Читать книгу Die verstörenden Auslassungen eines erhabenen Fremden - Thomas Christen - Страница 4

Erster Teil - 20.30 Uhr

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Und Dein Herz wird Dir beben, wenn Du in meines blicken wirst, das verspreche ich Dir.

Heinrich von Kleist, 1800

Ich sah ihn das erste Mal Mitte April 2012. Es war an einem Freitag, dem 13. und meine Erinnerung an diesen Abend ist noch so lebendig, als sei es erst gestern gewesen. Es schüttete in Strömen. Abertausende, wild um sich schlagende, von den Lichtern der Straßenbeleuchtung zerteilte Wasserfäden, von Windböen gejagte Schwaden, die aus einem schwarzen Himmel fielen.

Wenn ich heute manchmal daran zurückdenke, frage ich mich, was wohl geschehen wäre, wenn uns an diesem Abend beim Verlassen des Doms nur eine ganz normale kühle Aprilnacht erwartet hätte und kein Weltuntergangsszenario mit seinen über die Gehwege und den Asphalt peitschenden Wassermassen. Ein irdisches Echo dessen, was nach den letzten siebzig, der Welt entrückten Minuten langsam in meinem Körper verhallte.

Manchmal, wenn ich abends in meinem Sessel sitze und meine Gedanken dem leisen Flüstern oder gewaltigen Toben einer Musik überlasse, wenn der Wein zu wirken beginnt und mit süßem diabolischen Lächeln jenes geheimnisvolle Tor öffnet, hinter dem der Verstand und die Seele in einem Nebel aus Größenwahn und Schwermut, aus Euphorie und unerklärlicher Trauer miteinander zu tanzen beginnen, dann bin ich mir sicher, dass dieses wütende Gewitter an jenem Abend ein Menetekel war, ein Omen und ein Mahnruf: Jede Verfehlung, jede Unterlassung und jedes noch so kleine Versäumnis haben Folgen.

Aber so hatten wir unschlüssig nebeneinander im Vorraum des Kirchenraumes gestanden, hatten die herausströmende Menschenmenge beobachtet, das Aufklappen der Regenschirme gehört und den einem Sakralbau eigenen Geruch aus warmem Wachs und lang verwehtem Weihrauch wahrgenommen. Unsichtbare Schwaden von an unzählbaren Festtagen hereingetragener Parfums. Schwere, winterklamme Mantelstoffe, vollgesogen mit den Aromen hunderter von Restaurantbesuchen, Zugfahrten oder der Luft fremder Wohnungen. Für eine kurze Zeit lang weltlicher Odem, dem Ort und dem eben Gehörten für einen Augenblick auf unbeeinflussbare Art und Weise widersprechend. Aber diese Gedanken verwehten im selben Moment, verflüchtigten sich ungreifbar und so schnell wie sie gekommen waren und das leise Gemurmel der menschlichen Stimmen (Nein, der dunkelbraune dort und der Schirm dort drüben ...) begann längst wieder dem zu entsprechen, was man hier erwartete. Flüsternde Zurückhaltung, Orten wie diesem eingemeißelte Gepflogenheiten sich zurücknehmenden demütigen Betragens. Und vor dem Portal hatte ein Wassermonster getobt und mit abertausenden, glitzernden Tentakeln den schwarzen Himmel zerrissen ...

-

Ich bin mir seiner neben mir durchaus bewusst. Ich frage mich, warum der Zufall herausströmender Menschen dafür gesorgt hat, dass ausgerechnet er jetzt neben mir steht. Rückblickend war es, glaube ich, ein verstörendes Gefühl. Aber vielleicht übertreibe ich ja auch.

Er hatte in der Reihe vor mir gesessen. Einen Platz nach links versetzt. Und er hatte sich während des gesamten Konzertes nicht ein einziges Mal bewegt. Vielleicht muss ich diesen Gedanken erklären. Vielleicht wirkt es ja schon seltsam genug, dass einem das überhaupt auffällt. Aber der Gedanke, sich in einem klassischen Konzert zu räuspern ist mir zuwider. Seine Sitzposition in einer engen Stuhlreihe zu verändern, gar husten zu müssen, weil eine heraufziehende Erkältung keine Rücksicht zu nehmen bereit ist, bereitet mir eine ziemliche Pein. Im Foyer ausgegebene Hustenpastillen bewirken da gar nichts. In solchen Fällen habe ich mich in der Vergangenheit das ein oder andere Mal entschieden, einfach zu Hause zu bleiben. Erklären kann ich das nicht. Ich weiß nicht, was mich in dieser Weise geprägt hat. Aber wer diese Eigenart an mir kennt, wird verstehen, warum er mir auffiel.

Er bewegte sich nicht, wirkte wie eine sitzende Statue, nicht unähnlich denen, die seit Jahrhunderten versteinert von einigen der Säulen um uns herum herunterblickten. Und während sich vor uns eine Musik entfaltete, der ich – ja, wie sagt man das, ich kann auch das nur schwer erklären – sagen wir habhaft werden, die ich verstehen, erfühlen wollte, weil nicht wenige Menschen dieses Werk als das großartigste Stück Musik überhaupt erachten, ertappte ich mich immer wieder dabei, dass ich den Haarkranz dieses Mannes in der Reihe vor mir betrachtete. Regungslos saß er da und in sich versunken.

Er trägt ein braunes Jackett, das Falten über der Kante der Rückenlehne wirft und einen schmalen Rand eines blauen Hemdes freigibt.

