Читать книгу Der Corona-Tote Nr. 9.243 - Thomas Chius - Страница 4

NICHT ALLEINGELASSEN

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Ach Sie sind´s, Herr Nachbar; tut mir leid, ich hatte Sie gar nicht erkannt. Einen schönen guten Morgen auch. Was kann ich für Sie tun? Wie? Sie kommen wegen der Fahrräder der Kinder und des Lärms bei der Familie über uns? Ich soll was unterschreiben? Ach, kommen Sie doch erst mal herein. Sie müssen entschuldigen, dass ich noch im Morgenmantel bin, aber ich fühle mich nicht besonders. Schon als ich aufgewacht bin heute Morgen, ahnte ich: jetzt hat es mich erwischt. Ich schwitzte fürchterlich, und als ich mich im Bett nur aufsetzte, bekam ich einen Schwindelanfall.

Sofort folgte dann auch wieder dieser Schüttelfrost, den ich schon heute Nacht hatte, als ich mal rausmusste. Mir dröhnt jetzt noch der Kopf, und, nun Sie hören es ja selbst, ich huste, gut, nur ein bisschen, aber trotzdem. Ich lege mich später auch wieder ins Bett, sobald die Svetlana da gewesen ist; die schüttelt mir das Bett immer auf, macht ein bisschen sauber und so weiter.

Möchten Sie vielleicht einen Tee? Svetlana muss gleich da sein, die macht uns einen. Setzen Sie sich vielleicht solange auf den Stuhl da, nein, diesen da drüben, der ist bequemer und da sind Sie auch weit genug von mir entfernt und können Ihre Maske abnehmen. Sie wollen nicht? Dann lassen Sie sie einfach auf, vielleicht haben Sie Recht, ich bin ja sicher sehr ansteckend; da kann man gar nicht vorsichtig genug sein. Ich ziehe mir keine Maske auf, wenn Sie gestatten, ich bekomme schwer Luft durch diese Dinger und schwitze wahrscheinlich noch mehr als ohnehin schon.

Ach je, Ich kann Ihnen versichern, dass ich mich in den 72 Jahren, die ich nun auf dem Buckel habe, selten so schlecht gefühlt habe. Ich bin eigentlich nie krank, nur eben gelegentlich eine Erkältung oder eine Grippe. Eine Erkältung habe ich sicher nicht, denn ich habe keinen Schnupfen. Früher hätte ich es sicher für eine Grippe gehalten. Auch gut, oder eher, auch schlecht. Und dagegen hat immer eine Aspirintablette mit Vitamin C geholfen oder auch ein paar mehr.

Das kennen Sie bestimmt: die löst man in einem Glas Wasser auf, es sprudelt, und man trinkt das Zeug in einem Zug weg. Bei Grippe wirkt das super, morgens eine und mittags noch mal eine; dann geht es einem schon am Nachmittag deutlich besser und die folgende Nacht kann man schon wieder durchschlafen; noch ein, zwei Tage und das Fieber ist weg, und man fühlte sich wieder einigermaßen auf dem Damm.

Also das, was ich jetzt habe, fühlt sich zwar genau wie Grippe an, aber die gibt es ja zurzeit nicht, glaube ich, ist ja gar nicht die Jahreszeit dafür; also muss es wohl Corona sein. Ich habe mich vielleicht bei Harry angesteckt, der war wegen des Begräbnisses vor kurzem hier. Schließlich wurde ja nicht nur sein Vater, sondern auch er positiv getestet. Komischerweise traf es weder die Frau von meinem Bruder noch seine anderen Kinder, und auch das Dienstpersonal nicht.

Hm, gegen Corona hilft wahrscheinlich kein Aspirin; das brauche ich gar nicht erst auszuprobieren. Aber sagen Sie mal, war da nicht was mit Zink? Und Vitamin D? Ich habe da mal was gelesen, oder lief das im Fernsehen? Wenn die Svetlana später kommt, muss ich ihr sagen, dass sie mir das besorgt.

Was meinen Sie, das bekomme ich doch ohne Rezept, oder? Na, ich glaube schon. Und wenn nicht? Dann muss ich wohl doch zum Arzt. Erst natürlich anrufen und um einen Termin bitten; da kann man ja jetzt nicht mehr einfach so hin, ist ja klar, die wollen sich nicht alle anstecken. Wäre ja auch blöd, wenn sich der Albers, das ist mein Arzt, also mein Hausarzt, wenn der sich bei mir anstecken würde, und seine Arzthelferin auch; wie heißt sie noch mal, das ist so eine kleine rundliche, ein bisschen so, wie meine Svetlana. Ach, na ja, ist ja auch egal.

