Читать книгу Schutzengel unter Strom - Thomas Bosch - Страница 3
Bitte einsteigen: Willkommen bei der Tram
ОглавлениеMit nachdenklicher Miene blickte mich mein Gegenüber an. Zumindest glaubte ich, dass er das tat, denn im Halbdunkel konnte ich sein Gesicht fast nicht erkennen. Irgendwas muss doch jetzt kommen, dachte ich, doch mein Gesprächspartner sagte kein Wort. Genau genommen hatte er bisher noch überhaupt nichts gesagt. Sogar die Begrüßung war mit einem knappen Kopfnicken erledigt gewesen.
So saßen wir uns nun schon eine ganze Weile gegenüber an diesem klapprigen alten Holztisch, der wahrscheinlich schon während des dreißigjährigen Krieges bessere Tage gesehen hatte. Exakt in der Mitte zwischen uns, so als hätte jemand es mit dem Lineal ausgemessen, erhellte eine fast niedergebrannte Kerze als einzige Lichtquelle den fensterlosen Raum. Es roch ein bisschen modrig. Im Schein der Kerze sah ich die Staubflocken tanzen.
Gott, ich hätte alles für ein Glas Wasser gegeben.
Das Rascheln von Papier unterbrach die beklemmende Stille, als mein Gegenüber endlich meine Unterlagen zur Hand nahm und sie langsam, ganz langsam, begann durchzublättern. Was er gelesen hatte, schien ihn nicht wirklich zufrieden zu stellen, denn er ließ meine Dokumente achtlos zurück auf den Tisch fallen. Dann beugte er sich vor, so dass ich im Kerzenschein zum ersten Mal sein Gesicht deutlich erkennen konnte. Es war das Gesicht eines Mannes, der schon vieles gesehen hatte und den wohl nichts mehr erschüttern konnte.
„Erst Redakteur, dann fast zwanzig Jahre Mitarbeiter im Sicherheitsdienst“, gab seine rauchige Stimme meine Vita wieder. „Und da glaubst Du wirklich, dieser Herausforderung gewachsen zu sein?“
Ich setzte eine selbstbewusste Miene auf, straffte meinen Oberkörper und berichtete von meinem hohen Interesse an der Thematik seit meiner Kindheit sowie von meiner angesichts der damals bereits verstrichenen 41 Jahre umfassenden Lebenserfahrung. Ja, ich verkaufte mich gut. Fand ich.
Mein Gegenüber lehnte sich wie in Zeitlupe zurück. Obwohl sein Gesicht damit im Halbdunkel verschwand, glaubte ich ein abfälliges Grinsen auf seinen Lippen zu erkennen.
Der alte Mann griff an seinen Gürtel und zog ein kleines Messer hervor, das er links von sich auf den Tisch legte. Die etwa zehn Zentimeter lange Klinge glänzte im Schein der Kerze. Dann holte er aus seiner Brusttasche ein zusammengefaltetes Blatt hervor, schob die Kerze ein Stück zur Seite und breitete das Papier zwischen uns aus.
„Deine Hand“, forderte er, und mit einem leicht flauen Gefühl im Magen hielt ich ihm die Rechte hin. Mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte, packte er meinen Arm, drehte die Handfläche nach oben und ritzte mir mit dem Messer den Daumen an. Als ein dicker roter Blutstropfen hervorquoll, presste er meinen Finger auf das Blatt Papier, unten rechts. Dann ließ er meinen Arm los, den ich schnell zurückzog. Aua. Was war das denn jetzt??
Während ich noch fassungslos meinen schmerzenden Daumen betrachtete, faltete der Mann das Papier wieder zusammen und steckte es mit einem süffisanten Lächeln zurück in die Brusttasche seiner dunkelblauen Uniformjacke. Dann beugte er sich erneut zu mir vor.
