Siebenthal unvermittelt. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten hatte der Labrador eine Art Hausfriedensbruch begangen und es irgendwie geschafft, in den Garten des Chalets Swoboda zu gelangen, wo er schnurstracks zum Schneemann gelaufen war und im Mondschein mit den Pfoten zu scharren begonnen hatte. Auf den Befehl seines Herrchens reagierte er nicht, im Gegenteil, er wühlte immer weiter, begann plötzlich zu bellen. Im Chalet blieb es überraschenderweise dunkel, niemand schien sich am Hundegebell zu stören. Auch hatte Mephisto keinen Lichtsensor ausgelöst, von einer hörbaren Alarmanlage ganz zu schweigen.
«Mephisto, komm jetzt sofort her!», insistierte von Siebenthal.
Der ehemalige Lokführer der Monteux-Oberland-Bahn MOB hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, abends eine Taschenlampe mitzunehmen. Er zog diese nun aus seiner rechten Manteltasche, kippte den Schalter auf «On» und richtete den Lichtstrahl in Richtung seines Hundes, ungefähr zehn Meter entfernt. Siebi Heiri traute seinen Augen nicht, was er zu sehen bekam, ihm stockte der Atem, seine Hand begann zu zittern.
«Mefi! Fuss!», rief er noch einmal.
Jetzt endlich gehorchte der Labrador, rannte zurück auf das Trottoir zu Siebi Heiri, der immer noch im Garten stand: Unter dem Schneemann schaute ein Fuss in einem schwarzen Frauenschuh hervor, beleuchtet vom hellen Lichtstrahl der Taschenlampe.
Der Weg zum leicht versteckt gelegenen Polizeiposten Gstaad führt durch den Hintereingang und durch einen Velokeller.
Es war vergleichsweise ruhig an diesem Abend auf der Polizeiwache Gstaad, die nicht direkt an der Fussgängerpromenade lag, sondern versteckt, etwas zurückversetzt, in einem grossen Gebäude, wo sich auch die Feuerwehr mit ihren roten Fahrzeugen befand. Gut sichtbare Schilder im Dorf wiesen indes den Weg zum Spittelweg 7. Das Büro der örtlichen Polizei im ersten Stock erreichte man über einen Hintereingang der Liegenschaft, wobei man zuerst – leicht provinziell – einen Velokeller durchqueren musste.
«75, 79, 90, 100, 104 und dr Letscht, macht 109!», freute sich Armin Ummel für sich und seine Jasspartnerin beim Zählen der Karten. Die vier anwesenden Polizisten – zwei davon hatten ihre Dienstzeit an diesem Sonntag soeben beendet, blieben aber noch für einen Schwatz mit den Kollegen – hatten kurz Zeit gefunden, in einem Nebenraum eine Runde zu jassen, bevor die beiden Diensthabenden sich auf Patrouille verabschiedeten. Zu Ende konnte man eine Partie sowieso nie spielen, denn immer kam etwas dazwischen, so auch heute, nach nur sechs oder sieben Minuten.
«Kantonspolizei Gstaad, Robert Käser», hörten Armin Ummel, Monika Grünig und Michel Chevalier ihren Chef bei seiner Anmeldung am Telefon sagen. «Herr von Siebenthal, wo sagen Sie? Im Garten des Chalets Swoboda? Ja, ich weiss, das ist jenes mit dem grossen Schneemann im Garten. Bleiben Sie bitte, wo Sie sind, betreten Sie das Gelände auf gar keinen Fall! Wir sind in fünf Minuten bei Ihnen.»
Kaum hatte Käser sein Gespräch beendet, informierte er die Kollegin und die beiden Kollegen.
«Heinrich von Siebenthal sagt, dass er …»
«Siebi Heiri?», fragte Monika Grünig, die sich wunderte, dass Käser Siebi Heiri nicht wie alle anderen Gstaader duzte.
«Ja, genau, Siebi Heiri glaubt, dass auf dem Grundstück des Chalets Swoboda eine Tote liegt, jedenfalls sehe man unter dem grossen Schneemann einen Damenschuh. Behauptet er zumindest. Monika und Michel, sorry, aber könnt ihr noch einen Moment hier bleiben, damit Armin und ich schnell hinaufauffahren und der Sache nachgehen können?»
