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Die Entstehung des Islamischen Staates

Das Islamische Kalifat ist nicht aus dem Nichts entstanden, im Gegenteil: Es lassen sich viele Bezüge aus der Frühzeit des Islam finden. Der damit verbundene Konflikt muss deshalb in einem historischen Kontext gesehen werden. Seine Entstehung ist darüber hinaus einer ganzen Reihe von klar auszumachenden Faktoren geschuldet, die schließlich zur Implosion Syriens, dann auch des Irak geführt haben. Tatsächlich ist der Islamische Staat (IS) aus dem Zusammenbruch dieser beiden Staaten hervorgegangen, aber auch weitere Faktoren spielten eine Rolle: die früheren willkürlichen Grenzziehungen britischer Besatzer, die laizistischen Bestrebungen der Baath-Partei, der seit Jahrhunderten schwelende Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, die Irak-Kriege, das politische Eingreifen des Westens, insbesondere der USA in jüngster Zeit. Dass es in diesem Gebiet immer auch um Öl und wirtschaftlichen Einfluss geht, macht das Phänomen IS um so brisanter.

Verwerfungen in der irakischen Gesellschaft

Schon unter Saddam Hussein war der Irak von auseinanderdriftenden ethnisch-religiösen Kräften zerrissen: die sunnitischen Kurden im Norden (28 % der Bevölkerung), die schiitischen Araber im Süden, die landesweit größte Gruppierung (49 %), und die überwiegend regimetreuen sunnitischen Araber im Zentrum (17 %), von denen jene in Tikrit besonders privilegiert waren. Unter dem Sunniten Saddam Hussein waren die Schiiten, denen eine zu große Nähe zum schiitischen Regime in Iran nachgesagt wurde, in der Position der Unterdrückten, denen auch die Pilgerfahrt nach Kerbela untersagt war. Zu diesen Zerwürfnissen unter den Muslimen kam im Norden noch die Präsenz von Minderheiten hinzu, die auf den Schutz des Regimes zählen konnten, solange sie sich unterordneten: assyrische Christen, Chaldäer, Katholiken, Jesiden3, Turkmenen4 und sogar einige Juden. Für die IS-Eiferer ist der Irak eine Brutstätte von Ungläubigen, die der Wahrheit zugeführt, vertrieben oder getötet werden müssen. Das erklärt die brutalen Vertreibungen bei ihrem Einmarsch im Juni 2014 in Mosul, dem Zentrum der irakischen Christen.

Der Irak ist aber auch ein Mosaik aus arabischen Stämmen, die sich in der Nachfolge eines ruhmreichen Ahnherrn sehen, der zur Zeit des Propheten bzw. seiner engsten Gefährten gelebt haben soll. Die Stammesstrukturen gehen zurück auf die Mesopotamische Zeit und haben alle Invasionen überdauert. Ihr strukturgebender Charakter ist sehr real, viel stärker als der laizistische oder demokratische Staat. Trotz aller Wirren ist der Stammesverband nach wie vor das stärkste Bindeglied der irakischen Gesellschaft. Im Übrigen stützten sich die Briten beim Aufbau ihres Verwaltungssystems der Indirect Rule auf die Stämme, indem sie die Wasserverteilung und die Gebietskontrolle auf die Shaikhs, die Stammesführer, übertrugen. Die Stammeszugehörigkeit hat seit der Mitte des 20. Jahrhunderts stark an Bedeutung verloren, dennoch hat die Gruppe für den Einzelnen große Bedeutung, vor allem in Krisenzeiten werden die traditionellen Solidarnetzwerke reaktiviert. So waren die Takriti, denen Saddam Hussein angehörte, für ihren Zusammenhalt und ihre gegenseitige Unterstützung bekannt. Saddam versuchte die Macht der Stammesfürsten zu schwächen, änderte seine Politik jedoch nach dem verlorenen Golfkrieg 1991. Die sunnitischen Strukturen erlebten daraufhin eine regelrechte Renaissance.5

Obwohl die irakische Gesellschaft sich als eine religiöse begriff, konnte sich nach der Machtübernahme durch die Baath-Partei 1968 ein gewisser Laizismus entwickeln. Diese politische Bewegung sozialistischer Prägung propagierte einen glühenden Nationalismus im Namen des Wiederaufbaus der arabischen Einheit. Die Länder Syrien und Irak wurden von der Baath-Bewegung regiert: Ab 1979 war Syrien fest in der Hand der Familie al-Assad, der Irak im Griff von Saddam Hussein. Letzterer instrumentalisierte die Baath-Partei und die Erdöleinnahmen zugunsten seines Klans und der Sunniten. Als Reaktion auf das Baath-Projekt, das sich laizistisch gab, um das Völkergemisch zusammenzuhalten, wurde die schiitische Mehrheit immer gläubiger, ja fundamentalistisch. Die Anhängerschaft des Islamischen Staates präsentiert das Kalifat nunmehr als die Wiederkehr eines Sunnismus, der Laizismus und Baathismus abgestreift hat und sich daher mit dem religiösen Eifer der irakischen Schiiten messen kann.

Diese Vorstellung hat zweifellos viele Sunniten, die nach 2003, als im Irak die schiitische Mehrheit die Macht übernahm, einen Bedeutungsverlust hinnehmen mussten, für extremistische Positionen empfänglich gemacht. Die gesamte Region ist geprägt von den allgegenwärtigen Moscheen, von muslimischer Geschichte und muslimischen Symbolen, eine ständige Mahnung an die Bewohner, ihren religiösen Verpflichtungen nachzukommen, der sich auch die nicht ganz so eifrigen Gläubigen und die Religionsfernen nicht entziehen können. Die Bekehrung zum Rigorismus erscheint unter diesen Umständen wie eine Rückkehr zur Frömmigkeit, die eine Vergebung der Sünden und den Sieg für die Sache Gottes, die viel zu lange vernachlässigt wurde, ermöglicht.6

Ethnisch-religiöse Situation im Irak


Der Irak als Schauplatz des Kampfes um Energieressourcen

Der Irak besitzt mit rund 115 Milliarden Barrel eine der größten Erdölreserven der Welt. Der Internationale Währungsfonds gibt an, dass 90 Prozent der Staatseinnahmen aus dem Öl- und Gasexport stammen, und der Internationalen Energieagentur zufolge nimmt der Irak unter den Ölexportländern den dritten Platz ein. Diese Energiereserven schüren schon lange die Konkurrenz zwischen den Großmächten und nähren den Wunsch nach Unabhängigkeit im irakischen Teil von Kurdistan, das über zahlreiche Lagerstätten verfügt. Zwar heimsten die USA ab 2003 den Großteil der Förderverträge ein, doch seitdem liefern sich zahlreiche Investoren, angefangen bei ExxonMobile Europe über BP (Großbritannien, Niederlande) und Lukoil (Russland) bis hin zur China National Petroleum Corporation (CNPC), einen erbitterten Wettbewerb.