„Du hast keinen blassen Schimmer, worauf Du Dich hier eingelassen hast“, sagte er. Mit der rechten Hand klopfte er zweimal auf seine Brusttasche, in welcher der mit Blut unterzeichnete Vertrag steckte. „Aber jetzt gehörst Du uns.“
Hatte ich wirklich keinen blassen Schimmer? Nein, das konnte nicht sein. Der Typ wollte mich nur verunsichern. Tatsächlich war ich am Ziel meiner Träume angekommen. Ich war jetzt ein Fahrer bei der Münchner Trambahn oder würde es zumindest in Kürze sein. Das bedeutete Respekt und Ansehen bei der Bevölkerung, Dankbarkeit für eine solide Dienstleistung – und nicht zuletzt Tag für Tag strahlende Kinderaugen, wenn ich mit meinem prachtvollen Zug geschmeidig in die Haltestellen einfahren würde. Yep, ich hatte allen Grund, auf mich stolz zu sein.
Entweder hatte ich laut gedacht oder mein verklärter Gesichtsausdruck hatte meinem Gegenüber auch so mehr als deutlich zu verstehen gegeben, was gerade in meinem Gehirn vor sich ging. Das Lächeln verschwand von seinen Lippen. Er beugte sich noch ein Stückchen weiter vor. Mir schien plötzlich, als sei es kühler im Raum geworden.
„Junge“, wiederholte er, „Du hast tatsächlich keine Ahnung.“ Er hob seine rechte Hand, klappte den Zeigefinger aus und deutete durch ein imaginäres Fenster hinaus auf die bayerische Landeshauptstadt.
„Da draußen“, flüsterte er, „da draußen … herrscht Krieg.“
*
Okay, zugegeben, genau so ist mein Vorstellungsgespräch bei der Trambahn natürlich nicht gelaufen – damals, irgendwann im Sommer des Jahres 2012. Eine große Portion Wahrheit steckt aber durchaus in der kleinen Geschichte. Klar, Verträge werden heutzutage nicht mehr mit Blut unterzeichnet. Selbst ein traditionsreicher Arbeitgeber wie die Landeshauptstadt München verzichtet mittlerweile auf dieses Ritual. Und man bekommt sogar etwas zu trinken angeboten.
Tatsache ist aber, dass wirklich die Wenigsten wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie sich dafür entscheiden, Fahrer bei der Münchner Straßenbahn zu werden. Ich rede hier nicht von den Rahmenbedingungen, die eine Tätigkeit im Fahrdienst zwangsläufig mit sich bringt.
Schichtdienst zum Beispiel. Die Tram fährt 365 Tage im Jahr und seit Einführung eines Nachtliniennetzes im September 1994 (damals starteten die „N“-Linien mit drei Tram- und sieben Bus-Strecken) auch rund um die Uhr. Das bedeutet, die Züge müssen früh am Morgen, am Tag, spät am Abend und auch in der Nacht gefahren werden, was nahezu täglich wechselnde Arbeitszeiten mit sich bringt. Der Schichtdienst, den sich viele leichter vorstellen als er tatsächlich ist, ist bis heute ein häufiger Grund dafür, dass neue Straßenbahnführer den Beruf nach relativ kurzer Zeit wieder an den Nagel hängen. Es ist halt irgendwie dann doch nicht so schön, ständig auf dem Bock zu sitzen, während die Freunde feiern gehen oder die Frau mit den Kindern allein zu Hause sitzt.
Nein, ich meine mehr die ganz normale Alltagsbelastung, der man als Trambahnfahrer ausgesetzt ist. Und zwar nicht durch die Tätigkeit an sich – schließlich hat jeder Beruf seine schönen und seine schwierigen Seiten. Sondern ich spreche von der Belastung durch jene Faktoren, die bedingt sind durch den steten Wandel unserer Gesellschaft hin zu immer mehr Egoismus, Rechthaberei und mangelnder Empathie. Ganze Bücher wurden schon hierüber geschrieben, aber diese zu lesen ist für einen halbwegs intelligenten Menschen gar nicht nötig. Es genügt vielmehr schon, einen regelmäßigen Blick in die Tageszeitung zu werfen. Oder einfach mal sich ein bisschen bewusster umzusehen, wenn man unterwegs ist.
Da streiten sich Menschen über Dinge, die wir früher nur belächeln konnten oder die nicht mal einer näheren Betrachtung wert waren. Da wird in breiter Öffentlichkeit und in blumigen Worten be- und geklagt, kritisiert, geschimpft und attackiert. Jeder will immer recht haben und nie nachgeben. Jeder sieht sich selbst in der besseren Position. Und wenn man nicht bekommt, was man will, dann nimmt man es sich eben einfach. Oder schreibt gleich mal seiner Rechtsschutzversicherung.