Vielleicht hat diese Ansteckerei ja auch etwas Gutes, und ich brauche da gar nicht hin. Und überhaupt, so wie ich mich fühle, kann ich sowieso nicht länger aufbleiben, also in gar keinem Fall kann ich das Haus verlassen. Ich sage dem Dr. Albers am Telefon meine Symptome, also, dass ich das Virus habe und dass er mir das Zink und das Vitamin D verschreiben soll. Und dann kann die Svetlana das Rezept abholen, zur Apotheke gehen und mir die Sachen vorbeibringen, bevor sie zu ihrem nächsten Fall muss.

Na ja, Fall; gut, dass sie das jetzt nicht gehört hat. Sie betitelt uns nämlich nicht als Fälle, sie spricht von uns als ihren Kunden, da versteht sie auch keinen Spaß. Aber ich habe einmal ihre Formulare gesehen, die sie immer bei jedem ausfüllen muss, und da steht was von Fällen. Na ja, ob da Fälle oder Kunden draufsteht, das macht für mich keinen Unterschied; bei Svetlana fühlt man sich wie ein Kunde, und zwar wie ein sehr guter Kunde.

Hoffentlich hat sie überhaupt Zeit, die Sachen abzuholen. Erst zum Arzt, dann zur Apotheke und wieder hierher, das dauert ja schon ein bisschen. Ach, könnten Sie das vielleicht für mich tun, also wenn die Svetlana keine Zeit hat? Nein, Sie würden gern helfen, haben aber leider Termine? Das verstehe ich, war ja auch nur so ein Gedanke; die Svetlana macht das schon, bestimmt.

Ich sage ihr einfach, sie braucht heute nichts zu putzen, ich bleibe ja im Bett, da kann das Wohnzimmer auch mal ein paar Tage warten, bis wieder Staub gewischt wird. Dann braucht sie nur das Essen auf den Herd zu stellen, einfach auf Stufe 1 zum Anwärmen und dann kann sie gleich los; das müsste gehen, also zeitlich meine ich.

Ich habe gehört, dass man nichts mehr riechen und schmecken können soll, wenn man Corona hat; also das wäre ja auch mal eine interessante Erfahrung, meinen Sie nicht? Doch, das muss ich gleich mal ausprobieren. Sobald die Svetlana da ist, sage ich ihr, dass sie mir nicht sagen soll, was es heute gibt. Sie soll das Essen einfach auf den Herd stellen und ihn anmachen. Ich werde dann nach ein paar Minuten in die Küche gehen und mal schauen, ob ich etwas rieche. Und dann stecke ich mir bei geschlossenen Augen einen Löffel in den Mund und versuche zu erraten, was es ist. Das wird ein Spaß.

Allerdings, wenn ich es recht überlege, wird das gar keine einfache Sache werden, fürchte ich. Es ist ja schon nicht einfach zu erraten, was sie so kocht, wenn der Geschmackssinn voll funktionstüchtig ist. Also schmecken tut es bei ihr immer; das kann ich Ihnen sagen. Nur, was sie kocht, das weiß man eben nicht. Klar, wenn man sie fragt, dann sagt sie einem den Namen, aber es sind Gerichte aus ihrer Heimat, und diese fremd-ländischen Namen sagen einem ja nichts, die vergesse ich auch sofort wieder.

Tja, die Svetlana. Moment, kommt sie heute überhaupt? War da nicht was mit einem Arzt? Aber warum musste sie nochmal zum Arzt? Was haben wir heute für einen Tag? Dienstag? Nein, Mittwoch; also, normalerweise kommt sie da. Wie komme ich darauf, dass sie zum Arzt muss? Hatte sie selbst was vom Arzt gesagt? Nein, ich glaube nicht. Wenn sie zum Arzt muss, dann könnte sie mir ja meine … ach Quatsch, ich Dämlack.