«Kein Problem!», antworteten die beiden synchron.
«Danke, wir melden uns, sobald wir mehr wissen.»
Eine Minute später sassen Robert Käser und Armin Ummel in einem der Dienstfahrzeuge. Ohne Aufsehen zu erregen – das Zauberwort hiess in Gstaad seit jeher Diskretion – steuerte Robert Käser den VW Passat in Richtung Oberbort.
«Sag mal, Röbu, wie heisst dieser Russe schon wieder, dem das Chalet gehört?», wollte Armin Ummel wissen, der erst vor vier Wochen seinen Dienst in Gstaad angetreten hatte, nach über fünf Jahren bei der mobilen Polizei in der regionalen Einsatzzentrale Thun Süd.
«Ugromow. Witali Ugromow.»
«Der Name sagt mir gar nichts. Ein Unternehmer?»
«Ein sogenannter Oligarch, Multimilliardär, angeblich mit Putin befreundet.» «Wirklich? Du meinst, so einer wie Abramowitsch, dem der Fussballclub Chelsea gehört?»
Robert Käser bejahte und kam gleich ins Schwärmen, als er kurz von der «Eclipse» erzählte, der über 160 Meter langen Yacht von Roman Abramowitsch, die samt integriertem U-Boot und Raketenabwehrsystem gegen eine Milliarde Franken gekostet haben soll. Er erwähnte auch ganz nebenbei, dass der russische Präsident angeblich vor Weihnachten im Garten des Chalets Swoboda gesehen worden sei.
«Putin inkognito hier in Gstaad?»
«Ich weiss es nicht, Armin, man erzählt es sich einfach. Wir von der Polizei wussten jedenfalls von nichts. Aber jetzt fertig Putin, wir sind da.»
Von Weitem schon sahen Ummel und Käser eine männliche Gestalt mit einem Hund auf dem Trottoir stehen. Als sie auf gleicher Höhe waren, stoppten sie ihren Wagen mitten auf der Strasse, stellten den Motor ab und begrüssten Siebi Heiri. Ohne sich abzusprechen wussten die beiden Beamten, was zu tun war. Armin Ummel öffnete die Kofferraumtüre, um zwei Warndreiecke und eine Rolle Absperrband herauszunehmen. Gemeinsam mit Käser errichtete er in beiden Strassenrichtungen in schätzungsweise 40 Meter Entfernung zum Polizeiauto provisorische Strassensperrungen, um Neugierigen den Zugang zum Chalet von Witali Ugromow zu verunmöglichen.
Robert Käser erkundigte sich derweil bei Siebi Heiri, wie es dazu kommen konnte, dass der Hund aufs Gelände hatte laufen können.
«Mephisto ist ein kluges Tier. Da vorne gibt es ein unscheinbares Schlupfloch, dort ist er in den Garten gelangt», erzählte von Siebenthal stolz, streichelte seinen Hund und erzählte weitere Details rund um dessen Schnüffeleien.
Als Ummel zu den beiden Herren stiess – aus den bekannten Gründen blieb das Blaulicht auf dem VW ausgeschaltet –, sprachen die beiden Beamten das weitere Vorgehen ab. Als Gruppenchef war Käser der Wortführer.
Auf den ersten Blick gab es keine klar erkennbaren Spuren, abgesehen von jenen des Hundes. Dennoch war Sorgfalt geboten.
«Ich schlage vor, dass nur einer von uns beiden sich die Sache genauer ansieht, der andere mögliche Schaulustige fernhält und wir anschliessend die Aufgaben verteilen, ist das okay für dich?», fragte Käser.
Viele der Chalets am Oberbort waren von aussen nicht einsehbar. Und wenn doch, liess sich das kostbare Innenleben nicht einmal erahnen.
«Alles klar, Röbu, ich telefoniere inzwischen Gstaad Watch von Excel Security Solutions, damit jemand mit den Schlüsseln zum Eisentor kommt und die Alarmanlage ausschaltet, im Moment zumindest für die Gartenanlage, dann sehen wir weiter. Das Schild am Eingang weist ja darauf hin, dass Gstaad Watch auch hier Auftragnehmerin ist.» Bereits vier Minuten waren zwei Herren des Security-Unternehmens mit prächtigen Bodybuilderfiguren zur Stelle. Einer davon war Richard «Ritschi» Müller, Inhaber und Chef der Firma, das passende Zutrittsmaterial auf Mann. Sein Mitarbeiter hiess Konrad Oppliger.