Braun und blau! Eine Kombination, der ich noch nie etwas abgewinnen konnte. Aber, wenn ich es mir recht überlege, auch diese Wahrnehmung war nicht wirklich von Dauer. Warum ich mich dennoch an sie erinnere? An dieses Blau-Braun-Blitzen? In dieser Hinsicht bin ich wohl arrogant. Ich halte mich für einen Ästheten, darüber hinaus für einen Symmetriefanatiker und das betrifft bei mir auch das ein Wohlgefühl hervorrufende Zusammenspiel von Farben. Die Kombination braunblau hat für mich da noch nie hineingepasst, gleich welche zeitgeistigen Ansichten und Machbarkeiten vertreten werden. Diesbezüglich gäbe ich einen großartigen Sparringspartner für freigeistige Alles-ist-möglich-Apostel ab.

„Ich fürchte, die Taxis gehen an die Herrschaften vor uns.“

Er nickt in Richtung der sich lichtenden Menge an den Garderoben.

„Sie haben in der Bankreihe hinter mir gesessen, nicht wahr?“

Warum ist ihm das aufgefallen? Ich kann mich nicht erinnern, dass er sich ein einziges Mal umgedreht hat. Ich bejahe die Frage und habe ihn, glaube ich, ein wenig erstaunt angeschaut. Er lächelt und wirft einen kurzen Blick in Richtung des offenen Portals durch das uns das Rauschen des Regens und ferner Donner entgegenweht.

„Und?“, fragt er freundlich, „hat Ihnen das Konzert gefallen?“

Er ist fast einen ganzen Kopf kleiner als ich und blickt jetzt mit fragenden Augen zu mir hoch. Er trägt eine runde Nickelbrille mit stark vergrößernden Gläsern, besagtes hellblaues Hemd unter dem braunen Tweedjackett und eine beige Krawatte mit dunkelbraunem Rautenmuster. Einen kurzen Augenblick erinnert er mich flüchtig an den Komponisten Kurt Weill, obwohl meine vorurteilenden Gedanken in diesem Moment gleichzeitig die Worte Lateinlehrer und Finanzbeamter formulieren.

„Zu welcher Gruppe gehören Sie?“, höre ich ihn fragen und es klingt beinahe so, als reagiere er auf kryptische Art und Weise auf meine Gedanken, „zu der, die wegen des Repertoires kommt und der die Ausführenden nicht so wichtig sind, oder zu der, die vor allem wegen der Interpreten kommt und weniger wegen des Programms?“

Ich erinnere mich, dass ich in diesem Moment meine Irritation kaum verbergen konnte, dass er kurz auflachte und entschuldigend die Hand hob.

„Verzeihen Sie meine Direktheit. Es lag mir fern, Sie zu ...“

„... Ich gehe nicht sehr oft in Konzerte wie dieses“, unterbreche ich ihn höflich, „leider erlaubt das meine Zeit nicht. Insofern stellt sich diese Frage in meinem Fall wohl eher nicht. Ich habe mir darüber aber auch noch nie Gedanken gemacht.“

Er nickt und dieses Nicken lässt eine seltsame Art von Erklärungswunsch in mir aufsteigen. Warum verspüre ich den Drang mich zu rechtfertigen?

„Eine Bekannte hat mir zu dieser Karte verholfen. Sie arbeitet in einer Konzertagentur und meinte, es wäre vielleicht eine der letzten Gelegenheiten Masur noch einmal dirigieren zu sehen. Er sei wohl nicht gesund. Sie gehört wohl eher zur zweiten Gruppe ...“

Seine Reaktion ist ein lautes Lachen und das ältere Paar, das in diesem Augenblick an uns vorbeikommt, kommentiert das ganze mit einem konsternierten Blick. Er entschuldigt sich mit einer kurzen angedeuteten Verbeugung in Richtung der beiden und dann fragt er völlig unvermittelt:

„Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie zu einem Glas Wein einlade? Bis die Chancen auf ein Taxi wieder etwas größer sind. Oder darauf, den Weg zur nächsten Haltestelle einigermaßen trocken und am Stück zu überstehen.“

Er weist mit dem Finger auf das Portal. Ich zögere einen Moment und hebe unschlüssig die Hände. In meiner Wohnung erwartet mich niemand. Meine Frau ist vor einem halben Jahr ausgezogen und Lena kenne ich damals noch nicht. Die Liste meiner Freunde ist noch heute sehr übersichtlich und nach diesem Konzert zu lesen oder fernzusehen, danach steht mir nicht der Sinn. Ich nicke und bedanke mich.

Das Da Jacopo ist ein italienisches Restaurant in einer kurzen Sackgasse nicht einmal zweihundert Meter vom Dom entfernt. Ich bin ein einziges Mal dort gewesen, vor langer Zeit, als ich noch direkten Kontakt zu unseren Kunden hatte. Carsten Weber, unser CD hatte ihn bereits zweimal getroffen und ich sollte ihm an diesem Abend einige Textvorschläge und Slogans vorstellen. Der Mann war Geschäftsführer einer mittelständischen Firma gewesen, die Kosmetikprodukte herstellte und ich hatte ihm meine, unsere Ideen für eine dreimonatige Kampagne dargestellt. ‚Es geht nicht darum Wunder zu verkaufen’, hatte er verschwörerisch lächelnd gemeint, als wollte er mir konspirativ klarmachen, dass er die geheimen Zutaten unserer Branchenrezepte längst kenne. Ich war mir an diesem Abend sicher gewesen, dass er von uns, von mir längst erwartete, dass die Spots und Plakate genau das ausstrahlen sollten. Ich denke, er gehörte zu den Menschen, die einem unmissverständlich klar machen wollen, dass man ihnen in der Wüste keinen Sand verkaufen kann, aber dem geschäftlichen Gegenüber in die Arme fallen, wenn man ihm an einem solchen Ort Schneeschuhe anbietet.