Die chinesischen Ölkonzerne (CNPC, PetroChina, Sinopec), und damit Peking, üben großen Einfluss auf den irakischen Ölmarkt aus. Der gegenwärtige Konflikt bedroht ganz klar die gewichtigen Interessen Chinas, die sich nach dem Ende der Invasion von 2003 in Verträgen niederschlugen. China hat von der schwachen Ausbeutung zahlreicher Lagerstätten massiv profitiert und ab 2008 viele Dutzend Milliarden Dollar in die irakische Ölförderung investiert. Heute werden 50 Prozent des irakischen Erdöls nach China exportiert. Nach und nach eroberten PetroChina und CN-PC die riesigen Ölfelder – so auch Westkurna, eines der ertragreichsten Ölfelder der Erde, an dem der amerikanische Ölkonzern ExxonMobil noch 60 Prozent hält.7 China stieg schnell zum besten Kunden und zum größten Investor Iraks auf. Außerdem sind 10.000 chinesische Facharbeiter an den irakischen Förderstätten beschäftigt.8 Als ISIS im Irak aktiv wurde, saßen 1.250 chinesische Facharbeiter über mehrere Wochen wegen der Auseinandersetzungen zwischen irakischen Streitkräften und Dschihadisten fest, was man in Peking mit großer Sorge zur Kenntnis nahm.9

Erdölvorkommen im Irak


Angesichts der Eskalation der Gewalt forderte China die internationale Gemeinschaft zu einer sofortigen Reaktion auf und unterstützte sämtliche diesbezüglichen Debatten und Resolutionen der UNO.10 Damit steht China paradoxerweise an der Seite der USA, seines größten Konkurrenten auf irakischem Boden. Mit dem Ziel, 80 Prozent der irakischen Ölreserven bis 2035 in den Zugangsbereich chinesischer Staatskonzerne zu bringen bzw. 8 Millionen Barrel pro Tag zu fördern, hat China nicht das geringste Interesse, die Kosten eines neuen Krieges zu tragen.11

Durch die aktuelle Krisensituation hat der Irak an wirtschaftlicher Attraktivität verloren, zumal die Infrastruktur zunehmend veraltet ist. Angesichts steigender Preise für irakisches Öl könnte sich die EU nach Iran umorientieren, und China nach Russland, mit dem es ohnehin seine diplomatischen Beziehungen intensiviert hat. Letztlich dürfte die Bedrohung, die der Islamische Staat darstellt, eine ganze Reihe von Erdöl-Großprojekten gefährden, darunter den Bau von zwei Pipelines durch PetroChina, die China mit dem Irak verbinden sollen.

Das irakische Kurdistan wiederum mit mehr als einem Viertel der Erdölreserven des irakischen Staates und geschätzten Gasreserven von 5.000 Milliarden Kubikmetern dürfte verschont bleiben, denn inzwischen hat es nicht nur Verhandlungen mit den auf dem eigenen Territorium aktiven (vornehmlich westlichen) Erdölgesellschaften eingeleitet, sondern auch damit begonnen, in Eigenregie Erdöl in die Türkei zu exportieren, das für die Türkei billiger kommt als russisches Erdöl. Die Streitigkeiten mit der irakischen Zentralregierung hat das nur noch verschärft, zumal der frühere schiitische Ministerpräsident Nuri al-Maliki die Autonomie Kurdistans infrage stellte. Die Autonome Region Kurdistan, die über eine eigene Gesetzgebung verfügt, setzt heute auf die Erdöl-Karte, um auch die politische Unabhängigkeit zu erlangen.12 Dieses Ziel könnte durchaus erreicht werden, sollte der Konflikt mit dem Islamischen Staat zu einer Teilung des Irak führen.

US-Invasion und Zerfall des Irak (2003–2011)

Die amerikanisch-britische Intervention im Irak begann im März 2003, drei Wochen später wurde Bagdad erreicht. Die Koalition übertrug ab April die Staatsführung einer unter ihrer Aufsicht stehenden Regierung, löste die Baath-Partei von Saddam Hussein auf und entließ alle Kader der Diktatur, womit das Land über Nacht seine gesamte politische Elite verlor, was den Übergangsprozess erheblich erschwerte. Im Sommer 2003 gab eine Anschlagsserie in Bagdad den Auftakt zu einer endlosen Reihe von Explosionen und zahllosen Opfern unter der Zivilbevölkerung. Die USA stießen nicht nur auf den heftigen Widerstand der Sunniten, die sie entmachtet hatten, sie mussten auch gegen schiitische Milizen in Bagdad und im Süden des Landes vorgehen: Ihr Demokratisierungsvorhaben fand nirgends Widerhall.

Im sunnitischen Gebiet entzog sich das „Todesdreieck“ Tikrit–Falludscha–Ramadi trotz erbitterter Kämpfe im Jahr 2004 dem Zugriff der amerikanischen Streitkräfte. Der Aufstand von Falludscha bereitete den US-Truppen große Probleme. Auf schiitischer Seite stießen die Streitkräfte der amerikanisch-britischen Koalition auf den erbitterten Widerstand der Mahdi-Armee, der Miliz des Imams Muqtada as-Sadr. Die Anschläge im schiitischen Gebiet gefährdeten die US-amerikanische Präsenz, die schließlich nur durch Wahlen im Januar 2005 weiter gewährleistet werden konnte, bei denen die Schiiten und Kurden als Sieger hervorgingen. Die Sunniten waren den Urnen weitgehend ferngeblieben und bereiteten so das Terrain für ihre eigene Marginalisierung und ihre Ressentiments der kommenden zehn Jahre vor. Am 6. April 2005 wurde der Kurde Dschalal Talabani vom irakischen Parlament in der Hoffnung zum Staatspräsidenten gewählt, dass er die Teilung des Landes besiegeln oder einen Föderalismus einführen würde, der Kurdistan die völlige Autonomie verschaffte. Wieder fühlten sich die Sunniten, die die Einheit des Landes mit der Baath-Partei aufgebaut hatten, geprellt. Die Hinrichtung von Saddam Hussein im Dezember 2006 nach einem zweifelhaften Prozess verstärkte nur noch ihren Hass auf die Zentralregierung, in der hauptsächlich Schiiten saßen, die mit der Besatzungsarmee gemeinsame Sache machten.

Infolge der Vereinbarungen zwischen den USA und der schiitischen Mehrheit sowie einer besseren Koordinierung der Streitkräfte und der Nachrichtendienste sank die Zahl der gewaltsam zu Tode gekommenen Zivilisten der Gruppe Iraq Body Count (IBC) zufolge von 30.000 im Jahr 2006 auf 9.600 im Jahr 2008 und auf 4.000 zwei Jahre später. Doch das Zentrum des Landes und die Hauptstadt versanken immer mehr im Chaos, geschürt durch konfessionellen Hass. Mit Unterstützung schiitischer Milizen und amerikanischer Sondereinheiten übte die Zentralregierung Druck auf ehemalige Anhänger der Baath-Partei und die Sunniten aus. Auf beiden Seiten trieben informelle Gruppen – eine Mischung aus Verbrecherbanden und Terrormilizen – ihr Unwesen mit Entführungen, Erpressungen und Morden. Ab Frühjahr 2004 gab es die ersten Anzeichen dafür, dass sich al-Qaida nahestehende Kämpfer auf irakischem Boden aufhielten. Sie hatten es beim Anschlag vom 19. Dezember 2004 auf die Regierungstruppen, schiitische Wohngebiete und die Mausoleen von Kerbela und Nadschaf abgesehen.

