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2.
ОглавлениеNorberts Füße fühlten sich schwer an wie Blei, als er zögernd aufs Geratewohl vom Platz abbog in eine der Seitengassen, die hinabführten in den unversehrten Teil der Unterstadt. Er achtete kaum auf seinen Weg. Sein Kopf war leer bis auf den einen Gedanken, der ihm mit jedem Schritt wieder und wieder durch den Kopf ging.
Aus. Was soll nun werden?
An der Eingangstür eines zweistöckigen Herrenhauses sprach ein Mönch in weißer Kutte mit dem Hausherrn.
„Gebt ein Almosen für die Bedürftigen, Herr. Das Kloster trägt schwer an der Bürde, sich um die große Not in der Stadt zu kümmern.“
Der Hausherr bedachte den Ordensbruder mit kalten Blicken.
Schmallippig, aber sehr höflich antwortete er: „Mein Diener ist bereits mit Decken und Brot zum Marktplatz unterwegs. Danke dennoch, heiliger Mann, dass du mich an meine Pflicht, den Armen zu geben, erinnern wolltest. Du siehst, ich habe bereits selbst daran gedacht.“
Der Mönch verneigte sich würdevoll, während der Hausherr die Tür schloss. Aus dem Nebeneingang zur Küche winkte eine Magd dem Mönch. Verstohlen gab sie ihm ein paar Münzen in die Hand. Der Ordensmann lächelte milde.
„Der Segen der heiligen Mutter möge auf dir ruhen, du Gutherzige.“
Durch Nebengassen verließ Norbert die Oberstadt. Er wollte nicht über den Markt gehen, wo jedermann ihn zu kennen schien und überall hinter seinem Rücken über ihn getuschelt wurde. Eine Seilergasse entlang ging er zwischen eng stehenden, vom Alter schiefen Fachwerkhäusern hindurch. Die Reepschläger, die die Arbeit an den langen Bahnen wieder aufgenommen hatten, da der Stadtbrand gelöscht war, nahmen kaum Notiz von ihm. Norbert war froh darüber.
An einer Häuserecke, an der zwei Gassen im spitzen Winkel in die Reeperbahn einmündeten, standen Holzbänke am Brettertisch eines Ausschanks. Junge Gesellen und Hausknechte saßen beim Pausenimbiss. Sie hatten bereits mehrere Stunden Tagesarbeit hinter sich. Norbert setzte sich ans Ende der Bank. Der Schankwirt, ein graubärtiger Alter in schmieriger Schürze mit ungewaschenen Händen und dreckigen Fingernägeln brachte dünnes Bier, ohne nach einer Bestellung zu fragen. Seine Stimme war kratzig.
„Willst du Schmalzbrot zum Frühstück?“
Norbert schüttelte den Kopf. Der Wirt wischte seine Hände an der Schürze ab und ging zum Tresen zurück, um weiter Brote zu schmieren. Es würden noch genug Hungrige kommen.
Eine Armeslänge von Norbert unterhielten sich zwei Handwerkerburschen.
„Heute früh in der Torgasse haben sie zwei Diebe gelyncht. Aus dem Hinterhof von einem der Häuser, in denen die Markgrafenknechte alles kurz und klein geschlagen und die Räume unter Wasser gesetzt haben, haben sie die Diebe auf die Gasse gezerrt und mit Latten und Schürhaken totgeschlagen. Brave Städter, Handwerkermeister, Ladenbesitzer, sogar ein paar Weiber waren dabei. Haben die beiden geschrien! So weit ist es mit Altenweil gekommen, Karl!“
Sein Zuhörer stupste den Burschen an und deutete mit einer Kopfbewegung auf Norbert. Beide starrten Norbert an. Norbert blickte mit zusammengebissenen Zähnen auf seinen Bierhumpen. Der Handwerkerbursche nickte seinem Gesellen zu und die beiden nahmen ihr Gespräch wieder auf. Norbert registrierte es erleichtert.
Das lauwarme Bier schmeckte schal. Es war Norbert egal. Er trank den Humpen aus und winkte dem Wirt, einen zweiten zu bringen. Der Wirt stellte einen Teller Schmalzstullen neben das Bier. Im Schmalz waren die Abdrücke seiner Daumen zu sehen. Norbert kaute die Stullen, ohne recht zu merken, dass er aß. Er fühlte sich, als hätte er den Boden unter den Füßen verloren.
Hatte es Sinn, in Altenweil zu bleiben? Vielleicht sollte er sich den fahrenden Abenteurern anschließen, die in Gordons Schänke abgestiegen waren, und mit einigen von ihnen mitziehen - irgendwohin, wo er jemanden fand, der ihm beibrachte, ein heiliges Schwert zu führen. Dreyfuß hatte gemeint, nur mit einem solchen könne er den Dämon, der sein Heimatdorf vernichtet hatte, erschlagen: die schwarze Dame der Grotte. Der Schmied auf der Grafenburg konnte mit heiligen Schwertern umgehen. Aber er verlangte zwanzig Goldtaler, um Norbert als Lehrjungen anzunehmen. Wo um alles in der Welt hätte Norbert diese Summe hernehmen sollen?
Ich hätte schon vor einem Jahr mit Sturmkind ziehen sollen und der Gruppe, mit der sie herumzog. Sie hatten mich doch gefragt. Warum habe ich es nicht getan?
Der gierige Blick der alten Elena kam ihm ins Gedächtnis, als sie Darulans Zettel an sich riss... Dann musste er an Lonnie denken. Wegen ihr hatte er sich auf diese Höllenfahrt an den Rand des Laendorgebirges begeben. Darulan glaubte, mithilfe des schwarzmagischen Ritualgesangs wäre es möglich, das untote Mädchen ins Leben zurückzuholen. Norbert hatte Elena nicht gesagt, dass der Zauber nur wirkte, wenn Darulans Mischung der neun magischen Kräuter dazu verbrannt wurde. Er hatte Darulan die Kräutermischung gestohlen. Lonnies Geist hatte sie ihm weggerissen, damit er nicht der Sucht nach der schwarzen Magie verfiel...
Norbert schloss die Augen. Wenn es ihm nicht gelang, das Geistermädchen zu retten, war alles umsonst gewesen. Irgendwo in den mörderischen Gefilden der Anderwelt befand sich ihr „Quellort“ - ihr Seelenfunke, wie Darulan es genannt hatte. Dort musste er die Magie des Lebens wirken. Es wäre Blut vonnöten, hatte Darulan gemeint. Menschenblut am ehesten...
Norbert stand auf und zahlte dem Wirt drei Viertelkreuzer für Bier und Brot. Mit einem Mal wusste er, was er zu tun hatte. Er schlug den Weg zur unteren Torgasse ein, auf deren gegenüberliegender Seite sich die Brandzone um die Turmruine breitete.
***
In den Häusern längs der Torgasse gegenüber der Brandzone sammelten die Bewohner ihre spärliche verbliebene Habe und noch brauchbaren Hausrat aus den Möbeltrümmern in den Hinterhöfen zusammen. In vielen Häusern waren die Herdfeuer bereits wieder entfacht. Auf der Gasse nagelten Männer improvisierte Brettertüren und Fensterläden zusammen. Über allem lag eine Atmosphäre der Verzweiflung, die durch das Weinen und Schluchzen der Frauen und Kinder, der Alten und Jungen, welche die Leichenkarren zum Tor begleiteten, noch verstärkt wurde.
Ein Händler vor seinem zerschlagenen und ausgeplünderten Laden machte seiner Wut Luft: „Was die Flammen dank der Gebete der Mönche verschont haben, das haben die Markgrafenknechte, dieses Kriegsgesindel, zertrümmert und ersäuft! Ist Altenweil durch das Feuer noch nicht genug geschunden worden, dass dieses Lumpenpack wüten musste wie die Horgaren? Ausgepeitscht, erhängt, ersäuft gehört dieses Pack!“
Die Kriegsknechte bei den Leichenkarren verrichteten weiter ihre Knochenarbeit, den zweiten Tag nun schon, ohne von dem schreienden Ladenbesitzer Notiz zu nehmen. Ihren müden Gesichtern war nicht anzusehen, was sie dachten.
Zwischen den Leichenkarren hindurch überquerte Norbert die Gasse. Wolken von Aschenflocken wirbelten in der Luft. Vor Norbert breitete sich die Brandzone: ein Bereich verkohlter Trümmer zwischen aufragenden Schornsteinschloten. Außer einer dicken Ascheschicht war nichts von den eng beieinanderstehenden Fachwerkbauten geblieben. Von dem bis auf die Grundmauern niedergebrannten Rundturm des Anton Dreyfuß stand nur noch die Erdgeschossmauer, stellenweise noch Teile des ersten Stocks. Eine hohle Fensteröffnung gähnte wie zum Spott über die einstige Macht des gefürchteten Dämonologen.
Die Turmruine stand auf einer vormals dicht bebauten Anhöhe. Norbert stieg den schwarzen Mauerresten des Turms entgegen. Als er den düsteren Turm in seinem achten Lebensjahr zum ersten Mal gesehen hatte, hatte das Doppelbild des Turms auf der anderen Seite der Grenze ihm den Eindruck erweckt, der Turm stehe unmöglich schief. Das Dachgeschoss des Turms war umgeben gewesen vom fahlblauen, unwirklichen Licht der Anderwelt. Jetzt wirbelten Aschenwolken um die verkohlten Mauerreste. Norbert strengte seine Sinne an. Nirgends konnte er den Hauch der Anderwelt wahrnehmen.