Das Da Jacopo ist renoviert worden und nichts erinnert mich an das Lokal von damals. Offensichtlich sind wir nicht die einzigen, die auf die Idee gekommen sind, nach dem Konzert hierherzugehen. Am Tisch, an dem ich seinerzeit mit dem seltsamen Kunden gesessen hatte, sitzt ein junges Paar und tauscht die Hälften ihrer wohl unterschiedlichen Pizzen aus. Die Bilder an den Wänden haben damals andere Motive gezeigt. Winzige aufblitzende Kleinigkeiten, die man in einer Umgebung, die man lange nicht mehr gesehen hat überhöht.

Der Kellner führt uns an den letzten freien Tisch im hinteren Teil des Restaurants, durch einen hölzernen Paravent blickgetrennt von der Tür, die zu den Toiletten führt. Ich mag solche Tische nicht. Es ist einmal mehr eine meiner absonderlichen Eigenarten, die ich nicht erklären kann. Ich habe nie über meine Träume nachgedacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass mich einer jemals verfolgt hätte. In der Regel sind sie mit dem Aufschlagen der Augen vergessen. Sollen sich Psychologen und Psychotherapeuten darüber Gedanken machen, zum Wohle ihrer Patienten und ihrer eigenen Brieftaschen. Ich habe den Traum nur ein- oder zweimal geträumt: Ich sitze im Nebel meiner nächtlichen Exkursionen mit meiner Frau an einem solchen Tisch und jeder, der von der Toilette kommt und durch die Tür tritt, wirft mir eine Münze auf den Unterteller meiner Espressotasse. Meine Frau lächelt jedes Mal, ohne etwas zu sagen, blickt mich an und nickt dankend...

Auf dem Weg ins Lokal müssen mein Begleiter und ich einen befremdlichen Anblick geboten haben. Ich habe keinen Schirm dabei und so hielt er den seinen am beinah ausgestreckten Arm nach oben, windgebeutelt und wenig hilfreich. Bei guten Freunden hätte sich vielleicht der eine beim anderen untergehakt, aber so viel Nähe war für mich undenkbar gewesen. Und so hüpfte und hopste ich mit gebeugtem Kopf neben ihm her und spürte, wie die linke Mantelschulter zunehmend feuchter wurde.

Als wir uns gesetzt haben und der Kellner unsere Bestellungen entgegengenommen hat, beginnt er seine Brille zu putzen, lehnt sich zurück und lächelt mich verbindlich an.

„Sie erwähnten, dass Ihnen die Zeit fehlt, öfters in solche Konzerte zu gehen. Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?“ Ein junger Mann geht an unserem Tisch vorbei und verschwindet hinter dem Paravent. Ich sehe ihm nach und höre das Geräusch der sich öffnenden Toilettentür.

„Ich arbeite in einer Werbeagentur“, antworte ich und bemerke, wie er zuerst kurz die Augen zusammenkneift, dann die Brauen hochzieht und mich mit einem süffisanten Lächeln mustert.

„Oh! Ich verstehe. In vorderster Front im Kampf um Ehrlichkeit und Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Freimut!“

Ich antworte nicht. Einen Augenblick lang frage ich mich, was dieser Mann mit seinem Sarkasmus einem Fremden gegenüber bezweckt. Ich kenne solche Diskussionen zu genüge, habe sie oft genug mit anderen geführt, Fremden und Bekannten, ohne, dass irgendetwas dabei herausgekommen wäre. Außerdem bin ich nicht hierher gegangen, um mein Privatleben von einem Unbekannten auf den Prüfstand stellen zu lassen. Der Kellner bringt zwei Gläser Wein und lächelt. Er hebt seines eine Hand breit an und prostet mir zu.

„Wissen Sie, dass ich mich nicht erinnern kann, je etwas bewusst gekauft zu haben, das ich irgendwo beworben gesehen habe? Nicht bewusst, meine ich.“

Der zynische Unterton in seiner Stimme ist verschwunden.

„Dieser Alles-jetzt-und-fast-umsonst-aber-unsagbar-wichtig-Blödsinn bewirkt bei mir eher das Gegenteil. Schon seit einiger Zeit.“ Er verzieht den Mund zu einem undeutbaren Lächeln und scheint durch mich hindurch zu schauen.

