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Tram für Anfänger: Die Grundausbildung

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Wenn die Leute von meinem Beruf erfahren, reagieren sie meist mit Zurückhaltung. „Ist das nicht voll langweilig? Da hast Du doch den ganzen Tag nichts zu tun“, meinen manche. „Hebel vor und zurück, mehr muss man da ja nicht machen“, denken einige. Und wieder andere bekunden offen ihren Neid, weil ich so einer entspannten Arbeit nachgehe. Naja, zugegeben kann man, wenn man bei manchen Kollegen in den Führerstand schaut und deren – drücken wir es mal vorsichtig aus – „entspannte Körperhaltung“ sieht, schon diesen Eindruck gewinnen.

Nun, ganz so einfach ist es natürlich nicht. Genauso gut könnte man über einen Sachbearbeiter am Schreibtisch sagen, dass der ja den schönsten Job der Welt hat: den ganzen Tag nur rumsitzen, ein paar Zahlen in den Computer tippen und ansonsten fleißig Kaffee trinken. Oder über jeden Autofahrer, dass der nichts großartig machen muss außer Gas geben, bremsen und am Lenkrad drehen.

Trambahn fahren ist nichts, was man nicht lernen kann. Vorausgesetzt, man verfügt über ein hohes technisches Verständnis, kennt die wichtigsten Regeln der Straßenverkehrsordnung und – und das ist am wichtigsten – besitzt ein Gefühl für das Steuern von Schienenfahrzeugen. An letztem Punkt scheitern nicht wenige. Denn es ist etwas vollkommen anderes, ob man ein Kraftfahrzeug oder einen Zug bewegt.

Drei Monate dauert in München die Ausbildung zum Straßenbahnfahrer. Am Anfang steht ein Monat theoretischer Unterricht. Hier bekommen die angehenden Zugführer die Grundlagen ihrer späteren Tätigkeit vermittelt. Was bedeuten die Signale (die sich von denen des Individualverkehrs grundlegend unterscheiden), was ist beim Befahren von Weichen zu beachten (zum Beispiel dass man sie vorab in die richtige Lage bringen muss und dass eine gewisse Höchstgeschwindigkeit einzuhalten ist, sofern man nicht mit dem Schienenfahrzeug plötzlich auf dem Asphalt stehen will), wie bedient man den Bordcomputer (etwa zum Eingeben einer alternativen Route auf Umleitungsfahrten), welche technischen Störungen kann ich am Zug selbst beheben (wenn zum Beispiel eine Tür nicht mehr schließt) und so weiter.

Die Themen sind vielfältig und anspruchsvoller, als viele bis dahin gedacht haben. Aber auch hochinteressant. Auch eine Auffrischung der Regeln der Straßenverkehrsordnung gehört dazu, außerdem Tarifrecht, Beförderungsbestimmungen, psychologische Grundlagen im Umgang mit anderen Menschen und einiges mehr.

Die Praxis beginnt im zweiten Monat (grob gesagt). Wie in fast allen Straßenbahnbetrieben auf der ganzen Welt sind auch in München verschiedene Fahrzeugtypen im Einsatz. Zweiteiler, Dreiteiler, Vierteiler, Wagen mit Drehgestellen, Multigelenkfahrzeuge, Altwagen noch ganz ohne Steuerungselektronik… und all diese müssen die Straßenbahnfahrer nicht nur bedienen, sondern im Fall einer technischen Störung auch schnellstmöglich wieder fahrfähig machen können. Schließlich steht im dichten Takt der Großstadt schon nach wenigen Minuten der nächste Zug hinten an, und Überholen ist bei einem Schienenfahrzeug etwas knifflig.

