Читать книгу Der Islamische Staat - Thomas Flichy De La Neuville - Страница 7
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Die Geister der
Vergangenheit kehren zurück
„In jenem Jahr [1257] brachen in Bagdad ungeheuer brutale Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten aus, die mit furchtbaren Plünderungen und Zerstörungen einhergingen. Unzählige Schiiten wurden niedergemetzelt, sehr zur Bestürzung des Wesirs Ibn al-Alqami, der wie eine wild gewordene Tigerin wütete und die Mongolen anstachelte, gegen den Irak vorzugehen, um Rache am Sunnismus zu nehmen […] Zu Beginn des Jahres [1258] marschierte der [mongolische] Tyrann Hülägü an der Spitze seiner Heere nebst Georgiern und den Männern der Garnison von Mosul auf Bagdad zu. Der Präfekt des Kalifenpalastes zog an der Spitze des Bagdader Garnisonsheeres vor die Stadt, um die Vorhut des Mongolen aufzuhalten, doch die Muslime waren in der Unterzahl und wurden vernichtend geschlagen … [Nachdem der Wesir Verhandlungsbereitschaft vorgetäuscht hatte,] begab sich der Kalif al-Mustasim in Begleitung der Hofnotabeln und aller wichtigen Persönlichkeiten dieses Moments, die dem Abschluss des vorgesehenen Abkommens beiwohnen sollten, vor die Tore der Stadt. Doch kaum dass sie draußen waren, ging ein Massaker los: Ihre Köpfe fielen ausnahmslos. Der Kalif aber wurde einfach zu Tode getrampelt.“
Al-Dhahabi (zeitgenössischer Historiker aus Damaskus, 1274–1348)1
Am 10. Februar 1258 fiel Bagdad nach zweiwöchiger Belagerung in die Hände der Mongolen. Die Stadt wurde systematisch geplündert und ein Teil der Bevölkerung getötet. Nachdem Hülägü, der Enkel Dschingis Khans, in die „Runde Stadt“ mit ihren prunkvollen Palästen eingezogen war und die schwarze Flagge der Kalifendynastie der Abbasiden nicht mehr über der bezwungenen Stadt wehte, gab sich der letzte Kalif al-Mustasim mit seinen Söhnen in die Hand des Siegers. Er hoffte wohl darauf, dass dieser Milde walten lassen würde. Man führte ihn allein in ein Zelt und verlangte von ihm, die Verstecke mit den sagenhaften Schätzen des Kalifats preiszugeben. Doch anschließend wurde al-Mustasim in einen Sack eingenäht und von mongolischen Pferden zu Tode getrampelt.
Das Ende des letzten Abbasidenkalifen nährte den Traum, eines Tages Rache zu nehmen an den mongolischen, persischen und christlichen Heeren, die die Kalifenstadt eingenommen hatten, und wieder einen Herrscher einzusetzen, der mächtiger sein würde als Hülägü. Dieser Traum, der unter ethnisch-religiösen, arabischen und sunnitischen Vorzeichen stand, war lange Zeit in Vergessenheit geraten. In ihm manifestiert sich jedoch eine Wunschvorstellung, ohne die man die weltlichen Ziele des fundamentalistischen Islam nicht hinreichend verstehen kann. Sowohl al-Qaida als auch der „Islamische Staat“2 berufen sich darauf. Gleichzeitig verweist dieser historische Rückgriff auf einen wichtigen Punkt: Die Entstehung des Islamischen Staates, der Gegenstand dieses Buches ist, ausschließlich unter den Gesichtspunkten Ökonomie und aktueller Weltlage zu verstehen, greift nicht nur zu kurz, sondern ist auch falsch. Die Erneuerung des Kalifats stellt sich vor allem als die Verwirklichung eines alten Traumes dar, und es besteht kein Zweifel, dass die Wiederbelebung der Bezeichnung „Kalif“ einem emotionalen Donnerschlag gleichkam, der dem Westen gänzlich entging. Niemand weiß, ob Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der dschihadistischsalafistischen Terrororganisation Islamischer Staat, schon morgen seine Befehle mit dem Siegel des Propheten Mohammed zeichnet. Das Schwert des letzten Kalifen hat er jedenfalls wiedergefunden, jenes Schwert, dessen Hülägü nicht habhaft werden konnte, weil es sich im Wunsch nach Rache der Besiegten verborgen hatte. Das unvermittelte Erscheinen der Terrororganisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien (ISIS) und deren Ausrufung eines „Islamischen Kalifats“ im Juni 2014 ist nicht bloß eine Episode am Rande.2 Es stellt für dessen Anhängerschaft einen Gründungsmoment dar und ist insgesamt für die Geopolitik des Nahen Ostens und darüber hinaus ein einschneidendes Ereignis. Die politische und die religiöse Landkarte vom Euphrat bis zum Mittelmeer wurden neu gezeichnet – mit weitreichenden Auswirkungen für die arabische Welt und, wie wir spätestens seit den Anschlägen der jüngsten Zeit wissen, auch für den Westen, der zunehmend als Kampfgebiet des islamischen Terrors gesehen werden muss.
Wie bedenklich die aktuelle Lage ist, soll dieses Buch zeigen. Es ist Ergebnis der Zusammenarbeit eines Historikers und eines Geopolitologen. Ihr Anliegen ist es, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die Sachlage bis Anfang 2015 wiederzugeben, einige Schlüssel zum Verständnis der dramatischen Ereignisse des Jahres 2014 zu liefern und zu untersuchen, was der Islamische Staat ist, wo er herkommt, was er vorhat und wie es um seine Zukunft beschieden ist.