„Natürlich muss auch jemand wie ich Lebensmittel kaufen. Und wahrscheinlich wurde irgendein Produkt irgendwann einmal irgendwo beworben. Auch ich besitze ein Auto, mit dem ich gelegentlich irgendwohin in Urlaub fahre. Meine Frau hat es mir vor Jahren allerdings nicht einfach so zum Valentinstag geschenkt. Ich brauche Waschmittel, Seife, Kleidung und so weiter, wie jeder andere Mensch. Ich habe sogar ein Handy. Ich meine ein Handy, kein Smartphone. Manchmal schaue ich mir im Fernsehen alte Filme an. Und je nach Tageslaune stehe ich zu den Werbepausen auf, um etwas anderes zu machen, was meistens passiert, oder ich bleibe sitzen und staune über diese Manifestationen sich unbegrenzt ausbreitender, menschlicher Verblödung. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie ihren Verstand und beobachten einmal eine Weile ihr Umfeld. Macht das einer?“

Es scheint ihn wirklich zu interessieren. Ich grinse ihn an und hebe mein Glas, um das Ausbleiben einer Antwort zu überspielen. Jemand wie er gehört wahrscheinlich zu denen, die Carsten immer als Die Verlorenen bezeichnet. Aber um diese Versprengten ist es eigentlich noch nie gegangen. Der Löffel mit Honig, den man in die Luft hält, den wir anbieten muss nur groß genug sein und man muss ihn lange genug hochhalten. Der Honig muss nur süß aussehen und sein Genuss ein gewisses Alleinstellungsmerkmal versprechen. Es werden genug daran kleben bleiben! Es ist niemals anders gewesen.

„Obwohl“, fährt er fort und in seinen Augen erscheint ein seltsames Blitzen, „ich muss ehrlich bleiben. So ganz stimmt das nicht, was ich gesagt habe. Hin und wieder kaufe ich mir eine CD. Wenn ich eine gute Besprechung im Radio gehört habe. Wussten Sie übrigens, dass die Firmen Sony und Philips Anfang der achtziger Jahre bei der Einführung der Compact Disc ihre Größe und den Speicherumfang nach genau dem eben gehörten Werk bemessen haben? Beethoven. Beethoven! Wilhelm Furtwänglers Aufnahme der Neunten von 1951 dauerte genau vierundsiebzig Minuten und sollte ohne einen Wechsel des Mediums zu genießen sein ...“

Ich schaue ihn ungläubig an und er nickt bestätigend.

„Ausgerechnet Wilhelm Furtwängler! Einer der drei Musiker auf Hitlers Gottbegnadeten-Liste. Was gäbe ich dafür, könnte man mit den Toten über Wahrhaftigkeit sprechen. Er warf den Mannheimer Musikern 1933 die Partitur vor die Füße, weil sie sich weigerten unter seinem Kapellmeister Simon Goldberg zu spielen. Den Mannheimer Geiger mit der Hakenkreuzbinde hat er damals des Pultes verwiesen. Aber er lässt sich von Goebbels zum Direktor der Berliner Staatsoper ernennen. Er schreibt ihm einen offenen Brief, indem er darauf hinweist, dass er nur bereit ist zwischen guter und schlechter Kunst zu unterscheiden. Aber er lässt sich von ihm in den Reichskulturrat berufen und unterstützt den Anschluss Österreichs. Nennt man so etwas nicht opportunistisch?“

Er spitzt die Lippen und in seinen Augen blitzt etwas Herausforderndes.

„Dass seine Version der Neunten Jahre später ausgewählt wurde, um eine durchaus spektakuläre technische Erneuerung auf den Markt zu bringen, dürfte ihn wohl gefreut haben. Aber, bitte, sagen Sie mir jetzt, wie Ihnen das Konzert gefallen hat. Was haben Sie empfunden? Beschreiben Sie es mir. Was ist in Ihnen vorgegangen?“

Ich stoße einen Seufzer aus und versuche mich zu erinnern. Am Tresen rutscht dem Kellner ein Glas vom Tablett und zerspringt mit einem lauten Klirren auf dem Boden. Zwei Sekunden lang herrscht gedämpftes Schweigen im Raum und dann schwingen sich Stimmen und Geräusche wieder auf das übliche Niveau, um sich ineinander zu verknäulen. Und während meine Gedanken in den Dom zurückwandern, höre ich mich sagen:

„Vielleicht war Furtwängler ja wirklich nur an der Kunst und seinem Einsatz für sie interessiert. Hätte man ihn verboten, verjagt, dann ...“

Was hatte ich vor einer Stunde gefühlt? Es ist schwer zu erklären.

„... Ja. Ziele erreichen auf den Wegen der Verstellung, der Lüge und Unaufrichtigkeit, der Illusion und – Diplomatie. Ein probates Mittel.“

Sein Kopf wackelt wie einer jener Plastikhunde auf verstaubten Hutablagen eines Audi A80 aus den Siebzigern. Er starrt sein Glas an und scheint zu sich selber zu sprechen. Einen Moment lang kommt mir in den Sinn, meinen Wein einfach stehen zu lassen, aufzustehen, mich freundlich und noch einmal bedankend zu verabschieden und zu gehen. Dieser Mann scheint einen Hang zum Dozieren zu haben und das behagt mir nicht. Ich lasse mich nicht gerne, einfach so, aus dem Zusammenhang gerissen, belehren. Schon gar nicht von Menschen, die ich nicht kenne. Ich bin diesem Fremden zu nichts verpflichtet und mir fallen diverse Gründe ein, die ich vorschieben könnte.

Aber dann geschieht etwas äußerst Seltsames und mein Gedanke verflüchtigt sich und zieht sich zurück, wie jemand, der eine Tür öffnet und bemerkt, dass er ein vertrauliches Gespräch stört.