Die Turmpforte war ein leerer Schlund. Die Rundmauer rings umher, selbst die ausgetretenen Stufen zur Pforte hinauf waren mit einer dicken Rußschicht überzogen. Norbert tastete nach seinem Schwert und konzentrierte sich auf einen Abwehrzauber. Hier war es, wo er gestern die rasende Banshee bekämpft hatte. Blaues Anderweltfeuer hatte aus der Turmpforte gelodert. Jetzt trübten nur wirbelnde Aschenwolken die Tageshelle um den Turm. Kein jenseitiges Dunkel verdrängte das Licht.
Zögernd stieg Norbert die Stufen hinauf zu der gähnenden Pforte.
„Rhe!“ murmelte er den Abwehrzauber, als er ins Turminnere blickte.
Keine Spur von Anderweltleuchten schimmerte auf. Stumm starrte Norbert auf die Verwüstung.
Decke und Boden des Erdgeschosses waren weggebrochen. Wo einst Küche, Verwalterkammer und die steinerne Wendeltreppe in die oberen Geschosse sich befunden waren, gähnte ein nur von der geschwärzten Turmmauer begrenztes Loch. Tageslicht fiel von oberhalb der zerbrochenen Mauerreste herein. Aschenflocken wirbelten in den Resten der Rundmauer. Eine Manneslänge unter Norbert ragten von der Hitze gekrümmte, zu Kohle verglühte Balkentrümmer aus einer geschmolzenen und wieder erstarrten Masse, die aussah, wie trübes Glas. Die Schmelzmasse füllte das gesamte Fundament der Ruine.
Wie betäubt nahm Norbert das Ausmaß der Zerstörung wahr. Dort unten, von den Flammen verzehrt und von der Hitze zusammengeschmolzen, befand sich, was von der Einrichtung und den Schätzen des Zaubererturms geblieben war. Apparaturen und Experimentiergeräte, eine ganze Bibliothek Jahrhunderte alter Bücher, deren Wissen Norbert sich nie hatte zu Nutze machen können, weil er nicht lesen konnte, die randvoll mit Gold gefüllte Schatztruhe des Meisters, für deren Inhalt er dafür umso mehr Verwendung gehabt hätte, und auch jene magische, von Anton Dreyfuß hergestellte Pforte zur Anderwelt im obersten Turmgeschoss – alles war verschmolzen zu einer toten, glasartigen Masse.
Norbert schloss die Augen. Er drängte die bitteren Gedanken zurück, versuchte, so ruhig wie möglich zu atmen. Er zwang seinen Geist zur Konzentration. Alle Sinne richtete er auf mögliche Anzeichen für die Nähe der Anderwelt: ein feines Kribbeln im Nacken, diffuses blaues Flackern in den Augenwinkeln, ferne Geräusche oder Laute... nichts.
Norberts Puls beschleunigte sich, als er mit einem Zauberspruch das blaue Anderweltleuchten heraufbeschwor: „Elean thanatos!“
Er wusste, dass es gefährlich war. Bei früheren Versuchen war er in Abgründe gestürzt oder von jenseitigen Wesenheiten angegriffen worden, andere Male war er der schwarzen Dame nur knapp entkommen. Auf alles gefasst, die Hand am Schwertgriff, stand er mit geschlossenen Augen und lauschte...
Nichts. Norbert öffnete die Augen. Kein blaues Feuer. Nicht der geringste Schimmer diffusen Anderweltleuchtens. Die Grenze war fort. Tränen sammelten sich in seinen Augen, als er in den von wirbelnden Aschenflocken durchwehten Hohlraum der Ruine starrte. Lonnie schien unendlich fern, gefangen jenseits der Grenze. Das Tor, welches ihm ermöglicht hätte, zu ihr zu gelangen, war auf immer geschlossen, zerstört durch die Magie, die Norbert selbst gewirkt hatte.
Zögernd wandte er sich von der Turmpforte ab. Der Wind wehte wirbelnde Aschenwolken über die Trümmerlandschaft. Die Luft roch nach beißendem, kaltem Rauch. Norbert tränten die Augen. Zwischen verkohlten Balkenresten hindurch stapfte er durch knöcheltiefe Asche dem Rand der Brandzone entgegen. Ein Schrei tobte in seiner Brust, aber er hielt die Lippen zusammengepresst, zwang den Drang, seine verzweifelte Wut herauszubrüllen, nieder.
***
In einer Kellerschänke im Armenviertel setzte Norbert sich außerhalb der trüben Helle, die durch die Kellerluken hereinrieselte, ans Ende der Bank nahe der Gewölbemauer am einzigen Tisch im Raum. Er mochte nicht in den Schwarzen Raben zurückgehen, wo die Abenteurer ihn drängen würden, zu berichten. Er hatte keine Lust, darüber zu reden, was ihm widerfahren war. Es waren keine Abenteuer gewesen, über die man am Herdfeuer Angebereien von sich geben konnte. Aber vor allem wollte er der Harfenspielerin nicht unter die Augen treten, nach der peinlichen Begegnung mit ihr im Waschraum vor Tagesanbruch.
Norbert ignorierte die hoffnungsvollen Blicke der beiden Mädchen, die beim Herdfeuer beieinandersaßen. Sie trugen bunte Tücher um die hageren Schultern geschlungen. Ihre zerschlissenen Kleider hatten zu tiefe Ausschnitte, um damit auf die Gasse zu gehen.
Zur Wirtin meinte er: „Bring mir Bier,“ und nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „und Schnaps.“
In Richtung der Mädchen erklärte er: „Und lasst mich in Ruhe!“
Die Mädchen nahmen ihre leise Unterhaltung wieder auf. Es war ohnehin noch zu früh, um mit Freiern zu rechnen. Aber wo Geld fürs Allernötigste gebraucht wurde, da wollte keine Chance vertan sein. Die Wirtin brachte einen hölzernen Humpen Bier und einen Becher Kartoffelschnaps. Aus Norberts fleckiger, verrauchter Ledermontur und seinem verrußten Gesicht schloss sie, er wäre ein Abenteurer, der beim Löschen der Brände geholfen haben musste.
„Ein entsetzlicher Fluch, der uns da heimgesucht hat, dieser Feuerbrand,“ klatschte sie im Glauben, den richtigen Ton im Umgang mit einem Freischärler getroffen zu haben. „Wenn ihr Kerls nicht gewesen wärt und die Knechte des Markgrafen, bei allen Sternen, die Armen Brüder hätten noch so viel beten und Glocken läuten können, das Feuer hätte uns alle verschlungen.“
Mit vertraulicher Ironie und einem Blick auf die Mädchen am Feuer fügte sie hinzu: „die heilige Jungfrau wird mir verzeihen, wenn's lästerlich klingt, was ich sage!“
Norbert antwortete nicht. Die Wirtin begriff, dass er nicht gekommen war, um zu plaudern oder um sich etwas von der Seele zu reden.
„In einer Stunde ist die Suppe fertig,“ erklärte sie, bevor sie zum Kessel über dem Herdfeuer zurückging und Norbert seinen trüben Gedanken nachhängen ließ.
Norbert nahm einen Schluck Kartoffelschnaps und verzog das Gesicht. Der Schnaps brannte ihm in der Kehle. Er war starke Getränke nicht gewohnt. Aber an diesem Tag war es ihm egal, obwohl eine innere Stimme ihn mahnte, lieber nüchtern zu bleiben. Der Schnaps erinnerte ihn an Wildenbruch, an die Jagdausflüge, zu denen Majas Vater ihn mitgenommen hatte. Sein vermeintlicher zukünftiger Schwiegervater hatte ihm einen Jagdbogen geschenkt und er hatte schnell Geschick im Umgang damit bewiesen. Nach erfolgreicher Jagd teilte Björn Feldnersohn oft einen Schluck Schnaps aus der Feldflasche mit Norbert. War es wirklich erst zwei Jahre her? Eine Ewigkeit schien vergangen seit damals.
Norbert trank den Schnapsbecher aus. Das starke Getränk stieg ihm in den Kopf und linderte seine brennende, verzweifelte Wut und die nagenden Schuldgefühle. Er atmete heftig aus und blinzelte in die trübe Helle der Kellerluke. So waren sie, die Mädchen. Gingen einfach weg. Melanie hätte auf ihn warten können, wenn sie ihn wirklich noch einmal sehen gewollt hätte. Sie hätte den reichen Affen, der behauptete, sie heiraten zu wollen, überreden können, noch ein paar Tage länger zu bleiben. Norbert hätte ihr schon klar gemacht, was für eine blöde Idee sie sich da in den Kopf gesetzt hatte... Sie war nicht geblieben. Genau wie Sturmkind. Eigentlich war ja er derjenige gewesen, der nicht mit dem Abenteurermädchen mitziehen gewollt hatte, aber der Schnaps machte es ihm leicht, das Vergangene nicht ganz so genau zu nehmen.
Vielleicht sollte er in den Gornwald zurückgehen und sich mit Wilderei durchschlagen. Im uralten Gornwald war die Grenze nahe. Dort konnte er sich auf die Suche nach dem Quellort von Lonnies gefangener Seele machen. Wilderei war verboten, aber vor den Schergen der Grafen und Fürsten fürchtete er sich nicht. Er war überzeugt, besser mit dem Schwert umgehen zu können als die allermeisten Kriegsknechte. Doch um von der Jagd zu leben, brauchte er Jagdwaffen. Und um irgendwo einen Jagdbogen und Pfeile zu her zu bekommen, benötigte er Geld.