«Ich möchte einen ersten Augenschein nehmen, dann sprechen wir das weitere Vorgehen ab», informierte Käser. Der Security-Boss öffnete das Tor mit einer Magnetstreifenkarte, worauf Käser, vom Licht der Taschenlampen begleitet, mit Vorsicht zum Schneemann lief, tiefe Spuren im schweren Schnee hinterlassend. Auf den Knien und mit einem Klappmesser entfernte er dort einige Zentimeter Schnee, um sich zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um einen leblosen Körper handelte. In den gleichen Fusspuren wie beim Betreten der Gartenanlage verliess er das Grundstück. Erstaunlicherweise war die Strasse nach wie vor leer, niemand ausser den fünf Männern – und dem Hund – war zu sehen. Aber im einen oder anderen (un)beleuchteten Fenster in unmittelbarer Nachbarschaft erkannte Käser Umrisse von Menschen. Diskret.
«Herr von Siebenthal», sagte Käser, «danke für Ihre Meldung. Es stimmt, was Sie vermutet haben, da liegt eine tote Person. Sie können nach Hause gehen, kommen Sie morgen aber doch schnell zu uns auf den Posten, damit wir Ihre Aussagen und Beobachtungen protokollieren können. Und geben Sie Mephisto einen grossen Knochen!» Als ob er es verstanden hätte, wedelte «Mefi» mit dem Schwanz. Und an Richard Müller und Konrad Oppliger gerichtet, fuhr Käser fort: «Ich wäre froh, könnte einer von Ihnen beiden hier bleiben, bis die Fachleute und die Staatsanwaltschaft eintreffen, zumal wir voraussichtlich noch heute Nacht ins Chalet müssen. Ist Herr Ugromow in Gstaad oder abgereist?» «Ritschi» Müller bestätigte die Abwesenheit seines Auftraggebers seit ungefähr zwei Wochen. Auch dessen Mitarbeitende seien heute Sonntagmorgen abgereist. Derweil verabschiedeten sich Siebi Heiri mit Mephisto und Konrad Oppliger von Gstaad Watch ebenso, weil der Chef persönlich vor Ort bleiben wollte, angesichts der Umstände.
«Das wird bestimmt lustig», meinte Müller zu den beiden Polizisten.
«Wie ist das zu verstehen?»
«Nun, Herr Ugromow ist ja nicht irgendwer in Russland, ich könnte mir vorstellen, dass es da womöglich sogar zu einem schweizerisch-russischen Konflikt unter Diplomaten kommen könnte, je nach Verlauf der Untersuchungen.» Armin Ummel und Robert Käser schauten sich fragend an, noch im Unwissen, wie sehr «Ritschi» Müller recht behalten sollte.
Umgehend leiteten die beiden die vorgesehenen Massnahmen ein. Zuerst setzten sie Monika Grünig und Michel Chevalier auf dem Polizeiposten über die bisherigen Erkenntnisse ins Bild.
«Können Michel und ich euch irgendwie helfen?», wollte Grünig von Robert Käser wissen.
«Monika, danke, aber wir kommen schon klar, schlaft euch aus, morgen gibt es bestimmt einiges zu tun. Ihr könnt den Anrufbeantworter auf meine Handynummer umstellen, wir informieren jetzt Thun – ich schätze, bis Mitternacht ist das ganze Rösslispiel mit dem vollen Programm vor Ort.» Lachend verabschiedeten sich Käser und Ummel.