Jeden Tag geht’s nun, als „Fahrschule“ gekennzeichnet, aus dem Betriebshof raus aufs Streckennetz. Der Fahrlehrer hat dabei ein kleines Hilfsbedienpult vor sich, mit dem er ins Geschehen eingreifen und Phantomstörungen produzieren kann. Und spätestens jetzt trennt sich die Spreu vom Weizen. Es gibt kaum eine Ausbildungsgruppe, wo der Fahrlehrer nicht nach einiger Zeit an die Vorgesetzten die Empfehlung gibt, mindestens einen der Auszubildenden nicht zur Prüfung zuzulassen – nicht etwa aus Bosheit oder weil ihm die Nase desjenigen nicht passt, sondern schlichtweg weil sich im Praxisteil herausgestellt hat, dass der- oder diejenige nicht über das Gefühl für ein Schienenfahrzeug verfügt. Oder nicht über die notwendige Konzentrationsfähigkeit, was im besten Fall zu Einschränkungen im Betriebsablauf und im schlechtesten Fall zu Verletzten unter den Fahrgästen oder anderen Teilnehmern am Straßenverkehr führen kann.

Natürlich wird so eine für den Auszubildenden doch sehr schwerwiegende Entscheidung nicht von heute auf morgen getroffen. Die Fahrschule versucht immer erst, den Fahrschüler doch noch sozusagen „aufs richtige Gleis zu bringen“, unter anderem auch in persönlichen Einzelschulungen (normalerweise sind immer Kleingruppen mit drei bis fünf Fahrschülern unterwegs). Aber wenn man sieht, dass es nicht geht, dann geht es eben nicht.

Hierbei gibt es übrigens keine statistische Wahrscheinlichkeit, wer erfahrungsgemäß nicht zur Prüfung zugelassen werden wird. Es kann sich dabei um junge oder ältere Menschen handeln, um Männer oder Frauen, um gelernte Handwerker oder studierte Akademiker.

In meinem eigenen Fahrschulkurs wurde damals ein Architekt vorzeitig ausgesondert, der sich seinen persönlichen Traum vom Trambahnfahren erfüllen wollte. Ein im direkten Gespräch hochintelligenter Mann, der aber nicht imstande war, sich einen Linienweg zu merken und dann die Weichen falsch stellte. Außerdem hatte er ständig Probleme mit der Konzentration.

Er wurde damals bis zum Ende der Probezeit im Kundendienst beschäftigt und kehrte anschließend in seinen ursprünglichen Beruf zurück. Manchmal steigt er noch in Harlaching in meine Tram ein, und wenn sich unsere Blicke beim Einfahren in die Haltestelle treffen, dann grüßen wir uns freundlich. Er macht, soweit ich das in den kurzen Begegnungen beurteilen kann, einen zufriedenen Eindruck, und das freut mich dann jedes Mal für ihn.

Eine praktische Prüfung schließt nach circa vier Wochen die Fahrschulausbildung ab. Hierbei zeigen die Prüflinge zunächst im Betriebshof an einem Straßenbahnzug, was sie in puncto Störungsbehebung gelernt haben. Beispielsweise muss das Problem mit einer Tür, die nicht mehr automatisch schließen will, beseitigt werden. Oder der Prüfling demonstriert was er tut, wenn die elektrische Hebebühne für Rollstuhlfahrer nicht funktioniert.

Dann geht’s raus auf die Strecke. Der Prüfer gibt das Ziel vor, der Fahrer muss die entsprechende Route in den Bordcomputer programmieren und dann unterwegs beweisen, dass er seinen Zug im Straßenverkehr im Griff hat. Klappt alles, bekommt er am Ende der Fahrt seine Fahrerlaubnis ausgehändigt. Diese berechtigt ihn, Straßenbahnen im Münchner Streckennetz (und übrigens nur dort – in anderen Städten hat diese Erlaubnis keine Gültigkeit) zu bewegen. Allerdings noch ohne Passagiere.

Jetzt nämlich stehen drei Wochen im aktiven Fahrdienst in Begleitung eines sogenannten Lehrfahrers an. Das sind erfahrene und vor allem empathische Kollegen, die vom Betrieb sorgfältig für diese verantwortungsvolle Aufgabe ausgesucht wurden. Der Lehrfahrer wird gerne augenzwinkernd auch als „der eigentliche Fahrlehrer“ bezeichnet, denn mit Abschluss der Fahrschulausbildung kann der angehende Tramfahrer nämlich genau zwei Dinge: erstens einen Straßenbahnzug sicher im Straßenverkehr und auf eigenem Bahnkörper steuern. Und zweitens den Zug wieder flott machen, wenn irgendwelche Störungen die Weiterfahrt verhindern.