Er hat seine Brille wieder abgenommen und wischt sich mit dem Finger über sein rechtes Auge. Dann sieht er mich an, lächelt und abermals nickt er versonnen, als wolle er eine Bemerkung bestätigen, die jedoch nicht gefallen ist. Ich bin mir absolut sicher, dass er sich verschämt eine Träne aus dem Auge gewischt hat. Mein Verstand sucht händeringend nach einer Reaktion auf diese zu schlingern beginnende Situation. Peinlichkeit und Verschämtheit schweben von der Decke herab, obwohl ich mir sicher bin, dass einzig ich sie sehe, fühle. Aber da lächelt er mich schon wieder herausfordernd an und wartet mit fragendem Blick auf meine Antwort und für Bruchteile von Sekunden habe ich ein Bild vor Augen, klar und scharf umrissen: einen Fisch direkt unter der Wasseroberfläche, einen Fisch mit unbeschreiblich verstörtem Gesichtsausdruck, meinem Gesicht. Und den Haken, den er nicht mehr aus dem Maul bekommt.

Ich seufze und hebe beide Hände ein wenig, als könne man mit einer solchen Geste unerwünschte Fragen abwehren.

„ ... ich bin kein ... Musik ist nur ein Hobby ... ich weiß nicht ...“

„Bitte. Sie können doch mit Worten umgehen.“ Seine Unterbrechung hat nahezu etwas Flehendes. „Es ist Ihr Beruf, oder nicht?“

Mein Blick kann nicht anders. Einen viel zu langen Moment mustert er die lupenhaften Brillengläser dieses Mannes, als wolle er versuchen hinter sie vorzudringen, um zu erkunden, ob in diesem letzten Satz noch etwas ganz anderes, Spottendes mitklang. Als er irritiert die Augenbrauen hebt, entschuldige ich mich. „Pardon“, und es entsteht eine Pause.

„ ... Es gab ein paar Passagen, es gab Stellen, bei denen ich etwas gefühlt habe, das ich hier und da in vollkommen anderen Situationen ...“

Ich rede schneller als ich denken kann und drohe mich zu verhaspeln. Als ich die Lippen spitze und unmerklich auspuste, beginnt die Kerzenflamme zu zittern und wir beide müssen unwillkürlich lächeln.

„Ich wandere gerne. Wenn es die Zeit zulässt. In den Bergen, am Meer. Am liebsten alleine. Und an manchen Orten hält man dann einfach inne und bewundert das unglaubliche Panorama oder einen unbeschreiblichen Ausblick, eine überwältigende Komposition der Natur ...“

Ich muss eine Pause machen und ärgere mich über den aufkommenden klebrigen Pathos in meinem Gerede, Komposition der Natur!, meine Güte, aber er nickt mir nur unmerklich zu, als wolle er mich auffordern, jetzt nicht den Faden zu verlieren.

„Die physische Übermächtigkeit eines Berges, die Unendlichkeit eines Ozeans vor der sich selber bewusst werdenden eigenen Winzigkeit ...“

Als er zu lächeln beginnt, verspüre ich für einen Herzschlag lang ein Gefühl von aufkommender Übelkeit ob meines schwülstig dramatischen Geschwätzes und dieser Mann an meinem Tisch ist nichts weiter, als ein neuer Kunde, dem ich für seine Süßwarenfirma ein paar verzuckerte, ins Opernhafte aufgeblähte Werbeslogans anbiete. Ja, es ist mein Beruf. Und wenn er es so haben will, dann soll er es eben bekommen. Meinetwegen. Also weiter. Und mitnichten kleiner.

„Nur, dass dieses Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit gleichermaßen schmerzt und verstört wie es berauscht und beglückt. Die Seele singt und zerspringt im selben Augenblick.“

Gütiger Himmel, spätestens jetzt muss dieser Mensch den Eindruck gewonnen haben, dass hier jemand vor ihm sitzt, der ihn nicht annähernd ernst nimmt und nach Strich und Faden verarscht.

Ich untermale den Schlusspunkt meines höchst zweifelhaften Vortrages, indem ich mein Glas nehme und es in einem Zug austrinke. Er schweigt und lächelt.

„Wie ich Ihnen sagte: ich bin nicht gut in solchen Sachen. Beethoven hätte mir, uns, der Firma wohl kaum zu einem Pitch verholfen.“

Er schaut mich kurz mit einem fragenden Blick an, aber ich winke ab. Ich habe keine Lust, das zu erklären. Dann macht er dem Kellner mit zwei Fingern ein Zeichen, das ich leider zu spät bemerke, nimmt seine Papierserviette und beginnt sie immer kleiner zu falten.

„Eigentlich wollte ich ... Ich denke, ich ...“

„... Erhabenheit. Das ist das Wort“, unterbricht er mich, als habe er meinen Einwand nicht gehört und schiebt das kleingefaltete Serviettenviereck nachdenklich auf der Tischdecke hin und her.

„Ich denke, mit diesem kleinen Wort muss man solch große Gefühle beschreiben“, und der Ton, mit dem er diese Sätze ausspricht klingt nach unbeschreiblicher Zufriedenheit. Als der Kellner mit den beiden Weingläsern kommt, schaue ich ostentativ auf meine Uhr, aber die Wahrnehmung dieses Mannes beweist einmal mehr ein ausgeprägtes Selektionsvermögen.

Ich bin mir fast sicher, nein, Sie müssen mir das einfach glauben, ich weiß es. Ich weiß, dass es dem, was der Mensch Schicksal nennt, also das, auf das der eine vertraut und sein Nachbar nicht, dass der Gottergebene in gläubigem Wahn schutzengel- oder eben teufelshaft zu personifizieren vermag, was die nicht ganz so Vertrauensbeseelten immerhin noch als möglicherweise personenverbundene energetische Aura ansehen, die mit Ambition und Glück gelegentlich an- oder abgeschaltet werden kann, dass es diesem Schicksal in jenem Moment zu langweilig wurde. Einem Schicksal, das unverbesserliche Realisten einzig als träumerische Schwäche eines wenig ausgebildeten Selbstbewusstseins erachten. Und das beschloss, auf perfide Art und Weise in den Lauf der Dinge einzugreifen.