Er konnte versuchen, den Schwarzalb auszutreiben, der das Haus des Ratsherrn Hohenwart heimsuchte. Dreyfuß hatte für eine Geisteraustreibung zwischen zwei und zwölf Goldtalern genommen, je nachdem, wie gefährlich die Anderwelterscheinung war. Gefährlich würde es in jedem Fall werden. Norbert konnte nur hoffen, dass er das, was dort sein Unwesen trieb, überwinden und bannen konnte, bevor er davon in die Anderwelt hinübergezogen oder in Stücke gerissen wurde. Aber hatte er eine Wahl? Bier und Schnaps halfen ihm bei der Entscheidung. Er entschloss sich, zum Ratsherrn zu gehen.
Die Wirtin brachte einen zweiten Humpen Bier, aber Norbert winkte ab.
„Nein danke. Ich nehme noch von deiner Suppe, wenn sie fertig ist. Ich hab noch was vor, heute.“
***
Die sechste Stunde war angebrochen, als Norbert den kopfsteingepflasterten Platz vor dem Haus des Ratsherrn überquerte. Obwohl er sich den Tag über immer wieder darin bestärkt hatte, an seinem Entschluss festzuhalten, war ihm mulmig zumute. Das große, dunkle Haus mit den hohen, noch lichtlosen Fenstern ragte in der Stille der Abenddämmerung auf, wie der Hüter eines lauernden Geheimnisses - schweigend, mit nach innen gekehrten, blinden Augen. Dahinter erhob sich der Burgfelsen, von der untergehenden Sonne in flammendes Rot getaucht.
Den Nachmittag über war Norbert in den Seitengassen des Armenviertels und der Unterstadt umhergeschlichen, die Hauptgassen meidend, wo er womöglich wieder von irgendwem erkannt worden wäre. Er hatte sich nicht überwinden können, in den Schwarzen Raben zurückzukehren.
Er entschied sich, lieber über den Hof zur Küchenpforte zu gehen, statt über die Freitreppe zu dem mächtigen Eingangsportal hinaufzusteigen. Im dämmrigen Hof war die Kleine, die sie Sabinchen nannten, dabei, die Hühner in den Stall zu treiben. Mit dem Besen versuchte sie, ein Huhn, das offenbar noch keine Lust hatte, für die Nacht eingesperrt zu werden, zum Hühnerstall zu scheuchen. Ihre Holzschuhe klapperten auf dem Pflaster. Sabinchen sah Norbert im Tordurchgang und blieb mit großen Augen stehen. Aus der Tür des Wirtschaftsgebäudes trat ein untersetzter Kerl mit wirrem, dunklen Haar und aufgedunsenem Gesicht. Er trug die grobe, unförmige Hanfjacke eines Knechts. In der Hand hielt er einen Krug. Missmutig blickte er Norbert entgegen.
„Heda, was suchst du hier?“
Norbert ging ein paar Schritte in den Hof hinein. Das Huhn stellte fest, dass die Verfolgungsjagd vorbei war, lief zum Stall und schlüpfte über die Hühnerleiter hinein. Der Knecht blickte unsicher zur Seite, als Norbert ihm ruhig ins Gesicht schaute.
„Ich bin Norbert Lederer. Euer Verwalter hat mich heute Morgen gefragt, ob ich den Schwarzalb bannen könnte, der angeblich in diesem Haus sein Unwesen treibt. Ich mache das, wenn der Hausherr einverstanden ist.“
Sabinchen ließ den Besen fallen und schlug die Hände vor den Mund. Ihre Augen wurden immer größer. Auch der Knecht starrte Norbert verdattert an.
„Heilige Jungfrau!“ murmelte er.
Er wies zu Küchentür.
„Wenn du nicht an der Hauspforte vorsprechen willst, komm zur Küche herein.“
Sabinchen herrschte er an: „Glotz nicht so! Geh, mach den Hühnerstall zu, bevor die Biester alle ausrücken.“
In der Küche saß eine hagere Frau in einem grauen Kleid mit weißer Kopfhaube der Köchin am Tisch gegenüber. Sie mochte um die Vierzig sein. Die großen, ängstlichen Augen in ihrem blassen Gesicht füllten sich mit verhaltener Abscheu, als sie Norbert erblickte. Norbert überlegte kurz, ob sie womöglich die Gemahlin des Ratsherrn wäre, aber sie war es wohl eher nicht. Vermutlich gehörte sie zum Dienstpersonal. Die Köchin wandte sich zu Norbert um.
„Heilige Mutter von Altenweil, der Norbert Lederer ist gekommen!“
Der Knecht drängelte sich hinter Norbert in die Küche.
„Er sagt, er will den Poltergeist austreiben,“ brummte er, während er sich hinter der Köchin vorbeischlängelte, zum Wandregal ging und einen Tonbecher herausnahm.
„Wenn der gnädige Herr es erlaubt, heißt das.“
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen und goss sich aus dem Krug, den er mitgebracht hatte, ein. Die Köchin beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Sie stemmte die Hände in die Hüften.
„Was willst du dich da schon wieder besaufen, Boris!“
„Lass mich!“
Der Knecht nahm einen langen Schluck aus dem Becher. Die Hagere rümpfte verächtlich die Nase. Die Köchin wandte sich an Norbert.
„Aller Götter Dank soll dir sein, wenn du dem Spuk hier ein Ende machst.“
Sie deutete mit dem Kopf auf einen leeren Stuhl.
„Setz dich zu uns!“
Zu der Hageren, die missbilligend beobachtete, was um sie her vorging, sagte sie: „Jetzt müssen wir nur zusehen, wie wir den gnädigen Herrn überreden, den jungen Mann zu Werke gehen zu lassen, Millie.“
Norbert setzte sich. Die in Grau gekleidete Hagere blickte an Norbert vorbei, als müsse sie sich überwinden, ihn anzusehen.
„Auch wenn er der Schüler von diesem Hexenmeister ist, muss er doch nicht so herumlaufen.“
Anna, die Köchin betrachtete Norbert mütterlich.
„Wir geben dir eine Waschschüssel und ein Stück Seife, damit du dir Gesicht und Hände waschen kannst.“
Zu der Hageren meinte sie sanft: „Bestimmt hat er den ganzen Tag über bei der abgebrannten Unterstadt geholfen. Da gab es sicher keine Gelegenheit, sich zwischendurch zu säubern.“
Die grau gekleidete Millie kommentierte es mit einem Naserümpfen. Norbert hatte sein dreckiges Äußeres völlig vergessen.
Verlegen murmelte er: „Ja, danke.“
Sabinchen schlich sich zur Küchentür herein. Sie blieb mit vor der Brust gefalteten Händen an der Tür stehen und beobachtete die Szene mit stummer Neugier. Der Knecht nahm einen weiteren Schluck aus dem Becher. Mit glasigen Augen stierte er Norbert an.
„Was willst du machen, um den Poltergeist auszutreiben? Knoblauchbündel in Türen und Fenstern aufhängen? Mit Zauberkreide magische Pentagramme auf den Fußboden malen?“
Die Köchin drohte dem Knecht mit dem Finger.
„Lass den jungen Mann mit deinem besoffenen Gelaber in Frieden, Boris. Er wird schon wissen, was er zu tun hat.“
Zu der spitznasigen Millie sagte sie: „Millie, geh doch hinauf und mach Elmar klar, dass er dem gnädigen Herrn die Aufwartung des Schülers des Dämonologen Dreyfuß ankündigen muss. Elmar wird wissen, wie er's dem gnädigen Herrn beibringen muss.“
Die Hagere stand seufzend auf.
„Vielleicht bringt es den gnädigen Herrn ja auf andere Gedanken und er hört auf, im Kabinett herumzuwüten und auf dem armen Konrad herumzuhacken. Der kann doch bei der heiligen Mutter am allerwenigsten dafür, dass der gnädige Herr sein Geld so verschleudert, dass kaum noch was davon übrig ist!“
Als Millie hinausgegangen war, sagte Anna zu der Kleinen:
„Bienchen, mach eine Schüssel mit Waschwasser und Handtuch und Seife für den Norbert Lederer bereit.“
Das Mädchen huschte zum Herd, schöpfte Wasser in einen Kessel, rückte den Teekessel beiseite und setzte den Wasserkessel auf den Herd.
Während das Waschwasser warm wurde, erklärte die Köchin Norbert: „Unser gnädiger Herr hatte bei dem Ulf Jörgsohn, dem sich die Melanie an den Hals geworfen hat, noch Schulden von früher, scheint's, aus der Zeit ihrer gemeinsamen Handelsreisen, wie es so schön heißt. Jedenfalls hat er dem Ulf Jörgsohn eine hohe Summe Goldtaler ausgezahlt, als der abgereist ist. Die beiden sind nicht als Freunde voneinander geschieden, glaub's mir. Die ganze Zeit über, die der Ulf Jörgsohn zu Besuch war, lief der gnädige Herr mit schlechter Laune herum. Und wir, vor allem Elmar und Konrad, durften's ausbaden!“
Anna ging zum Teekessel, goss Tee in einen Becher und stellte Norbert den Becher hin.
Zum Hausknecht Boris sagte sie: „Hier, siehst du, das ist was Vernünftiges. Du solltest auch lieber Tee trinken, statt immerzu deinen ollen Fusel.“
„Bleib mir weg mit deiner lauwarmen Plörre,“ knurrte Boris. „Ich racker mich den ganzen Tag ab, während du nur in der Küche sitzt und tratschst. Da brauch ich was Handfestes am Abend.“
Solches Küchengeplänkel war Norbert aus dem Wohnturm seines ehemaligen Lehrmeisters nur zu vertraut. Hätte er nicht dieses elend flaue Gefühl in der Magengrube gehabt, es wäre ihm beinahe heimisch vorgekommen. Er wollte es sich nicht zugeben, aber er hatte erbärmliche Angst vor dem, was er sich vorgenommen hatte.