Mit einem einzigen Anruf an die Einsatzleitstelle der Kantonspolizei in Thun – zuständig für das Berner Oberland – samt genauer Beschreibung der bisherigen Umstände trat Käser nun gleichsam eine Lawine los, deren Folgen sich bis Mitternacht manifestierten, angefangen bei der Verstärkung aus Thun über den Kriminaltechnischen Dienst KTD, das Institut für Rechtsmedizin IRM, Tobias Schoch von MeteoSchweiz, die Angehörigen der Kriminalpolizei – in Bern als Dezernat Leib und Leben bezeichnet –, die Medienstelle der Kantonspolizei bis hin zum zuständigen Regierungsstatthalter und der Staatsanwältin für die Region Oberland. In dieser Situation eher ungefragt stand Franz von Allmen herum, Redaktor beim Anzeiger von Saanen. Für den Jungjournalisten war klar, dass er die geplante und bereits gelayoutete Titelstory für die nächste Ausgabe kurzfristig verschieben würde. Und so wie es aussah, hatte er zeitlich einen Vorsprung auf die anderen lokalen Medien wie Radio BeO oder den Berner Oberländer, sodass sogar die Chance bestand, dass nationale Titel den kleinen Anzeiger von Saanen in ihren Berichterstattungen zitieren würden, falls er am Dienstag mit Details aufwarten könnte, die nicht in der offiziellen Verlautbarung der Kantonspolizei zu lesen standen. Welch Glanzlicht, welch Triumph für einen Lokaljournalisten! Und in Gedanken sah sich von Allmen schon in Lohnverhandlungen mit seinem Chefredaktor.
Alle Spezialisten trafen nadisna am Fundort der Leiche ein, sodass sich in der unmittelbaren Umgebung ein aussergewöhnliches Ereignis nicht mehr länger verheimlichen liess, zumal der Garten inzwischen taghell ausgeleuchtet wurde. Der Schneemann war hinter einem Sichtschutzzelt versteckt. An die zwölf bis 15 Leute waren an ihrer Arbeit, die Strasse glich einem Parkplatz für Fahrzeuge der Blaulichtorganisationen. Chaletbesitzer im Oberbort mussten einen Umweg in Kauf nehmen ohne genaue Angabe des Grundes, und äusserten ab und zu einen Fluch in Richtung Ordnungskräfte, auch in fremden Sprachvarianten.
Die beiden Spezialisten des KTD aus Bern – Eugen «Iutschiin» Binggeli und Georges «Schöre» Kellerhals – waren die Ersten, die den kurzen Weg vom Eingangstor zum Schneemann unter die Füsse nahmen, ihre Schuhe in weissen Überzügen steckend. Nach ungefähr zehn Minuten rief Binggeli den anwesenden Meteorologen, Tobias Schoch, zu sich – «aber bitte in unseren Fusspuren laufen!». Grund war das Interesse am Schnee im Garten, der an einigen Stellen schätzungsweise noch immer 20 Zentimeter hoch war, wenn auch schwer und nass.
«Herr Schoch, können Sie aufgrund der Schneedecke und Ihrer Aufzeichnungen feststellen, wann der Schneemann ungefähr gebaut wurde?»
«Ich werde es versuchen, die Schneedecke ist ja, wie Sie selber sehen, unregelmässig dick, weil ziemlich viel Schnee für den Schneemann gebraucht wurde. Verwertbare Fussspuren wird es deshalb kaum geben, fürchte ich.» Mit diesen Worten machte er sich an die Arbeit, mit mitgebrachten Instrumenten und meteorologischen Unterlagen der letzten Wochen, etwas abseits der Fundstelle.
«Veronika, kannst du kommen und dich für erste Erkenntnisse umschauen?», fragte Eugen Binggeli und meinte damit Veronika Schuler vom Institut für Rechtsmedizin IRM. Auf dem Weg zum Schneemann – vorsichtig in den Spuren ihrer Vorläufer marschierend – musste die Rechtsmedizinerin schmunzeln. Wie lange es wohl dauern würde, fragte sie sich, bis sich jemand bei ihr erkundigte, ob man zum Todeszeitpunkt oder zu den Tatumständen schon etwas sagen könne? Gemeinsam mit den Kollegen vom KTD legte die Fachfrau die Leiche frei, immer im Bestreben, den Schneemann nicht umstürzen zu lassen. Der durchgefrorene Körper glich einem grossen Würfel, das Gesicht war nicht zu sehen, auch keine sofort erkennbaren Spuren von Gewaltanwendung. Es folgte ein heikler Moment, denn zum Auftauen beim IRM im Berner Länggassquartier musste der Körper mit einem Kranwagen der Feuerwehr gehoben und in ein Spezialfahrzeug gehievt werden. Diese Arbeit bereiteten Schuler und Binngeli soweit als machbar im Zelt vor und deckten dabei die Leiche ab, sodass mögliche Gaffer den Grund des Hebemanövers höchstens erahnen konnten. Soweit es sich beurteilen liess, ging dies glatt über die Bühne, sah man davon ab, dass der anwesende Lokaljournalist versucht hatte, Fotos des Zeltinnern zu machen, allerdings vergeblich.
