Читать книгу Auf Biegen oder Brechen - Thomas Hölscher - Страница 12
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ОглавлениеHeinz Behrend wohnte nicht weit vom Hauptbahnhof entfernt, und Börner empfand es nun als angenehm, durch die mittlerweile etwas kühlere Luft zu gehen.
In der großen Empfangshalle herrschte lebhafter Betrieb. Börner blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Er suchte nach anderen Schwulen, die heute Abend hier herumstanden, um jemanden zu finden. Ziemlich schnell hatte er die Schwulen in der Menge der Leute ausfindig gemacht. Zweimal noch ging er durch die gesamte Halle; es machte ihm Spaß, einige Männer solange anzusehen, bis die entweder Interesse zeigten oder ihm zu verstehen gaben, dass er sie nicht interessiere. So unkompliziert und brutal war das eben. Aber heute störte es Börner nicht weiter.
Mit dem Alkohol ging alles viel leichter; man fand sich leichter mit dem ab, was war; man nahm alles nicht so ernst. Vor allem sich selber nicht. Es war einfach lustig, durch den Bahnhof zu laufen, andere ganz ungeniert anzumachen, und wenn einer nicht wollte, dann wollte er eben nicht.
Dann verließ Börner den Bahnhof; er hatte schließlich etwas vor, und außerdem hatte keiner der Männer ihm sonderlich gefallen. Er wusste, dass er morgen, oder wann immer er wieder nüchtern sein sollte, ganz anders über den Alkohol und die Schwulenszene am Hauptbahnhof denken würde. Aber auch das war egal; er wollte jetzt auf gar keinen Fall nüchtern sein. Ganz im Gegenteil. Vor dem Haus des Bekannten nahm er noch einen tiefen Schluck aus dem Flachmann.
Das Wiedersehen mit Heinz war einigermaßen peinlich; jetzt war da plötzlich jemand, man musste etwas sagen, etwas erklären, und Börner hatte seine Gedanken über die Vorteile des Alkohols vergessen. Aber auch dem Bekannten fiel zunächst nichts anderes ein als leere Phrasen. Die Wohnung von Heinz erkannte er sofort wieder; sie war ihm schon früher so unglaublich ordentlich und aufgeräumt, spießig und langweilig vorgekommen, so als wollte der Bewohner sich in jedem Detail an irgendeine Norm halten, um ja nicht aufzufallen.
"Du hast dich ja gar nicht verändert", sagte Börner und wusste selber nicht, was er damit sagen wollte. Eine Bemerkung über seinen angetrunkenen Zustand nahm er dann zum Anlass, möglichst hektisch und gestresst wirkend zur Sache zu kommen. Er erzählte Heinz Behrend, was er bis jetzt wusste, und breitete - wie zur Erläuterung des Gesagten - die Zeitungsartikel vor ihm aus.
Der schien gar nicht mehr zu wissen, was er von der ganzen Sache halten sollte. Er sah Börner eine Zeit lang sprachlos an. "Hier, der Mord auf der Hollestraße in Essen, das ist übrigens Bennie gewesen", sagte Heinz dann. "Und der", er zeigte auf den Artikel über den Mord an der Uni in Bochum, "das war sein Freund, der Ecki."
Börner war durch diese Bemerkungen völlig aus dem Konzept gebracht. Er hatte auftreten wollen als der große Detektiv; er war auch davon überzeugt gewesen, dass Heinz ihm diese Rolle abnehmen würde. Das einzige Gefühl, an das sich Börner im Zusammenhang mit diesem Heinz Behrend erinnern konnte, war das seiner eigenen Überlegenheit. Er hatte damals den harten Bullen gespielt. Die meisten Schwulen hassten zwar die Polizisten, aber nur offiziell; insgeheim standen sie nämlich auf diese Typen. Und nun war ihm ganz schnell klar geworden, dass der Bekannte viel mehr wusste als er selber. Er ließ sich die vollen Namen der beiden Ermordeten geben und notierte sie ungelenk in seinen Papieren. "Die anderen Opfer kennst du nicht?" fragte er dann, ohne von seinen Notizen aufzusehen.