Ich wollte sie doch selbst zum Arzt schicken. Junge Junge, jetzt bloß nicht tüdelig werden auf deine alten Tage. Bloß nicht tüdelig werden, das war immer die größte Sorge von meinem Bruder Jercy. Alt und dabei tüdelig werden, so dass er nichts mehr mitbekommt und den anderen nur zur Last fällt, das wollte er nie; na ja, wer sollte das auch schon wollen; aber so ein Ende wie jetzt, das hat er sicher auch nicht gewollt.

Sie haben meinen Bruder nicht gekannt, nicht wahr? Er war ja selten hier. Ich glaube, seit Sie hier eingezogen sind, überhaupt nicht mehr. Er war fast 5 Jahre älter als ich und immer viel robuster, schon als wir noch Jungs waren; ich habe alle Kinderkrankheiten durchgemacht, er hatte lediglich die Masern, oder waren es die Windpocken? Ich weiß es nicht mehr so genau.

Auch im Sport war er besser, auf der Uni im Ruderclub, und Zehnkampf hat er auch gemacht. Das ist allerdings schon lange her. Aber er war auch eigentlich später immer gesund, hat sich nicht mal mit `ner Grippe bei einem seiner vier Kinder oder bei einem seiner wer weiß wie vielen Enkeln angesteckt. Tja, und nun ist er tot, und alles wegen Corona.

Die reden ja immer von Vorschädigungen. Seine Familie wusste nicht, ob er da irgendwas gehabt hat. Er hat nicht mal geraucht; also als Jugendlicher natürlich schon, das haben wir doch alle, aber als dann die Kinder kamen, eins nach dem anderen, da hat er das aufgegeben, wohl auch Bärbel wegen, also das ist, das war seine Frau. Die hat sich früher immer schon beschwert. Ha, ganz früher, also in der Clique, da hat sie immer gescherzt, seine Küsse schmeckten nach einem halbvollen Aschenbecher, in den es hineingeregnet hätte. Aber das war ja nur Spaß.

Später dann kamen schon mal Vorwürfe wegen der gelben Gardinen, und natürlich wegen der Kinder. Das war dann schon nicht mehr unbedingt spaßig gemeint, aber gestritten haben sie nie wirklich über so was. Hauptsächlich hat er es wohl aufge-geben, weil Rauchen einfach aus der Mode gekommen ist; draußen auf dem Balkon stehen oder unten vor dem Klinik-eingang, das war ganz und gar nicht sein Ding; das hätte er nie gemacht. Und dasselbe mit dem Trinken. Als Student natürlich ordentlich, aber später als Arzt? Ein paar Bierchen samstags bei der Sportschau, das wars so ziemlich.

Eigentlich habe ich ihn immer beneidet. Ich bin nicht verheiratet, aber das wissen Sie ja wahrscheinlich schon. Also schon mal keine Familie; na gut, ich bin Patenonkel von Harry, also seinem Jüngsten, ein Nachzügler; der ist übrigens auch noch nicht verheiratet. Die Patenonkel seiner älteren Geschwister waren Kollegen von Jercy, also auch Doktoren oder Professoren an seiner Klinik.

Das war überhaupt sein gesellschaftliches Umfeld, PPP hat er immer im Scherz gesagt: Professoren, Politiker, Promis. Mich hat er nie spüren lassen, dass ich nicht dazugehöre; na ja, das spürt man natürlich auch ganz automatisch von allein, ist ja eine ganz andere Welt. Aber bei einigen seiner Feiern war ich trotzdem dabei. Eingeladen hat er mich viel öfter; aber mir war es unangenehm, wenn man so gefragt wurde, was man denn so mache und ich sagen musste, dass ich in einer Spedition für die Bearbeitung von Reklamationen zuständig sei. Ah, das sei aber interessant, und ob es da auch um Millionenschäden ginge. Nein, ging es nicht, nur ein paar Tausender, wenn es hochkam. Die dachten wohl, ich manage verlorene Schiffsladungen, aber ich kümmerte mich um auf der Fahrt vergammelte Butter, also wenn da mal die Kühlung ausgefallen war. In der Regel ging es eh um unpünktliche Lieferungen. Und das war dann natürlich als Party-Gespräch nicht so der Kracher.

Bei seiner Familie fühle ich mich aber immer wohl; in seinem riesigen Haus, liebevoll von Bärbel eingerichtet und in Schuss gehalten. Er war überhaupt ein richtiger Familienmensch. Das war ihm wichtig, und dafür hat er sich auch immer Zeit genommen. Er hat seine Kinder rumkutschiert als sie noch klein waren, zur Musikschule, zum Reiten oder zum Fußball; selbst in der Schule ist er mal Elternsprecher gewesen; ja, ich glaube, so hieß das. Hat er mir stolz von erzählt, wie er mal mitgeholfen hat, dass die Schule eine bessere Mensa bekommen hat.