Die erschreckendste Entwicklung ist aber, dass der gegenseitige Respekt voreinander mehr und mehr verloren geht. Höflichkeit wie ein ehrlich gemeintes „Bitte“ und „Danke“ wird sowieso völlig überbewertet. Im Gegenteil, mit einer Beleidigung ist man heutzutage unglaublich schnell bei der Hand. Bestimmt haben Sie im Frühjahr 2017 die vieldiskutierten Artikel gelesen, in denen sich die Polizei über rapide zunehmende verbale und tätliche Angriffe auf Vollstreckungsbeamte beklagt. Rettungskräften wie Sanitätern, die ja wirklich nur zum Helfen kommen, ergeht es nicht besser. Wenn schon die Achtung vor der Polizei fehlt, dann kann man sich denken, was sich erst Menschen in vom Statusdenken her deutlich niedriger angesiedelten Berufen gefallen lassen müssen. Die Straßenbahnfahrer zum Beispiel: Ein gepflegtes „Arschloch“ gehört bei uns mittlerweile schon zum Alltag.
Bestimmt kennen Sie diese schicken Infomonitore in U-Bahn, Bus und Straßenbahn, die seit circa 2012 nicht nur die folgenden Haltestellen samt Umsteigemöglichkeiten darstellen, sondern auf denen seit 2014 auch Werbung, Rätsel, Nachrichten und kleine Clips dem Passagier die Fahrzeit verkürzen. Die MVG selbst zeigt dort nett gestaltete Filmchen, mit denen Fahrgäste für Gefahren sensibilisiert und – Achtung! – auf gegenseitige Rücksichtnahme hingewiesen werden. Ist es denn nicht traurig, dass so etwas wirklich nötig ist? Dass es einen Film braucht, der daran erinnert, für Schwangere und Gebrechliche den Sitzplatz frei zu machen? Oder seinen Müll nach der Fahrt mit zu nehmen anstatt ihn einfach auf dem Fußboden zu entsorgen?
Im Straßenverkehr setzt sich dieses Bild tagtäglich fort. Gegenseitige Rücksicht? Nur wenn’s grad bequem ist. Ansonsten parkt man eben mal in zweiter Reihe, auch wenn’s auf den Tramgleisen ist und auch wenn aus dem „bin gleich wieder da“ locker mal fünf bis zehn Minuten werden können. Und wenn nicht in zweiter Reihe, dann eben mitten auf dem Radlweg oder auf dem Bürgersteig. Am besten auch noch genau an der Haltestelle. Das kommt häufig vor – kein Wunder, schließlich ist da ja immer Platz. Manchmal wundere ich mich echt, dass bisher noch keiner auf die Idee gekommen ist, sein Gefährt witterungsgeschützt im Wartehäusel unter zu stellen. Wobei, bei Fahrrädern sieht man das gelegentlich schon.
Vom Fahrstil mancher Kraft- und Fahrradfahrer will ich gar nicht erst anfangen. Allein darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben. Spontanes verbotswidriges Abbiegen über mehrere Fahrspuren hinweg, oberlehrerhaftes Ausbremsen anderer vermeintlich zu schneller Verkehrsteilnehmer oder das entspannte Gleiten über die schon mehrere Sekunden rote Ampel beobachte ich fasziniert jeden Tag. Fußgänger sind da übrigens auch nicht besser. Wir leben eben in der Großstadt und vor allem in einer Zeit, wo Ampeln und Verkehrszeichen lediglich als Empfehlung betrachtet werden.
„Unsere kleinen Selbstmörder“, manchmal auch ein bisschen liebevoller „Unsere Lemminge“, nennen deshalb viele Kollegen vor allem die Radfahrer und Fußgänger. Denen scheint nämlich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass sie keinerlei schützende Hülle aus Blech und Stahl um sich herumhaben. Wenn dann auch jegliche Vorsicht fehlt oder das Checken der WhatsApp-Nachrichten wichtiger ist als nach links und rechts zu schauen, dann kann das schlimme Folgen haben. Nicht selten mit tödlichem Ausgang. Was leider auch in München vorkommt, wie sicher jeder von Ihnen schon mal in der Zeitung gelesen hat.