"Nein", sagte Heinz spontan und fuhr dann plötzlich fort: "Sag mal, was soll das hier eigentlich?"
"Was soll was?" Börner erschrak selber über den gereizten Tonfall seiner Stimme.
"Ich komme mir vor wie bei einem Verhör. Was soll das alles?"
"Ich will den Mörder finden. Das soll das." Börner glaubte, vor Wut zu explodieren.
"Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du in deinem besoffenen Zustand jetzt im Dienst bist. "
Es war vor allem der Ton, der Börner fast dazu gebracht hätte, sofort nach Hause zu fahren. Die Stimme des Bekannten hatte ironisch geklungen, mehr als ironisch; und Börner hasste es, nicht ernstgenommen zu werden. Es kostete ihn Überwindung, sich zusammenzureißen, und dann dauerte es eine ganze Zeit, bis er dem Bekannten klar gemacht hatte, dass er gar nicht mehr im Polizeidienst war. Das alles konnte Heinz auch noch verstehen; nur eines nicht: "Und warum willst du dann hier auf eigene Faust auf die Jagd gehen und den großen Detektiv spielen?"
"Ich weiß nicht, weshalb ich diesen Mann finden will", sagte Börner leise. "Ich will es einfach. Und das will ich nicht erklären müssen."
Immer noch sah Heinz ihn fragend und verständnislos an. "Die Bullen kriegen den Kerl doch sowieso."
"Vielleicht will ich ihn deshalb finden."
Heinz hatte diesen Satz zwar mit einem fast höhnischen Grinsen quittiert, aber keine Einwände mehr gehabt. Börner machte nun einen ruhigen Eindruck; aber insgeheim war er wütend über das Verhalten von Heinz. Mehr noch: Dieses Verhalten hatte sein ganzes Selbstvertrauen erschüttert: Redete dieser Mensch nun mit ihm möglicherweise nur aus Mitleid, weil er ihn in seinem besoffenen Zustand nicht verletzen wollte? Machte er sich insgeheim lustig über ihn? Börner wusste, dass er ihm das auf jeden Fall heimzahlen würde. Heute Abend noch.
Heinz war noch nicht von der Polizei verhört worden. Dass auch er drei der Opfer zumindest flüchtig kannte, hatte ihn nicht veranlassen können, sich bei der Polizei zu melden. Was hätte er auch sagen sollen? Auf alle Fälle hätte er damit nämlich eines gesagt: Dass er selber schwul war, und die Polizei hielt er nicht für den geeigneten Adressaten, was solche Informationen anbelangte.
Diesen Bennie, Bernhard Kohlbrink, hatte er aus Kneipen in Essen gekannt; sein Freund Ecki, Eckhardt Lertner, hatte in Bochum E-Technik studiert. Und Christoph Kalessa hatte er auch zum ersten Mal auf der Fete in Langendreer getroffen und danach ab und zu in Essener Schwulenkneipen wiedergesehen. Er war vor einiger Zeit aus Polen gekommen und Krankenpfleger im Bergmannsheil gewesen. Die anderen Opfer kannte Heinz nicht.
Viele Leute, die er kannte, waren von der Polizei verhört worden. Nach dem Mord auf der Hollestraße in Essen waren zwei Schwulenkneipen von der Polizei - wie Heinz es nannte - gestürmt worden: Von allen Anwesenden seien die Personalien festgestellt worden, einige Personen habe man bis zum frühen Morgen vernommen; viele hätten schon mehrfach auf dem Präsidium erscheinen müssen. Die Polizei habe sich den Schwulen gegenüber sehr mies benommen; er selber sei Gottseidank an jenem Abend in Düsseldorf gewesen. Vor allem hatten einige Leute Vorladungen bekommen, und keiner hatte gewusst, wie die Kripo ausgerechnet auf ihn gekommen war.
Viele Schwule hätten Angst. Nicht vor einem wahnsinnigen Mörder, der wahllos Schwule umbrachte; so einen Quatsch könnten sich nur die Zeitungsfritzen ausdenken. Angst hätten die meisten vor der Polizei, davor, dass ihr Schwulsein nun publik würde, Angst um ihren Arbeitsplatz und vor Ärger im Familien- und Bekanntenkreis.