Der eigentliche Alltag im Fahrdienst ist jedoch weitaus vielfältiger und mit Situationen durchsetzt, von denen die meisten angehenden Kollegen während der Fahrschulausbildung noch nicht mal zu träumen wagen. Zum ersten Mal sind sie jetzt auch mit dem engmaschig gestrickten Fahrplan unterwegs, was Zeitdruck bedeutet. Die neuen Fahrer auf den Alltag vorzubereiten und ihnen sozusagen das Rüstzeug fürs Überleben vermitteln, das ist Aufgabe der Lehrfahrer.

Für den Fahrschüler ideal ist es natürlich, wenn während der gemeinsam mit dem Lehrfahrer verbrachten Zeit möglichst viele Probleme auftreten. Technische Störungen, Umleitungsfahrten und so weiter. Ich selbst hatte damals dieses Glück nicht. Eine einzige Störung an einer Tür, die nicht mehr schließen wollte, gab es damals. Dafür passierte dann in meiner ersten alleinigen Woche nach der Abschlussprüfung so ziemlich alles, was nur passieren kann.

Was macht das Trambahnfahren so „anders“ als Autofahren? Ein Bekannter hat mal gemeint, dass es einfacher sein müsste, einen Zug zu fahren, denn schließlich müsse man ja nicht mal lenken. Genau das ist allerdings der Hauptgrund, warum Trambahnfahren deutlich schwieriger ist als Autofahren. Man kann nämlich nicht ausweichen. Nicht mal ein kleines bisschen. Die Straßenbahn folgt immer exakt dem Verlauf der Schienen und weicht nicht einen einzigen Zentimeter davon ab. Fahren Sie selbst Auto? Oder Motorrad oder zumindest Fahrrad? Dann nehmen Sie doch bei Ihrer nächsten Fahrt mal bewusst wahr, wie oft Sie – ganz automatisch und ohne viel darüber nachzudenken – ein kleines bisschen nach links oder rechts ziehen, wenn es eng zu werden scheint. Ein schlecht eingeparkter Pkw, der leicht in die Fahrbahn hinein ragt. Ein Fußgänger, der die Straße überqueren möchte und ziemlich dicht am Rand darauf wartet, bis Sie vorbei gefahren sind. Oder auch nur irgendein Gegenstand, der auf der Fahrbahn liegt, eine verlorene Radkappe oder ein abgebrochener Ast zum Beispiel. Ihr Gehirn wird Sie Ihr Fahrzeug ganz automatisch, wie in einer Art „Hintergrundprozess“, ausweichen lassen, und schon Sekundenbruchteile später haben Sie es vergessen.

Mit einem Schienenfahrzeug geht das nicht. Der Zug fährt immer stur geradeaus, ganz egal wer oder was da in die Quere kommen könnte. Nicht einen Millimeter zieht er nach links oder rechts, um an dem hervorstehenden Außenspiegel des schlecht eingeparkten Autos vorbei zu kommen. Oder um einen größeren Sicherheitsraum zwischen sich und den wartenden Fußgänger zu bringen. Oder um die verlorene Radkappe nicht frontal zu überfahren und dadurch unter Umständen eine Entgleisung zu riskieren. Dass so ein Zug alles zu Kleinholz macht, ohne davon selbst beeindruckt zu sein, ist nämlich ein weitverbreiteter Irrtum.

Eine sogenannte vorausschauende Fahrweise wird ja von jedem mobilen Verkehrsteilnehmer gefordert. Beim Führen einer Straßenbahn geht diese aber weit übers normale Maß hinaus. Der Fahrer beobachtet nicht nur ständig den Verkehr um seinen Zug herum, sondern auch im sehr weiten Umfeld – auf den angrenzenden Bürgersteigen beispielsweise. Und wenn er einige Jahre Berufserfahrung gesammelt hat, kann er oft ganz gut abschätzen, ob die Fußgängerin, die momentan noch konzentriert ihr Smartphonedisplay betrachtet, gleich die Schienen überqueren wird. Oder ob das Auto, das gerade noch schnurgerade rechts neben dem Zug dahinrollt, an der nächsten Ampel spontan nach links ziehen wird, ohne vorher in den Rückspiegel zu schauen (erstaunlicherweise machen das tatsächlich sehr wenige Autofahrer: vor dem Linksabbiegen in den Spiegel gucken – weil man von da ja nichts erwartet) oder gar den Blinker zu setzen.