Zwischen 2004 und 2006 bildeten sich zahlreiche militante sunnitische Gruppierungen, die von den USA, der irakischen Armee und schiitischen Milizen bekämpft wurden. Anfangs setzten sie sich aus ehemaligen Soldaten der Republikanischen Garde und der irakischen Armee und aus ehemaligen Mitgliedern der Baath-Partei zusammen, aber viele radikalisierten sich, verschrieben sich dem Islamismus und nahmen schließlich auch ausländische Dschihadisten in ihre Reihen auf. Darunter sind zu nennen:

– die antischiitische kurdische Armee der Verteidiger der Überlieferung (Dschaysch Ansar as-Sunnah), sie schloss sich dem Netzwerk von Osama bin Laden an;

– die Islamische Armee im Irak (IAI), mit besonders vielen Mitgliedern, aber seit 2007 gegen die vorgenannte Gruppierung gerichtet, der sie die Gefolgschaft verweigerte;

– das Einheitsbekenntnis und Heiliger Krieg (at-Tauhid wal-Jihad), formierte sich in den 1990er Jahren und unterstand Abu Musab az-Zarqawi. Der Erzfeind der Schiiten wurde 2006 bei einem amerikanischen Luftangriff getötet. Nachdem er die Führung über den militärischen Zweig von al-Qaida im Irak übernommen hatte, gründete seine Bewegung 2006 den Islamischen Staat im Irak (ISI), ein virtuelles, terroristisches Emirat unter Führung von Abu Umar al-Baghdadi, einem Iraker, der sich „Emir“ nannte (arab. „Befehlshaber“), wie im Mittelalter die Provinzgouverneure des Islamischen Reiches. Er wurde von Osama bin Laden unterstützt. Baghdadi wurde 2010 getötet. Aus dieser Organisation ging 2013 der Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) hervor, auf Arabisch al-Daula al-Islamiyya fi-l-Iraq wa-l-Sham oder kurz Da‘ish. 2010 zählte diese Gruppierung nicht mehr als 1.000 Männer und führte ihre Operationen im Schatten von al-Qaida durch, doch dann machte sie sich den syrischen Bürgerkrieg und die Durchlässigkeit der Grenzen zunutze, um sich zu vergrößern. Ab 2007 wurde die religiöse Indoktrinierung in der Bewegung verstärkt und vereinheitlicht, während das amorphe Gebilde von al-Qaida doktrinäre Unterschiede durchaus zuließ. Nach Abu Umar al-Baghdadis Tod wurde Abu Bakr al-Baghdadi zu seinem Nachfolger bestimmt. Er leistete einen Gefolgschaftseid auf Aiman az-Zawahiri, den Stellvertreter von Osama bin Laden seit dessen Tod im Mai 2011. Durch den Anschluss an al-Qaida profitierte Da‘ish von den Ratschlägen, Trainingslagern, Netzwerken und vor allem vom Ansehen der Terrororganisation.

Man zählt noch ein gutes Dutzend weiterer Organisationen, die alle aus Katiba, kleinen autonomen Kampfgruppen, bestehen. Geheimdienst haben allein in Syrien 7.000 davon ausgemacht. Das Ganze ist ein amorphes Gebilde, dessen Teile über vasallenartige Bande mit einem Chef verbunden sind, der eine Art mittelalterlicher Emir ist. Aus diesen sehr flexiblen, wenig hierarchischen Gruppierungen entsteht schließlich das Islamische Kalifat.

Nuri al-Maliki führt den Irak in die Sackgasse

Um dem von al-Qaida geschürten Chaos zu begegnen, suchten die irakische Regierung und das amerikanische Militär auf Betreiben von US-General David H. Petraeus ab 2007 auch den Rückhalt der im Zentrum des Landes beheimateten sunnitischen Stämme. Zu diesem Zweck bildeten sie sogenannte Sahwa-Komitees (as-sahwa bedeutet „Erwachen“). Diese Milizen aus Aushilfs-Sicherheitskräften stellten so etwas wie sunnitische Nationalgarden dar und wurden mit Waffen ausgestattet, um die islamistischen Bewegungen zu bekämpfen. Mehr als 100.000 Stammeskämpfer dienten dem irakischen Staat mit der Aussicht, eines Tages in die Ränge der staatlichen Sicherheitsdienste aufgenommen zu werden.13 Tatsächlich konnte auch dank der Hilfe dieser Milizen und der durch sie vertretenen Stämme über mehrere Jahre hinweg die Zahl der Toten und der Anschläge vermindert werden.

Doch Ministerpräsident Nuri al-Maliki (2006–2014) war zu schwach, um eine Einigung herbeizuführen, und er ließ zu, dass sich das Chaos in einem Land ausbreitete, in dem das Miteinander der Volksgruppen bis 2003 auf Unterdrückung der einen und Begünstigung der anderen beruhte. Der starke Einfluss der USA auf die irakische Regierung untergrub deren Legitimität, eine Politik des Ausgleichs wurde nicht eingeleitet. Ein Beispiel: Die im September 2005 gemeinsam von 10.000 irakischen und amerikanischen Soldaten durchgeführte Offensive gegen Aufständische in Tal Afar zwang an die 300.000 sunnitischen Turkmenen zur Flucht. Die Stadt Tal Afar galt als Hochburg der von al-Qaida gesteuerten irakischen Guerilla. Ziel war die Jagd auf Terroristen, aber es war die gesamte Bevölkerung, die unter den Razzien zu leiden hatte und aus ihren Häusern vertrieben wurde. Dieser amerikanisch-irakische Überfall beeinträchtigte unmittelbar die ohnehin schon geringe Akzeptanz des irakischen Staates unter Besatzungsstatut. Die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten: Die Offensive gegen Tal Afar wurde am 10. September eingeleitet, vier Tage später erschütterte darüber hinaus eine Serie von elf Anschlägen, die gegen Schiiten gerichtet waren, die Hauptstadt Bagdad.

Der Abzug der amerikanischen Truppen wurde von US-Präsident Barack Obama zwar beschleunigt und war Ende 2011 abgeschlossen, aber damit wurde Ministerpräsident al-Maliki, der auch im eigenen Lager umstritten war, allein die Regierung seines zersplitterten Landes überlassen. Sein autoritärer Regierungsstil schürte den Hass der sunnitischen Stämme und ebnete den Weg für ihren Anschluss an jene Gruppierungen, die später Da‘ish gründeten. Al-Maliki ließ die Sahwa-Komitees auflösen und brach damit sein Versprechen auf offizielle Anerkennung ihrer Dienste.14 Immer wieder wurden Sunniten durch schiitische Milizen und Soldaten gedemütigt, ob bei Polizeikontrollen, in Gefängnissen oder auf der Straße; Prügel, Beleidigungen, sogar Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Dörfer wurden bombardiert. Laut UN-Angaben wurden allein 2013 insgesamt 8.000 Menschen getötet. In den Medien beschimpfte der Ministerpräsident die „Aufsässigen“ pauschal als Agenten von al-Qaida. Die dadurch geschürte Entrüstung war ein günstiger Nährboden für die Ausbreitung des religiösen Extremismus unter den Sunniten.

2013 richtete der in Falludscha und Ramadi allgegenwärtige Stamm der Jumaila, der die amerikanischen Soldaten bekämpft hatte, als Gegenkraft zu den Streitkräften al-Malikis eine militärische Kommandoeinheit aus Klanführern und ehemaligen Saddam-Offizieren ein, um den Volkswiderstand zu mobilisieren. Shaikh Hamud al-Jumaili leitete die Operationen: Schutzmaßnahmen und öffentliche Kundgebungen (Demonstrationen, Sit-ins).15 Doch im November 2013 wurde al-Jumaili durch Regierungstruppen gefangengenommen und ermordet. Auf dieselbe Weise wurden noch weitere sunnitische Oberhäupter gefasst und umgebracht, darunter im Januar 2014 auch der Abgeordnete Ahmad al-Alouani.16 Zur selben Zeit eroberten ISIS-Dschihadisten mehrere Viertel von Falludscha; Teile der Bevölkerung flohen aus der Stadt, die Männer bildeten Selbstverteidigungsmilizen und schlossen sich den ISIS-Leuten an, um die „antiterroristische“ Offensive der Regierungstruppen aufzuhalten.17

Diese beschossen, Human Rights Watch zufolge, ein Krankenhaus und Wohnquartiere mit Fässern voller Sprengsätzen. Für viele sunnitische Iraker war al-Maliki eine Marionette im Dienste Teherans, das auf eine iranische Vergeltung für den irakisch-iranischen Krieg von 1980–1988 sann.18 Eine neue Anschlagsserie gegen die Schiiten war die Reaktion, und das Ansehen von al-Qaida wuchs weiter, ganz ohne dass das im Untergrund operierende Netzwerk seine Präsenz vor Ort ausbaute.

