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Zehn Tage zuvor

Freitag, 7. Februar: Zufälligerweise hatten sowohl Michel Chevalier als auch Monika Grünig Tagesdienst auf dem Polizeiposten in Gstaad, derweil sich zwei Kollegen auf Routinepatrouille im Dorf befanden. Insgesamt arbeiteten während der Hochsaison und aufgrund der verschiedenen Dienstpläne mit einem Bezirkschef, einem Wachtchef, zwei Gruppenchefs und zehn Mitarbeitenden bis zu 14 Polizistinnen und Polizisten auf dem Oberländer Posten.

Gegen 10 Uhr – im Rapport hatte Monika Grünig exakt 10.03 Uhr notiert – erschien Matthias Kaufmann auf dem Posten mit einem speziellen Anliegen. «Ich muss eine Vermisstenanzeige machen.»

Nun war Matthias Kaufmann nicht irgendwer, sondern ein Immobilien-Tycoon, bekannt – und berüchtigt – im ganzen Saanenland. Zusammen mit seinem Bruder Erich hatte er bereits in den Sechzigerjahren den Riecher dafür, dass die Region mehr zu bieten vermochte als eine Postkartenidylle mit Kühen und Bergen. Im Laufe der Jahre investierten die beiden – durchaus mithilfe von einigen Banken – gezielt in Überbauungen, Chalets, Restaurants und Hotels, immer mit sicherem Instinkt für eine optimale Rendite. Selbst die paar wenigen Ausnahmen ergaben unter dem Strich noch immer knapp schwarze Zahlen. Den Kaufmann-Brüdern gehörten Lokalitäten an bester Lage, die sie zu «Marktpreisen» an internationale Konzerne vermieteten. Allein in Gstaad fanden sich drei bekannte Hotels und vier Restaurants in ihrem Portefeuille. Und dennoch, ein Umstand vermochte den Zorn in ihnen zu wecken: Ein ausländischer Investor – angeblich eine Private-Equity-Firma aus Kapstadt mit einem südafrikanischschweizerischen Doppelbürger als Vertreter in der Schweiz – hatte in letzter Zeit damit begonnen, über verschiedene Immobilienhändler Liegenschaften in Gstaad zu kaufen und gleich – selbstredend gewinnbringend – weiterzuvermieten. «Dieser ‹Cheib› pfuscht uns ins Handwerk, nimmt mich wunder, woher der Typ sein Geld hat!», hatte sich, so wussten Insider zu berichten, Matthias Kaufmann mehrfach in trauter Runde geärgert. Und dieses Treiben eines Ausländers gehöre gestoppt. Nur eben – wie?

Beide Kaufmann-Brüder, die ebenfalls eigene Chalets am Oberbort besassen, waren geschieden, Erich dreimal, Matthias einmal, nicht zuletzt deshalb, weil es ein offenes Geheimnis war, dass beide Herren auch in ihrem fortgeschrittenen Alter – «Mättu» war 74, «Eru» 72 Jahre alt – noch die Freuden des Lebens zu geniessen wussten, wahrscheinlich mit freundlicher Unterstützung von Viagra und Cialis, ganz unter dem Motto und frei nach Oscar Wilde: «Einer Versuchung solltest du unbedingt nachgeben, denn wer weiss, ob sie nochmals kommt?» Dass Matthias Kaufmann eine Vermisstenmeldung machen wollte, liess Michel Chevalier aufhorchen und aufschauen.


Das Gstaad Palace ist das wohl bekannteste Hotel im Saanenland mit einer eindrücklichen Geschichte. Im hoteleigenen Nachtclub GreenGo war Valeria Morosowa ein gern gesehener Gast. Ihre Begleiter geizten vor allem beim Servicegeld nicht, sehr zur Freude der Kellner.

«Wen möchten Sie als vermisst melden, Herr Kaufmann?», fragte derweil Monika Grünig und hielt das Formular für die Vermisstmeldung bereits in den Händen.

«Valeria Morosowa», antwortete Kaufmann, «hier ist eine Foto von ihr.»