Das alles wäre ja nicht tragisch, wenn sich so ein Zug genauso schnell zum Stehen bringen lassen würde wie ein Auto, ein Motorrad oder ein Fahrrad. Der Grund ist einfache Physik: So eine Trambahn hat – in München je nach Modell – ein Gewicht zwischen 31 und 48 Tonnen. Leergewicht, wohlgemerkt. Bei voller Besetzung und einem angenommenen Gewicht von nur 55 Kilo pro Fahrgast kommen nochmal zwischen 8,5 und 12 Tonnen „Lebendgewicht“ dazu. Tja, und dann müssen wir noch das extrem ungünstige Reibungsverhältnis zwischen Eisen (Schiene) und Eisen (Rad) berücksichtigen. Und den Umstand, dass die Auflagefläche eines Eisenrades deutlich geringer ist als eines walkenden Gummireifens.

Gebremst wird eine Straßenbahn auf zwei verschiedene Arten. Normalerweise erledigt dies die elektrische Betriebsbremse, auch generatorische Bremse genannt. Die Bremsung erfolgt dabei durch die Kraft der Elektromotoren, deren Leistung sozusagen umgekehrt wird durch elektrisch beeinflusste Reduzierung der Drehzahl. Erst ganz kurz bevor der Zug steht, werden hydraulische Bremsbacken ans Rad oder an die Achse angelegt und halten das Schienenfahrzeug dann sozusagen im Stand fest. Eine andere Methode ist technisch schwer anzuwenden, denn konventionelle Bremsanlagen, wie sie in Kraftfahrzeugen zu finden sind, wären in einem Zug hoffnungslos unterdimensioniert.

Die Kölner Verkehrsbetriebe haben im Jahr 2003 eines Nachts einen interessanten (öffentlichen) Versuch unternommen, um den Autofahrern die unterschiedlichen Bremswege zu demonstrieren. Dabei wurden ein Ford Mondeo und ein Straßenbahnzug in paralleler Fahrt aus unterschiedlichen Geschwindigkeiten abgebremst. Schon bei nur 15 Stundenkilometern brauchte das Auto 1,20 Meter bis zum Stillstand, die Straßenbahn 3,90 Meter – also mehr als das Dreifache! Bei einer Geschwindigkeit von 30 km/h waren es 4,0 und 7,60 Meter, immerhin fast das Doppelte. Aber dann: Im normalen innerstädtischen Straßenverkehr gilt bekanntlich eine zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern – für Autos ebenso wie für die Tram, wenn ihr Gleis in die Fahrbahn eingelassen ist (auf eigenem Bahnkörper sind es 60 km/h). Beim Abbremsen aus 50 km/h brauchte das Auto 14 Meter bis zum Stillstand, die Straßenbahn hingegen 43 Meter, mehr als das Dreifache. Diese deutlich längeren Bremswege vergessen immer all jene, die meinen noch schnell vor der Tram übers Gleis laufen zu müssen. Oder jene Autofahrer, die sich sicher sind, dass der Überholvorgang oder das Abbiegen vor dem herannahenden Zug locker noch klappt.

All diese Werte sind übrigens die reinen Bremswege. Die Reaktionszeiten der Fahrer, die ja auch einfach nur Menschen sind, wurden dabei nicht mitgerechnet, kommen also im Alltag noch dazu.

Wenn Sie sich jetzt fragen, wie lange denn eine „richtige Eisenbahn“ bis zum Stillstand braucht, wenn es bei einer kleinen Trambahn schon so lange dauert, dann empfehle ich einen gelegentlichen Besuch der Website bahn-seminar.info – dort kann man unter anderem nachlesen, dass ein moderner ICE aus einer durchaus üblichen Reisegeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern fast zweieinhalb Kilometer braucht, bis die Räder nicht mehr rollen.