Und später dann, als seine Kleinen geheiratet haben, da hätten Sie ihn mal sehen sollen. Stolz wie Oskar hat er alles ausgerichtet; selbst bei seinen Söhnen, obwohl er das doch nur bei seiner Tochter gemusst hätte; aber da kannte er nichts. Riesenfeste waren das; und das ging so weiter, als sein ältester Enkel Kommunion feierte, oder war es Konfirmation? Ich weiß nicht mehr so genau, aber für die Kleinen war er auch immer da. Familienmensch eben.

Ganz anders bei mir. Natürlich hatte ich Freundinnen, sogar bis vor gar nicht so langer Zeit noch; klar, da war schon auch was Ernstes darunter, aber letztlich habe ich nie geheiratet, und ich habe auch keine Kinder. Gefühlt wohne ich immer schon in dieser Wohnung hier. Sie ist nicht übermäßig groß, wie Sie ja sehen, also außer der Küche gibt es das Wohnzimmer und zwei kleine Zimmer, eins ist das Schlafzimmer und das andere nutze ich als Arbeitszimmer.

Eigentlich sollte man es eher als Lesezimmer bezeichnen. Die Wände bestehen praktisch nur aus Bücherregalen, ein paar Sessel, ein kleiner Tisch und als Krönung hat es einen Kamin. Alles sehr schön, mit den hohen Decken, dem Stuck und dem kleinen Balkon; dazu der Blick auf den Park. Na ja, und Sie merken ja selbst, wie ruhig es hier ist. Früher wäre ich trotzdem gern mal in eine schönere Gegend umgezogen.

Da sah das hier nämlich noch nicht so schnieke aus; viel verwahrloster; da waren viele Häuser ziemlich herunter-gekommen, es war ausgesprochen dreckig auf den Straßen rings rum hier, und komischerweise auch lauter; wohl wegen der Kneipen und der Leute, die sich hier so rumgetrieben haben. Aber letztlich bin ich hier hängen geblieben. Und das war im Rückblick ja auch gut so.

Heute sehen Sie hier keine verfallenen Häuser mehr, nicht wahr? Alles im Umkreis hier wurde aufgepäppelt, modernisiert und aufgehübscht. Jetzt wohnen hier wohlhabende Familien mit großen Autos und hohen Ansprüchen. Die Mieten sind hier mittlerweile durch die Decke gegangen, und ich kann froh sein, dass Jercy damals die Wohnung gekauft hat und mich hier für kleines Geld wohnen lässt. Bin mal gespannt, ob sich das jetzt eigentlich ändert, jetzt, wo er tot ist. Ob Bärbel mir die Miete anhebt oder mich sogar rausschmeißt? Nein, das macht sie nicht, sie ist ja mindestens eine so gute Seele wie mein Bruder, also wie mein Bruder gewesen ist.

Er war immer schon großzügig, ein wahrer Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, kann ich Ihnen sagen; erstklassige Manieren, immer gepflegt, und was seine Kleidung anbetraf, nur das Beste. Ich kann das beurteilen; schließlich hat er mir so manches gute Stück vermacht, wenn er sich etwas Neues kaufen wollte und Bärbel ihn vor die Wahl gestellt hatte: entweder nichts Neues oder was Altes weg. Und Sie müssen nicht glauben, dass die Sachen abgetragen waren, die sahen aus wie neu, und so fühlten sie sich auch an.

Leider hat er später dann schon einiges an Gewicht zugelegt, und irgendwann waren mir die Sachen zu groß und viel Geld, sie umzuarbeiten, wollte ich nicht ausgeben. Das lohnt sich doch nicht. Einmal habe ich eine seiner Flanellhosen umnähen lassen. Flanell mit Kaschmir, so was von weich und angenehm zu tragen. Aber für das Geld hätte ich mir zwei oder drei neue Hosen kaufen können, also von der Qualität, die ich mir normalerweise leiste.