Auch Frau Morosowa war in Gstaad alles andere als eine Unbekannte, nicht bloss ihres gepflegten Aussehens und ihrer tollen Figur wegen. Obwohl sie Dauermieterin eines Chalets war – allerdings nicht am Oberbort –, verbrachte sie genau genommen nur die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern sowie einige Wochen im Hochsommer in Gstaad, auch während des Tennisturniers. Wie auch immer: Bei Insidern sprach man(n) von ihr als PM (Pii Ehm) – eine Abkürzung für Party-Maus. Woher Morosowa das Geld für den offensichtlich aufwändigen Lebenswandel hatte, war nicht bekannt. Die einen wollten wissen, dass sie sich von wohlhabenden Herren aushalten liess, andere wiederum sprachen davon, dass sie die Witwe eines ehemaligen Barons sei und ganz böse Zungen glaubten sogar, dass sie im Keller ihres Chalets ganz besondere Dienstleistungen offerierte, im Stil von «50 Shades of Grey». Oder so ähnlich.

«Bevor wir auf die näheren Umstände ihres Verschwindens zu reden kommen, können Sie uns ein genaues Signalement geben, Herr Kaufmann?»

«Valeria wurde kürzlich 48 Jahre alt, sie ist einsachtzig gross und angeblich 68 Kilo schwer, wie sie mir einmal verraten hat, sie hat naturblonde Haare und spricht Russisch, Ukrainisch, Deutsch, Spanisch, Englisch und Französisch, die letzteren vier mit dem typischen slawischem Akzent.»

«Was trug sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens?»

«Ich weiss es nicht, denn ich habe sie vorgestern Abend im Olden vergeblich zum Apéro erwartet. Wir wollten anschliessend zusammen ins Restaurant des ESC gehen, anschliessend ins GreenGo im Hotel Palace.»

Dieser letzte Satz von Matthias Kaufmann hatte es wirklich in sich, erwähnte er doch gleich drei Lokalitäten, in denen normale Gstaad-Besucher kaum zu sehen waren, abgesehen davon, dass das Restaurant des Eagle Ski Club ESC auf dem Wasserngrat nur Mitgliedern vorbehalten war – Leuten, die allein für die Mitgliedschaft in einem der nobelsten Skiclubs auf der Welt ein kleines Vermögen zu zahlen bereit waren.

«Und was bringt Sie dazu, diese Vermisstenmeldung aufzugeben?», wollte Monika Grünig wissen. «Es sind nicht einmal zwei Tage vergangen, möglicherweise ist Frau Morosowa ja schon wieder zu Hause.»

«Nein, das ist sie nicht, ich habe vor einer Viertelstunde bei ihrem Chalet geläutet, vergeblich. Auch ihr Handy ist ausgeschaltet, das alles ist völlig ungewöhnlich.»

«Was wissen Sie sonst über Frau Morosowa, woher kommt sie, womit verdient sie ihr Geld? Jeder Hinweis kann für uns entscheidend sein.»

Wie der sichtlich besorgte Matthias Kaufmann zu berichten wusste, wurde Valeria Morosowa in der Ukraine geboren, in der Nähe von Kiew, ging dort zur Schule und studierte anschliessend Sprachen. Als gefragte Übersetzerin lernte sie während eines Kongresses in Moskau einen, wie Kaufmann explizit feststellte, «stinkreichen Unternehmer» kennen, den sie nur ein Jahr später heiratete. Keine zwei Jahre später liess sie sich von ihm scheiden und war fortan, dank ihres Scheidungsanwalts, eine wohlhabende Frau. Er selber, Kaufmann, habe Valeria Morosowa vor drei Jahren kennen- und schätzen gelernt. Ob das von ihrem Exmann zugestandene Geld für ihren aufwendigen Lebensstil reiche, wisse er nicht. Über Geld werde in seinen Kreisen nicht gesprochen.

«Das hat man einfach», dachte Monika Grünig.

«Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, da muss etwas passiert sein!»

«Wann haben Sie Frau Morosowa denn letztmals gesehen?»