Norbert nippte am heißen Kräutertee, während die Köchin und der Hausknecht leise miteinander zankten. Sabinchen goss warmes Waschwasser in eine Schüssel und Norbert stand auf und wusch sich möglichst gründlich Hände und Gesicht. Er war froh, dass er bei Anton Dreyfuß gelernt hatte, wie man mit hochstehenden Leuten reden musste. Dadurch, und weil er häufig dabei gewesen war, wenn Dreyfuß sich mit Städtern besprach, welche die Dienste des Meisters in Anspruch nehmen wollten, fühlte er sich nicht ganz so verunsichert. Was ihm wirklich Sorgen machte, war die Begegnung mit dem Schwarzalb, von dem er nicht wusste, worum es sich handelte und ob er in der Lage sein würde, ihm beizukommen.
Norbert hatte den Tee noch nicht ausgetrunken, als die Tür geöffnet wurde. Der Alte, der in der Tür stand, trug Schlupfjacke und Hosen aus gutem Stoff. Die vielen Gesichtsfalten gaben ihm ein vergrämtes Aussehen. Sein Blick viel auf Norbert und er nickte traurig.
„Elmar!“ rief Anna. „Hast du etwas erreichen können beim gnädigen Herrn?“
Der sorgenvolle Diener hatte eine leiernde Altmännerstimme: „Ja. Norbert Lederer, der Schüler und möglicherweise der junge Nachfolger des jüngst so unglücklich verschiedenen Dämonologen Anton Dreyfuß, soll beim gnädigen Herrn im Kabinett vorsprechen. Aber,“ ergänzte er beinahe weinerlich, „der gnädige Herr ist sehr verstimmt, um nicht zu sagen außer sich, aufgrund gewisser Differenzen zwischen ihm und dem Hausverwalter bezüglich der Solidität des Finanzfundaments gewisser Verpflichtungen und Unternehmungen des gnädigen Herrn.“
Norbert presste die Lippen zusammen. Er hasste Leute, die meinten, sie müssten so gebildet daherreden, dass er sie nicht verstand. Anna seufzte.
„Bei allen Sternen, Elmar, kannst du das auch in unserer Landessprache sagen? Dein Gelehrten-Kauderwelsch versteht doch kein Mensch!“
Elmar stand in der Tür wie ein großer trauriger Vogel.
Sorgenvoll leierte er: „Der gnädige Herr ist pleite, meine Liebe. Pleite und hoch verschuldet.“
Das war's dann wohl mit dem Geldverdienen. Norbert überlegte, ob er nicht gleich wieder gehen sollte.
„Heilige Mutter von Altenweil!“ murmelte die Köchin.
Vom Herd her flüsterte Sabinchen erschreckt: „Was heißt pleite?“
Aber die resolute Anna fand ihre Fassung gleich wieder: „Na, wird schon nicht so schlimm sein. Sie werden den hohen Ratsherrn schon nicht gleich in den Block schließen. Wir haben hier schon ganz andere Krisen überstanden. Hauptsache,“ und damit wandte sie sich an Norbert, „wir werden den Höllenspuk hier los. Dann wird sich alles andere wieder einrenken. Sag dem gnädigen Herrn nur, was du als Bezahlung haben willst. Er wird es dir sicher nicht ausschlagen.“
Die Zuversichtlichkeit der Köchin konnte Norbert nicht nachvollziehen, aber was sollte er tun? Schicksalsergeben stand er auf.
„Soll ich gleich zu ihm kommen?“
Der traurige Vogeldiener nickte: „Ja, der gnädige Herr lässt bitten.“
***
Norbert folgte dem Diener einen unbeleuchteten Gang entlang und eine schmale Stiege hinauf ins Hochparterre. Durch eine kleine Tür traten sie in ein kaum erhelltes Zimmer mit getäfelter Holzdecke, hinter dessen großen Glasfenstern letztes Tageslicht verdämmerte. Die Stühle um den mächtigen Esstisch standen wie hastig an den Tisch geschoben, als wären sie alle durcheinander gerückt worden oder umgefallen und dann nachlässig wieder hingestellt. In der hinter dem Esszimmer liegenden Halle war Millie dabei, mit einem glimmenden Docht an einer Stange die Kerzen des Deckenleuchters zu entzünden. Auch vor einem kleinen Heiligenbild auf einem Wandaltar an der Seitenwand brannte eine Kerze. Durchs Treppenhaus gingen Elmar und Norbert über eine breite Steintreppe in den ersten Stock hinauf.
Hinter der Tür im oberen Stockwerk überfiel Norbert schlagartig ein Gefühl drohender Gefahr, wie bei der Annäherung eines Raubtiers, dessen Gegenwart einem bewusst wird, noch bevor man es sieht. Die Ahnung von etwas Lauerndem, Bösartigen machte ihn schaudern. Wie eine tastende Klaue kroch ihm Kälte den Rücken herab. Er musste sich zwingen, ruhig weiterzuatmen. Er ließ Elmar vor gehen, blieb stehen und sammelte sich, um der jenseitigen Macht, deren Gegenwart er spürte, wach und gefasst entgegenzutreten. Einen Moment lang kämpfte er mit seiner Angst. Dann siegte seine Konzentration. Die Hand auf den Schwertgriff gelegt, schritt er in den Raum.
Die Dielen knarrten unter seinen Schritten. Im Kamin brannte ein Feuer. Davor standen gepolsterte Lehnstühle. Polsterbänke säumten die Wände zwischen den hohen, dunklen Fenstern. Das Bild über dem Kamin hing schief. Im flackernden Kerzenlicht konnte Norbert nicht erkennen, was es darstellte. Eine schmale Frau mit zusammengebundenen Haaren in einem weiten, dunklen Kleid, das bis zum Boden reichte, hielt im Auf- und Abgehen inne und starrte Norbert und Elmar erschreckt an. Sie hielt die Hände vor der Brust zusammengepresst. Elmar machte eine leichte Verbeugung.
„Gnädige Frau!“
Er ging an der Dame des Hauses vorbei durch eine Flügeltür in den nächsten Raum. Norbert verbeugte sich und folgte dem Diener. Stumm starrte die Hohenwarterin ihnen nach. Angst stand ihr im Gesicht geschrieben.
Auch im angrenzenden Raum brannte ein Feuer im Kamin. Hinter den Fenstern zum Hof lag letztes Dämmergrau. Die Tür an der linken Seite war geschlossen, die zur Rechten stand offen. Wandteppiche hingen an den Wänden. Die Kerzen in den Wandleuchtern flackerten. Ein riesiger ausgestopfter Bär mit gefletschten Zähnen war neben der linken Tür auf den Hinterfüßen aufgestellt. Das verloren dastehende, zottelige Ungetüm machte einen grotesken Eindruck auf Norbert. Wer stellte sich so etwas ins Haus? Durch die Tür neben dem Bären drangen Flüche und Wutgebrüll.
Norbert stand einen Moment still und konzentrierte sich. Die lauernde, dämonische Gegenwart war überall. Norbert spürte einen Druck im Kopf, als würde ihm der Schädel zusammengepresst. Er meinte, kaum atmen zu können. Schweiß brach ihm aus. Um was auch immer es sich handeln mochte, dieses Anderweltwesen war zu stark für ihn! Wie konnte er gegen etwas kämpfen, geschweige denn, es zurück in die Anderwelt bannen, das ihm derart zusetzte, noch bevor er es überhaupt ausmachen konnte?
Die Worte des Meisters kamen ihm in den Sinn: Ich lasse mich niemals auf eine Begegnung ein, bevor ich nicht genau weiß, worum es sich handelt!
Er musste dem Ratsherrn absagen. Alles andere wäre mörderischer Wahnsinn.
Elmar ging an dem ausgestopften Bären vorbei und öffnete die Tür zur Linken.
Drinnen schrie ein Mann auf jemanden ein: „Lüge! Du bist nur vergesslich, das ist alles! Wozu kritzelst du ständig in deine Bücher, wenn du dir die einfachsten Dinge nicht merken kannst? Natürlich habe ich noch Ländereien!“
„Herr...,“ beschwichtigte eine gequälte Stimme, aber der Aufgebrachte schrie weiter:
„Das Landgut bei Kloster Schwarzach!“
„Ihr habt es voriges Jahr an den Schwarzacher Orden verkauft, Herr.“
„Unmöglich, du irrst dich!“
„Herr...“
„Himmeldonnerwetter nochmal! Dann geh eben zu Ansgar Winterfels und borge noch einmal zweihundert Goldtaler von ihm. Sag ihm, ich zahle sie innerhalb von zwei Wochen zurück.“
„Herr, der Ratsherr Winterfels hat mir schon letzten Monat geantwortet, Ihr schuldet ihm 2700 Goldtaler und er werde Euch nichts mehr leihen, bevor Ihr ihm nicht zumindest einen Anteil zurückgezahlt habt!“
„Bei allen Höllenteufeln! Rede halt etwas geschickter mit ihm! Erzähl ihm irgendwas! Schmier' ihm Honig um den Bart, wozu hast du all deinen Schulkram gelernt? Leier ihm das Geld aus den Rippen! Raus! Fort mit dir! Mach dich endlich mal nützlich, du Zahlenkrakler!“
Elmar war während der gebrüllten Auseinandersetzung still in den Raum getreten. Norbert schaute rasch durch die offene Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Ein schmaler Gang führte auf einen Erker. Gegenüber dem Erker befand sich eine weitere Tür. Norbert schärfte seine Sinne. Auch im Gang dasselbe drohende Gefühl. Das gesamte Stockwerk war erfüllt von der ungreifbaren jenseitigen Bedrohung.