Als Veronika Schuler wieder ausserhalb des Gartens stand, entdeckte sie Joseph Ritter, Dezernatsleiter Leib und Leben bei der Kantonspolizei im Ringhof Bern. Neben ihm stand dessen Mitarbeiterin, Regula Wälchli.
«J. R., das ist aber eine Überraschung, dich hier zu sehen!»
«Wirklich? Wen hast du denn erwartet? Etwa Commissario Guido Brunetti aus Venedig? Oder Gunnar Barbarotti aus Kymlinge in Schweden?»
Beide mussten herzlich lachen, denn schon seit Jahren infomierte Veronika Schuler Joseph Ritter und sein Team über Obduktionsergebnisse aus dem IRM bei Todesfällen mit speziellen Begleitumständen – zum letzten Mal im Zusammenhang mit dem Tod von Thomas Kowalski und Agneta Gomulka im vergangenen Jahr.*
«Ich habe auch gleich Regula Wälchli mit aufgeboten, um diese Zeit wohl sehr zur Freude unseres gemeinsamen Kollegen und ihres Lebenspartners Elias Brunner, aber Regula ist eine Gstaaderin, und Insiderwissen schadet bekanntlich nie. Du kennst sie ja auch.»
Die beiden Frauen begüssten sich.
«Veronika, darf ich dich ärgern?», wollte Ritter wissen.
«J. R., das kannst du nicht. Aber vorher möchte ich dir eine Frage stellen.»
«Ich bitte darum.»
«J. R., was hast du am Abend des vergangenen vierten Oktober gegessen?» «Wie soll ich denn das wissen? Wenn schon, müsste ich in meiner Agenda nachschauen, ob an diesem Abend etwas Besonderes war. War da etwas Besonderes, Veronika, am vierten Oktober?»
«Wie soll ich das wissen, J. R.? Und deshalb brauchst du gar nicht zu fragen, ob ich schon Aussagen zum Todeszeitpunkt machen kann. Oder zu den Tatumständen. Ich muss die Leiche zuerst auftauen lassen, das dauert vermutlich bis Mittwoch.» «Alles klar, Veronika.»
Mehr brauchte die Fachfrau mit ihrem unverkennbaren Thurgauer Dialekt gar nicht zu sagen, denn jeder Kriminalbeamte wusste, dass es bei einer durchgefrorenen Leiche praktisch unmöglich war, genaue Rückschlüsse über den Todeszeitpunkt herauszufinden. In erster Linie galt es nun, kriminalistisch vorzugehen, zum Beispiel mit der Nutzung des Handys, anhand möglicher Fahrkarten oder mit der letzten Lebendsichtung durch Zeugen. Hinweise gab es möglicherweise durch die Fäulnisveränderungen zum Zeitpunkt des Einfrierens. War dabei schon längere Zeit vergangen, konnte die Rechtsmedizin mit den ebenfalls eingefrorenen Maden eine Todeszeitschätzung entomologisch vornehmen, zu der die Liegezeit im Schnee addiert werden musste, sofern diese bekannt war. Anhand des Mageninhaltes konnte Veronika Schuler allenfalls noch Schätzungen anstellen, nach welcher Mahlzeit die Frau verstorben war, ohne aber den eigentlichen Todestag damit näher eingrenzen zu können.
«Das einzige, was ich im Moment vermuten kann, ist, dass die Frau nicht unmittelbar nach ihrem Tod im Schneemann vergraben wurde, denn um ihre Leiche herum gab es keine schmalen Hohlräume bis zur Schneedecke, von der Körperwärme herrührend. Interessant ist auch, dass der Schneemann ob dem grossen Hohlraum nicht gekippt ist.»
«Oder aber der Schneemann wurde gleich um sie herum gebaut», antwortete Ritter.
«Theoretisch eine Möglichkeit, ja, aber sehr unwahrscheinlich.»