Ich werde ihn sehr vermissen. Wann war ich eigentlich das letzte Mal mit ihm allein zusammen? Das muss bei unserem Segeltörn in den Schären gewesen sein. Darum hat er mich immer beneidet, wissen Sie, um das Segeln. Klar, er ist feudal in schicken Resorts am Meer oder in den Bergen in irgendwelchen Ländern abgestiegen, mit Kindervollverpflegung und allem Drum und Dran, aber manchmal waren wir auch zusammen segeln, nur wir beide und das war immer etwas Besonderes für ihn, also sagte er, nicht ich.

Beim letzten Mal haben wir Sternschnuppen bewundert. Da waren wir ganz allein mitten in der Ostsee auf dem Weg nach Rügen und kein Land in Sicht. Wir haben am späten Abend bei einem Gläschen auf dem Deck gelegen und in den Sternen erleuchteten Nachthimmel geschaut. Das war aber auch ein atemberaubender Anblick, ist es immer wieder. Man muss Neumond haben und sich mitten auf dem Wasser befinden, also komplett ohne diese Lichtverschmutzung, wie das genannt wird. Hm, komischer Ausdruck, trifft es aber genau. Jedenfalls bekommt man eine Ahnung von der Großartigkeit der Welt und wie man sich selbst als kleiner Erdenmensch da einordnen sollte.

Tja und damals hat er mir gesagt, ich wisse gar nicht, wie gut ich es hätte, solche Unternehmungen praktische jedes Jahr machen zu können, während er immer in Abhängigkeiten gefangen sei, durch die Familie, den Beruf und so weiter. Mich hat das gewundert, weil er doch so ein Familienmensch war; das habe ich ihm dann auch gesagt.

Und das hat er auch nicht abgestritten. Also das wolle er auf gar keinen Fall missen, seine Familie und alles andere auch nicht, aber man könne eben nicht beides haben, und das sei doch eigentlich schade. Aber dann hat er auch gesagt, dass das eigentlich auch richtig sei. Alles hätte eben seine zwei Seiten. Und so blieben die Segeltrips mit mir für ihn etwas Besonderes.

Im gleichen Jahr hat er seinen 75igsten Geburtstag gefeiert, und ich kann Ihnen sagen, das war eine Feier mit genau 75 Personen, und da hat er inmitten all dieser Menschen genauso glücklich gewirkt, wie damals ganz allein auf meinem Boot.

Ich habe meinen siebzigsten Geburtstag im gleichen Jahr allein gefeiert, und feiern ist da eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Jercy wollte etwas für mich ausrichten, aber Rike hatte sich gerade von mir getrennt. Rike, Sie erinnern sich, mit der hatten Sie sich auch ein paarmal unterhalten. Eigentlich hatten wir, also Rike und ich, vor, auf der Müritzer Seenplatte herum zu schippern. Wissen Sie, ich habe am 3. September Geburtstag, das ist eigentlich ideal für so eine Fahrt. Wir haben sogar noch zusammen das Schiff ausgesucht, das wir chartern wollten, und dann, quasi von jetzt auf gleich, hat sie mir erzählt, dass sie einen anderen hätte und deshalb doch nicht mitkommen könne. Jedenfalls als ich von meinem Trip wiederkam, da waren ihre paar Sachen, die sie bei mir hatte, weg und der Schlüssel lag auf dem Tisch; nicht mal ein Abschiedsgruß. Das war schon ganz schön trostlos.

Hm, wie bin ich jetzt eigentlich auf Rike gekommen? Sie war eine tolle Frau, zugegebenermaßen war sie ja 10 Jahre jünger als ich, und ihr Neuer wohl noch etwas jünger als sie selbst; da konnte ich alter Knacker wohl nicht mehr mithalten. Das hat mich schon echt mitgenommen damals, als sie mich verlassen hat; aber so ist das Leben. Nun ja, auch sie ist mittlerweile gestorben, das war Anfang des Jahres. Ach ja: mein Bruder Jercy, so sind wir auf sie gekommen. Er hatte nie eine andere Frau als Bärbel; sie haben sich auf der Uni kennengelernt, haben schnell geheiratet und er ist ihr treu geblieben bis zuletzt.