Aus der linken Tür stolperte Konrad heraus. Sein Blick flackerte wie der eines Irren. Er raufte sich die schütteren Haare, während er durch die Flügeltür stolperte. Norbert ging hinüber und trat durch die Tür. Er riss sich zusammen, versuchte, ein gefasstes Gesicht zu machen und richtete sich gerade auf.
Standleuchter erhellten ein holzgetäfeltes Zimmer. Unter dem Fenster waren Bücher unordentlich über einen Tisch verteilt. Daneben stand ein Schreibpult. Andere Bücher lagen und standen in Regalen an den Wänden. An der Rückwand stand eine geöffnete Eisenkiste. Sie schien leer zu sein. Daneben lag ein Bild mit zerbrochenem Rahmen zwischen den Scherben einer Vase auf den Dielen. Es zeigte das Konterfei desselben Mannes, der mit zornrotem Kopf im Lehnstuhl vor dem Kamin saß. Elmar verbeugte sich.
„Der junge Anwärter auf die Nachfolgerschaft des Anton Dreyfuß!“
Der Mittvierziger im Lehnstuhl hatte schulterlanges, glatt gekämmtes blondes Haar. Er trug einen von einer Goldkette zusammengehaltenen schwarzen Umhang mit Pelzkragen über einer kurzen Jacke mit breitem Gürtel und eng anliegenden Hosen. Am Gürtel trug er einen Dolch mit verziertem Griff. Er saß zurückgelehnt mit geschlossenen Augen, wie um durchzuatmen. Als Norbert vortrat, wandte er ihm den Kopf zu. Norbert machte eine kurze, deutliche Verbeugung, wie er es sich von Dreyfuß abgeguckt hatte. Der Ratsherr kniff die Augen zusammen.
„Und was bringt ausgerechnet dich dazu, mir heute auch noch auf den Nerven rumzutrampeln?“
Norbert ließ sich nicht ins Bockshorn jagen: „Vielleicht kann ich Euch von einem Problem befreien. Ich bin gekommen, um die Geistererscheinung, die Euer Haus heimsucht, zu...“ Schnell verbesserte er sich: „Um zu prüfen, ob ich sie bannen kann. Wenn es Euch recht ist,“ ergänzte er.
Ich sage ihm, ich muss erst herausfinden, um was es sich handelt, dann schaue ich mich nochmal kurz um und sage ihm ab.
„Wer hat dir davon erzählt?“ schnappte der Hausherr.
Verzweifelt suchte Norbert in seinem Kopf nach einer Antwort.
Mit einer Verbeugung soufflierte Elmar: „Der junge Nachfolger des Herrn Dreyfuß hat es von seinem Lehrer erfahren, den Ihr in dieser Angelegenheit herbestellt hattet. Ihr wurdet Euch seinerzeit nicht einig mit dem Herrn Dreyfuß.“
Dieser Kammerdiener hatte es offenbar faustdick hinter den Ohren, stellte Norbert überrascht fest. Der Ratsherr nickte grimmig. Sein Blick fiel auf Norberts Schwert, dann auf seine Ledermontur.
„Da sind Blutflecken auf deiner Lederjacke. Du scheinst nicht bloß hinterm Ofen zu hocken und gelehrten Kram aus Büchern in deinen Kopf hineinzustopfen.“
Norberts Trotz war herausgefordert: „Vor ein paar Tagen war ich im Gornwald, wo ich von einem Hexer magische Formeln geholt habe, die mein Meister gebraucht hätte. Ich hab mich da rausgekämpft aus der Wohnung des Hexers. Ich bin gerade noch rechtzeitig zurückgekommen, um die Banshee zu bannen, die das Feuer in der Unterstadt entfacht hat.“
Warum lachte der angebliche Ratsherr so schallend? Dieses Haus war Norbert ein einziges Rätsel.
„Er hat Zaubersprüche geraubt für seinen Herrn! Mit Waffengewalt!“ johlte der Hausherr. „Großartig. Elmar, du bringst mir den Richtigen!“
Es klang boshaft.
Der Ratsherr wurde wieder ernst: „Gut. Wie viel willst du dafür haben, mein Haus von diesem Spuk zu befreien?“
„Also... zwei Goldtaler,“ sagte Norbert aufs Geratewohl. „Aber vorher...“
„Zwei Goldtaler, um diesen Teufel auszutreiben?“ unterbrach ihn der Ratsherr. „Ich gebe dir zwanzig, wenn es dir gelingt.“
Elmar ächzte. Norbert fuhr zusammen. Zwanzig Goldtaler! Genau die Summe, die er brauchte, um beim Burgschmied in die Lehre zu gehen! Der Gornwald, die Jagdwaffen waren vergessen. Er konnte diesen Auftrag nicht ablehnen. Es musste ihm gelingen! Norbert verneigte sich.
„Ja, gut. Ich mache das – Herr,“ fügte er schnell an.
Immer vergaß er diese Höflichkeitsfloskeln. Aber der Hausherr schien ohnehin wenig Wert darauf zu legen.
Der Ratsherr blickte ihn streng an: „Unter einer Bedingung: keine Fragen!“
Die Sache wurde immer problematischer.
Norbert hörte sich sagen: „Wie Ihr wollt. Aber ich muss mich im Haus umsehen dürfen.“
Der Ratsherr sank in den Lehnstuhl zurück und blickte ins Kaminfeuer.
„Tu, was du zu tun hast. Ich werde wohl meinen Anteil dazutun müssen.“
„Ja, das hat Anton Dreyfuß zu allen gesagt, von denen er einen Auftrag angenommen hat,“ erinnerte sich Norbert. „Aber zuerst muss ich herausfinden, um was es sich handelt. Dann kann ich Euch sagen, was Ihr tun müsst.“
„Ich vermute, ich weiß es schon,“ murmelte der Hausherr bitter.
Norbert verneigte sich mit dem starken Gefühl, einen fatalen Fehler zu machen. Doch er hatte sich entschieden.
Der Ratsherr wandte sich an Elmar: „Bring mir Wein herauf. Hohenfelser Lornufer, den guten Jahrgang.“
Der Diener verneigte sich. „Euer bester Wein. Es sind nur noch zwei Flaschen davon da.“
„Genau. Bring mir beide.“
Elmar seufzte. Der Ratsherr machte eine wegwischende Geste zum Zeichen, dass das Gespräch beendet war.
Beim Hinausgehen stieß Norbert beinahe mit dem Ordensbruder zusammen, der unbemerkt in der Tür erschienen war. Der beleibte, kleine Mönch trat mit einer kurzen Verbeugung zur Seite.
„Darf ich dem ehrenwerten Herrn Ratsherrn von den heutigen Lernerfolgen seines Sohnes berichten?“
Norbert trat in die Mitte des von dem ausgestopften Bärenungetüm beherrschten Raums und versuchte, sich auf die jenseitige Bedrohung zu konzentrieren, die er überall spürte. Elmar blieb abwartend an der Flügeltür stehen. Er nahm die Dienerpose ein, die Norbert an einen traurigen Vogel erinnerte. Doch bei dem Geschrei aus dem Kabinett war an Konzentration nicht zu denken.
„Lernerfolge! Was glaubst du, was mich das Lesegestotter des großohrigen Rotzlöffels interessiert? Ob er sich das gelehrte Gequassel, das du in ihn hineinprügelst, merkt, oder nicht, ist mir egal!“
„Ich wollte den ehrenwerten Herrn Ratsherrn nur daran erinnern, das mir das vereinbarte Lehrergehalt des heutigen Tages noch nicht ausgezahlt worden ist.“
Das Brüllen steigerte sich zur Raserei: „Damit kommst du mir! Werde ich irgendwann einmal Ruhe haben vor euch Plagegeistern! Ihr seid schlimmer als der Höllenspuk in diesem Haus!“
Die Stimme des Mönchs blieb ruhig: „Es ist nur so, dass mir seit zwei Wochen kein Lehrergehalt ausgezahlt worden ist.“
„Dann machen ein, zwei weitere Tage ja wohl auch keinen Unterschied mehr! Heiliger Himmel! Komm morgen wieder. Morgen früh soll dir alles ausgezahlt werden.“
„Sehr gerne, Herr Ratsherr. Ich werde mir erlauben, den ehrenwerten Herrn Ratsherrn morgen daran zu erinnern.“
Der Mönch kam aus dem Kabinett und durchquerte mit gemessenen Schritten die Flügeltür in Richtung Treppenhaus. Sein blasses Gesicht zeigte keinerlei Regung.
„Morgen,“ hörte Norbert den Ratsherrn murmeln. „Wenn die Sonne aufgeht...“
Stille kehrte ein. Nur eine Frauenstimme weinte im gegenüberliegenden Raum hinter der Flügeltür. Norbert konzentrierte sich erneut. Er kämpfte gegen den lähmenden Horror an, der ihn überfiel. Da war das kaum beherrschbare Gefühl, von einem zum Sprung ansetzenden Raubtier fixiert zu werden. Irgendwo hallte grollendes Röcheln. Norbert murmelte einen Bannzauber und öffnete zugleich sein Bewusstsein, um zu sehen, was es war, das hier von drüben herüberdringen wollte. Da war ein Atemhauch unmittelbar an seinem Ohr. Tiefes Grollen - bestialischer Gestank wollte ihm die Sinne rauben.
