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Prolog

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Der Corona-Tote Nr. 9.243

Facetten einer Pandemie



Thomas Chius





„Mann, das sieht aber lecker aus!“, ruft Gitta begeistert. Claus hat einen riesigen Picknickkorb angeschleppt und breitet nun seine Schätze aus. Er ist als letzter an der vereinbarten Stelle im Park angekommen, da er sich nicht getraut hat, mit dem schweren Korb Fahrrad zu fahren. Tragen wollte er ihn aber auch nicht, und so hat er ihn auf dem Rad so gut es ging festgebunden. Es sind gut eineinhalb Kilometer von ihrer Wohnung zum Treffpunkt, und die hat er nun, das Fahrrad schiebend und den Korb ausbalancierend, ziemlich mühevoll hinter sich gelassen.

„Hier, nimm erst mal einen Schluck, du bist ja krebsrot“, lacht Fryco, und reicht ihm ein Bier rüber, das er allerdings bereits halb ausgetrunken hat.

„Ne, ne, ne; ich möchte schon ´ne neue Flasche“, lehnt Claus freundlich aber bestimmt das Angebot ab.

„Verstehe, noch so ein Angsthase, der denkt, dass er sich so mit Corona ansteckt“, brummt Fryco.

„Nichts für Ungut, das würde ich zwar nicht generell ausschließen wollen“, entgegnet Claus grinsend, „aber mir geht es hier ausschließlich um zwei deutlich wichtigere Aspekte: ich will erstens ein kaltes Bier, da aus der Kühlbox, und ich will zweitens eine ganze und nicht eine halbe Flasche.“

Und damit schnappt er sich sein Fläschchen und lässt sich neben Ula auf den Rasen sinken, nimmt einen tiefen Schluck und streckt sich aus. „Mann, tut das gut!“

„Sag mal, Claus“, Fred hat Gitta geholfen, den Korb zu leeren, und stochert mit einer Gabel missmutig in der großen Salatschüssel herum, „hier gibt es ja gar keine Sauce.“

„Also erstmal heißt das nicht Sauce, sondern Dressing“, verbessert Claus freundlich, „und zweitens mischt man natürlich das Dressing unter den Salat erst ca. 5 Minuten, bevor man ihn isst, sonst wird das Ganze ja ein einziger matschiger Brei“.

„Wieder was gelernt“, freut sich Fred, „und wo ist nun das Dressing?“

„Wenn du mal genau hinschauen würdest, dann würdest du in der vorderen inneren Seitentasche des Korbs fündig werden“, sagt Claus, und ohne die Augen zu öffnen nimmt er noch einen Schluck Bier.

„Hm, ich schau vielleicht nicht genau genug, aber alles, was ich sehe, sind leere Taschen, eine Situation, die ich übrigens aus meinem Alltag zu gut kenne, um mich hier zu irren.“

Mit einem Ruck sitzt Claus senkrecht „Shit, die Flasche mit dem Dressing steht wohl doch noch zuhause im Kühlschrank.“

„Na bravo.“ Harry sieht von seinem Tablet auf, in das er die ganze Zeit etwas hineingetippt hat; er ist der einzige, der eine Maske unterm Kinn trägt; er wolle sie immer griffbereit haben, meinte er einmal auf fragende Blicke seiner Mitbewohner. „Salat ohne Öl und Essig schmeckt scheiße“, stellt er nun fest.

„Ein bisschen gepflegtere Wortwahl, Herr Journalist, wenn ich bitte darf“, weist ihn Fred grinsend zurecht, und fügt hinzu: „Aber wenn du Öl brauchst, ich kann gern so 100 ml aus meiner Enfield ablassen, das verkraftet die“. Dabei wandert sein Blick liebevoll über seine letzte Restaurierungsbemühung; er hatte das Motorrad auf einem Trödel erworben und reichlich viel Zeit im letzten Semester auf die Instandsetzung verwendet, und zwar mit wahrscheinlich besserem Erfolg, wie er einmal sagte, als wenn er stattdessen in dieser Zeit die Hausarbeit geschrieben hätte, der er sich eigentlich so langsam mal hätte widmen sollen.

Gitta verdreht die Augen und verschließt die Salatschüssel wieder. „Den essen wir heute Abend oder morgen. Schließlich haben wir genug andere leckere Sachen“, und damit drückt sie Harry ein Wrap mit Hänchen und Gemüse in die Hand und beißt selbst, immer noch seinen Arm haltend, davon ab.

„Ist genießbar, kannst du essen“, strahlt sie ihn an, und er wirft einen zärtlichen Blick zurück, bevor er sich wieder seinem Tablett widmet und mit vollem Mund und einer Hand den Satz zu Ende schreibt.

