Читать книгу Methoden alttestamentlicher Exegese - Thomas Hieke - Страница 9
1. Vorüberlegungen Was ist ein Text?
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„Ich schließe dieses Kapitel, wie jeder Indier sein Buch anfängt: Gesegnet sei, wer die Schrift erfand!“ (Jean Paul: Levana, Kapitel 58)
Der geschriebene Text als aufgespeicherte Sprechhandlung
Der geschriebene Text ist eine faszinierende Erfindung der Menschheit. Ungeahnte Möglichkeiten eröffnen sich: Bei der Grundform der menschlichen Kommunikation (A spricht zu B) müssen beide, Sprecher A und Hörer B, zeitgleich am gleichen Ort sein. Mit dem Telefon kann man immerhin den Raumzwang aufheben – aber der geschriebene Text überwindet Raum und Zeit! Ein Text kann das gesprochene Wort von A konservieren, und auf diesem Weg kann B (an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit) wahrnehmen, was A sagen wollte. Wissenschaftlicher kann man das so formulieren: „Eine Sprechhandlung kann … aus ihrer unmittelbaren Sprechsituation herausgelöst und in eine zweite Sprechsituation übertragen werden. Die Sprechhandlung bleibt in allen oder in mehreren ihrer Dimensionen gleich – nicht jedoch Sprecher, Hörer und die Sprechsituation als ganze. Ich schlage nun vor, für eine solche, aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird, den Ausdruck ‚Text‘ zu verwenden. Nach dieser Auffassung sind Texte also durch ihre sprechsituationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet.“ (K. Ehlich, Sprache, 493)
Abb. 1 Text
Die Grafik versucht, die Definition von K. Ehlich anschaulich zu machen. Die erste Zeile (erste Sprechsituation) bezieht sich auf das Geschehen einer Rede: Ein Sprecher gibt eine verständliche sprachliche Äußerung (Rede) von sich, die ein (oder mehrere) Hörer wahrnimmt und versteht. Wenn ein Autor einen Text schreibt, so gibt er ebenfalls eine verständliche sprachliche Äußerung von sich, jedoch nicht in unmittelbarer Gegenwart von Hörern oder Lesern. Vielmehr konserviert der Text als schriftliches Produkt die sprachliche Äußerung. Er speichert sie auf. So kann sie in einer zweiten Sprechsituation von einem oder mehreren Lesern wahrgenommen und verstanden werden, und zwar in der Regel unter Abwesenheit des Autors. – Das Verhältnis von Autor, Text und Leser wird noch differenzierter beschrieben werden (→ S. 106ff.).
Wahrscheinlich hat man sich an das geschriebene Wort längst gewöhnt, so dass es niemanden mehr wundert, dass wir heute Worte (Texte) von Menschen wahrnehmen können, die längst verstorben sind und in weit entfernten Ländern lebten (Platon, Amos, Paulus …).
Die Unvermeidbarkeit von Auslegung
Gleichwohl: Die Möglichkeiten, die die Aufspeicherung von Sprechhandlungen für zweite, dritte und viele weitere Sprechsituationen (vulgo: Text) bietet, bringen auch eine neue Herausforderung mit sich. Der Leser tritt nur noch mit dem Text, nicht mehr mit seinem Autor in Kontakt. Dieser Vorgang funktioniert, sonst könnten Menschen nicht über geschriebene Texte kommunizieren, doch er funktioniert nicht störungsfrei und nicht ein-eindeutig: Es ist keineswegs so, dass der Verfasser etwas in seinen Text hineinfüllt, das dann der Leser exakt so und nicht anders wieder herausholt. Texte sind keine Container, und Lesen ist nicht das Auftauen von Tiefgekühltem. Das Lesen von Texten ist ein ebenso kreativer Prozess wie das Verfassen von Texten. Dass dieser Prozess problematisch sein kann, weiß man aus der Alltagsbeobachtung. Im Gespräch von Sprecher und Hörer kann man solche Probleme mit einer Absprache ausräumen. Hat der Leser aber nichts als den Text vor sich, so muss er sich allein einen Reim auf ihn machen. Es beginnt im Lesevorgang das, was man Interpretation, Auslegung, Exegese nennt. Ohne diesen Vorgang bleibt ein Text toter Buchstabe, nur das Zusammenwirken von Text und Leser „macht Sinn“ (produziert also Sinnzusammenhänge).