Gibt es denn keine andere Methode, um die Straßenbahn im Notfall schneller einzubremsen? Doch, die gibt es, und zwar eine äußerst effektive. Im Führerstand haben wir einen roten Knopf, in dessen unmittelbarer Nähe sich die rechte Hand des Fahrers (die linke Hand bedient den sogenannten Sollwertgeber, auch Fahrhebel genannt, zum Beschleunigen und Bremsen) während der Fahrt ständig aufhält. Ausgelöst wird damit die Schienenbremse, ein starker Magnet, der bei Betätigen des Knopfes elektrisch aktiviert wird und blitzschnell an die Schienen gepresst wird.

Wahrscheinlich hat es jeder von Ihnen schon mal gemerkt: Wenn es während eines Bremsvorgangs plötzlich spürbar ruckelt, dann hat der Fahrer ganz kurz auf den roten Knopf gedrückt. Wir machen das hauptsächlich bei einsetzendem Regen, wenn sich der Staub und Schmutz auf den Schienen mit der Feuchtigkeit zu einem gefährlichen Schmierfilm vermischen, was den Bremsweg –physikalisch bedingt – deutlich unkalkulierbarer machen und verlängern kann. Um dann in der Haltestelle rechtzeitig zum Stehen zu kommen und nicht darüber hinaus zu rutschen, kann man die Schienenbremse zu Hilfe nehmen. Aber äußerst vorsichtig dosiert.

Verstärken lässt sich die Wirkung der Schienenbremse im Notfall durch eine sogenannte Gefahrenbremsung. Dabei reißt der Fahrer den Fahrhebel ruckartig bis ganz nach hinten über den Druckpunkt hinaus zurück. Der Zug bremst jetzt sozusagen mit allem, was er zu bieten hat: generatorische Bremse auf volle Kraft und Magnetschienenbremse gleichzeitig, zudem wird zur Warnung anderer Verkehrsteilnehmer die Rasselglocke eingeschaltet. Die Gefahrenbremse ist die schnellste Methode, um die Straßenbahn zum vollständigen Stillstand zu bringen. Sie kann natürlich die Grenzen der Physik nicht überwinden, wirkt aber effektiver als die normale Alltagsbetriebsbremse. Deutlich effektiver. Und genau das kann auch zum Problem werden.

Eine Gefahrenbremsung lässt nämlich, in erster Linie aufgrund der starken Wirkung der Magnetschienenbremse, alles an Bord kräftig durcheinanderwirbeln. Tüten, Taschen, nicht korrekt abgestellte und per Feststellbremse gesicherte Kinderwagen und Rollstühle – und natürlich die Passagiere. Wer sich da nicht festhält (und seien wir mal ehrlich, wie viele von uns halten sich denn ständig gut fest, während der Zug rollt?), kann unter Umständen schwere Verletzungen davontragen. Besonders gefährdet sind ältere und gebrechliche Menschen. Wer schon mal dabei war, als eine Tram bei hohem Tempo eine Gefahrenbremsung hinlegen musste, der weiß wovon ich spreche.

Das ist auch der Hauptgrund, warum keine Fahrräder in der Straßenbahn mitfahren dürfen. Man stelle sich nur eine Notbremsung aus 50 oder 60 km/h und ein dabei quer durch den Fahrgastraum fliegendes Radl mit seinen metallenen scharfen Kanten vor… Oft wird das Gegenargument gebracht: „Ich halte das Fahrrad schon gut fest!“ Sind Sie da sicher? Sind Sie wirklich sicher, dass im Fall einer Schnellbremsung nicht zunächst mal instinktiv ihre Hände an die nächste Haltestange oder sonstige Festhaltemöglichkeit greifen?

Ganz toll finde ich übrigens auch immer die jungen Mütter, die ihre Kleinen auf den Sandbehältern oder hinten auf der Ablage sitzen lassen und es damit billigend in Kauf nehmen, dass ihr Kind unter Umständen durch die halbe Tram segelt und dabei schwer verletzt wird. Darauf angesprochen, gibt’s oft auch noch einen blöden Kommentar.

All das ist keine blanke Theorie. Gefahrenbremsungen kommen mehrmals pro Woche vor. Und dabei verletzte Fahrgäste gelegentlich auch. Vor ein paar Jahren fiel eine Seniorin so unglücklich, dass sie kurze Zeit später an den Folgen im Krankenhaus starb. Die Verursacherin der Schnellbremsung war damals eine unachtsam die Gleise querende Fußgängerin, die sich danach aus dem Staub gemacht hatte.