Börner konnte das sehr gut verstehen; und wenn er an seine eigene Zeit bei der Polizei dachte, die Gespräche, die dort geführt worden waren, wusste er auch, dass diese Ängste sehr begründet waren. Auf seine Frage, was denn in Schwulenkneipen über das Motiv des Mörders spekuliert würde, sah ihn der Bekannte zunächst verständnislos an und meinte dann: "Gar nichts. Was habe ich denn damit zu tun?" Und dann fügte er offensichtlich wütend hinzu: "Wieso fragst du mich eigentlich, was in Schwulenkneipen gequatscht wird? Bist du etwa nicht schwul?"
Börner fragte, ob er ein Bier bekommen könnte; Heinz ging in die Küche und kehrte mit zwei Flaschen zurück.
Dann kamen sie auf die Fete in Langendreer zu sprechen. Die Tatsache, dass drei der Opfer mit Sicherheit auf der Fete gewesen waren, machte es - wie Börner nun wieder ausführte - zumindest wahrscheinlich, dass der Täter auch dort gewesen war. Aber Heinz konnte sich nicht erinnern, die in den Zeitungen abgebildete Person dort gesehen zu haben. "Mein Gott, diese Beschreibung: Dunkle Haare und ein Schnäuzer: So sehen doch 80 Prozent aller Schwulen aus."
"Aber die Größe", sagte Börner schnell. "Der ist doch höchstens so groß." Er deutet mit der rechten Hand die ungefähre Große des Täters an. Heinz schüttelte den Kopf. "Ich weiß es nicht."
Börner glaubte, dass die Stimme des Bekannten wieder ärgerlicher geworden war. Er wollte jetzt auf keinen Fall, dass Heinz noch einmal den Sinn der ganzen Sache in Frage stellte. Deshalb fragte Börner schnell nach den anderen Anwesenden auf jener Fete.
Auch Heinz hatte von den rund 20 bis 25 Anwesenden nicht alle gekannt. Es dauerte fast eine viertel Stunde, bis er sich an 10 Personen erinnert hatte. Börner notierte die Namen und Adressen. Von den meisten wusste Heinz nur die Stadt, in der sie wohnten. Zusammen mit den drei Ermordeten war damit die Identität von rund der Hälfte der Anwesenden festgestellt: Börner wollte nun keinen Zweifel am Sinn seiner Nachforschungen mehr aufkommen lassen.
"Sag mal", Börner zögerte einen Augenblick, weil er nicht wusste, wie er seine Frage formulieren sollte. "Von den 10 Leuten hier", er deutete auf die Liste, die Heinz Behrend ihm diktiert hatte, "Gleicht von denen einer dem Bild des Täters?"
Heinz sah ihn entgeistert an. "Du willst doch wohl nicht sagen..."
"Gar nichts will ich sagen", unterbrach ihn Börner. "Gar nichts. Pass auf, ich lese dir jetzt noch einmal alle Namen vor, und du sollst nur sagen, ob du mit Sicherheit ausschließen kannst, dass die jeweilige Person dem Täter ähnlich sieht." Noch immer sah Heinz ihn unwillig an, und wieder spürte Börner eine ohnmächtige Wut, aber er ließ sich nicht von seinen Vorstellungen abbringen. "Du musst vor allem bedenken, dass es veränderliche Merkmale gibt. Man kann seine Haare kurz oder lang tragen, einen Schnäuzer abrasieren usw.. Also klar?" Es dauerte keine zwei Minuten, bis Heinz mit Bestimmtheit die zehn Personen als Täter ausgeschlossen hatte.
Börner fing an, ihn dafür zu hassen, dass es nicht voran ging. Vor allem dafür, dass Heinz ihn offensichtlich immer weniger ernst nahm, er aus seiner Verstimmung über Börners Fragerei gar keinen Hehl mehr machte, der Tonfall seiner Stimme schon klar machte, dass er alles für Blödsinn hielt, was Börner da erzählte, weil er ja besoffen war.
Und dann wusste Börner nicht mehr weiter. Und auch dafür gab er Heinz die Schuld.