Bei der Bildung der irakischen Regierung im Jahr 2003 erfolgte die Vergabe der wichtigsten Ämter nach konfessionellen und ethnischen Kriterien, nicht nach individuellem Verdienst um das Gemeinwohl. Die Hilfe des Westens für den Wiederaufbau des Landes floss hauptsächlich in die Ölförderanlagen, wobei systematisch amerikanische Firmen bevorzugt wurden; die Iraker wurden nicht zurate gezogen.19 Das Ende der US-amerikanischen Präsenz im Irak hat auch das Schicksal eines moribunden Staates besiegelt, in dem ausnahmslos alle Ministerien im eigenen – regionalen oder ethnischen – Interesse tätig waren. Davon zeugen die zahllosen Demonstrationen gegen die Staatsmacht, von denen einige in einem Blutbad endeten, so in Huweidscha im April 2013, als bei Zusammenstößen mehr als 50 Menschen starben.20 Dieses wiederholte Blutvergießen hatte politische Konsequenzen: Zwischen März und April verließen vier Minister sunnitischer Konfession die Koalitionsregierung. Dass es schlecht um den Staat bestellt war, war allenthalben ein offenes Geheimnis.

Der Krieg in Syrien im Hintergrund (2011–2014)

Ein weiterer Auslöser für die Entstehung des Islamischen Staates war der Krieg in Syrien.21

Im März 2011 kam es in zahlreichen Städten zu friedlichen Demonstrationen gegen das autoritäre Regime von Baschar al-Assad. Obwohl sie von den staatlichen Sicherheitskräften blutig niedergeschlagen wurden, weitete sich die Protestbewegung aus und ergriff auch Teile der syrischen Armee. Die Überläufer bildeten die laizistisch ausgerichtete Freie Syrische Armee (FSA). Al-Assad reagierte mit Gewalt auf die Rebellion. Ende 2011 schlugen die Auseinandersetzungen in einen bewaffneten Konflikt und in einen Bürgerkrieg um. Ab 2012 erhielt die FSA Unterstützung durch die Arabische Liga und die wichtigsten westlichen Staaten, die sich bereit erklärten, die Rebellen via Türkei, Katar und Saudi-Arabien mit Waffen zu beliefern. Diese Verbindungen erleichterten gleichzeitig die Einreise von zahlreichen Unterstützern des Dschihad ausländischer Herkunft: Algerier, Libyer und auch Europäer mit Migrationshintergrund. Die Freie Syrische Armee musste sich mit den Neuankömmlingen arrangieren, die sie nicht unter Kontrolle hatte und die völlig andere Ziele verfolgten. Baschar al-Assad wiederum erhielt bedingungslose Unterstützung von der libanesischen Hisbollah und vom Iran.22 Russland zeigte sich wohlwollend gegenüber Syrien, zu dem es seit den 1950er Jahren besondere Beziehungen unterhält. So kam es, dass innerhalb nur weniger Monate die politischen Auseinandersetzungen in einen religiösen Konflikt umschlugen: Die sunnitische Bevölkerungsmehrheit (70 %) stellte sich gegen die Minderheiten, die streng konservativen Sunniten machten Front gegen die Schiiten und Alawiten23, denen sich schon bald die christlichen Minderheiten anschlossen.24 Annähernd 200.000 Menschen – Kurden und Araber – flüchteten in Richtung irakische Grenze. Im Jahr 2012 nahm allein die irakische Provinz Anbar mehr als 20.000 Flüchtlinge auf.25 Dabei gelangten vermutlich auch Dschihadisten ins Land und schlossen sich der irakischen Zelle von al-Qaida an.

Der syrische Bürgerkrieg bereitete den idealen Nährboden für die Entstehung des Islamischen Staates: Abseits des Blickfelds der Medien und der internationalen Gemeinschaft konnten seine Anhänger im Kampf gegen die syrische Armee erste Erfahrungen sammeln. Militärische Schulung, Eigenherstellung von Sprengsätzen, sogar der Überfall auf Mosul, der im Mai 2014 im syrischen Rakka geplant wurde – der im Entstehen begriffene Islamische Staat konnte sich keine besseren Bedingungen erhoffen, um zu wachsen und sich im Kampf zu erproben.

Mehr noch, unzählige kleine Gruppen – die einen syrisch-laizistisch, die anderen dschihadistisch und mit hohem Ausländeranteil – machten sich das Ungeschick des Westens und die militärische Hilfe der USA und Europas für die Rebellen gegen das Assad-Regime zunutze, um in den Besitz der zuhauf verteilten leichten Waffen zu gelangen (Sturmgewehre, Granaten, Panzerabwehrraketen usw.).26 Nicht zu unterschätzen ist auch die Rolle der USA bei der Militärausbildung syrischer Rebellen, von denen die meisten inzwischen dem IS dienen: Mindestens 200 Soldaten der Freien Syrischen Armee erhielten Anfang 2013 eine amerikanische Militärausbildung in Jordanien.27

Nach 2012 hörte Syrien faktisch auf zu existieren. Die Freie Syrische Armee war mit den dschihadistischen Gruppierungen völlig überfordert, das Zweckbündnis zerbrach.28 Die loyalen Regimetruppen kontrollieren Damaskus und die Westhälfte des Landes; der Norden und der Osten hingegen sowie einige Widerstandsnester an der jordanischen Grenze sind ihnen völlig entglitten. Doch Präsident al-Assad beherrscht die Kunst der politischen und medialen Manipulation. So soll er zu Beginn des Aufstands inhaftierte Salafisten freigelassen haben, um die Stimmung anzuheizen und die Protestbewegung wegen angeblicher Verbindungen zu al-Qaida zu diffamieren.29

In Syrien sind insbesondere folgende Rebellengruppen auszumachen:

– Die Partei der Demokratischen Union (PYD) der sunnitischen Kurden, die für eine Autonomie der hauptsächlich von Kurden bewohnten Gebiete im Norden Syriens kämpfen. Seitdem die Grenze zwischen Syrien und Irak faktisch nicht mehr existiert, arbeitet die PYD Hand in Hand mit den Kurden aus dem irakischen Kurdistan zusammen, was von der Türkei, die eine Autonomie der kurdischen Minderheit auf ihrem Staatsgebiet strikt ablehnt, als Bedrohung empfunden werden kann. Die türkischen Finanzhilfen für die syrische Rebellion sind natürlich auch mit der kurdischen Frage verbunden.

– Die salafistische Islamische Front mit sehr vielen Anhängern will die Scharia im Land einführen. Sie wird vermutlich von Saudi-Arabien unterstützt.