Sie hat natürlich einiges aufgegeben für ihn; schließlich wollte auch sie Ärztin werden. Nun ja, das Auslandsjahr, das haben sie ja noch gemeinsam gemacht, nachdem sie ihre Examina hatten und Doktoren waren. Sie haben dann beide noch an einer Amerikanischen Uni weitergemacht, an einer ganz berühmten; Jercy war ganz stolz, dass damals alles so gut geklappt hat. Aber letztlich hat natürlich hauptsächlich er etwas davon gehabt; das hat er auch zugegeben. `So eine post-Doc Geschichte an einer renommierten Uni mit dann noch einer durchaus aufsehenerregenden Veröffentlichung´, hat er gesagt, `das hat mir hier schon die richtigen Türen geöffnet`. So konnte er Kariere machen, während sie sich um Kinder, Haushalt und so weiter kümmern musste. Sie sagt ja immer, dass sie das gern gemacht hat, aber wer weiß das schon so genau. Trotzdem, eine glückliche Familie waren sie wohl, das konnte man sehen. Und nun ist Jercy tot.

Noch vor einem Monat fühlte er sich pudelwohl; gut, er hatte immer etwas hohen Blutdruck, schließlich war er etwas überge-wichtig und dadurch ein bisschen kurzatmig, aber das war alles, also soweit ich weiß.

Und dann ging es ganz schnell; am Nachmittag hatte er noch den Rasen gemäht, das war in der Hitze vielleicht auch nicht gerade das geschickteste, jedenfalls fühlte er sich am Abend schwummrig, und er hatte Atembeschwerden. Er ist dann in seine Klinik gefahren, und da hat man natürlich den Herrn Professor sofort dabehalten. Noch in der gleichen Stunde wurde er getestet und schon am nächsten Morgen hatten sie das Ergebnis. Da brauchte er gar keine Hebel in Bewegung zu setzen, wie er es zum Beispiel für mich jetzt tun würde, wenn ich die beste Behandlung bräuchte. So wie bekannt war, dass er sich das Virus irgendwie eingefangen hatte, kam er sofort an die Beatmungsmaschine und seine gesamte Familie in Quarantäne.

Erst nach 14 Tagen durften sie wieder raus und mit ihnen eine ganze Reihe anderer, die ebenfalls eingesperrt wurden, weil sie Kontakt zu seiner Familie hatten. Ich war komischer Weise nicht darunter. Na ja, jedenfalls wurde Jercy immer noch beatmet, aber es half nichts, es ging ihm immer schlechter. Und obwohl sie ihm Medikamente gegeben haben, wie ich von Bärbel gehört habe, sogar in sehr hohen Dosen, hat es nichts geholfen und nach 18 Tagen war er tot.

Während der ganzen Zeit durfte er niemanden von seiner Familie sehen, dabei war ja nur noch der Harry auch positiv. Ich selbst war dreimal da, aber man hat mich abgewiesen, zunächst freundlich noch. Das wäre viel zu gefährlich, also für mich, haben sie gesagt. Ich habe geantwortet, dass das doch wohl meine Sache sei, ich könne ja wohl für mich selbst entscheiden. Da sind sie dann nicht mehr so freundlich gewesen und haben mir gesagt, nein, das könne ich eben nicht; ich übersehe die Gefahren gar nicht, während sie schon beurteilen könnten, was gut und was nicht gut für mich sei. Na ja, ich muss zugeben, ich bin auch ärgerlich gewesen und das hat sie vielleicht provoziert.

Jedenfalls haben sie mich nie vorgelassen, und jedes Mal sind ein bisschen unfreundlicher geworden und ich ein bisschen ärgerlicher. Beim letzten Mal hat mich so ein maskierter Security Mensch schon am Eingang abgefangen; ich müsse schon vernünftig sein und meinem Bruder würde das gar nicht helfen, wenn er jetzt gestört würde, und so weiter. Dabei war er doch immer ein Familienmensch.

Das war für ihn bestimmt das schlimmste, dass er seine Lieben nicht mehr um sich haben konnte, sie nicht einmal durch eine Scheibe hat sehen können. Und dann 18 Tage an dieser Maschine und jeden Tag geht es ein bisschen schlechter; das muss doch furchtbar sein und immer allein, bis auf die Pflege-kräfte alle paar Stunden.

Sie müssen entschuldigen, ich bin etwas nahe am Wasser gebaut, ich putze mir mal eben die Nase; bleiben Sie ruhig solange sitzen. Die Svetlana muss jeden Augenblick kommen; ich glaube, ich höre sie schon.

„Hallo Herr Gaalen, sind Sie da? Wo sind Sie? Ah, hier; tut mir leid, ich etwas spät.