Außerdem wurde er nun auch müde; immer wenn er sich besoff, kam der Umschlag ganz plötzlich: Gerade war er noch aufgekratzt gewesen, hatte voller Ideen, Pläne und Selbstvertrauen gesteckt, und ganz plötzlich war es dann immer vorbei. Das durfte jetzt nicht passieren, das durfte auf keinen Fall passieren. Irgendwie musste er diesen Heinz dazu bringen, die Sache genau so ernst zu nehmen, wie er selber es immer noch tun wollte. Wenn der doch auch nur besoffen wäre!
Börner sah auf die Bierflasche des Bekannten und stellte enttäuscht fest, dass sie nicht einmal zur Hälfte geleert war. Er selber trank seine Flasche in einem Zug aus. Er spürte, wie sich sein Körper gegen den Alkohol wehrte.
Er versuchte zu resümieren; er musste sich jetzt konzentrieren. Wie lange dauerte die Stille zwischen ihnen schon? Gleich würde der Bekannte irgendetwas sagen, er habe aber nun genug, er solle nach Hause gehen oder irgendsowas. Das Muster der Tapete begann vor Börners Augen zu tanzen.
Er hatte nur die eine Chance, dass nämlich der Täter auch auf dieser verdammten Fete in Langendreer gewesen war. Sonst war alles Unsinn. Aber der musste einfach dort gewesen sein, er wollte nicht, dass alles sinnlos war. Zumindest ist es doch nicht unwahrscheinlich, versuchte er sich selber einzureden; es spricht doch einiges dafür. Aber dann musste er selber diesen Jungen doch auch gesehen haben. Es war einfach nicht zu fassen: Außer an Christoph K., Bennie, den großen blonden Typen und natürlich Heinz Behrend konnte er sich an niemanden erinnern. Nur dass einige der Männer ganz gut ausgesehen hatten, das wusste er noch. Aber das wusste er; wie sie tatsächlich ausgesehen hatten, davon hatte er keine Vorstellung mehr.
Du musst dich erinnern. Du bist mit Heinz dahin gefahren. Bei der Ankunft in Langendreer war es schon dunkel. Es war eine Art Zechenkolonie mit Ein- oder Zweifamilienhäusern. Da war gleich am Eingang diese Bar. Bennie hatte fast den ganzen Abend da gestanden, den Leuten Alkohol angeboten und geredet. In blitzschnell wechselnden Impressionen zog der Abend an Börner vorbei. Da war auch dieser Mann, den du nett gefunden hast, diese große blonde Schnitte. Der saß auch den ganzen Abend an der Bar und hat mit kaum jemandem geredet. Du hast ihn die ganze Zeit beobachtet, aber du warst zu feige, ihn anzureden. Der sah gut aus, oder besser geil. Ein großer Kerl; er war gerade von Gran Canaria zurückgekommen und sah braungebrannt aus. Wegen dem bist du doch dann so früh gegangen, weil du zu feige warst ihn anzuquatschen, nicht weil dich die ganze Atmosphäre auf der Fete abgestoßen hat. Das war nur ein Vorwand; du hast dich mit diesem Christoph eigentlich über deine Angst unterhalten, einen Mann, den du geil findest, anzureden.
"Sag mal, ist dir schlecht?"
Die Stimme von Heinz ließ Börner zusammenschrecken. Er schüttelte langsam den Kopf und hoffte, dass er nun so aussah, als überlege er angestrengt. Heinz sollte jetzt den Mund halten.
Die Polizei: Börner fixierte den Wust von Papier, der vor ihm auf dem Tisch lag und den er seit heute Nachmittag 17 Uhr produziert hatte. Wenn er allein in nun vielleicht fünf Stunden irgendetwas von Bedeutung herausgefunden haben wollte, dann musste die Polizei in über drei Wochen schon viel weiter gekommen sein, seine Fährte schon längst als falsch aufgegeben haben. Wieder spürte Börner, wie das Gefühl der Resignation unaufhaltsam in ihm hochstieg.