Was kaum jemandem bewusst ist: Auf dem Fahrer lastet im Fall einer unmittelbar bevorstehenden Kollision eine schier unvorstellbare Verantwortung. Er muss nämlich innerhalb von Millisekunden entscheiden, ob er den Zusammenstoß durch Einsatz der Gefahrenbremse vermeidet bzw. zumindest die Folgen für den Unfallgegner abmildert. Oder ob er den Zug „nur“ mittels der auf volle Kraft gestellten Betriebsbremse (also ohne Einsatz der Magnetschienenbremse) abbremst, was die Wahrscheinlichkeit eines Zusammenstoßes zwar erhöht, der Sicherheit der Menschen an Bord aber sehr zuträglich ist.

Bevor jetzt ein Aufschrei ertönt, mir Rechtsanwälte Klageschriften zusenden oder die Boulevardpresse effektheischende Schlagzeilen a la „Skandal! Tramfahrer wollen Unfälle nicht verhindern!“ druckt, hier eine unmissverständliche Ansage: Der Fahrer wird immer versuchen, einen Unfall zu vermeiden bzw. den Schaden so gering wie möglich zu halten! Allein schon aus eigenem Interesse, schließlich sitzen wir ganz vorne. Vor allem aber, weil wir Verantwortung für bis zu 250 Menschen in unserem Zug haben. Und natürlich auch, weil niemand einen anderen verletzen will.

Aber: Ein erfahrener Trambahnchauffeur – und „erfahren“ ist man wirklich erst nach langer Fahrpraxis – kann abschätzen, wo er in wenigen Millisekunden ein plötzlich querendes Auto treffen wird. Wo und wie hart der Zug das Fahrzeug touchieren wird. Und ob dabei nur Blechschaden entstehen wird – oder ein erhöhtes Risiko besteht, auch den Autofahrer zu verletzen. Ein erfahrener Straßenbahnführer weiß auch stets, welche Art Fahrgäste (alt, jung, Mütter, Behinderte etc.) er an Bord hat – schließlich beobachtet er an jeder Haltestelle den Fahrgastfluss. Und er kennt den Bremsweg seines Zuges angesichts seines Besetzungsgrades (mehr Fahrgäste bedeuten mehr Gewicht und damit physikalisch bedingt eine längere Strecke bis zum Stillstand) und beim jeweils aktuellen Zustand der Gleise (trocken, nass, vereist, mit Laub bedeckt etc.). Angesichts der in wenigen Augenblicken bevorstehenden und oft nicht zu vermeidenden Kollision wird jetzt vom Gehirn Höchstleistung gefordert.

Unter Einbeziehung von Vernunft und Menschlichkeit entscheidet der Fahrer blitzschnell, ob er den Fahrhebel nur bis zum Druckpunkt zurückzieht – oder ganz zurück reißt und die Magnetschienenbremse aktiviert. Glauben Sie mir, um diese Entscheidung beneidet Sie niemand. Und Sie werden hinterher garantiert immer jemanden finden, der es aus diesen und jenen Gründen besser gekonnt hätte. Oder schlimmstenfalls mit dem Gesetzbuch wedelt, nur weil sich der Fahrer für einen demolierten Kotflügel am Auto eines unachtsamen Linksabbiegers und gegen unter Umständen schwerverletzte ältere Fahrgäste entschieden hat. Unser Fahrlehrer hatte während der Ausbildung mal gesagt, wir würden immer mit einem Fuß im Gefängnis stehen, ganz gleich wie achtsam wir sind. Da ist was dran.