Ah, haben Besuch, Guten Tag.

Herr Gaalen, Sie noch gar nicht angezogen?

Sehen gar nicht gut aus. Fühlen sich auch nicht gut? Aha, Sie krank; ich machen heißes Wasser mit Zitrone und Ihre Tablette, wie letzte Mal; dann geht Ihnen besser.

Keine Tablette? Warum? Was? Corona? Das Quatsch, sie Grippe, ich kennen; Tablette gut, sie gleich wieder gesund.

Da trinken, nein nicht Arzt, nicht Krankenhaus, Sie nicht wollen enden wie Bruder.

Sie jetzt wieder gehen in Bett und Sie, Besuch, müssen jetzt auch gehen; kommen wieder, wenn Herr Gaalen besser, wenn wieder gesund.

Ich jetzt putzen Zimmer; abend ich wieder da mit Suppe“.

`Dachte ich mir doch, dass der alte Gaalen und die Pflegerin, seine Svetlana, wie er sie immer nennt, keine Masken tragen, wenn sie zusammen sind. Die haben bestimmt was miteinander; dabei ist sie locker 20 Jahre jünger. Wie die mich rauskom-plimentiert hat. Na warte. Ich habe sie noch nie Maske tragen sehen, das kann ich beschwören. Sie kommt hier angeradelt ohne Maske, das habe ich schon x-mal vom Fenster aus beobachtet. Es ist zwar immer noch erlaubt, im freien keine Maske zu tragen, aber es ist natürlich absolut verantwortungslos. Na ja, was will man von diesen Ausländern schon erwarten. Wahrscheinlich denkt sie, dass es ihrem Aussehen schadet.

Na klar, da kann man schon mal seine Mitmenschen ins Krankenhaus oder gleich ins Grab befördern, wenn bloß das eigene Aussehen nicht leidet. Sie sieht ja gut aus, also für ihr Alter. Ich habe sie mal ganz nett angesprochen, ob sie nicht vielleicht auch mal bei mir putzen möchte, und man könnte ja mal zusammen essen gehen und so weiter. Aber sie hat mich einfach abblitzen lassen und was von Familie gefaselt und dass sie keine Putzfrau, sondern eine Pflegerin sei. Ha!

Und dabei hat sie gerade selbst zugegeben, dass sie bei ihm putzt. Ich sage ja, die haben was miteinander. Denn, wenn sie bei ihm rein ist und später wieder rauskommt, trägt sie auch keine Maske. Das kann ich wunderschön durch meinen Türspion beobachten, meine Kleine. Und das ist verboten, ja verboten ist das, und da steht Strafe drauf.

Allerdings ist es schade, dass ich das bislang nicht so richtig fotografieren konnte. Irgendwie bringt das Scheißhandy das nicht, dass sie scharf abgebildet wird. Das ist so unscharf, da sieht man rein gar nix. Egal, meine Aussage, die eines unbescholtenen Bürgers, ist ja wohl Tausend Mal mehr wert als die von so einer Ausländerin, so einer dahergelaufenen Putze, einer Sozialschmarotzerin; also falls sie es überhaupt leugnen würde. Jedenfalls schalte ich jetzt die Behörden ein, da kann sie drauf wetten. Das schulde ich schon den anderen Mitbe-wohnern hier im Haus. Der alte Gaalen hat Corona und muss getestet werden, notfalls auch gegen seinen Willen. Und dass er renitent werden kann, hat er ja offensichtlich schon im Krankenhaus gezeigt, als er seinen Bruder sehen wollte. Man hätte ihn damals gleich dabehalten und neben seinen Bruder legen sollen, dann hätten wir hier kein Problem.

Und die Svetlana ist wegen Nichttragen der Maske dran; das macht die ja bei ihren anderen Kunden genauso. Wer weiß, wie viele die schon angesteckt hat. Der muss die Lizenz entzogen werden, und das wird mit meiner Zeugenaussage sicher auch passieren.

Hm, wen rufe ich denn jetzt eigentlich am besten an? Die Polizei oder die Gesundheitsbehörde? Das hätten die in der Presse eigentlich auch mal vernünftig darlegen können, an wen sich rechtschaffende Bürger wenden sollen, wenn sie diese Covidioten anzeigen wollen. Na, ich probiere es mal bei der Polizei, die werden mir sicher weiterhelfen können´.

Der Corona-Tote Nr. 9.243

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