„Rhe!“
Er riss das Schwert heraus und fuhr herum. Die Klinge leuchtete hell. An der Tür stieß Elmar ein Stoßgebet hervor.
Nichts zeigte sich. Norbert wusste, dass es in unmittelbarer Nähe war, aber er konnte es nirgends verorten.
Heftig atmend stand er mit vorgehaltenem Schwert und erwartete den Angriff aus dem Nichts. Es kam kein Angriff. Norbert zwang sich, sich auf das Diesseits zu konzentrieren, um nicht unversehens hinübergezogen zu werden von dem unsichtbaren Feind. Als nichts geschah, steckte er das Schwert wieder in die Scheide. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
Ich kann immer noch gehen. Ich kann einfach weggehen. Ich muss hier nicht sterben!
Er riss sich zusammen.
Zu Elmar sagte er: „Ich muss mich umsehen. Ich muss herausfinden, wo das herkommt – diese Anderwelterscheinung. Dann kann ich sie vielleicht bannen.“
Der Diener hob schicksalsergeben die Schultern. Er sagte nichts, aber es war ihm anzusehen, dass er überall lieber wäre, als in diesem heimgesuchten Stockwerk.
Drüben im Kabinett war das Bild des Ratsherrn von der Wand gefallen, überlegte Norbert. Es hatte eine Bodenvase zerschmettert. Aber Norbert mochte nicht dorthin zurückgehen, so lange der Hausherr dort saß. Eine besondere Anwesenheit – außer der ungreifbaren, feindlichen Gegenwart, die überall zu spüren war, hatte er im Kabinett nicht bemerkt. Sie wäre ihm aufgefallen.
Er betrat den schmalen Gang auf der rechten Seite. Flackernde Wandkerzen verbreiteten unruhiges Licht. Die getünchten Wände waren kahl. Im Erker stand eine Figur aus glattem Stein. Sie zeigte einen nackten Jungen in vorgebeugter Haltung. Er stützte sich mit der linken Hand auf sein Knie, in der anderen hielt er am ausgestreckten Arm eine Scheibe oder einen Teller nach hinten von sich weg. Das Standbild ergab keinen Sinn, fand Norbert. Elmar war ihm unauffällig gefolgt.
„Der Diskuswerfer,“ erklärte er.
Norbert wusste nicht, was ein Diskuswerfer war und er hatte keine Lust, nachzufragen. Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür gegenüber vom Erker hinunter. Sie war unverschlossen. Vor dem Fenster an der Seitenwand eines hohen Zimmers lag schwarz die Nacht. Ein Standleuchter neben der Tür warf unruhiges Licht in den Raum. Die Kerzen auf dem eisernen Deckenleuchter waren nicht entzündet. Unter dem Fenster stand eine Kommode, an der gegenüberliegenden Wand eine eisenbeschlagene Truhe und auf der linken Seite gegenüber dem Fenster ein großer Wandschrank. Zwischen den Möbelstücken hingen Wandteppiche. Sie schienen Jagdszenen zu zeigen. Der Leuchter stand dicht bei der Tür neben dem Wandschrank, so dass der hintere Raumbereich, wo die Truhe stand, im Schatten lag. Was sich in den dunklen Raumecken links und rechts von der Truhe befand, war nicht zu erkennen.
Die Truhe! Im fahlen, jenseitigen Licht, das sie umgab, konnte Norbert die schwere Truhe deutlich in der Finsternis erkennen. Ein Gefühl wie von tastenden Fingern rieselte ihm den Rücken herunter. Die Kerze auf dem Leuchter flackerte in einem plötzlichen eisigen Windhauch. Das Licht tanzte auf den Wandteppichen. Es sah aus, als wehten sie im Wind. Norbert trat auf den Gang hinaus und schloss die Tür. Er hatte gesehen, was er gesucht hatte.
„Was ist in der Truhe?“
„Keine Fragen!“ donnerte die Stimme des Hausherrn vom anderen Ende des Gangs her.
Norbert biss sich auf die Lippen. Es musste auch so gehen. Er ging durch den Gang zurück in den Raum mit der Flügeltür. Neben dem Bären stand der Ratsherr, angefletscht von dem ausgestopften Ungetüm. Sein brennender Blick begegnete Norbert. Norbert holte Luft und trat auf ihn zu. Sein Herz klopfte wie wild.
Will ich das? Soll ich das wirklich tun?
Zum Hausherrn hörte er sich sagen: „Ich muss mich vorbereiten. Es wäre besser, wenn nachher kein anderer mehr in diesem Stockwerk ist. Es könnte lebensgefährlich werden.“
Der Ratsherr nickte grimmig.
„Ja, das wird es wohl,“ murmelte er. „Tu, was du zu tun hast.“
Den Diener blaffte er an: „Den Wein, Elmar!“
„Sehr wohl, Herr. Ich eile.“
Aber Elmar folgte Norbert doch nur mit langsamen Schritten durch die Flügeltür.
Im vorderen Raum rang die Hausherrin mit von Tränen benetztem Gesicht die Hände.
„Was ist mit Hartmut? Was hat er, Elmar?“ weinte sie. „Was ist denn geschehen?“
Sie richtete ihren entsetzten Blick auf Norbert.
„Und was will dieser bewaffnete Schurke hier? Wer schickt ihn? Oh Elmar, ich spüre, dass etwas Schreckliches passieren wird!“
„Alles ist gut, gnädige Frau, macht Euch keine Sorgen,“ sagte der Diener im Vorbeigehen. „Der gnädige Herr ist wohlauf. Die schweren Geschäfte nehmen ihn sehr in Anspruch. Geht nur unbesorgt zu Bett. Ich richte Millie aus, sie möchte Euch einen Baldriantee zur Nacht bringen.“
Verzweifelt starrte die verhärmte Frau dem Diener und Norbert nach.
„Heilige Mutter von Altenweil,“ betete sie mit bebender Stimme. „Heilige Mutter, beschütze uns.“
***
Während sie durchs Treppenhaus hinuntergingen, raunte Elmar: „Jene Truhe im Erkerzimmer ist die alte Reisekiste des gnädigen Herrn aus der Zeit seiner, ähm,“ er räusperte sich, „Handelsreisen.“
In der dunklen Küche entzündete der Diener eine Kerze. Er blickte Norbert mit seinem traurigen Vogelgesicht an.
„Gutes Gelingen, junger Herr! Von der Dienerschaft wird über Nacht niemand im Haus sein. Sie alle und auch meine Wenigkeit verbringen die Nacht bis Tagesanbruch im Nebengebäude. Um die gnädige Frau mach dir keine Gedanken. Sie ist nervenkrank. Sie wird in ihrem Schlafzimmer bleiben. Der gnädige Herr wird, wenn ich nicht irre, noch eine Zeitlang im Kabinett verweilen und sich dem Wein widmen. Möglich, dass er geruht, dort in Schlaf zu fallen.“
Der Diener ließ Norbert allein, um dem Ratsherrn den Wein zu bringen.
Norbert setzte sich an den Küchentisch, stützte den Kopf in die Hände und starrte ins Kerzenlicht. Auf was hatte er sich da eingelassen! Jetzt wäre der Moment günstig, zu gehen – zur Tür hinaus über den Hof auf den Platz hinaus, den verruchten Ort hinter sich zu lassen, unverletzt und am Leben! Aber er brauchte das Geld! Auf welche andere Weise hätte er es sich verdienen können?
Er schloss die Augen. Um die Anderwelterscheinung aus dem Diesseits zu verbannen, musste er sie dazu bringen, sich zu... zeigen, oder so ähnlich. Dreyfuß hatte für alle diese Dinge andere, gelehrte Worte gehabt, die Norbert sich nicht merken konnte. Aber das wichtige war, es durchführen zu können, nicht, es erklären zu können. Wenn Norbert die wirkliche Gestalt – oder so ähnlich - der Geistererscheinung erkannte, konnte er hoffentlich herausfinden, was sie ans Diesseits fesselte. Und dann konnte er sie vertreiben – für eine Weile, hoffte er. Und schließlich konnte er den Hausbewohnern erklären, hoffentlich, was sie tun mussten, um die Ursache für die Heimsuchung zu beheben, damit sie nicht wiederkam. So hatte Dreyfuß es immer gemacht.
Dreyfuß hatte vor einem solchen Ex..., Exor..., Norbert konnte sich das Wort nicht merken – vor einer solchen Geisteraustreibung alle möglichen Hinweise darauf gesammelt, worum es sich handeln könnte. Auch die nebensächlichste Beobachtung konnte wichtig sein, um auf die richtige Spur zu kommen, hatte er immer betont. Wenn man erst einmal im Kampf war mit was auch immer es war, dann war es überlebenswichtig, so viel darüber zu wissen wie möglich. Was hatte Norbert also an Hinweisen erfahren? Da war diese alte Truhe. Melanie hatte einmal heimlich mit dem Sohn des Ratsherrn hineingeschaut. Sie hatte ihm gesagt, was darin lag. Er hatte es sich nicht gemerkt. Was hatte er noch herausgefunden? Sein Kopf war leer. Er konnte das nicht, was Dreyfuß „recherchieren“ nannte. Er war unter Siedlern im Wald aufgewachsen. Er hatte nie eine Schule besucht. Recherchieren, das war das Wort! Aber das half ihm auch nicht weiter.