Alter, Rasse, Geschlecht, gesellschaftlicher Status und soziale Herkunft spielen im alltäglichen Benehmen und in der „Komplimente-Sammlung“, die meinen Kollegen und mir Tag für Tag entgegen geschleudert wird, übrigens keine Rolle. Junge Menschen, Senioren, Schüler, Studenten, Handwerker, Schlipsträger, Migranten, Deutsche, Männer, Frauen – der Wandel in unserer Gesellschaft ist überall spürbar. Alle sind schuld, nur ich nicht. Oder auch so: Ich zuerst, und nach mir erstmal nichts. Und rüber über die Straße, scheiß doch aufs Rotlicht, der andere wird schon aufpassen auf mich.
Ich habe Kollegen, insbesondere unter den sehr langjährigen Fahrern, die haben sich schon so sehr an den traurigen Alltag gewöhnt, dass sie schlichtweg abgestumpft sind. Dieses Glück war mir lange Zeit nicht vergönnt. Meine Mutter hat mal über mich gesagt, ich habe ein „Weltverbesserer-Gen“ und sei ein „Kümmerer“, der immer meine, er könnte jemanden bekehren. Ein Stück weit hat sie damit recht. Und genau aus diesem Grund lesen Sie gerade diese Zeilen hier.
Damit kein falscher Eindruck entsteht: Nein, auch ich bin kein Engel. Ich gehe – sofern meine kleine Tochter nicht dabei ist - auch bei Rot über die Straße. Allerdings schaue ich dabei nach links und rechts anstatt auf die Facebook-Timeline in meinem Smartphone. Ich ärgere mich auch, wenn mir der Bus quasi vor der Nase wegfährt. Aber wenn ich und nicht der Bus derjenige bin, der zu spät war, dann nehme ich es sportlich und ärgere mich über mich selbst, anstatt lautstark dieser Pissnelke von Fahrer die Pest an den Hals zu wünschen. Und als mal mein Auto abgeschleppt wurde, weil ich es „nur ganz kurz und aufgrund einer persönlichen Notsituation“ in einer Feuerwehrzufahrt geparkt hatte, dann hab ich halt in drei Teufels Namen die 280 Euro Gebühr bezahlt anstatt einen Prozess anzustrengen gegen diese übereifrigen Politessen, die sich einen Spaß draus machen, Autofahrer zu schikanieren. Oder zumindest gleich mal einen saftigen Beschwerdebrief zu schreiben.
Warum fährt der Typ denn noch Straßenbahn, wenn doch alles soooo schlimm ist, werden Sie sich jetzt fragen. Ganz einfach: Weil es angesichts der steigenden Einwohnerzahlen Münchens auch immer mehr – diplomatisch formuliert – „schwierige Menschen“ gibt, der Großteil aber – Gott sei’s gedankt – nach wie vor die Regeln des Anstands und der Straßenverkehrsordnung beherrscht. Die Münchner Verkehrsgesellschaft hat im Jahr 2016 insgesamt 578 Millionen Fahrgäste von A nach B gebracht. Bei der Tram allein waren es mehr als 120 Millionen. Der weitaus größte Teil davon, die berühmten 99 Prozent, will einfach nur schnell ans Ziel kommen, ohne ständig auf der Suche nach einer Konfrontation zu sein. Die allermeisten haben auch eine gute Erziehung genossen. Es ist das verbleibende eine Prozent, das uns allen das Leben schwer macht.
Es gibt sie nämlich noch in der Mehrheit: die Menschen, bei denen „Bitte“ und „Danke“ zum Wortschatz gehört. Die einem auch mal ein Lächeln schenken, wenn man kurz auf sie wartet. Und mit denen man an der Endstation auch mal eine nette kleine Unterhaltung führen kann, über Gott und die Welt – oder auch mal über Gründe für Verspätungen, was eben diese Menschen dann auch nachvollziehen können. Weil sie nämlich über den eigenen Horizont hinausblicken können, realistisch und – und das ist das Entscheidende und bei weitem nicht Selbstverständliche – intelligent sind.