Heute, nach so langer Zeit, kann ich noch immer nicht leugnen, obwohl ich es so gerne täte, dass ich mich in den Stunden, die diesem Restaurantaufenthalt folgen sollten, immer wieder und mit bangem Zweifel zur Gruppe der wahnhaft Gläubigen zählte. Aber der Reihe nach.

Der Kellner beugt sich über meine linke Schulter und möchte das Glas auf den Tisch stellen. Ich will es ihm abnehmen und für einen kurzen Moment lang sind wir uns uneinig, wer nimmt und wer gibt. Ob er zu früh loslässt, oder ich zu spät zugreife, weiß ich heute nicht mehr. Auf jeden Fall fällt an diesem Abend ein weiteres Glas zu Boden, zerschellt knallend neben meinem Stuhl und der Wein verteilt sich auf meinem Hosensaum und unter dem Tisch. Ich habe das Gesicht des Kellners noch genau vor Augen, eine bemerkenswerte Mischung aus aufflammender Wut und mühsam aufrecht erhaltener Dienstleistungscontenance. Ich höre mich immer wieder Entschuldigungsphrasen stammeln, aber er zwingt ein Lächeln auf sein Gesicht und winkt ab.

„Es gibt solche Abende,“ meint er lakonisch, „ich bringe Ihnen ein neues Glas. Kein Problem. Ich hoffe, ich habe Ihre Hose nicht ruiniert.“

Und dann geht er und kehrt kurz darauf mit einem Kehrblech und einem Lappen wieder. Wahrscheinlich bin ich rot geworden und wahrscheinlich habe ich mich genau deshalb unter den Tisch gebückt, um die Reste des zerbrochenen Glases aufzuheben, damit mein Tischnachbar dieses Erröten nicht bemerkt. Aber als ich wieder über der Tischkante erscheine, streckt er mir schon den Arm entgegen und stößt mit seinem Glas kurz an den zersplitterten Rest in meiner Hand an. Und für einen ganz kurzen Moment erweckt er den Eindruck, als wolle er den Inhalt seines Glases mit einer Geste fragwürdiger Verbundenheit auf den Tisch schütten. Als ich ihn völlig perplex anschaue, lacht er, senkt die Stimme und flüstert:

„Auf die Ode an die Freude! Ein wahrlich bemerkenswerter Abend, mein Freund. Ich möchte Sie gerne so nennen? Sehen Sie es mir bitte nach, denn ich würde das alles jetzt nicht mehr als puren Zufall ansehen wollen.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll und zucke mit den Schultern. Als der Kellner zurückkommt, lächelt er vieldeutig, zwinkert mir zu und ich nuschele ein kaum hörbares Vielen Dank.

„Ich werde mich jetzt wohl besser auf den Weg machen.“ Meine Stimme klingt belegt und ich räuspere mich zweimal. Ich wische mir über die Hose und richte mich auf. Er faltet langsam die Hände und seufzt.

„Ihnen wird wahrscheinlich, selbst in der Kürze der Zeit, nicht entgangen sein, dass ich ein Mensch bin, der eine gewisse Direktheit schätzt. Und ich würde mich durchaus als jemanden bezeichnen, der – nun ja, sagen wir – jederzeit um Ehrlichkeit bemüht ist. Deswegen möchte ich Sie herzlich bitten, wenigsten das Glas noch in Ruhe auszutrinken. Betrachten Sie sich bitte weiterhin als mein Gast. Bitte.“

Er weist mit der einen Hand auf meinen Stuhl, fährt sich mit der anderen Hand durch das Haar und rückt dann seine Brille zurecht.

„Ich möchte Ihnen etwas erzählen. Etwas, das nach diesem kleinen Missgeschick eben ein wahrlich erstaunliches Licht auf diese unsere zufällige Begegnung wirft. Ich bin absolut sicher, Sie werden das am Ende verstehen.“

Ich schenke ihm einen zweifelnden Blick und antworte vielleicht etwas zu forsch:

„Fassen Sie sich bitte kurz. Mein Tag war wirklich nicht übel und ich möchte nicht, dass der Abend daran etwas ändert. Und ich werde langsam etwas müde. Verzeihen Sie. Ich hoffe, dass Sie das genauso verstehen.“

Er lächelt und nickt. Dann verschränkt er die Arme auf dem Tisch und betrachtet sein Glas.

„Freude schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium ... Sie erinnern sich? Ach, was sage ich, natürlich erinnern Sie sich. Sie haben das Gefühl immerhin äußerst treffend beschrieben.“

Ich habe gar nichts beschrieben, guter Mann. Ich habe Phrasen gedroschen. Ich habe dir das gesagt, was du hören wolltest, ein paar emotionale Schablonen reflexartig aus dem Hut gezaubert und sie zuckerüberzogen in Worthülsen gefasst. Das ist mein Job. So macht man das, mein – Freund! Aber das sage ich ihm nicht. Und wieder entsteht eine kurze Pause.