Tja, und was macht der Fahrer sonst noch so während der täglichen Arbeit? Zum Beispiel – und jetzt achten Sie bitte genau auf meine Wortwahl – die Türen entriegeln und verriegeln. Also sozusagen aufsperren und versperren. Nicht aber, was viele meinen, die Türen öffnen und schließen. „Dieser unhöfliche Mensch hat mir einfach die Tür vor der Nase zugemacht, als ich gerade einsteigen wollte.“ Nein, hat er nicht. Sämtliche Türen in all unseren Trambahnen (eine Ausnahme ist nur die erste Tür in den Altfahrzeugen der Baureihe P aus den 60er Jahren) sind automatische Türen. Der Fahrgast innen oder der Zusteigewillige außen fordern die Tür durch Knopfdruck an, und dann geht sie auf. Eine Lichtschranke (beziehungsweise bei den P-Wagen ein Trittgitter) verhindert, dass die Tür schließt, solange Menschen ein- oder aussteigen. Und – und jetzt kommt’s – wenn sich eine Weile nichts mehr tut, also die Lichtschranke frei bleibt, dann geht die Tür nach Ablauf einer werkstattseitig voreingestellten Zeit von ein paar Sekunden ganz von alleine wieder zu. Und eben dabei manchmal jemandem direkt vor der Nase.

Alles, was der Fahrer vorne macht, ist das Umlegen eines kleinen Hebels. Wenn der Zug in der Haltestelle zum Stillstand gekommen ist, auf Position „entriegelt“ – dann lassen sich die Türen per Knopfdruck von den Passagieren und von außen öffnen. Und wenn der Fahrgastfluss dem Ende zugeht, auf die Position „verriegelt“. Dann lassen sich Türen, die sich einmal vollautomatisch geschlossen haben, weil eben innerhalb der Lichtschranke nichts mehr los war, nicht mehr öffnen. Für die erste Türe haben wir vorn im Fahrerstand eine Taste, mit der wir diese separat öffnen und schließen können, ohne die anderen Türen nochmals freigeben zu müssen. Aber: Auch diese Tür können wir nicht „zwangsschließen“, solange innerhalb der Lichtschranke noch Betrieb herrscht.

Zu guter Letzt gibt es noch den Schalter zum „Daueröffnen“, mit dem man alle Türen offenhalten kann – zum Beispiel an heißen Sommertagen bei den nichtklimatisierten älteren Zügen an der Endstation. Aber auch hier erfolgt der Schließvorgang wieder nur, wenn die Lichtschranken frei sind.

Es ist übrigens nicht möglich, jemanden in einer Trambahntür einzuklemmen. Die technischen Sicherungseinrichtungen verhindern dies zuverlässig. Es mag zwar bedrohlich wirken, wenn sich die Schwenktüren der älteren Züge, bei denen das Wirkungsfeld der Lichtschranke noch deutlich kleiner ist als bei den moderneren Trams, zu schließen beginnen. Aber hier sind in den Gummiwulsten an den Türflügeln sogenannte Druckwellenschalter eingebaut, welche die Tür bei Auftreffen auf einen Widerstand reversieren lassen.

Auf meinem Wunschzettel fürs Christkindl steht seit vielen Jahren eine Taste zur Zwangsschließung für alle Türen – und zwar für all jene, die ständig die Türen für herbeieilende Fahrgäste oder für den noch gemächlich antrottenden Kumpel aufhalten und damit der Straßenbahn regelmäßig Verspätungen einbringen. Sogar Fünfjährige haben es mittlerweile drauf, vorauszulaufen und sich in die Tür zu stellen, bis die restliche Großfamilie endlich auch da ist. Warum dieses Türaufhalten gar nicht so höflich ist, wie viele immer denken, das schauen wir uns in den nächsten Kapiteln an. Dort erfahren Sie, warum die Tram oft zu spät kommt – und warum nicht selten die eigenen Fahrgäste daran schuld sind, auch wenn das natürlich nie einer einsehen will.

Zunächst klären wir noch, warum die Tram mal links und mal rechts abbiegt. Die zahlreichen Weichen im rund 82 Kilometer umfassenden Streckennetz der Münchner Straßenbahn stellt nämlich auch der Fahrer selbst. Technisch möglich und in anderen Betrieben auch so praktiziert wäre zwar ein automatisches Stellen der „Fahrstraßen“ je nach voreingestellter Linie. In München jedoch ist man bisher bei der Handarbeit geblieben. Früher, bis in die 80er Jahre hinein, wurden die Weichen über Kontakte in der stromführenden Oberleitung gestellt. Je nachdem, ob der Fahrer beim Überfahren des Kontakts den Fahrstrom eingeschaltet (Fahrhebel auf „Beschleunigen“) oder ausgeschaltet (Fahrhebel in Nullstellung) hatte, sprang die Weiche nach links oder rechts.