Ich staune jeden Tag wieder über die Dummheit mancher Leute. Tut mir leid, aber netter kann ich es einfach nicht formulieren. Als Trambahnfahrer ist man, auch wenn die Führerstände der modernen Züge mit einer Glastür versehen sind, ständig unfreiwillig Zeuge von ungezwungenen Unterhaltungen, emotional geführten Telefongesprächen oder auch mal lautstarken Streitereien zwischen Fahrgästen. Was da manchmal an Aussagen fallen, dreht mir regelmäßig die Zehennägel hoch. Besonders schlimm ist es, wenn solche Menschen dann den direkten Kontakt zum Fahrer suchen und man nicht mehr weiß, ob man gerade verarscht werden soll oder ob das Gegenüber seine Worte tatsächlich ernst meint. Meistens ist leider letzteres der Fall.
Sie möchten Beweise für all diese bösartigen Aussagen meinerseits? Beispiele, viele Beispiele? Kein Problem, denn genau dafür ist dieses Buch gedacht: Es hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Aber es hat eigentlich einen anderen Zweck: Ich hege die leise Hoffnung, dass vielleicht der eine oder andere nach dieser Lektüre ein bisschen mehr mit offenen Augen durch die Welt geht als bisher. Dass ihm vielleicht nicht mehr ganz so schnell eine ungerechtfertigte Behauptung oder Beschimpfung über die Lippen kommt. Und dass der Mann oder die Frau da vorne im Führerstand der Straßenbahn fortan wieder als das gesehen wird, was er bzw. sie in erster Linie ist: ein Mensch, der denselben Respekt verdient wie man ihn selbst auch erwartet.
Es handelt sich um ein Buch über die Trambahnfahrer in München. Genauso gut könnte es ein Buch über die Busfahrer oder die U-Bahn-Fahrer sein, in München wie auch in jeder anderen Stadt. Die alltäglichen Erlebnisse der Kolleginnen und Kollegen nehmen sich nämlich gegenseitig nichts.
Apropos Erlebnisse: Die in diesem Buch erzählten einzelnen Anekdoten sind tatsächlich alle wahr. Ich habe sie in den zurückliegenden fünf Jahren alle selbst erlebt.
Auch wenn ich Sie im folgenden Kapitel und dann später immer mal wieder zwischendurch eine Art Fahrschule absolvieren lasse, damit Sie die Hintergründe besser verstehen, ist dies ausdrücklich kein Fachbuch über die Münchner Tram. Alle Erklärungen über technische Zusammenhänge, organisatorische Vorgänge und wirtschaftliche Hintergründe sind stark vereinfacht verfasst. Eben genau so, dass man den Ablauf oder den Hintergrund versteht, mehr aber auch nicht.
Wer gerne tiefer in die Materie einsteigen möchte, findet im Anhang eine umfangreiche Aufstellung von Bücher-Tipps und Internet-Links, wo man sich tagelang in Details vergraben kann. Die meisten Informationen sind kostenlos abrufbar, in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt von echten Fans, die sich über Jahre hinweg einen beachtlichen Wissensstand über ihr Hobby angeeignet haben. So manch einer arbeitet inzwischen selbst im Fahrdienst.
Zu diesen Leuten gehöre ich selbst auch. Die Trambahn war schon als kleines Kind meine große Leidenschaft. Ich weiß noch, dass ich einen großen Wäschekorb voll mit Legosteinen hatte, aus denen ich Straßenbahnen gebaut und diese realitätsgetreu an Front und Heck mit Liniennummer und Zielanzeiger versehen habe. Dann hab ich meistens meine damalige „Hauslinie“ 14 nachgespielt. Mein Elternhaus stand an der Hansjakobstraße im Münchner Osten, und wenige Meter entfernt fuhr der 14er vorbei, ein S-Bahn-Zubringer zwischen Sankt-Veit-Straße und Ostbahnhof. Diese Strecke gibt es heute noch, sie wird seit einigen Jahren von der Linie 21 bedient, die über den Ostbahnhof hinaus weiter durch die Innenstadt und dann zum Westfriedhof rollt.