Claus greift sich ebenfalls zwei Wraps und bietet Ula eins davon an. Gedankenverloren nimmt sie es und schüttelt den Kopf: „seht euch bloß mal die Mutter mit den beiden Zwergen da drüben an.“

In einiger Entfernung versucht ein Elternpaar, offensichtlich mit gemischtem Erfolg, ihren beiden Kindern das Fahrrad-fahren beizubringen. Die Kleinen machen das schon sehr gut, und radeln, ohne Hilfe zu benötigen, auf die Stelle zu, an der der Weg leicht abschüssig wird. Die Mutter läuft die ganze Zeit neben ihnen her und ruft ununterbrochen, dass sie nicht so schnell fahren sollen, während der Vater langsam hinterher trottet und seinerseits seiner Gattin zuruft, sie sollte die Kinder doch mal ihre Erfahrungen machen lassen. Es kommt, wie es kommen muss: das kleinere der beiden Kinder fällt jetzt hin und beginnt zu schreien. „Siehst du, habe ich es dir nicht gesagt? Du sollst langsam fahren!“, ruft die Mutter außer sich; dann schreit sie ihren Mann an: „Lass sie doch, lass sie doch, so ein Quatsch. Jetzt siehst du, was du angerichtet hast.“ Unterdessen ist der Kleine schon wieder auf sein Rad gestiegen und radelt fix seinem Brüderchen hinterher. „Nicht so schnell!“, ruft die Mutter noch. Der Mann schüttelt den Kopf und geht weiter hinterher.

„Mütter!“, echauffiert sich Ula, „wie kann man nur so gluckig sein! Will sie die kleinen Blagen die ganze Zeit in Watte packen? Die müssen doch ihre Erfahrungen machen.“

„Sehe ich auch so“, meint Fryco grinsend, „wir haben eh zu viele Menschen auf der Erde“.

„Na sag mal“, spielt Gitta die Entrüstete, stößt Fryco in die Seite und tut ganz so, als ob sie seine Worte für bare Münzen nimmt, aber nur um dann sofort ins gleiche Horn zu stoßen: „Wie kannst du nur so etwas sagen, die armen Kleinen. Wenn schon welche abtreten müssen, dann doch wohl eher die alten, die uns doch nur auf der Tasche liegen.“

„Sieh es mal nicht so negativ“, nimmt Fred den Faden auf, „die sorgen immerhin für jede Menge Arbeitsplätze, zum Beispiel in den Pflegeberufen, den Altersheimen und die rüstigen sogar in der Touristikbranche.“

Damit ist die Frotzelei durch und Gitta, nun wieder ernsthaft geworden, hat beschlossen, sich auf die Seite der Mutter zu schlagen: „Also, ich kann die Mutter verstehen. Wenn sich der Kleine da nicht so schnell berappelt und sich vielleicht sogar ernsthaft verletzt hätte, dann wäre er vielleicht aus Angst die nächste Zeit nicht mehr aufs Rad gestiegen, und der Nachmittag wäre für die ganze Familie gelaufen gewesen“.

„Ja, schon“, gibt ihr Fryco recht. „Aber wie soll denn der Kleine lernen, was er sich zutrauen kann und was nicht, wenn das immer die Mutter für ihn entscheidet; und die traut ihm ja offensichtlich wenig zu.“

„Bei der Mutter überwiegt halt die Sorge, dass ihren Kindern etwas passiert, wenn sie ihnen zu viel Freiheiten lässt“, lässt sich Gitta nicht beirren.

„Aber was soll schon groß passieren?“, schaltet sich Ula wieder ein. „Sie können von ihren Rädchen umfallen oder in jemanden hineinfahren; das wär´s aber doch. Und die Gefahr, dass sie sich hierbei ernsthaft weh tun, ist doch ganz gering. Ich erwarte ja nicht, dass die Mutter sie allein über eine breite Straße gehen oder sie durch den kleinen Tümpel da drüben schwimmen lässt. Aber loszulassen ist doch notwendig, damit Kinder lernen, eigenverantwortlich zu handeln.“

„Vielleicht müssen wir erst selbst Kinder haben, um uns in eine Mutter hineinversetzen zu können“, sinniert Gitta, „ich könnte mir vorstellen, dass es mir das Herz zerreißen würde, wenn so einem kleinen Menschen nur deshalb etwas passiert, weil ich die falsche Entscheidung getroffen und zu viel Freiheiten gewährt habe.“

„Das ist jetzt aber sehr theoretisch“, schaltet sich Claus in die Diskussion ein, „man entscheidet doch immer situations-abhängig, und man möchte keinem Kind schaden, und zwar völlig unabhängig davon, in welcher Beziehung man zu ihm steht. Also ist man eher vorsichtig und entscheidet im Zweifel für das Wohl des Kindes und gegen seine Freiheit. Also, ich meine, man versucht, so einem kleinen Erdenbürger zu erklären, dass die Maßnahmen, die man trifft, da sind, um ihn zu beschützen und nicht, um ihn schadend einzuschränken.