Inzwischen ist das System deutlich moderner. Im Abstand von einigen Metern vor der Weiche ist ein Kontakt in den Boden zwischen den Schienen eingelassen, und unter dem Zug etwa in Höhe des Fahrersitzes befindet sich eine Sendeantenne. Per Taster im Führerstand wählt der Fahrer beim Überfahren des Kontakts die gewünschte Weichenstellung aus. Ist er zu spät dran, muss er anhalten und die Weiche von Hand stellen. Dazu ist in jedem Fahrzeug ein großer eiserner Stellhebel vorhanden.

Wenn manchmal der Zug vor einer Weiche zum Stillstand kommt und der Fahrer kurz rausspringt, um die Weiche manuell zu stellen, dann muss dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass er vergessen hatte, sie rechtzeitig vom Fahrerstand aus umzulegen. Fast alle Weichen außerhalb des Betriebshofs sind nämlich sogenannte verriegelte Weichen. Dies verhindert, dass sich die Weichenzungen bewegen und damit eine Entgleisung hervorrufen können. Sobald ein Zug den Stellkontakt passiert hat, ist die Weiche auch nicht mehr elektrisch stellbar. Dadurch wird verhindert, dass ein nachfolgender Zug die Weiche unter dem vorausfahrenden Fahrzeug umlegen kann. Der aktivierte elektronische Sperrkreis, erkennbar an dem gelben oder seit Ende 2017 gelegentlich auch weißen „X“ am Lagesignal der Weiche, entsperrt sich manchmal nicht mehr, wenn der Zug die Weiche bereits passiert hat. Dies kommt oft vor, wenn sich gerade noch ein hinter der Straßenbahn herfahrendes Auto auf der Weiche befindet und diese dann so verwirrt wird, dass sie die Weiche sicherheitshalber verriegelt lässt.

Da das Stellen der Weichen zu den Aufgaben der Fahrer gehört, müssen diese das Streckennetz natürlich ganz genau kennen. Nicht nur für den normalen Linienbetrieb, sondern auch für den Störungsfall, wenn Umleitungen zu fahren sind. Nicht überall kann man auf Schienen in alle Richtungen abbiegen, also muss der Fahrer wissen, wie er wohin kommt.

In puncto Streckenkenntnisse geht es auch um andere Dinge. Geschwindigkeitsbegrenzungen zum Beispiel. Da gibt es solche, die immer da sind – vor engen Kurven etwa, damit die Tram nicht aus dem Gleis fliegt. Und solche, die kurzfristig in der Oberleitung aufgehängt werden, beispielsweise wenn sich der Zustand der Gleise verschlechtert und deshalb aus Sicherheitsgründen nicht mehr so schnell drübergefahren werden darf. Bestimmt haben Sie diese gelben Tempotafeln oben in den Drähten schon mal gesehen. Die Zahl muss man mit zehn multiplizieren, um die zulässige Höchstgeschwindigkeit zu kennen. Die Ziffer drei bedeutet 30 km/h, ein „0,5“ heißt Schleichfahrt mit fünf Stundenkilometern.

Wenn so ein gelbes Taferl von der Abteilung Gleisbau der Stadtwerke München neu aufgehängt wird, dann sind darüber nicht nur die Trambahnfahrer unglücklich, weil sich die ohnehin stets knapp bemessene Fahrzeit verlängert. Auch die Menschen in den umliegenden Häusern beginnen in der Regel, sich um ihre Nachtruhe zu sorgen. Denn Probleme an den Schienen oder am stützenden Unterbau werden oft nachts, wenn der Betrieb ruht, behoben, was nicht selten mit ziemlichem Krach einhergeht. Das Klagen hilft aber alles nichts, weder den Fahrern noch den Anwohnern, denn hier geht’s um die Sicherheit, und es muss repariert werden.

So, genug der Grundausbildung. Ein paar kleine Weiterbildungen machen wir später noch. Jetzt geht’s erstmal raus auf Strecke. Sind Sie bereit? Dann los! Hinaus in die Wirklichkeit!

Schutzengel unter Strom

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