– Die Jabhat an-Nusra („Siegesfront“) mit 10.000 bis 20.000 Kämpfern.30

Die letztgenannte Gruppierung war ursprünglich ein bewaffneter Arm der militanten Organisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien, der im Januar 2012 auf Betreiben von Aiman az-Zawahiri und damit al-Qaida gegründet wurde, um die Alawiten-Herrschaft zu beenden und das Land Sham, also die Levante bzw. Großsyrien (Syrien und Libanon) zurückzuerobern. Jabhat an-Nusra wurde dem Kommando von Abu Muhammad al-Jaulani, einem Gefolgsmann von Abu Bakr al-Baghdadi, unterstellt. Damit kooperierte ISIS auf syrischer Seite mit an-Nusra und auf irakischer Seite mit al-Qaida.

In Syrien zielten beide Gruppierungen auf die Befolgung der Scharia in den Nahost-Ländern insbesondere durch die Auslöschung des Schiitentums, langfristig auch durch Angriffe auf die USA und den Westen. Aufgrund interner Streitigkeiten, vor allem aber aufgrund der persönlichen Ambitionen al-Baghdadis entfernte sich Jabhat an-Nusra immer mehr von ISIS und im Mai 2014 kam es schließlich zum Bruch. Ihr Anführer schwor daraufhin Zawahiri (al-Qaida) Gefolgschaftstreue. Die Nusra-Front, die seit August 2011 in Syrien präsent ist, konnte sich durch den Aufbau von Verwaltungsstrukturen in den Städten, die Sicherung von Ölreserven und die Einrichtung von Hilfsdiensten das Wohlwollen der Bevölkerung sichern; sie findet einen starken Rückhalt bei den Ortsansässigen, die sich durch das Alawiten-Regime im Stich gelassen fühlen. Die eigenmächtige Proklamierung des grenzüberschreitenden Islamischen Kalifats durch al-Baghdadi stellte allerdings die Machtsphäre der Nusra-Front in Syrien in Frage, und es kam zu Kämpfen zwischen den ehemaligen Verbündeten. Al-Jaulani näherte sich daraufhin az-Zawahiri an, schloss sich dem Terrornetzwerk al-Qaida an und sicherte sich so finanzielle Hilfe sowie eine größere Glaubwürdigkeit und Autonomie. Letztlich beruht der Gegensatz zwischen Da‘ish und der Nusra-Front, die durch al-Qaida gestützt wird, auf persönlichen wie auf doktrinären Rivalitäten.

Trotz der siegreichen Einnahme von Rakka durch ISIS im März 2013 ist es seit Januar 2013 in Syrien vermehrt zu Zusammenstößen zwischen beiden Gruppierungen gekommen,31 insbesondere in den Erdölgebieten und rund um die ostsyrische Stadt Deir ez-Zor. Diese Gefechte haben auch mit der unterschiedlichen Zusammensetzung der Organisationen zu tun. Während Jabhat an-Nusra sich hauptsächlich aus Syrern rekrutiert, die früher auf Seiten der Freien Syrischen Armee kämpften, bevor sie sich der reicheren, besser organisierten und vor allem stärker religiös ausgerichteten Nusra-Bewegung anschlossen, stammen die IS-Kämpfer fast ausschließlich aus dem nichtsyrischen Ausland: Über 70 Prozent der Mitglieder der bewaffneten Gruppen von Da‘ish in Syrien kommen aus dem Irak, aus Somalia und sogar aus Europa.32 Im Unterschied zu an-Nusra hat ISIS mehrfach seine Ablehnung gegenüber militärischer Hilfe durch Ungläubige im Kampf gegen Assad erklärt. Die Bekämpfung der Nusra-Front brachte dem IS keine Vorteile, zwischen 2013 und 2014 verlor er im Osten Syriens – mit Ausnahme der Stadt Rakka – sogar an Boden. Doch die militärischen Erfolge des IS im Sommer 2014 brachten der Organisation Aufwind: Hunderte Nusra-Kämpfer zogen es vor, zur dynamischeren Konkurrenzorganisation zu wechseln.33

Auf irakischer Seite war 2011 ein katastrophales Jahr für die dortige Al-Qaida-Zelle AQAH (Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel), da sie in den pausenlosen Angriffen der amerikanischen und irakischen Truppen fast vollständig zerrieben wurde. Doch ab 2012 konnte sich die Organisation, begünstigt durch Fehlentscheidungen des irakischen Ministerpräsidenten und den Rückzug der USA, wieder neu formieren. Zwischen 2012 und 2013 war nicht Da‘ish, sondern AQAH die aktivste Bewegung im Irak. Die Gruppierung war für ein Dutzend Anschläge pro Monat mit insgesamt tausend Opfern verantwortlich. Schiitische Wohnviertel in Bagdad, aber auch küstennahe Gebiete im Süden des Landes waren besonders betroffen – dazu war al-Baghdadi nicht in der Lage. Dennoch begann ISIS mit der eigenständigen Planung von Terrorkampagnen und setzte sich zunehmend über die operativen Weisungen von al-Qaida hinweg. Im Juli 2012 startete Da‘ish die Operation „Grenzvernichtung“. Am 21. Juli gelang es, das berüchtigte Bagdader Abu-Ghuraib-Gefängnis zu stürmen und 500 Insassen zu befreien. Im August 2013 startete AQAH eine eigene, ebenso mörderische Kampagne mit dem Namen „Soldatenmähen“, wohl um ihr Zerstörungspotenzial zu betonen.34

Diese Vorgänge in Syrien und im Irak führten schließlich dazu, dass die schwer greifbare Organisation, die für den 11. September verantwortlich ist, alle Verbindungen zu Da‘ish abbrach. Al-Baghdadi und seine Gruppierung agierten ihr zu eigenständig. Und mit der einseitigen Proklamierung des Islamischen Kalifats im Irak wurde diese Eigenständigkeit zu offensichtlich.

Der Opportunismus der irakischen Sunniten

„Dass ISIS gekommen ist, hat mehr mit lokalen Interessen als mit einem Glaubenskrieg zu tun.“

Ein Turkmene aus Taze35

Unter den irakischen Stämmen, deren Gebiete unter der Kontrolle des IS stehen, herrschen große Uneinigkeit und genereller politischer Opportunismus. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die syrisch-irakische Grenze durch das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916 zwar geschlossen, trotzdem verkehrten die Bewohner der Grenzregionen des Libanon, Syriens und Nordiraks weiterhin miteinander, aber nicht nur wegen ihr gemeinsamen Erdöl-Interessen (die IPC, die Öl-Pipeline von Kirkuk nach Tripolis, führt durch alle drei Länder), sondern vor allem aufgrund ihrer Verbundenheit als Araber und Sunniten. In Syrien schlossen sich viele Baath-Offiziere der Freien Syrischen Armee an und sahen sich dann im Kampf gegen das schiitisch-alawitische Assad-Regime zu einer Zusammenarbeit mit islamistischen Gruppierungen gezwungen, genauso wie ihre irakischen Baath-Kollegen, die sich im Kampf gegen die schiitische Regierung in Bagdad Da‘ish anschlossen. Offenbar arbeiteten die alten Kader der irakischen Baath-Partei mit IS-Leuten zusammen, um die Autonomie des sunnitischen Gebiets zu sichern, und zwar mit der stillschweigenden Zustimmung von Masud Barzani, dem Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Die Einnahme von Mosul im Juni 2014 durch den IS soll die Folge dieser opportunistischen Zusammenarbeit gewesen sein.36 Abu Abdul Rahman al-Bidawi, der derzeitige Leiter der Militäroperationen von Da‘ish, ist ein ehemaliger Saddam-Offizier; auf syrischer Seite sind sowohl der von al-Baghdadi designierte Gouverneur der Provinz Anbar als auch der Gouverneur der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor ehemalige Baath-Offiziere.37