Aber ohne irgendein Ergebnis würde er hier nicht weggehen, würde er nicht einmal mehr die Augen öffnen. Nun sah Börner das Gesicht des Mannes, den er auf der Fete nett gefunden hatte, ganz klar vor sich. Er musste sich zusammenreißen. Ein letztes Mal.
Vielleicht war es das: Wenn seine Annahme richtig war, dann hatte er die Zahl der in Frage kommenden Personen von vornherein auf maximal 25 reduziert. Und wenn die Angaben von Heinz stimmten, dann hatten eben fünf Stunden gereicht, um die Zahl der als Täter in Betracht kommenden Personen auf ungefähr zehn festzulegen. Es ging nun nur noch darum, diese zehn Personen auch noch ausfindig zu machen.
Im Gegensatz dazu suchte die Polizei doch eine Nadel im Heuhaufen, wenn sie von dieser Fete nichts wusste. Und woher sollte sie davon wissen? Dass er darauf gekommen war, das war doch reiner Zufall gewesen. Nicht einmal Heinz war es seltsam vorgekommen, dass drei der Opfer auf dieser Fete gewesen waren. Dem war es ja nicht einmal aufgefallen. Es war Börner völlig gleichgültig, welche Schritte seine früheren Kollegen unternommen hatten. Er brauchte Leute wie Bremminger nicht. Er kam alleine zurecht. Und Milewski brauchte er schon gar nicht. Nur durften die von dieser Fete nichts wissen. Dann musste die Suche für die Polizei schwierig sein. Gut, sie hatten mittlerweile herausgefunden, dass alle Opfer Schwule waren. Aber der Täter? Sie wussten, wie er aussah. So, wie zigtausend andere. War der auch schwul? Und wenn man davon ausging: Wer ist schon schwul, und wer nicht? Es steht keinem im Gesicht geschrieben. Und was war sein Motiv? Hasste er Schwule, oder war es Rache? Plötzlich verstand Börner die barsche Vorgehensweise der Polizei beim Verhör in den Schwulenkneipen: Sie suchten eben die Nadel im Heuhaufen, und sie wussten sich in einer Umgebung, die die Polizei immer noch hasste. Außerdem stand die Polizei unter Erfolgszwang; die Öffentlichkeit erwartete Ergebnisse. Und dieser Zwang war die denkbar schlechteste Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit. Sie hatten mit Sicherheit noch nichts Konkretes herausgefunden. Und mit jedem Tag, der verstrich, mussten sie nervöser werden. Börner lachte boshaft. Aber da war dieser eine Punkt, der ihn in Unruhe versetzte. "Du sag mal", wandte er sich wieder an Heinz Behrend. "Ist eigentlich einer dieser Leute, die du mir genannt hast, von der Polizei verhört worden?"
Obschon in dem Zimmer nur eine kleine Tischlampe brannte, schmerzten Börners Augen wegen der Helligkeit. Er sah, wie Heinz durch ein übertrieben wirkendes Gähnen wohl zum Ausdruck bringen wollte, dass er sich nicht gerade königlich amüsierte. "Was ist los?" fragte Heinz unfreundlich, und Börner spürte seine Wut wiederkehren. Dennoch wiederholte er die Frage ganz ruhig.
"Ach, weiß ich doch nicht." Heinz' Stimme klang, als würde er Börner im nächsten Augenblick aus der Wohnung werfen.
"Mensch, das ist doch unheimlich wichtig." Dann hielt Börner inne. Er hatte noch sagen wollen, dass niemand dieser Leute bei der Polizei die Fete erwähnt haben durfte, aber dann hatte er plötzlich Angst gehabt. Heinz brauchte es nicht zu wissen, weshalb das wichtig war.
"Wieso ist das wichtig?"
"Du musst mir einfach mal vertrauen", sagte Börner und versuchte, ruhig zu bleiben.
Noch einmal sagte Heinz Behrend, dass er es nicht wisse, und noch einmal las Börner ihm die zehn Namen vor. Schließlich hatte er hinter zwei der Namen ein Kreuz gemacht, da Heinz sicher gewesen war, dass die beiden Personen bereits von der Polizei verhört worden waren. Sie hätten ihm das irgendwann in der Sub erzählt.