Das ist doch ganz normal, wir alle können doch auch nicht jede x-beliebige Entscheidung treffen, wie es uns gefällt. Auch wir müssen uns an Regeln halten, die ja auch zu unserem besten da sind. Ohne Regeln kann eine Gesellschaft nicht funktionieren, und wir befolgen sie, obwohl wir oft gar nicht beurteilen können, warum sie so und nicht anders entwickelt wurden. Da sind wir ganz in der Situation der Kinder, die auch nicht verstehen, warum sie den abschüssigen Weg nicht benutzen dürfen.“

„Na, das ist mal ein schöner Vergleich“, Ula schüttelt mit ironischem Gesichtsausdruck den Kopf. „ich wäre lieber das Kind, dem erlaubt würde, den abschüssigen Weg zu fahren; das kann ein Heidenspaß sein, nicht so langweilig, wie den ebenen Weg zu fahren, meinst du nicht? Dafür würde ich gern schon mal abgeschürfte Knie oder einen verpatzten Nachmittag in Kauf nehmen.“

Claus gibt sich nicht geschlagen: „du meinst also, du möchtest lieber ein paar Regeln brechen, wenn du dabei Spaß hast, auch wenn andere davon negativ betroffen sind.“ Er mag eigentlich nicht gegen Ula argumentieren, findet aber ihre Ansichten nicht zum ersten Mal ein bisschen egoistisch.

Ula schenkt ihm ein reizendes Lächeln und sagt „Ich mag Regeln brechen, die ich als unsinnig empfinde, und ich glaube nicht, dass das Brechen unsinniger Regeln anderen unbedingt schaden muss. Der verpatzte Nachmittag zum Beispiel hätte den Eltern die schöne Erkenntnis beschert, dass ihr Kind sich etwas zutraut, sich glücklich dabei fühlt und auf dem besten Weg ist, sich zu einem selbstbestimmten Menschen zu entwickeln. Das nenne ich einen erfolgreichen Nachmittag trotz blutender Knie.“ Und damit schiebt sie Claus den letzten Happen ihres Wraps in den Mund, der dadurch erstmal außer Gefecht gesetzt ist.

„Also, ich möchte lieber von lauter Menschen umgeben sein, die nie richtig gelernt haben, eigene Entscheidungen zu fallen“, beginnt Fred.

„Du meinst, die immer jemanden brauchen, der ihnen sagt, was sie zu ihrem Besten zu tun und zu lassen haben, und die dann auch alles glauben, was man ihnen so erzählt?“ fragt Fryco ein wenig provokativ.

„Du hast es erfasst“, nickt Fred, „die stellen keine blöden Fragen, und solange man selbst nicht aus der Reihe tanzt, kommt man hervorragend mit ihnen aus. Umgibst du dich dagegen mit Leuten, die eigene Ideen entwickeln, die vielleicht sogar die herrschende Moral und die auf ihr basierenden Regeln in Zweifel ziehen, dann bist du konfrontiert mit endlosen Diskussionen und musst vielleicht sogar selbst denken; und das muss doch nun wirklich nicht sein.“

Gitta verdreht die Augen und während sie ihm zuruft: „Mann, Fred, geht´s auch ein bisschen weniger plakativ ironisch?“ hechtet Fred hinter den nächsten Baum, ist aber nicht schnell genug, um dem Joghurtbecher zu entgehen, den Ula nach ihm geworfen hat.

In der Ferne wirft ihnen besagte Mutter einen miss-billigenden Blick zu. Obwohl der kleine Bursche seinen Sturz nahezu unbeschadet überstanden hat und dieser bei ihm wahrscheinlich schon längst wieder in Vergessenheit geraten ist, so waghalsig wie er versucht hat, seinen Bruder einzuholen, kann die Mutter nicht anders, als ihn doch noch einmal auf den Arm zu nehmen, nachdem sie ihn eingeholt hat. Sie bepustet das leicht aufgeschürfte Knie und kitzelt den kleinen Jungen, der lachend sich windend versucht, sich zu befreien.

„Die jungen Leute da drüben“, sagt sie jetzt zu ihrem Mann, „das ist doch bestimmt nicht nur ein Hausstand. Wie die sich aufführen, keinen Abstand, keine Masken; die trinken doch alle aus der gleichen Flasche. Ich fasse es nicht. Ich kann nicht verstehen, warum da die Polizei nicht stärker durchgreift“, und damit blickt sie sich um, ob sie zufällig eines Polizisten gewahr wird, kann aber keinen erblicken. `Natürlich nicht! Immer, wenn man sie mal braucht, ist keiner da´, denkt sie enttäuscht fährt fort: „Diese Super-Spreader sind schuld, wenn morgen wieder die Schulen und Kindergärten schließen müssen, unverantwortlich ist das. Aber demonstrieren gehen, sich ein schönes Leben machen und unserem Sozialstaat auf der Tasche liegen, das können die, einfach ekelhaft. Heinz, sag du doch auch mal was!“

Doch Heinz hat gedankenverloren einer hübschen Joggerin nachgeblickt und ihr gar nicht richtig zugehört.

Der Corona-Tote Nr. 9.243

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