Das Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916


Diese zwiespältige Haltung ist außer bei den früheren Baath-Eliten auch bei den sunnitischen Stammesführern anzutreffen. Da die Stämme hofften, ihren alten politischen Status und vor allem einen Teil der Erdöleinnahmen zurückzugewinnen, lehnten sie den Föderalismus ab. Allerdings scheiterte der Vorstoß mehrerer sunnitischer Provinzen (Anbar, Salah ad-Din, Diyala, Ninive) im Jahr 2011, Referenden über ihre Autonomie abzuhalten. Der in der Provinz Anbar beheimatete Dulaimi-Stamm unterstützt derzeit die Rebellion. Dieser Stamm zählt drei Millionen Mitglieder und tausend Klans, die seine militärische Vergangenheit verklären, insbesondere seine Teilnahme an den ersten arabischen Eroberungen im 7. Jahrhundert. 25 Prozent sind nomadische Beduinen, die übrigen sind Bauern, die entlang des Euphrat leben und deren Siedlungsgebiet sich über Ramadi bis nach Bagdad erstreckt. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch leistete der Stamm Widerstand gegen das osmanische Kalifat, indem er die Entrichtung von Steuern verweigerte. Im Ersten Weltkrieg unterstützten die Klans zunächst das Osmanische Reich gegen die Briten, wechselten aber 1917 mit Shaikh Ali Sulaiman die Seiten. Nach dem Krieg herrschte unter den Klans Uneinigkeit gegenüber den Briten, später standen sie vereint hinter Saddam Hussein, der sie massenhaft in die Armee berief.38 Im Irakkrieg von 2003 war der Dulaimi-Stamm nach den Bombardierungen von Falludscha und Bagdad, wo viele Dulaimi leben, der Hauptunterstützer des Aufstands gegen die US-amerikanische Besatzungsmacht.

Geeint ist dieser Stamm heute noch lange nicht, denn es zählen auch schiitische Klans zu den Dulaimi, insbesondere in Nadschaf, Kerbela, Basra, Babil und Bagdad. Seine Unterstützung für den IS ist an Bedingungen geknüpft und ist insbesondere durch die Ablehnung der schiitischen Regierung in Bagdad motiviert.39 Außerdem ist die Erinnerung an die Ermordung des Vaters des heutigen Shaikhs, Ali Hatem Sulaiman, durch al-Qaida im Jahr 2001 noch nicht verblasst. Sollten seine Forderungen durch die neue Regierung erhört werden, könnte der Stamm sein Bündnis mit dem neuen Islamischen Staat beenden. Im Übrigen hat der Shaikh erklärt, dass Da‘ish nur einen Bruchteil der sunnitischen Opposition ausmachen würde und dass „Bagdad erst Zugeständnisse machen muss“, bevor er sich gegen Da‘ish wendet.40

Der Islamische Staat findet in zwei weiteren großen Stämmen Rückhalt, den Dschubur und den Schammar. Ersterer ist mit sechs Millionen Mitgliedern der größte irakische Stamm. Die Dschubur sind im Norden des Landes beheimatet, zum größten Teil sind sie Sunniten, aber es gibt unter ihnen auch viele Schiiten. Während der amerikanischen Besatzung standen sie in Opposition zu al-Qaida, weil die Terrororganisation zahlreiche Stammesführer ermordete, darunter auch ihr Oberhaupt. Der jetzige Stammesführer Ismail el-Dschuburi ist bekannt für seine Ablehnung der amerikanischen Besatzung und von al-Qaida.41

Der Stamm der Schammar zählt drei Millionen Menschen, die vor allem rund um Mosul leben. Sie sind Nachkommen des jemenitischen Stammes der Tayy. Unter der Dynastie der Muntheriden, die sich ab dem 17. Jahrhundert bei Mosul niederließ, herrschten die Schammar über den Irak und waren auch das ganze 20. Jahrhundert hindurch sehr einflussreich. Sie waren 1920 eine treibende Kraft in der irakischen Revolution gegen die Briten und unterstützten die Baath-Partei. Doch Saddam Hussein blieb ihnen gegenüber stets misstrauisch, weil sie Kontakt zu Schammar-Klans hielten, die in Saudi-Arabien verblieben waren, zumal das Nachbarland nach 1990 ein Feind Iraks war. Die Schammar teilen sich in einen sunnitischen Zweig im Norden (Schammar al-Dscharba) und einen schiitischen Zweig im Süden (Schammar Toga); Letzterer ließ sich ab dem 19. Jahrhundert bei Suwaira in der Provinz Wasit nieder.42 Nach dem Sturz von Saddam Hussein wurde ihr Oberhaupt Ghazi al-Jawar zum Präsidenten der von den USA eingesetzten Übergangsregierung ernannt (2004/05).43 Doch die mit den Parlamentswahlen ermöglichte Umkehrung der politischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Schiiten trieb die Klans ins gegnerische Lager, sodass sie heute den Islamischen Staat mit zahlreichen Kämpfern unterstützen. Einige lehnen dennoch den IS auch ab, sogar in der Provinz Anbar.44

Geteilt in sunnitische und schiitische Zweige, zerrissen durch auseinanderklaffende Interessen, legen die irakischen Stämme, die sich heute auf dem Gebiet des Islamischen Staates befinden, ein ausgesprochen opportunistisches Verhalten an den Tag. Sie sehen sich als Kämpfer gegen die Unterdrückung. Die degradierten Offiziere, die entmachteten Baath-Eliten, das Tag für Tag gedemütigte einfache Volk – alle stehen vereint hinter den Stammes-Shaikhs, verbunden in einem arabisch-sunnitischen Nationalismus und in der nostalgischen Sehnsucht nach dem alten Irak. Der Islamische Staat ist für sie nur Mittel zum Zweck, und seine Anhänger lediglich die Hilfstruppen, um die verlorene Macht und Ehre wiederherzustellen. Nur wenn die Stämme eine Kehrtwende vollziehen und sich hinter die Zentralregierung in Bagdad stellen, wird dies den IS mittelfristig schwächen. Dafür muss es allerdings erst zu einer nationalen Versöhnung oder zumindest zu einer politischen Lösung kommen.