„Am 13. September 1785, noch früh am Morgen, sitzt Friedrich Schiller im Kreise seiner Freunde unter einem Nussbaum im Garten beim Frühstück. Der Vorabend war weinbeseelt und rauschhaft gewesen. Schiller war erst an diesem Tag in Loschwitz bei Dresden angekommen. Drei Jahre Flucht liegen hinter ihm. Jahre des Darbens, der wirtschaftlichen Not und der Ungewissheit. Die schärende Erinnerung an eine Lehranstalt mit Namen Karlsschule, die er die Sklavenplantage nannte. Vielleicht das ihn verfolgende Gesicht des Monstrums Herzog von Württemberg. Eine Vergangenheit, die er nicht selten als Kerker empfunden haben muss, als Loch, in dem er ohnmächtig gefangen saß. Aus dem er sich nur herausschreiben konnte. Zorn, ohne Pardon, einzig das Alles oder Nichts fühlend, im Furor einer unbeugsamen Unbedingtheit, im Großartigen wie im Banalen. Was hör ich, einen nassen Strumpf, geworfen in die Welle. Im Guten wie im Bösen. Und dann diese Einladung nach Loschwitz. Wie ein Übersiedeln in das Paradies. Zu Seelenverwandten, Bewunderern, Gleichgesinnten, wo man ihm neben der Anerkennung sogar ein finanzielles Auskommen anbietet. Schiller befindet sich in einem solch euphorisierten Zustand, dass er bei einem Toast so heftig an das Glas Minna Stocks, der jüngst angetrauten Gattin seines Gastgebers und Gönners Christian Gottfried Körner anstößt, dass deren Glas zerbricht und sich der Rotwein auf die Tischdecke ergießt ...“

Einem seltsamen Impuls folgend schaue ich auf meinen weinbefleckten Hosensaum und höre einen Moment lang nicht zu. Ich weiß nicht, ob er die Skepsis bemerkt, die sich auf mein Gesicht zu legen beginnt. Ich glaube aber nicht, denn er erzählt wie in einer Art rasant ansteigendem Fieber.

„Und Schiller, in seinem grenzenlosen Glücksgefühl, ruft: «Eine Libation für die Götter! Gießen wir unsere Gläser aus». Und als er das wirklich macht, tun es ihm Christian Körner und die anderen Gäste nach. Und Schiller nimmt die leeren Gläser und wirft sie über die Gartenmauer, wo sie scheppernd auf dem Steinpflaster zerschellen. «Keine Trennung! Keiner allein! Sei uns ein gemeinsamer Untergang beschieden!», schreit er in einem Ausbruch unbeschreiblicher Leidenschaft...“

Ich höre mich tief ausatmen, aber er schweigt einen Augenblick und spielt gedankenverloren am Stiel seines Glases.

„Und ein paar Wochen später vollendet er an diesem Ort Die Ode an die Freude, die er, das am Rande, auf einen Vorschlag Körners begonnen hatte. Und deren Qualität er, bemerkenswerterweise, wenige Jahre später auf das Heftigste relativierte. Wie es übrigens auch Beethoven mit eben jenem vierten Satz seiner 9. Symphonie gemacht hat. Ein für den Autor unbefriedigendes Gedicht und ein kompositorischer Missgriff verschmelzen zu einem die Jahrhunderte überdauernden, erhabenen Monument ...“

Er schüttelt den Kopf und lächelt.

„Beethoven und Schiller sind sich nie persönlich begegnet ...“

Er sieht mich an und bemerkt meinen fragenden, und ja, ich gebe es zu, mehr als zweifelnden Blick. Wir sitzen hier im Grunde aus purem Zufall. Wir waren im gleichen Konzert. Gut. Aber warum erzählt er mir das alles in einer solchen Ausführlichkeit? Wein wurde zu allen Zeiten verschüttet, Unachtsamkeit ist ein Teil des menschlichen Wesens und euphorische Träumer gibt es auf dieser Welt wie Sand am Meer. Sie sorgen dafür, dass mein Konto nicht immer wieder hoffnungslos in die Miesen rutscht.

„Sie glauben mir nicht, nicht wahr? Sie halten mich für einen Schwätzer. Einen einsamen Schwätzer. Einen einsamen alten Schwätzer ...“

Ich hebe entschuldigend die Hände und bin mir sicher, dass er die Unwahrheit in meiner antwortenden Geste sofort heraushört.

„Es ist eine reizende Geschichte. Und sie ist ein wunderbarer Abschluss dieses denkwürdigen Abends. Haben Sie vielen Dank, aber ich muss jetzt wirklich ...“

„... Es ist keine Geschichte, mein Freund! Es ist die Wahrheit! Die W-a-h-r-h-e-i-t! Und wie ich Ihnen schon sagte: mir liegt unendlich viel an Wahrheit und Ehrlichkeit. Die Freude ist beileibe nicht nur das, wofür sie viele halten, keine prärevolutionäre, männerbündlerische, romantisch überhöhte, kitschüberzogene, dem, dem, dem ...“, er beginnt mit den Händen vor seinem Gesicht herum zu wedeln, „ ... dem zu Melodramatik neigenden Charakter eines verarmten Poeten zuzuschreibenden ... sie ist ein Schrei! Ein Schrei nach ... das absolut sichere Gefühl, die unumstößliche Gewissheit eins zu sein mit anderen, ja mit der Natur, in seinem Streben und Denken, die Erhabenheit, die ...“

Bitte! Bitte beruhigen Sie sich. Ich weiß nicht, für wen Sie mich halten, aber ich bin ganz sicher nicht ...“

Ich lege meine Hand auf die Tischdecke, als könne diese Geste bewirken, dass unsichtbare Ströme eines Sedativums durch den weißen Stoff fließen, aus ihm herausströmen, um ihn dann wie beruhigender Nebel einzuhüllen. Er betrachtet mich mit dem Blick eines maßlos enttäuschten Lehrers, der es soeben aufgegeben hat, seinem Schüler die Wunder der menschlichen Seele zu vermitteln.

