Читать книгу Auf Biegen oder Brechen - Thomas Hölscher - Страница 13
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ОглавлениеAm nächsten Morgen wurde er ziemlich unsanft von Heinz geweckt.
Börner wusste sofort, dass er nun nur noch gute Miene zum bösen Spiel machen konnte: Er war noch völlig betrunken; so betrunken, dass die Kopfschmerzen noch nicht begonnen hatten.
Auf jeden Fall würde er heute nicht um 9 Uhr auf der Arbeit erscheinen. Die Arbeit schien aber die einzige Sorge von Heinz Behrend zu sein. Er verbreitete eine unerträgliche Hektik, und Börner glaubte, dass bei Heinz die Kopfschmerzen schon begonnen haben mussten. Er erinnerte sich daran, dass Heinz in irgendeinem Büro arbeitete.
Sie frühstückten, nachdem auch Börner geduscht hatte. Heinz lachte ihn aus, als Börner an den Tisch kam: "Hast du dich mal im Spiegel gesehen?"
Börner hatte, aber ihm war dabei nicht zum Lachen gewesen. "Hat es dir gestern Spaß gemacht?" fragte er beiläufig.
Einen Augenblick sah Heinz ihn verblüfft an, und dann fing er plötzlich an zu lachen. Er lachte Börner aus. "Soll ich dir jetzt etwa bescheinigen, dass du gut warst? So wie eine Nutte, die dem Freier auch noch sagen soll, dass er überdurchschnittlich war?"
Börner wurde es heiß; er konnte nicht antworten.
"Aber wenn du schon wissen willst, wie du im Bett bist: Du bist elendig egoistisch."
"Ich bin eben so, wie ich bin."
"Eben nicht." Noch immer schien Heinz über Börners Frage amüsiert. Als er Börners Betroffenheit bemerkte, wurde er ernst. "Sei mir nicht böse, aber ich glaube, du kannst nur, wenn du andere runtermachst. Du kannst dich gar nicht fallen lassen. Für dich ist der Sex wie..." Er suchte nach Worten. "Das ist für dich fast wie ein Kampf, bei dem du gewinnen musst. Ich versteh das einfach nicht. Ich glaube, dass du dich als Schwuler gar nicht akzeptierst, dass du vor deinem Schwulsein weglaufen willst." Als wollte er sich bei Börner entschuldigen, nahm er ihn plötzlich in den Arm. "Das passt eigentlich gar nicht zu dir."
Um kurz vor halb acht verließen sie das Haus. Börner hatte seine Notizen wütend zusammengesucht und sie unachtsam in seine Jackentasche gestopft. Einen Augenblick hatte er daran gedacht, sie in den Mülleimer zu werfen. Aber das wäre vor Heinz noch peinlicher gewesen. Sinnlos war es allemal.
Auch Heinz musste in Richtung Innenstadt. Nach einer Zeit ging es Börner auf den Geist, dass sie nicht miteinander redeten.
"Sag mal, gehst du noch oft ins GO-IN?" fragte er.
"Ja, manchmal."
"Heute auch?"
Heinz sah ihn überrascht an. "Ja. Warum?"
"Wir könnten zusammen hingehen."
Heinz war immer noch überrascht. "Natürlich, warum nicht. Obschon in der Woche da nicht viel los ist."
"Ich meine, wir könnten da vielleicht noch ein paar Leute fragen wegen der Fete und so", sagte Börner unsicher.
Nun sah Heinz nicht mehr überrascht aus. "Von mir aus", sagte er gleichgültig; und als sie den Hauptbahnhof erreicht hatten, widersprach er nicht, als Börner meinte, er könne wohl doch nicht am Abend wieder nach Essen kommen. Er wolle lieber zu Hause bleiben.
Sie verabschiedeten sich, und Börner war froh, als Heinz endlich im Betrieb der Empfangshalle verschwunden war. Er wollte ihn nicht mehr wiedersehen.
Börner schaute auf den Abfahrtsplan; es machte ihm Schwierigkeiten, die Zahlen, Rubriken und Buchstaben in eine sinnvolle und überschaubare Ordnung zu bringen und sie mit seiner augenblicklichen Situation zu koordinieren. Gereizt sah er auf seine Armbanduhr; es war zwei Minuten nach acht. Mit dem Zeigefinger verfolgte er die Reihe der Abfahrtszeiten. Schließlich hatte er herausgefunden, dass um 8 Uhr 7 der nächste Zug nach Gelsenkirchen fuhr.