«Hier in Gstaad wird seit zehn Tagen eine 48-jährige Frau vermisst, ungefähr einsachtzig gross, schlank, blonde Haare. Könnte es sich um die Tote handeln?», wollte Regula Wälchli wissen.
«Nun, die Schuhgrösse der Schneefrau ist 41, das habe ich bereits feststellen können, die Tote dürfte also einssiebzig oder grösser sein, blonde Haare hat sie auch. Aber das Alter kann ich so nicht bestimmen. Wie gesagt: spätestens Mittwoch.» Und zum selbstverständlich rein zufällig herumstehenden Journalisten des Anzeigers von Saanen gewandt fügte Schuler an: «Journalisten gehören ausserhalb der polizeilichen Absperrungen, hopp, subito!», worauf der junge Schreiberling wie befohlen tat.
«Ich bin ja gespannt, was das für eine Berichterstattung gibt …», schmunzelte die Rechtsmedizinerin.
Tobias Schoch von MeteoSchweiz erklärte, dass der Schneemann aufgrund der verschiedenen Schneeschichten im Garten «vermutlich irgendwann in der zweiten Januarhälfte, sicher aber vor dem ersten Februar» gebaut worden war. Am 27. Januar habe es starken Schneefall gegeben, an gewissen Orten bis zu 50 Zentimeter. Diese Aussagen bestätigte die Beobachtung von Siebi Heiri, der von «vor ungefähr drei Wochen» gesprochen hatte. Schoch erwähnte auch noch sichtbare Schneehaufen im unmittelbaren Umfeld des Schneemanns: «Diese Schneehaufen wurden mit grösster Wahrscheinlichkeit nachträglich aus der untersten Kugel ausgekratzt. Daraus schliesse ich, dass die Frau erst nachträglich eingebaut wurde, sie diente sozusagen nicht als stabilisierendes Fundament.»
Zur gleichen Zeit, an anderer Stelle auf der Strasse, war Staatsanwältin Christine Horat im Gespräch mit «Ritschi» Müller von Gstaad Watch.
«Herr Müller, nennen Sie mir die Handynummer von Herrn Ugromow, bitte?» «Ich bin nicht befugt, Daten von unseren Kunden an Dritte weiterzugeben.» «Herr Müller, haben Sie ein Problem mit Frauen? Was soll dieses Machogehabe? Geben Sie mir umgehend seine Telefonnummer. Zackig. Oder möchten Sie ein Verfahren wegen Behinderung der Justiz am Hals?»
Zwei Minuten später stand Christine Horat in Verbindung mit Witali Ugromow. Um eine einigermassen entspannte Gesprächsatmosphäre zu schaffen, erkundigte sich die Staatsanwältin mit einigen Nettigkeiten im Bereich des Smalltalks auf Englisch, wobei Witali Ugromow plötzlich zu einem sehr guten Schriftdeutsch überging.
«Ich habe unter anderem Germanistik studiert, in Berlin-Ost, Mitte der Siebzigerjahre. Was wollen Sie genau von mir wissen, Frau … ehh .… wie sagten Sie doch gleich?»
«Horat, Christine Horat. Sagen Sie, Herr Ugromow, wer hat den grossen Schneemann in Ihrem Garten gebaut – und wann?»
«Mein Chauffeur und mein Koch, Ende Januar, aber deswegen rufen Sie ja bestimmt nicht an, wegen des Schneemanns.»
Christine verneinte und erklärte den Grund ihres Anrufs. Noch bevor sie zu Ende sprechen konnte, unterbrach sie Ugromow unwirsch. «Und jetzt wollen Sie mir unterstellen, ich sei ein Mörder?»
«Nein, das will ich nicht, Herr Ugromow. Aber ich muss Sie bitten, so schnell als möglich in die Schweiz zu kommen, damit wir Sie vom möglichen Täterkreis ausschliessen können.»
«Also gehöre ich zum Täterkreis! Ist es das, was Sie mir sagen wollen, Frau Oratt?»
Die Staatsanwältin war darauf bedacht, die Situation nicht eskalieren zu lassen. «Nein, das sage ich nicht, Herr Ugromow, deshalb ist Ihre Anwesenheit hier in Gstaad ja so wichtig. Wann können Sie hier sein? Sie reisen ja offenbar – so hat man mir jedenfalls gesagt – jeweils mit dem Privatflugzeug nach Genf, um sich nachher mit einem Helikopter nach Gstaad bringen zu lassen. Im Idealfall könnten Sie also noch am gleichen Tag zurück in Moskau sein.»