"Und warum ist das nun wichtig?"
Wenn hier einer Fragen stellt, dachte Börner wütend, dann bin ich das. Er war klug genug, das nur zu denken. Er musste den Bekannten ablenken.
"Sag mal, wer von diesen Leuten kannte den Bennie eigentlich am besten?"
Heinz schien keinerlei Freude mehr finden zu können an Börners Spielchen. "Der Tobi", sagte er gelangweilt und zeigte auf den Namen Tobias Müller in Bochum. Hinter dem hatte Börner bereits ein Kreuzchen gemacht.
"Dann wird er doch auch mehrere von denen kennen, die auf der Fete waren. "
"Kann schon sein."
"Dann ruf ihn doch an."
"Kann ich ja mal machen."
"Du sollst das nicht mal machen; du sollst ihn jetzt anrufen."
Heinz sah ihn entgeistert an. "Sag mal, bist du eigentlich verrückt?" Mit für Börner geradezu theatralischer Geste zeigte er auf seine Armbanduhr. "Du kommst abends zu mir, bist völlig blau, machst aus meiner Bude ein Schlachtfeld, und dann soll ich um halb elf jemanden anrufen. Ich glaub, du hast einen Vogel."
Schlagartig hatte Börner Angst. Er hatte mit dieser Reaktion nicht gerechnet. Immer wurde er entweder aggressiv oder ängstlich, wenn jemand so mit ihm sprach. Dass er bei diesem Heinz ängstlich wurde, machte ihn noch wütender.
Außerdem hatte er ein schlechtes Gewissen. Was er tat war ja wirklich unverschämt. Aber er wollte jetzt kein schlechtes Gewissen haben. Schon gar nicht Heinz gegenüber.
Dann stand Börner auf. Manchmal half nur das Allerdümmste. Er hatte Angst davor, dass es nicht klappen würde; trotz seines Besoffenseins würde er sich dann zu Tode schämen.
Er ging zu Heinz Behrend und merkte, dass er Schwierigkeiten hatte mit dem Gleichgewicht. Er setzte sich rittlings auf Heinz' zuvor gespreizte Oberschenkel, nahm dessen Kopf in beide Hände und küsste ihn. Er zwängte seine Zunge zwischen die sofort nachgebenden Lippen und spürte die Hände, die in seinen Schwanz griffen.
Es hatte also geklappt.
"Für mich ist das alles sehr wichtig", sagte Börner. "Und du hörst jetzt endlich auf, mich zu fragen warum." Es machte ihm Spaß, die Knie des vor ihm sitzenden Bekannten zwischen seine Oberschenkel zu pressen. Er sah Heinz direkt in die Augen. "Okay?" Heinz Behrend nickte.
Börner sprang auf und lief zu seiner Jacke, die an der Garderobe hing. Er kehrte mit dem Flachmann zurück.
"Nimm einen Schluck, damit du endlich vernünftig wirst."
Heinz setzte die Flasche an und trank. "Noch einmal", sagte Börner, als Heinz die Flasche absetzen wollte.
Heinz nahm noch einen tiefen Schluck, und Börner grinste zufrieden. "Jetzt rufst du gleich diesen Tobi an." Er nahm selber den letzten Rest aus der Flasche. "Du fragst ihn ganz einfach, ob er noch weiß, wer auf dieser verdammten Fete war. Du sagst kein Wort von mir. Sag ganz einfach, du musst das unbedingt wissen. Sag ja nichts von der Polizei, von den Morden oder von sonstwas. Du willst einfach diesen Typen wiedersehen." Er zeigte Heinz das in den Zeitungen abgedruckte Bild des Täters. "Und dann liest du ihm die Beschreibung aus der Zeitung vor. Sag einfach, du hast diesen Typen irgendwo gesehen, der war auch auf dieser Fete in Langendreer, und jetzt willst du ihn unbedingt wiedersehen."
Der Bekannte ließ eine für Börner unangenehm lange Zeit verstreichen und fing plötzlich an zu lachen. "Weißt du was, Richard, du bist wirklich der verrückteste Typ, den ich je kennengelernt habe."