Bis ich irgendwann im Führerstand einer echten Straßenbahn sitzen würde, sollte es damals noch eine ganze Weile dauern. Nach der Mittleren Reife wurde ich zunächst mal Journalist, vorrangig aus Faulheit, weil ich damals schon zwei Jahre lang neben der Schule nachmittags in einem kleinen Verlag für Computerzeitschriften arbeitete und schlichtweg keine Lust hatte, mir etwas anderes zu suchen. Ich ging nach Landshut, machte ein Volontariat bei der örtlichen Tageszeitung und blieb dann insgesamt sieben Jahre dort als Redakteur und später als Leiter der Landkreis-Redaktion. Ein guter Beruf, interessant und abwechslungsreich. Irgendwie war das aber nie meine Welt. Vielleicht kennen Sie das Gefühl, schlichtweg fehl am Platz zu sein, wenn sich einfach keine innere Zufriedenheit einstellen will.
Ich beschloss einen Neuanfang und wechselte in die private Sicherheitsbranche, zuerst als einfacher Wachmann a la „Schranke auf – Schranke zu“. Später machte ich meinen IHK-Abschluss und arbeitete mehr als 16 Jahre im Werk- und Objektschutz, als Ausbilder und Diensthundeführer sowie im bewaffneten Personenschutz. Ich habe diesen Beruf geliebt, auch wenn er überwiegend nachts stattfand.
Die Jahre vergingen, und plötzlich begann mein Alter mit einem Vierer vorne dran. Sozusagen die letzte Chance, nochmal neu zu beginnen und vielleicht einen alten Traum wahr werden zu lassen. So kam ich im Januar 2013 zur Münchner Verkehrsgesellschaft und habe durchaus vor, sofern die Gesundheit mitspielt, von hier aus irgendwann auch in den Ruhestand zu gehen. Weil es jeden Tag aufs Neue ein unbeschreiblich schönes Gefühl ist, auf Schienen dahin zu gleiten.
Und weil ich „meine“ Fahrgäste mag. Nicht alle, längst nicht alle. Aber – noch – die meisten von ihnen. Den jungen Mann, der grinsend den Daumen hebt, wenn ich noch kurz auf ihn warten kann. Die resolute Dame, die lautstark ihre Mitreisenden zum Freimachen der Lichtschranke auffordert, damit’s endlich weitergeht. Den älteren echten Münchner, der sich gemeinsam mit mir auf grantlerisch-charmante Weise über für den Straßenverkehr absolut ungeeignete Autofahrer aufregt. Den schwerbehinderten Rollstuhlfahrer, der sich immer überschwänglich bedankt, wenn ich ihm in den Zug helfe. Den griesgrämig dreinblickenden und ständig leise vor sich hin schimpfenden Herrn, der nach dem Aussteigen an mein Fenster klopft und mir ein Bonbon in den Fahrerstand reicht. Und natürlich die Kinder, die mit leuchtenden Augen hinter mir stehen, jeden meiner Handgriffe ganz genau verfolgen und ihren Mamas oder Papas mit abgeklärtem Profitonfall erklären, warum denn jetzt die Weiche nach links anstatt nach rechts gestellt werden musste.
Inzwischen – und auch das trägt dazu bei, dass ich meinen Beruf nach wie vor gerne ausübe – bin ich auch ruhiger geworden, wenn ich auf Fahrgäste treffe, die sich selbst nicht im Griff haben. Ich lasse mir allerdings auch nicht mehr alles gefallen. Bei mir bekommt gelegentlich schon mal einer, der sich danebenbenimmt und mich oder andere Passagiere grundlos beleidigt, einen Freifahrtschein nach draußen.
Wer die Sicherheitsbranche ein bisschen kennt oder vielleicht sogar selbst schon mal in dieser tätig war, der kann sich vorstellen, dass ich vor meiner Zeit bei der Trambahn so einiges an dummen Bemerkungen, persönlichen Anfeindungen, Respektlosigkeit, Beleidigungen und auch gelegentlichen Handgreiflichkeiten gewöhnt war.
Diesbezüglich war ich froh, all dies mit dem Beginn der Fahrschulausbildung an einem witterungsmäßig ungewöhnlich milden Vormittag zum Jahresbeginn, am 2. Januar 2013, endlich hinter mir zu lassen.
Dachte ich.