Militärische Erfolge

Der überwältigende Erfolg von ISIS im Irak war in erster Linie ein militärischer, erst später kam die politische Ebene hinzu. Bis zum Winter 2014 bestand die Vorgehensweise von Da‘ish im Wesentlichen aus einer Kombination von Überfällen, Entführungen und Anschlägen in Ostsyrien und im Irak. Für einen groß angelegten Feldzug mit Bodengefechten zwischen Armeen reichten die Kapazitäten noch nicht aus, obwohl die Bewegung ab 2008 einen Strategiewechsel vollzog mit dem Ziel, sich dauerhaft auf einem klar umrissenen Territorium einzurichten, was damals ebenso ehrgeizig wie utopisch zu sein schien. Dieses neue Ziel stand in Widerspruch zur dschihadistischen Politik von al-Qaida, die auf Destabilisierung und nicht auf die Bildung eines Staates aus war. Zu diesem Zeitpunkt war ISIS außerstande, dieses Ziel umzusetzen, da die Bewegung von den Stämmen aus der sunnitischen Provinz Anbar verjagt worden war.45

Das Erstarken von ISIS im Jahr 2012/2013


Das Gebiet des Islamischen Staates Ende 2014


Im Juli 2012, als Da‘ish die Terrorkampagne „Grenzvernichtung“ startete, wendete sich die Lage.46 Al-Baghdadi legte drei Ziele fest: die Befreiung der Gefangenen, die Eroberung der Landstriche entlang der Hauptverkehrsader im Zentrum des Landes und (in Anspielung auf die persische Dynastie, die von 1501 bis 1736 im Iran herrschte und das Schiitentum zur Staatsreligion erhob) die „Zerschlagung der Safawiden“, womit er die Regierung von Nuri al-Maliki meinte. Am 23. Juli 2012 erschütterte eine Welle blutiger Autobomben-Anschläge zwei Dutzend Ortschaften, bei denen 115 Menschen starben. Am 16. August und am 9. September verloren wieder mehr als hundert Menschen ihr Leben. In allen Fällen waren das Gebiet nördlich von Bagdad und die Grenzregion zu Kurdistan entlang der ethnischen Bruchlinie betroffen. Das Ziel war, die Randzonen des sunnitischen Gebiets zu erobern. Die Provinzen Anbar und Ninive blieben verschont, wohl weil Da‘ish hier bereits Fuß gefasst hatte. Über die beiden an Syrien grenzenden Provinzen sicherte die ISIS-Miliz den Nachschub an Waffen aus Syrien und der Stadt Rakka, die unter ihrer Kontrolle stand. Im September gelang es ihr sogar, sunnitisches Gebiet zu verlassen und mitten im schiitischen Gebiet (im südlichen Teil) drei Anschläge zu verüben. In kürzester Zeit hatten sich die Kapazitäten der Gruppe vervielfacht.

Am 19. März 2013 bekannte sich ISIS zu einem Anschlag in Bagdad, der hundert Menschenleben unter der schiitischen Bevölkerung forderte. Im Mai leitete die irakische Armee eine großangelegte Operation zur Sicherung der syrisch-jordanischen Grenze ein, deren offenkundiges Ziel es war, die Kontakte zwischen den verschiedenen zu Da‘ish gehörenden Gruppen zu unterbinden. Im Dezember wurde die Provinz Anbar ihrerseits durch eine Reihe von Anschlägen und Geiselnahmen erschüttert, die insbesondere den loyalen Streitkräften galten, die durch Terror zermürbt werden sollten. Von da an richteten sich die ISIS-Aktionen hauptsächlich gegen schiitische Zivilisten im Süden und in Bagdad sowie gegen die Regierungstruppen auf sunnitischem Gebiet im Zentrum des Landes, um diese Region zu destabilisieren und die Invasion vorzubereiten. Am 30. Dezember 2013 fiel Falludscha in die Hände der ISIS-Miliz, die sich mit den revolutionären Islamisten der Anbar-Provinz verbündet und das Einverständnis der Stämme gesichert hatte. Das war die Einnahme der ersten wirklich großen Stadt – Falludscha zählt mehr als 300.000 Einwohner.

Obwohl die irakische Armee mit Material aus den USA unterstützt wurde (Drohnen, Aufklärungsgerät, Helikopter), waren ihre Soldaten längst nicht so motiviert und kampferprobt wie die zum Äußersten entschlossenen ISIS-Kämpfer.47 Zwar misslang der Vorstoß der Dschihadisten auf Ramadi im Januar 2014, Falludscha aber blieb in ihren Händen. Innerhalb weniger Wochen schlossen sich aufgrund der Erfolge immer mehr Dschihadisten der Gruppierung an, die inzwischen zu regelrechten Militäroffensiven mit schweren Waffen, Pick-ups und sogar Panzern, die sie in Syrien und an irakischen Armeestandorten erbeutet hatte, in der Lage war. Nur über Fluggerät verfügten sie noch nicht. Da‘ish hatte ihre Kapazitäten vervielfacht, ihre Kämpfer konnten nun an mehreren Fronten gleichzeitig angreifen.

Im Juni 2014 waren Ramadi und Samarra für einige Tage fest in ISIS-Hand und Mosul war unmittelbar bedroht. Vom 6. bis 10. Juni wurde die Großstadt mit 1,5 Millionen Einwohnern sukzessive erobert und mit ihr auch die ganze Provinz Ninive. Die Regierungstruppen räumten offenbar kampflos das Feld, vermutlich auch deswegen, weil die meisten Soldaten Schiiten waren. Die sunnitischen Offiziere hingegen überließen ISIS schlicht die taktische Initiative. Ein schwerer Anschlag mit einem Tanklastwagen gegen das Hauptquartier in Mosul lähmte die Streitkräfte und vereitelte ihre Pläne für einen Gegenangriff. Von Panik ergriffen floh eine halbe Million Zivilisten Richtung Norden in der Hoffnung, in Kurdistan Unterschlupf zu finden.48

Der Vorstoß der Dschihadisten im sunnitischen Landesteil verlief völlig problemlos, da die Stämme sich ihnen massiv – teils offen, teils stillschweigend – anschlossen.49 Ab Juni fiel eine Stadt nach der anderen in die Hände der ISIS-Kämpfer: die Raffineriestadt Baidschi, Tal Afar, Al-Awja und Tikrit, wo offenbar 1.700 Schiiten hingerichtet wurden. Allerdings leistete Samarra noch Widerstand, außerdem mussten Muatassam und Ischaqi wieder aufgeben werden. Am 13. Juni machten sich die Peschmerga – die Soldaten Kurdistans – die Auflösung der Regierungstruppen zunutze und übernahmen die Kontrolle über Kirkuk. Die Zentralregierung in Bagdad musste Russland und die USA um Hilfe bitten. Letztere ließen es bei Luftschlägen bewenden und schickten Spezialeinheiten zum Schutz der bedrohten amerikanischen Interessen. Freilich setzten die Übergriffe der irakischen Armee der Einheit des Landes mehr zu als die militärischen Niederlagen: Offenbar wurden im Juni 2014 in Hilla (Provinz Babil) hunderte Gefangene getötet. Unterdessen setzte sich der Vormarsch der Dschihadisten weiter fort: Rawa und Rutba fielen, dann Qaim und Rabia, zwei strategisch wichtige Grenzstädte zu Syrien. Damit konnte Da‘ish sich zwischen beiden Ländern frei bewegen. Am 29. Juni 2014 vollzog die ISIS-Bewegung dann ihre symbolische Verwandlung: Das Kalifat wurde ausgerufen, die Organisation und ihr Territorium erhielten den Namen Islamischer Staat. Al-Baghdadi forderte daraufhin seine Gefolgsleute auf, „bis nach Bagdad zu robben“, sich also bis nach Bagdad vorzukämpfen und die Hauptstadt einzunehmen.

Obwohl der Vormarsch ins Stocken geriet, blieb Da‘ish noch den ganzen Juli über Herr der Lage. Am 8. Juli fiel ein Chemiewaffenlager in die Hände der IS-Miliz. Bagdad war jetzt nur noch 50 Kilometer entfernt. Eine neue Welle von anti-schiitischen Anschlägen erschütterte die Hauptstadt und ihre Vororte. Im Zuge ihres Angriffs auf Jurf al-Sakhr Ende Juli versuchten die Islamisten die Hauptstadt einzukreisen, um sie vom schiitischen Süden und damit von den Nachschubbasen in Kerbela und Basra abzuschneiden. Im August endete der erfolgreiche Vormarsch des IS in Richtung Südirak.