Börner nickte zustimmend, als habe er nichts anderes erwartet. Er nahm die Bierflasche des Bekannten und hielt sie ihm hin. "Hier, nimm noch einen Schluck, dann hast du mehr Mut." Der machte nun, was Börner sagte.
Ungeduldig beobachtete Börner den anderen, wie der mit gezierten Bewegungen, die Börner unausstehlich albern vorkamen, zum Telefon ging, einen Notizblock hervorkramte, darin blätterte, ihn dabei mit lüsternen Augen ansah und endlich eine Nummer wählte.
Selbstbewusst ließ Börner sich wieder in seinen Sessel fallen. Aufmerksam beobachtete er den jungen Mann, als er wusste, dass der Ruf nun durchgehen musste.
"Ja hallo, hier ist Heinz."
Dann war Börner erstaunt über die Kaltblütigkeit des Bekannten. Dieser entschuldigte sich zunächst für die späte Zeit, erzählte seinem Gesprächspartner dann etwas von einem ganz heißen Typ, den er vor kurzem im 'GO-IN' in Essen getroffen hätte. Sofort habe ihn dieser Typ an die Fete damals in Langendreer erinnert; an die Fete, die Bennie gegeben habe, der jetzt tot sei. Von diesem Verrückten erschossen. Das stehe doch überall in den Zeitungen. Er müsse diesen Typen unbedingt wiedersehen; ob Tobi sich nicht auch noch an die Fete und möglicherweise an diesen Typen erinnere. Nach einer kurzen Pause las Heinz Behrend seinem Gesprächspartner die Beschreibung des Täters aus der Zeitung vor.
Das Ergebnis war, wie Heinz' Augen für Börner andeuteten, nicht positiv, und sofort sagte Heinz, Tobi solle auch bedenken, dass der Betreffende sein Aussehen mittlerweile geändert haben könnte: Kürzere oder längere Haare, ohne Schnäuzer, alles so etwas sei möglich.
Wieder konnte Börner an Heinz' Augen ablesen, dass auch diese Hinweise keinen Erfolg brachten. Er wurde ungeduldig, weil er fürchtete, Heinz könnte den Hörer zu früh auflegen. Nervös sprang er auf und deutete an, dass er etwas sagen wollte.
"Du, warte mal eben." Mit der rechten Hand hielt Heinz die Sprechmuschel des Telefons zu und sah Börner erwartungsvoll an.
"Du fragst ihn jetzt ganz nebenbei, ob die Polizei ihn schon mal im Zusammenhang mit den Schwulenmorden auf die Fete in Langendreer angesprochen hat. Frag auch, ob er schon mal den Bullen gegenüber was von dieser Fete erwähnt hat."
Der Bekannte nickte und erkundigte sich sofort wieder nach seinem Gesprächspartner. Dann lachte Heinz plötzlich auf, und Börner wusste, dass der andere irgendetwas gesagt haben musste. Wahrscheinlich hatte er Heinz gefragt, ob der jemanden zu Hause hätte, jemanden, der nicht alles mitbekommen musste. Börner wusste, dass er für den anderen am andern Ende der Telefonleitung so eine Art Notstopfen sein musste, jemand, den Heinz heute Abend kennengelernt hatte, der einfach mitgegangen war. Eine Fickmöglichkeit.
Der wird sich noch wundern, dachte Börner.
Dann gab er Heinz die Liste mit den Namen, die dieser ihm genannt hatte. Er tätschelte dessen Kopf, um anzudeuten, dass Heinz ja keinen Fehler machen sollte.
Börner ließ sich völlig erschöpft in seinen Sessel fallen. Zufrieden hörte er, wie der Bekannte seinen Gesprächspartner fragte, ob der vielleicht noch wisse, wer außer den genannten Namen noch an dem gewissen Abend in Langendreer gewesen sei. Börner bemerkte noch, dass Heinz mit hektischer Betriebsamkeit etwas zu schreiben suchte, sich dann, als Börner ihn hatte glauben lassen, dass mit ihm nicht mehr zu rechnen sei, irgendwoher noch Papier und Bleistift besorgte.
Börner war mittlerweile alles egal. Alles, bis auf eines.