Börner wusste, dass er sich beeilen musste, und genau dazu hatte er keine Lust. Er überlegte, den nächsten Zug zu nehmen. Er konnte dann ja von hier aus im Büro anrufen. Aber wann fuhr der nächste Zug? Noch immer deutete sein Zeigefinger auf die Abfahrtszeit 8 Uhr 7 hin. Es war zu anstrengend, den nächsten Zug herauszusuchen. Auf jeden Fall war es notwendig, früh genug im Büro anzurufen: Niemand sollte denken, er habe verschlafen und wolle blau machen. Was sollte er machen: Sofort abfahren? Den nächsten Zug nehmen? Jetzt sofort anrufen? Er wusste es einfach nicht. Nur sofort im Büro anrufen, das wollte er nicht. Hilflos und wütend sah er auf die ganz rechte Rubrik des Fahrplans: Gleis 21.
Schon als er loslief, war er davon überzeugt, dass die Angabe falsch war, dass er in die verkehrte Reihe geschaut hatte. Dennoch lief er weiter und erreichte atemlos den Bahnsteig.
Eine Gruppe junger Leute sah zu ihm herüber. Oder hatte er nur gedacht, sie hätten zu ihm hergeschaut? Der Zug stand schon bereit; es war ein Nahverkehrszug von Essen nach Haltern, und nun sah Börner die große Uhr unter der Überdachung des Bahnsteigs: Es war drei Minuten nach acht. Ging seine Uhr falsch? Oder war er so schnell gelaufen? Hatten die jungen Leute wegen seiner ganz überflüssigen Eile gelacht? Plötzlich fühlte Börner sich unwohl. Man musste ihm doch ansehen, dass er noch betrunken war. In der Enge des Zuges musste man seine Fahne riechen können. Dann war er froh, dass dieser Nahverkehrszug keine Abteile hatte: In dem größeren Raum würde seine Fahne nicht so schnell auffallen. Aber in einem Zug mit Abteilen könnte er die kurze Strecke auf dem Gang verbringen und das Fenster öffnen. Er wollte nun doch noch einmal auf dem Plan nach einem späteren Zug sehen, blieb unschlüssig stehen, und als der Bahnhofslautsprecher die Abfahrt des Zuges ankündigte, sprang er überstürzt in den Zug. Er war überzeugt davon, dass andere sich nun über ihn amüsierten.
Als er in Gelsenkirchen ausstieg, hatte er entsetzliche Kopfschmerzen. Schon direkt nach der Abfahrt des Zuges hatten sich Leute neben ihn gesetzt, und er hatte kaum noch zu atmen gewagt und angestrengt aus dem Fenster gesehen. Der Geruch des Rasierwassers eines gut gekleideten Mannes neben ihm hatte bei ihm einen extremen Brechreiz ausgelöst. Es gab nichts Ekelhafteres als diese glattrasierten Männer mit Anzug und Aktentasche, die morgens in irgendein Büro fuhren und nach Rasierwasser stanken. Er hatte nicht mehr gewusst, wann er aufstehen sollte und war plötzlich davon überzeugt gewesen, dass er die Tür des Waggons nicht würde öffnen können.
Vom Bahnsteig lief er schnell zu den Gleisen der Stadtbahn, weil er auf keinen Fall durch die Stadt gehen wollte. Dann fuhr er mit der Rolltreppe wieder nach oben: In der Straßenbahn würde er ersticken.
Als er zu Hause war, war es kurz vor neun. Wenn er nun im Büro anrief, mussten sie doch denken, er habe verschlafen und wolle nur nicht zum Dienst kommen. Gar nicht anzurufen, wagte er nicht. Börner fühlte eine unbändige Wut in sich hochsteigen, und kaum war die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss gefallen, griff er zum Telefonhörer. Am besten würde er sagen, dass er gar nicht mehr käme.
Als er wieder auflegte, hoffte er, nicht zu unfreundlich gewesen zu sein. Die Kollegin war so unerwartet freundlich gewesen, hatte ihm sogar gute Besserung gewünscht.
Offensichtlich machte er alles falsch.
Vielleicht hatte sie es aber auch ironisch gemeint.
Er warf sich auf sein Bett und schlief sofort ein.