Am 17. Juni 2014 hatte Ajatollah Ali al-Sistani, der höchste Würdenträger der Schiiten im Irak, dazu aufgerufen, sich den Dschihadisten in den Weg zu stellen, woraufhin sich (laut AFP und IRIB) zahlreiche Freiwillige begeistert den konfessionellen Milizen anschlossen. Teile von Tikrit wurden befreit. An den Außenrändern der sunnitischen Gebiete konnte der IS nicht mehr mit der Unterstützung der Stämme rechnen, im Gegenteil, bei jedem Schritt trafen die Kämpfer auf den Widerstand der Milizen und der irakischen Armee. Die Hauptstadt Bagdad mit ihrer mehrheitlich schiitischen Bevölkerung war nicht zu Fall zu bringen. Der IS musste die Hoffnung auf die weitläufigen Erdölfelder der Hauptstadt, die er so dringend brauchte, um seine Finanzierung langfristig zu sichern, aufgeben.50

Da es kein Weiterkommen im Süden gab, und das offenbar endgültig, änderte Da‘ish Anfang August die Taktik und ging an der Nordgrenze wieder in die Offensive. Der Kampf richtete sich gegen die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die zunächst in Zumar und Sindjar geschlagen wurden.51 Dann fielen die Städte Karamlesch und Karakosch mit mehrheitlich christlicher Bevölkerung. In diesen Landstrichen, die jetzt wie in einem Schraubstock zwischen den sunnitischen Gebieten, die unter der Kontrolle des IS standen, und der Autonomen Region Kurdistan eingeklemmt waren, lebten Teile der christlichen und jesidischen Minderheiten des Landes. Mehr als 30.000 Menschen, hauptsächlich Jesiden, flüchteten aus Kocho und Sindjar in die umliegenden Berge und saßen plötzlich in der Falle, ohne jede Hilfe, ohne Wasser, von Tod und – besonders für die Frauen – Verschleppung bedroht.52 Tausende Familien schleppten sich unter der sengenden Sonne in die von den Peschmerga kontrollierten Gebieten – der glühende Hass auf die „Teufelsanbeter“ drohte in einem Massaker enden. Am 6. August flüchteten mehr als 100.000 Zivilisten, hauptsächlich Christen, aus Karakosch und Umgebung; nur die Alten, die nicht mehr laufen konnten, blieben zurück. Am selben Tag wurde durch eine kurdische Gegenoffensive, die von kurdischen Kämpfern aus der Türkei und Syrien unterstützt wurde, zwar eine Bresche geschlagen, doch der Flüchtlingsstrom nach Kurdistan ebbte nicht ab. Viele waren gezwungen, ihre Autos stehenzulassen und zu Fuß weiterzugehen. Die Regierung in Bagdad bat um Hilfe, woraufhin die USA beschlossen, mit Luftschlägen gegen die Dschihadisten vorzugehen. Schon bald konnten die Kurden, nach etwa 180 US-Luftangriffen, den Mosul-Staudamm sowie einige kleinere Ortschaften südlich von Erbil zurückerobern. Ende August war ein Zurückweichen der Dschihadisten im Norden zu verzeichnen. In Zentralirak wurde die über mehrere Wochen belagerte Kleinstadt Amerli befreit.

Ab September verloren die Militäroperationen am Boden an Intensität und alle Parteien verharrten in ihren Stellungen. Die Luftschläge der USA (und bald auch der französischen Luftwaffe) zielten diesseits und jenseits der syrisch-irakischen Grenze auf die georteten Kommandozentralen, Verkehrswege, Erdöl-Förderanlagen und Anführer des IS. Über etwaige „Kollateralschäden“, die womöglich schlechte Presse nach sich gezogen hätten, drang nichts an die Öffentlichkeit.53 Am 11. September kündigte der US-Außenminister in der saudischen Hafenstadt Dschidda die Bildung einer Koalition aus 25 Ländern zur Bekämpfung des IS an. Die US-Luftschläge gingen unterdessen weiter, obwohl klar war, dass sie wenig Wirkung zeigten, solange die Dschihadisten sich jederzeit unter die Stadtbevölkerung mischen konnten. Aber nicht nur das, am 19. September beispielsweise brachten die Dschihadisten, nachdem zwei französische Kampfflugzeuge vom Typ Rafale einen IS-Logistikstandort im Umland von Mosul zerstört hatten, 60 kurdische Dörfer in Nordost-Syrien in der Nähe der Stadt Ain al-Arab (Kobane) unter ihre Kontrolle, was tausende Kurden zur Flucht in die Türkei trieb.54 Schon jetzt war der Erfolg der Luftschläge zweifelhaft.55 Zwischen Oktober und November wurde die Stadt Kobane, aus der die meisten Bewohner geflohen waren, regelrecht belagert. Obwohl die Amerikaner Druck machten, lehnte die Türkei eine Beteiligung am Kampf um die Befreiung der syrischen Stadt ab, und der IS setzte, ungeachtet der kurdischen Verstärkung, die Kämpfe vor Ort fort. Mehr noch, als die USA ab 23. September auch die IS-kontrollierten Gebiete in Syrien angriffen, insbesondere Rakka, löste diese Ausweitung der Luftschläge über Irak hinaus heftige Reaktionen seitens China, Iran und Russland aus, für die eine Einmischung in Syrien und eine Bedrohung des Assad-Regimes indiskutabel sind.56

Vom 8. August bis 6. Oktober wurden mindestens 250 Luftangriffe im Irak und 90 in Syrien geflogen. Allein ein Drittel dieser Operationen trafen Stadtviertel in Erbil, Amerli und Bagdad, also Städte, von denen man behauptete, dass sie von Da‘ish verschont geblieben waren. Am 2. und 3. Oktober kam es südlich von Kirkuk zu heftigen Gefechten zwischen IS-Kämpfern und der kurdischen Peschmerga. Die Stadt Hit südlich von Haditha geriet am 5. Oktober – von den Medien völlig unbeachtet – unter die Kontrolle des IS. Seit Mitte Oktober hält der Angriff des IS auf das Sindjar-Gebirge, der Heimat der Jesiden, an; außerdem konnte er seine Stellungen 40 Kilometer westlich von Bagdad festigen. Ramadi, die letzte regierungstreue Stadt der Provinz Anbar, und die Al-Asad-Luftwaffenbasis nahe Hit drohen ebenfalls unter die Kontrolle des IS zu geraten.

Der Islamische Staat wird nicht so schnell verschwinden.57 Die meisten sunnitischen Stämme unterstützen ihn. Er wird als Widerstandsbewegung wahrgenommen, als Opfer eines breit angelegten Vernichtungsplans, hinter dem die USA stecken. Bis heute hat sich trotz der brüchigen Gemeinsamkeiten kein Verbündeter vom IS abgewandt. Der dschihadistische Staat, von den einen aus religiösen, von den anderen aus nationalen Vergeltungsmotiven instrumentalisiert, ist eine unumgängliche Tatsache geworden, mit starker Anziehung auch auf die in Europa und anderen westlichen Ländern lebenden islamischen Fundamentalisten. Allein in Deutschland geht der Verfassungsschutz von über 7.000 radikal-islamischen Personen aus. Mehr als 450 sollen sich bereits dem IS angeschlossen haben. Europaweit potenziert sich die Anzahl der IS-Anhänger, die ihre Kampfzone auf die westliche Welt ausweiten und damit den IS zum globalen Problem machen.

Der Islamische Staat

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