«Bitte, wie, was verlangen Sie?»
«Wann können wir Sie hier in der Schweiz befragen, Herr Ugromow? Immerhin liegt eine Tote in Ihrem Garten.»
«Bestimmt nicht!»
«Bitte, wie?»
«Was haben Sie nicht verstanden, Frau Oratt? Ich komme nicht!»
«Herr Ugromow, so geht das aber nicht …»
«Reden Sie mit meinem Anwalt in Genf, Jean-Claude Delacroixriche.»
«Herr Ugromow, selbst wenn ich mit Herrn Delacroixriche sprechen würde, Sie müssen dabei sein. Und morgen lasse ich das Haus durchsuchen. Sagen Sie das Ihrem Herrn Delacroixriche.»
«Ich verbiete Ihnen das! Do svidaniya, Frau Oratt!»
Damit beendete Witali Ugromow das Gespräch, einseitig. Christine Horat wusste, dass «Do swidanja» auf Russisch «Auf Wiedersehen» bedeutete –, und «Swoboda», der Name von Ugromows Chalet, «Freiheit».
Inzwischen standen die Uhrzeiger auf 1.30 Uhr. Die Verantwortlichen einigten sich darauf, ihre Arbeiten um 9 Uhr fortzusetzen, um diese Zeit machte es keinen Sinn mehr. «Herr Müller», sprach Christine Horat den Gstaad-Watch-Chef an, «aktivieren Sie bitte sämtliche Alarmanlagen des Chalets und informieren Sie mich umgehend, sollte etwas passieren.»
«Ritschi» Müller nickte und tauschte mit Horat die Geschäftskarten aus.
«Neun Uhr gilt auch für Sie oder einen Ihrer Stellvertreter, bitte nehmen Sie alle Zutrittsinstrumente für das Chalet Swoboda mit, wir werden das Haus durchsuchen, ob das diesem Herrn Ugromow nun passt oder nicht. Wo sind wir hier denn?».
Zum Schluss bat Christine Horat den Gstaad-Watch-Chef, zwei Mitarbeitende aufzubieten, um das Anwesen während der Nacht vor Neugierigen zu schützen. «Wird gemacht. Sagen Sie, wem kann ich diese zusätzlichen Dienstleistungen in Rechnung stellen?»
«Herrn Ugromow, bei dem Sie ja unter Vertrag stehen. Verursacherprinzip nennen wir das.»
15 Minuten später standen zwei Herren in der Nähe der beiden Strassenabsperrungen, mit gegenseitigem Sichtkontakt.
Christine Horat hatte bemerkt, dass Joseph Ritter ihr Gespräch mit Witali Ugromow mindestens zum Teil mitverfolgt hatte.
«Wird wohl nicht kommen, Herr Ugromow», sagte Ritter mit leiser Stimme, just bevor die Staatsanwältin in ihr Auto steigen wollte.
«Mir ist doch auch klar, dass er von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen wird, um sich nicht selber zu belasten, aber das wollte ich ihm nicht auf die Nase binden.»
«Was glauben Sie, wie geht es jetzt weiter?»
Horat seufzte. «Ich bin bloss gespannt», antwortete sie, «um welche Uhrzeit ich einen Anruf von Herrn von Kreuzreich erhalten werde, denn der ist mir so sicher wie das Amen in der Kirche.»
«Von Kreuzreich?»
«Die deutsche Fassung von Delacroixriche, Ugromows Anwalt aus Genf. Ugromow wird ihm bestimmt meine Handynummer mitteilen, die er im Display gesehen hat.»
Ritter und Horat lachten beide, zum grossen Teil ihrer eigenen Müdigkeit wegen. Und selbstverständlich hatte vorher der KTD noch alle Zugänge und Türen des Chalets Swoboda mit amtlichen Klebern versiegelt, mit dem Hinweis an die Anwesenden, dass heute Nacht keine Hausdurchsuchung mehr auf dem Programm stehen würde.
* Thomas Bornhauser: Fehlschuss. Weber Verlag, Thun/Gwatt 2015.