Etwas, das er selber damals auf der Fete abgebrochen hatte, als Heinz ihn schon im Halbdunkel des Schlafzimmers auf die Bettkante bugsiert, sich zwischen seinen Beinen auf den Boden gekniet und an seiner Jeans zu schaffen gemacht hatte.
Er schloss die Augen und beobachtete, wie Heinz sich von seinem Gesprächspartner verabschiedete und den Hörer auf das Telefon legte. Schneller als erwartet saß Heinz plötzlich vor ihm auf dem Boden.
"Pass mal auf. Also, der Tobi wusste noch drei Namen mehr als ich. Hier sind sie." Börner entging auch die Enttäuschung des Bekannten darüber nicht, dass er selber an dem ihm gezeigten Stück Papier offensichtlich nichts Interessantes entdeckt hatte. "Zwei davon kenne ich auch. Die können es nicht gewesen sein. Der Dritte auch nicht. Der ist nämlich blond und war ziemlich oft im 'GO-IN' gewesen. Ich habe ihn selber oft da gesehen. War eine irre Schnitte. Wohnt aber schon seit fast einem Jahr in Berlin. Tobi wusste aber auch noch, dass der einen Freund mitgebracht hat nach Langendreer; aber der kann es auch nicht gewesen sein. Der hatte nämlich keinen Schnäuzer. "Börner beobachtete genau, dass der Bekannte vor ihm offenbar enttäuscht zur Kenntnis nahm, dass Richard Börner ihm nicht mehr zuhörte. "Und die Polizei hat nach der Fete auch nicht gefragt", fügte Heinz enttäuscht hinzu.
Endlich, dachte Börner. Endlich hat er es eingesehen. Er spürte, wie die Hände des Bekannten die Innenseiten seiner Oberschenkel streichelten.
"Ich mache mir echt Sorgen um dich."
Börner schloss die Augen fester. Er wollte nichts mehr hören und sehen. Aber so etwas hatte er schon erwartet.
"Warum lachst du?"
Die Hände des Bekannten griffen plötzlich in seine Oberschenkel, und Börner wusste, dass Heinz nun denken musste, er sei eingeschlafen.
Er sah, wie der Kopf des Bekannten zwischen seine Schenkel kam und die Stelle suchte, wo der Schwanz lag.
Börner spürte den Druck der Lippen durch seine Jeans und öffnet die Augen. Er nahm Heinz' Kopf zwischen seine Hände. "Wir sollten besser ins Bett gehen."
Er stand auf und zog sich aus. Dann ging er ins Bad. Er warf seine Sachen über den Rand der Badewanne und wusste dann nicht mehr, was er dort noch machen sollte. Er verließ das Bad und legte sich auf das Bett. Er sah, wie auch der andere im Bad verschwand, nach kurzer Zeit wiederkehrte und sich neben ihm ins Bett legte.
Börner spürte, wie der andere Körper sofort versuchte, ihm seinen Willen aufzuzwingen. Als Heinz ihn küssen wollte, wandte Börner sich energisch ab. Neben sich spürte er den steifen Schwanz des anderen, der sich in rhythmischen Stößen gegen ihn presste.
Und ganz plötzlich war die Angst wieder da. Die Angst, zu versagen, sich zu blamieren.
Weil da nichts war, was den eigenen Schwanz interessierte. Der Mensch, der da nackt neben ihm lag, interessierte ihn überhaupt nicht. Was ihn letztlich dazu brachte, die bleierne Müdigkeit zu überwinden, war nur die Angst und die wahnwitzige Vorstellung, sich gegen alles wehren, alles vernichten zu müssen, was ihn bedrohte.
Mit einer energischen Bewegung warf er die Decke neben das Bett und setzte sich rittlings auf den nackten Oberkörper des Bekannten. Als er die Wärme des anderen Körpers unter sich spürte, begann sein Schwanz zu pulsieren, wuchs mit jedem Pulsschlag, wollte mehr, wollte geküsst, geleckt, angebetet werden.
Gleich nach dem Orgasmus war Börner völlig gleichgültig und schlief sofort erschöpft ein.