Seufzend stand er auf. Vor dem Küchenfenster lag die Nacht. Gegenüber im Fenster des Nebengebäudes brannte Licht. Die Dienstleute waren anscheinend nicht schlafen gegangen. Vermutlich saßen sie da drüben, wo sie sich in Sicherheit wähnten, und warteten darauf, wie das Ganze ausgehen würde. Norbert war es recht. Im Herrenhaus wären sie ihm nur im Weg gewesen. Dreyfuß hatte den Hausbewohnern immer streng verboten, auch nur in die Nähe einer Geisteraustreibung zu kommen.
Die Stille wurde von dumpfem Poltern unterbrochen, wie wenn oben im Haus ein schwerer Gegenstand zu Boden stürzte. Stiefelschritte hallten auf den Dielen.
Es ging los. Norbert holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen.
Stern meiner Geburt, steh mir bei!
Er löschte die Kerze, ging auf den Gang hinaus und schloss leise die Küchentür hinter sich. Mit einem Zauberspruch ließ er magisches Licht aufleuchten. Er wollte die Stiege zum Hochparterre hinaufsteigen, als er ein Knarren von der Küche her hörte. Leise ging er zurück und legte das Ohr an die Tür. Tatsächlich, es war das Knarren einer Tür - der Küchentür, der einzigen anderen Tür, die in die Küche führte. Geflüster drang aus der Küche hinüber. Das Dienstpersonal hatte offenbar doch nicht vor, die Sache im Nebengebäude abzuwarten. Sie hatten ihn nur glauben machen wollen, sie würden nicht im Haus sein! Vielleicht hatten sie auch nur vermeiden wollen, dass er ihnen Fragen stellte. Norbert richtete er sich auf. Langsam, die Hand am Schwertgriff, ging er den Gang entlang zur Stiege. In diesem Haus waren alle verrückt! Es war ein Irrenhaus - ein von dämonischen Mächten heimgesuchtes Irrenhaus.
***
Die Kerzen im Hochparterre waren noch nicht heruntergebrannt und Norbert benötigte kein magisches Licht. Vor dem Heiligenbild in der Halle kniete die Hohenwarterin. Mit wiegendem Oberkörper und gefalteten Händen murmelte sie Gebete. Als Norbert durch die Halle schritt, fuhr sie zusammen und starrte ihm mit von Entsetzen verzerrten Gesichtszügen nach. Norbert versuchte, sie nicht zu beachten.
Im ersten Stock öffnete Norbert vorsichtig die Tür zum Kaminzimmer. Sehr wachsam und konzentriert trat er durch die Tür, die Hand am Schwertgriff, bereit, sofort einen Bannzauber zu wirken. Das Bild über dem Kamin war herabgestürzt und lag mit zerbrochenem Rahmen am Boden. Die Kerzen auf den Leuchtern neben dem Kamin flackerten in einem kalten Luftzug. Eisige Finger tasteten Norbert übers Gesicht, krochen ihm den Rücken herunter. Ein hohles Stöhnen drang wie von weit her an seine Ohren. Es hatte ihn bemerkt. Es wusste, dass er kam. Und sehr wahrscheinlich wusste es auch, wozu.
Hinter der Flügeltür knarrten schwere Schritte auf den Dielen, begleitet von einem Klirren, das Norbert nicht deuten konnte, weil er keine Stiefelsporen kannte.
Im Raum hinter der Flügeltür war niemand. Der ausgestopfte Bär gähnte verloren ins Leere. Die Tür zum Kabinett war geschlossen. Mit geschärften Sinnen trat Norbert durch die Doppeltür. Ein Hauch fuhr seine Wange entlang. Hohles Kreischen hallte durch das Stockwerk. In einem plötzlichen Windstoß erloschen die Kerzen. Norbert riss das Schwert aus der Scheide. Mit vorgehaltenem Schwert blieb er stehen. Mit aller Macht versuchte er, seinen Atem zu kontrollieren. Sein Puls raste. Die Schwertklinge strahlte hell auf. Schatten schienen im Raum zu tanzen.
Nicht ablenken lassen! Weiter! Zu spät, zu fliehen! Geh weiter!
Magisches Licht hervorzubringen hätte ihm nur die Konzentration geraubt. Auf alles gefasst, mit allen Sinnen auf jegliche noch so kleine Regung in der Dunkelheit achtend ging er weiter. Jeden Moment erwartete er den Angriff.
Da war es! Kehliges Grollen eines Raubtiers unmittelbar an seinem Ohr, übler Brodem eines aufgerissenen Mauls.
Er wirbelte herum, schrie den Bannzauber heraus: „Rhe!“
Sein Schwert blitzte auf. Scharfer Schmerz in seiner linken Schulter. Er fühlte warmes Blut herabrinnen. Im selben Atemzug schlug er zu. Ein krachender Lichtblitz leuchtete im Dunkeln auf.
Stille. Nichts war zu hören, außer Norberts eigenem, heftigem Atem, dem Pochen des Bluts in seinen Schläfen. Für den Moment hatte er es vertrieben, mit dem magischen Schwert und dem Bannzauber. Aber es konnte jeden Moment erneut losschlagen. Vorsichtig bewegte er die linke Schulter, dann den Arm, die Hand. Außer brennenden Schulterschmerzen war alles in Ordnung. Nur ein Kratzer! Die Lederjacke war zerfetzt, aber sie hatte das meiste abgefangen. Er ignorierte das in den Ärmel herabrinnende Blut und konzentrierte sich erneut auf seine Aufgabe.
Nicht nachdenken, du bekommst sonst Panik. Weiter! Weiter durch den Gang in den Raum gegenüber dem Erker, zur Truhe! Dort kannst du es stellen!
Vorsichtig, mit hellwachen Sinnen einen Fuß vor den anderen setzend, ging er mit vorgehaltenem Schwert voran. In der Tür zum Gang tanzte ein fahles Licht. Ein blutiges Schwert schwebte mitten in der Luft. Blut tropfte auf die Schwelle.
Nicht ablenken lassen! Geh weiter!
Die Erscheinung verschwand.
Im kalten, strahlenden Licht der Schwertklinge warfen alle Dinge unruhige Schatten durch den Raum. Durch die Fenster sickerte fahles nächtliches Halblicht. Von weit her drang Röcheln an Norberts Ohren wie von einem Sterbenden. Er trat über die Schwelle in den Gang. Das Röcheln wurde zum Brüllen. Ein heftiger Windstoß fuhr Norbert entgegen, steigerte sich zum Sturm. Fensterscheiben klirrten. Mit aller Macht stemmte Norbert sich gegen den Sturmwind, um nicht von den Füßen gerissen zu werden. Das Leuchten seiner Schwertklinge flackerte, als wollte es erlöschen.
„Rhe!“
Unendlich langsam schob er sich gegen den Sturm den Gang entlang. Es war, als müsse er eine unmögliche Steigung erklimmen. Der Sturm wollte ihm den Atem rauben. Norbert konzentrierte sich auf den Bannzauber. Um ihn her brüllte, orgelte die Luft.
Er hatte keinen Gedanken mehr, als: weiter! Geh weiter! Kämpfe es nieder!
Vor der Tür gegenüber dem Erker hörte der Sturm urplötzlich auf. Norbert stolperte vornüber und musste sich an der Wand abstützen. Sofort hatte er sich wieder gesammelt. Seine Schwerthand zitterte. Er versuchte, es zu ignorieren.
Das alles ist nur Vorspiel gewesen, nur Ablenkung. Jetzt beginnt der Kampf!
Und da war niemand, der ihm beistehen konnte.
Umkehren kam nicht in Frage. Er biss die Zähne zusammen, konzentrierte sich und öffnete die Tür.
Dunkelheit. Um die Truhe an der gegenüberliegenden Wand glühte blaues Anderweltleuchten. Vorsichtig betrat Norbert den Raum. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
Ein scharfer Knall. Die Fensterscheiben explodierten. Die Luft war voller Glassplitter. Sie bohrten sich in Norberts Ledermontur, rissen ihm Hände und Gesicht auf. Stechender Schmerz raubte ihm die Konzentration.
Meine Augen!
Er spürte Panik von der Brust durch die Kehle aufsteigen. Überall im Gesicht und in seinen Händen brannten Schmerzen. Im nächsten Augenblick hatte er sich wieder unter Kontrolle. Er öffnete die zusammengepressten Augen.
Den Sternen sei Dank – sie waren unversehrt.
Blut rann ihm übers Gesicht.
Das blaue Licht um die Truhe wuchs. Norbert konzentrierte sich auf einen Beschwörungszauber.
Wolfsgrollen unmittelbar neben ihm ließ ihn aufmerken.
Lonnie!
Die Wölfin stand neben ihm, zum Sprung geduckt, mit aufgerissenem Rachen und hochgezogenen Lefzen. Mit gelb glühenden Augen knurrte sie ihn an. Ihr Nackenhaar war gesträubt.
„Lonnie, was...“
Weiter kam er nicht. Die Wölfin sprang ihn an mit heulend aufgerissenem Rachen. Die Wucht, mit der sie sich ihm gegen die Brust warf, ließ ihn zur Seite taumeln. Es kam völlig unerwartet. Er schaffte es nicht, das Schwert hochzureißen. Ein dumpfer Schlag unmittelbar neben ihm. Die Dielen zitterten. Wo er eben noch gestanden hatte, rammte sich der eiserne Deckenleuchter in die Dielen. Er war mitten durch die Geisterwölfin hindurch gefallen. Norbert wäre tot gewesen.