„Nein, nein, Sie sind auch nur einer jener abertausend Scharffensteins, gegen dessen Spötterei der Dichter schrieb: Wie wenig Achtung, Liebe Du für mich hegtest, wie klein Du mein Herz gefunden. Die Seele verschweißt. Aus Privilegien erwachsene Blindheit, Höflinge des Mittelmaßes,“ flüstert er.

„Glauben Sie mir, ich habe so viel verloren. Aber böte man es mir an: ich wollte es nicht zurück!“

Ich stehe auf. Diese Unterhaltung hat Formen angenommen, mit denen ich nicht mehr zurechtkomme. Seine letzten Tiraden und Anschuldigungen nehme ich nicht ernst. Wem, oder was sie geschuldet sind, will ich nicht wissen. Ich bin kein Psychologe, geschweige denn Psychiater. Eine gewisse Portion Menschenkenntnis und Empathie verlangt mein Job. Aber eine solche Breitseite an Pathos erinnert mich – ja, an was? Ich muss zugeben, dass in den Untiefen meines Verstandes kurz etwas zu brodeln beginnt, an das ich einfach nicht erinnert werden will. Das Knarren der Stuhlbeine klingt wie Geräusche aus einer anderen Welt.

„Machen Sie es gut und nochmals vielen Dank.“

Ich nehme meinen Mantel von der Garderobe und nicke ihm im Vorbeigehen noch einmal zu. Aber er reagiert nicht und rezitiert leise etwas vor sich hin, das ich nicht verstehe. ... nie gekonnt, der stehle weinend sich ... An der Tür angelangt ziehe ich den erstbesten Schirm aus dem Ständer und trete auf den nassglitzernden Gehweg. Das Gewitter und der Sturm haben nachgelassen. Vereinzelt weht eine tropfendurchtränkte Böe heran. Ich spanne den Schirm auf und überlege, wo die nächste Bushaltestelle liegt. Der 810er fährt um diese Zeit noch alle halbe Stunde. Als ich an der Haltestelle ankomme und unter dem Wartehäuschen den Schirm zuklappe, wird mir bewusst, dass ich gar keinen eigenen Schirm mitgenommen hatte. Ich bin also ein Dieb! Aber ich werde das Ding unter keinen Umständen zurückbringen. Und ich verspüre nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Schirme sind Werbeartikel. Es gibt sie, wenn nicht an jeder, dann an jeder zweiten Ecke. Streuware. Ich weiß wovon ich rede. Die Sprüche zur mediopharm-Aktion vor zwei Jahren waren auf meinem Mist gewachsen: Damit Sie die nächste Grippewelle nicht nass macht! Und zehn Sekunden lang war ein unsäglich bescheuerter blauer Bär aus der Feder unseres AD über den Bildschirm gehüpft und hatte einen ebenso blauen Riesenschirm geschwungen. Eine Windböe weht die durchweichte Hälfte einer Yoghurtverpackung an die tropfenübersäte Außenwand des Wartehäuschens und ich schlage den Kragen meines Mantels hoch.

... Ja, wer auch nur eine Seele, sein nennt auf dem Erdenrund! Und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!

Warum? Warum fällt mir diese Stelle ein? Jetzt? Hat er eben irgendwann aus dem Gedicht zitiert und ich habe es nicht bemerkt, weil ich mit meinen Gedanken woanders war? Haben mich seine letzten kruden Bemerkungen doch irgendwie auf verschlungenen Wegen erreicht? Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie lang das ganze Gedicht ist. Hat der Chor diesen Teil in der Kirche gesungen?

Der 810er aus der Gegenrichtung kommt und hält auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es gibt nur einen Fahrgast. Eine junge Frau, direkt hinter dem Fahrer. Sie starrt durch die Scheibe ins Nichts und lauscht dem, was aus den Kopfhörern kommt, die sie aufhat. Durch meinen Kopf weht das Bild meiner Frau, Rauch, aber klar zu erkennen. Es wabert, verschwindet und kehrt zurück, verwandelt sich in den Rücken meiner mehr als befremdlichen Bekanntschaft von eben. Die Kirchenbank vor mir. Ein hellblaues Hemd. Und urplötzlich die Gesichter von Carsten und den anderen Kollegen. Noch bevor ich mich fragen kann, woher diese nächtlichen Geisterbilder jetzt kommen, höre ich das Rauschen des nahenden Busses und der Gedankenspuk ist vorbei. Ich setze mich vor den Ausgang in der Mitte und hole mein Handy hervor. Keine Mitteilungen. 22.15 Uhr und der Akku auf 9 Prozent.

... Festen Mut in schweren Leiden, Hilfe, wo die Unschuld weint, Ewigkeit geschwor’nen Eiden, Wahrheit gegen Freund und Feind ... Verschwindet! Irgendjemand, irgendetwas spielt mit mir. Der Bus setzt sich in Bewegung und mir fällt in diesem Moment auf, dass wir uns nicht einmal namentlich vorgestellt haben.

Die verstörenden Auslassungen eines erhabenen Fremden

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