«Frau Grünig, gesehen am dritten Februar, am Morgen des fünften Februar habe ich aber noch mit ihr telefoniert. Sie sass nach eigenen Angaben im Charly’s Tearoom an der Promenade, sagte, dass sie sich auf den Abend mit mir freut.»

«Herr Kaufmann, darf ich ganz direkt zu Ihnen sein?»

«Gewiss doch, wenn es hilft, Valeria zu finden.»

«Sagen wir es so: Frau Morosowa ist bekanntlich kein Kind von Traurigkeit. Mit wem alles hatte sie in jüngster Vergangenheit Kontakt? Oder hatte sie möglicherweise Ärger? Hat sie jemals etwas angedeutet?»

Matthias Kaufmann musste wegen der Bemerkung «Kein Kind von Traurigkeit» von Monika Grünig schmunzeln. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie das Leben eines bekennenden und praktizierenden Singles aussehen konnte, wobei Valeria mit ihren erst 48 Lebensjahren und dank ihrer Erscheinung wohl ein um einiges aufregenderes Leben zu führen wusste als er selber. Er nannte einige Namen von Personen, von denen er annehmen musste, dass sie mit Frau Morosowa in Kontakt standen.

«Bitte behandeln Sie diese Informationen mit der nötigen Diskretion, Sie wissen ja, wie sich die Leute das Maul zerreissen.»

«Davon dürfen Sie ausgehen, Herr Kaufmann, selbstverständlich.»

«Und nein, Valeria hat nie von Drohungen oder Problemen gesprochen.»

Monika Grünig bedankte sich bei Matthias Kaufmann für seine Offenheit und versprach, ihn sofort zu benachrichtigen, sollten sich Neuigkeiten ergeben.

Die Vermisstenmeldung von Valeria Morosowa nahm den gewöhnlichen Verlauf solcher Anzeigen, sieht man davon ab, dass sie noch gleichentags am Fernsehen ausgestrahlt wurde, weil sowohl Monika Grünig als auch Michel Chevalier ein Verbrechen nicht ausschliessen konnten, denn welche Frau hätte eine Einladung ins Olden, den ESC und das GreenGo auf diese Weise sausen lassen? Eine Valeria Morosowa sicher nicht, da waren sich die beiden einig.


Das Tearoom Charly’s an der Promenade in Gstaad: Von hier aus telefonierte in den ersten Februartagen die vermisste Valeria Morosowa mit Matthias Kaufmann, erschien dann aber nicht zum vereinbarten Treffpunkt.

Im Laufe der nächsten Tage gab es zwar einige Hinweise aus der Bevölkerung, die aber ausnahmslos im Sande verliefen. Auch Gespräche mit den von Matthias Kaufmann genannten Personen – grossmehrheitlich aus dem männlichen Kreis der Haute Volée – ergaben keine konkreten Informationen zum möglichen Verbleib der Vermissten. Auch eine allerdings nur oberflächliche Hausdurchsuchung in Morosowas Chalet am Mittwoch, 12. Februar, brachte kein Licht ins Dunkel, nichts deutete auf eine längere Abwesenheit hin. Die Frau blieb wie vom Erdboden verschwunden.

Seit dem Nachmittag des 4. Februar hatte sie ihr Handy nicht mehr benutzt, das ergaben Recherchen bei ihrem Telefonanbieter. Gleiches galt für ihr Profil auf verschiedenen sozialen Medien. Wie konnte es also sein, dass Matthias Kaufmann behauptete, er habe noch am Morgen des 5. Februar mit Valeria Morosowa telefoniert – zu einem Zeitpunkt, als diese angeblich im Charly’s gesessen habe und ebendort bestimmt mit dem Handy telefoniert hätte? Übrigens: Im Keller ihres Chalets waren ganz normale Gegenstände zu sehen, keine Spur von einer Sadomaso-Folterkammer oder Ähnlichem …

Bis zur Auffindung der Leiche im Garten des Chalets Swoboda am späten Abend des 16. Februar ergaben sich keinerlei weiteren Hinweise zum Schicksal der Vermissten.

Die Schneefrau

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