Einem Moment stand er mit geschlossenen Augen und flatterndem Atem, am ganzen Körper zitternd. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Das schaffe ich nicht, es ist zu stark! Das bringt mich um! Ich habe es gleich gewusst! Stern meiner Geburt, hilf mir, lass mich hier heil wieder rauskommen!
Die Wölfin knurrte an seiner Seite. Kleine Schmerzschläge jagten ihm durchs Bein, als sie sich gegen seinen Oberschenkel presste. Es reichte, um ihn zur Besinnung zu bringen.
Reiß dich zusammen oder du stirbst! Es wird nur stärker, wenn du der Angst nachgibst!
Seine Konzentration war wieder da. Er richtete sich auf, ignorierte die Schmerzen und öffnete die Augen erneut. Neben ihm grollte die Wölfin mit drohend hochgezogenen Lefzen die Truhe an. Ihre gelben Augen glühten. Auf der Truhe kauerte eine Gestalt im blauen Licht. Sie hielt sich schützend den Arm vors Gesicht, als wollte sie etwas abwehren. Ein brüllender Windstoß von der Truhe her wirbelte Glassplitter durch den Raum. Norbert achtete nicht auf die umherfliegenden Splitter. Es ging um Leben und Tod. Mit aller Willensmacht zwang er den Sturm nieder. Es wurde still. Er sprach die Beschwörungsformel.
Die Gestalt bei der Truhe stolperte schreiend mit vorgehaltenen Armen zurück: „Nein, Nein, nicht!“
Der nächtliche Raum war nicht mehr da. Um Norbert breitete sich eine grasbewachsene Ebene unter grauem Wolkenhimmel. Er spürte kühle, klare Luft. Vor ihm mitten auf dem Karrenpfad stolperte der junge Mann, den Norbert auf der Truhe hocken gesehen hatte, vor einem anderen zurück, der Norbert den Rücken zugekehrt hatte. Beide trugen lederne Reisejacken und hohe, schlammige Stiefel. Der Norbert den Rücken zugekehrt hatte, riss sein Schwert aus der Gürtelschlaufe. Der andere hob entsetzt die Arme.
„Nein, Nein, nicht!“
Sein Hilfeschrei erstickte gurgelnd, als das Schwert ihm auf Arme und Kopf herabfuhr. Sein Haarschopf klaffte blutig auseinander. Er sackte mit verdrehten Gliedern zu Boden, das Gesicht ertrank in einer Blutlache, die schnell größer wurde. Der andere schlug kein zweites Mal zu. Mit gesenktem Schwert stand er vor dem Erschlagenen und beobachtete dessen letzte Zuckungen.
Die Stimme eines Mannes erklang hinter Norberts Rücken: „Er ist tot. Du hast ihn ermordet, Hartmut!“
Der Angesprochene drehte sich um. Das blonde Haar hing ihm in schmutzigen Strähnen ins Gesicht. Er deutete mit dem blutigen Schwert auf jemanden hinter Norbert.
„Ja, er ist tot. Jetzt müssen nur wir beide uns noch einig werden, Ulf!“
Die Stimme in Norberts Rücken keuchte.
„Alles gut, Hartmut, alles gut!“ Schwer atmend redete sie weiter: „Es gehört alles dir. Du hast ohnehin den Löwenanteil der Dreckarbeit erledigt. Es ist alles deins. In Ordnung?“
Der Mörder senkte das Schwert. Unerbittlich blickte er an Norbert vorbei dem anderen entgegen.
„Mach, dass du verschwindest, Ulf, bevor ich bereue, dass ich dich ziehen lasse!“
In Norberts Rücken schnaubte ein Pferd.
„Wenn wir uns eines Tages wiedersehen,“ erklang die Männerstimme, „dann wird alles sehr anders sein als jetzt, Hartmut!“
Pferdeschnauben, Hufgetrappel entfernte sich. Der Mörder blickte dem davon Reitenden mit verkniffenem Gesicht nach. Die Vision verschwand.
Das dunkle Zimmer war wieder da, die Schmerzen, das Blut. Norbert musste es sich aus der Stirn wischen, damit es ihm nicht in die Augen rann. Brennender Schmerz durchfuhr seine Schulter, als er den Arm bewegte.
Die Gestalt des jungen Straßenräubers auf der Truhe hielt die Arme vor ihren blutig zerspaltenen Kopf, als wollte sie die Wölfin abwehren, die zum Sprung angesetzt der Erscheinung entgegen grollte.
Lonnie hält ihn in Schach! Wir haben ihn!
Seit gestern wusste Norbert, dass der Ritualgesang des schwarzen Hexers auf Untote dieselbe Wirkung hatte, wie Dreyfuß‘ komplizierte Apparate und Bannrituale: er konnte sie aus dem Diesseits verbannen. Norbert nahm alle Kraft zusammen, die er noch hatte, und stimmte den Ritualgesang an. Die Erscheinung gab ein Kreischen von sich. Norbert spürte den verzweifelten, wütenden Willen, der gegen seinen eigenen ankämpfte, sich ans Diesseits klammerte. Norberts Körper zitterte vor Erschöpfung. Die Sicht begann ihm zu verschwimmen. Dennoch spürte er, wie der Bannzauber begann, seine Kraft zu entfalten. Es war, als würde der Untote fort gesogen ins blaue Licht.
Jemand keuchte bei der Tür in Norberts Rücken.
„Heilige Jungfrau!“ flüsterte eine Stimme.
Norbert brüllte: „Zurück! Weg von der Tür!“ ohne den Blick von dem Untoten zu wenden.
Er hatte keine Zeit, sich um den oder die Wahnsinnige zu kümmern, die so irre war, mitten in einen Kampf mit einem Anderweltwesen hineinzuplatzen. Er konzentrierte sich auf den Ritualgesang. Unvermittelt wurde er zur Seite gerempelt. Er stolperte über den Deckenleuchter, verlor die Konzentration. Der untote Straßenräuber kam zurück. Mit entstelltem, blutigem Gesicht stand er vor der Truhe, schrie gurgelnd auf.
„Bei allen Sternen! Du machst alles zunichte!“ stieß Norbert hervor, während er sich hastig aufrappelte.
Neben ihm stand der Ratsherr. Das blonde Haar hing ihm wild ins Gesicht. Der Mantel war ihm halb von der Schulter gerutscht. Er stand vornübergebeugt und schwankend. Wie gelähmt starrte er die Erscheinung an.
Der Untote krallte nach dem Hausherrn: „Hartmut!“
„Hier bin ich,“ murmelte der Ratsherr.
Noch ehe Norbert handeln konnte, stürzte der Untote sich heulend auf den Ratsherrn: „Gib mir mein Leben zurück!“
Norbert holte mit dem Schwert aus, aber sein Schlag kam zu spät. Der Untote umklammerte den Ratsherrn. Ein gleißender blauer Lichtblitz. Ohrenbetäubendes Krachen. Blaue Flammen überall.
„Rhe, voris chtha rhe!“ schrie Norbert den Abwehrzauber.
Der Körper des Ratsherrn sackte plump zu Boden, blieb leblos liegen. Die Wandteppiche standen in Flammen, blaue Feuerzungen leckten über den Boden.
„Voris rhe!“
Das Feuer erlosch. Das Zimmer sank ins Nachtdunkel. Durch das zersprengte Fenster fiel fahles Mondlicht. Der Schimmer um die Truhe war verschwunden. Norberts Schwert strahlte nicht mehr. Der Spuk war vorbei. Für immer.
Fassungslos stand Norbert vor der verbrannten Leiche des Ratsherrn. Ein gellender Schrei erscholl an der Tür. Die Hohenwarterin stand da und presste sich die Hände an den Kopf. Blanker Terror füllte ihre schreckgeweiteten Augen.
„Nein, oh nein, das ist nicht wahr! Oh heilige Mutter! Nein!“
Jammernd warf sie sich über den Leichnam, zerrte schluchzend und schreiend am Kragen seiner Jacke, als könnte sie ihn damit wieder zum Leben erwecken.
„Hartmut! Mein geliebter Gemahl! Oh nein, bitte tu mir das nicht an!“
Norbert wischte sich Blut von den Augenbrauen. Bei jeder Gesichtsregung jagten ihm die Glassplitter Schmerzen durch die Haut. Aus seinem linken Jackenärmel tropfte Blut. Dumpfe Schmerzen wühlten in seiner Schulter. In der Tür erschienen die Umrisse des Dieners und der Köchin. Der Verwalter, die Magd, das Mädchen, der Hausknecht drängten sich hinter ihnen in den Raum. Alle starrten stumm auf die Hohenwarterin und die Leiche des Hausherrn. Niemand beachtete Norbert.
Zögernd ging Norbert um den eisernen Deckenleuchter herum zur Tür. Die Dienstleute machten ihm Platz. Niemand schaute ihn an. Langsam ging er den Gang hinunter, das Wehklagen der Hohenwarterin hinter sich lassend, vorbei an dem ausgestopften, grinsenden Bären durch die Flügeltür und hinab in die Halle. Er ging an dem Altarbild des Mädchens mit den verdrehten Augen und dem Hirschkitz im Schoß vorüber und über die Küche in den Hof. Die Gassenhunde, die im nachtdunklen Hof nach Fressbarem schnüffelten, nahmen vor ihm Reißaus. Erst auf dem im fahlen Mondlicht liegenden Platz merkte er, dass er das Schwert noch immer in der Faust hielt. Er steckte es in die Scheide und machte sich auf den Weg ins Armenviertel, schwankend vor Erschöpfung.