Читать книгу Schatten der Anderwelt - Thomas Hoffmann - Страница 6
3.
Оглавление„Halt still!“
„Oh verdammt, du reißt mir die ganze Haut auf!“
„Unsinn, ich muss dir die Glassplitter herausziehen. Lehne dich zurück in den Stuhl! Und halt still!“
Norbert saß in dem mit Decken ausgelegten Lehnstuhl an der Feuerstelle des Schankraums im Gasthof zum schwarzen Raben und zuckte bei jedem einzelnen Splitter zusammen, den die Harfenspielerin ihm aus der Gesichtshaut zog. Ihr konzentriertes Gesicht war nahe seinem und er konnte den frischen Duft ihrer blonden Haare riechen. Sie trug die Haare offen und warf sie jedes Mal mit einer Handbewegung über die Schultern zurück, wenn ihr Haar auf Norberts dreckstarrende Wolljacke herunterfiel. Seine Lederjacke hing über einer Stuhllehne. Noch immer tropfte Blut aus dem zerrissenen Ärmel, wenn Norberts Schulterwunde auch durch einem Heilzauber der Bardin bereits verheilt war. Und wie am Abend zuvor hatte ein Schluck von dem magischen Elixier der Bardin Norbert von seiner abgrundtiefen Erschöpfung befreit.
Jetzt fuhr sie mit den Fingern dicht über seine Gesichtshaut und zog Splitter für Splitter mit einer magischen Formel heraus.
Norbert fuhr auf: „Aua, verdammt nochmal!“
Nüchtern, ohne in ihrer Tätigkeit innezuhalten, meinte sie: „Du lässt dich alleine, auf eigene Faust, auf einen Kampf auf Leben und Tod mit einem Poltergeist ein und jetzt schreist du bei jedem Splitterchen, als würdest du massakriert! Warum hast du nicht gesagt, was du vorhast?“
Norbert hatte Schweißperlen auf der Stirn.
„Was hätte das schon geändert? Lonnie hat mir geholfen. Au, sei doch vorsichtig!“
Am Tisch bei der Feuerstelle saßen Gordon und der weißhaarige Magier und beobachteten, wie Norbert verarztet wurde. Weiter hinten im Schankraum wischte Sarah Tische ab und stellte Stühle hoch. Norbert hatte geglaubt, zu dieser Nachtstunde würde niemand im Gasthof mehr auf sein, aber es schien, die drei und Sarah hatten auf ihn gewartet.
Die Harfenspielerin zog den letzten Splitter aus Norberts Gesicht, bewegte ihn an ihrer Fingerspitze hängend über den Tisch und ließ ihn auf den Haufen Glassplitter fallen, der sich dort angesammelt hatte. Sie fuhr Norbert mit der Hand übers Gesicht, wie sie es zuvor schon mit seinen Händen gemacht hatte und murmelte eine Zauberformel. Norberts Gesichtshaut juckte. Er betastete sein Gesicht vorsichtig mit den Händen. Alles schien heil. Er hatte geglaubt, die blonde Magierin hätte ihm die gesamte Haut vom Gesicht geschält.
Seufzend stand er auf und ging zu Gordon und dem Alten an den Tisch. Gordon schob ihm einen Humpen Bier hin. Norbert trank gierig. Er atmete tief durch, als er den Humpen absetzte. Aus irgendeinem Grund meinte er, sich rechtfertigen zu müssen.
„Es hätte ja, verdammt nochmal, geklappt. Ich hatte den Untoten ja schon unter Kontrolle, mit Hilfe von Lonnie. Ich war dabei, ihn, wie sagt man das, auszutreiben, oder so, und es wäre auch gelungen, wenn dieser Hartmut Hohenwart sich nicht dazwischengedrängt hätte. Die waren alle völlig kirre in dem Haus, völlig durchgeknallt.“
Der Alte lehnte sich vor.
„Es ist dir doch gelungen, Junge! Dass dieser Ratsherr seine Schuld nicht mehr ertragen hat, da hast du nichts mit zu tun. Eigentlich hätten sie dich bezahlen müssen.“
Norbert zuckte verbittert die Achseln.
„Was nützt das jetzt schon? Es kommt so oder so aufs Gleiche hinaus. Irgendwie scheint alles umsonst zu sein, was ich mache!“
Der alte Zauberer schüttelte den Kopf.
„Nein, Junge, du hast eben Pech gehabt. Nächstes Mal kann es wieder anders sein. Wir alle haben irgendwann schon mal 'ne Pechsträhne gehabt. Ich bin jetzt achtundsechzig Jahre alt. Was glaubst du, wie viel mir in meinem Leben schief gegangen ist, wie vieles einfach völlig daneben ging? Und lohnt es sich da nicht erst recht, zu leben? Immer wieder was Neues anzufangen? So ist das Leben! Sogar unser Wirt hier hat ein Auge verloren, um...“
„Davon muss hier jetzt nicht geredet werden,“ unterbrach Gordon ihn barsch.
Der Alte hielt mitten im Satz inne.
Leise meinte er: „Wie du meinst. Ich dachte nur, der Junge...“
„Das ergibt sich schon!“ knurrte Gordon.
Norbert wusste nicht, wovon die Rede war.
Sarah kam an den Tisch und setzte sich neben Norbert. Mit einer schnellen Kopfbewegung warf sie ihren Pferdeschwanz über die Schulter zurück. Sie betrachtete Norberts dreckige Wolljacke und rümpfte ganz leicht die Nase.
Eine blöde Bemerkung von dir kann ich jetzt gerade gebrauchen! dachte Norbert wütend.
Aber sie sagte: „Mark war hier, bis vor zwei Stunden. Er hat auf dich gewartet.“
„Aha? Ja, schade, dass ich ihn nicht mehr getroffen hab.“
Norbert war nicht in der Stimmung, über irgendwas zu plaudern.
„Er hat berichtet, der Markgraf verlangt, dass du auf die Burg kommst. Spätestens morgen. Der Markgraf will mit dir sprechen.“
Stern meiner Geburt! Der Markgraf!
Norbert war erst zweimal oben auf der Burg gewesen. Beim ersten Mal, als er auf eigene Faust den Burgschmied aufsuchte, war ihm vom Anblick der Geschundenen im Burghof, des in einem Käfig aufgehängten zum Tode Verurteilten, der bei lebendigem Leib von Krähen gefressen wurde, dermaßen übel geworden, dass er sich nach seiner Rückkehr zum Turm erbrechen musste. Beim zweiten Mal sollten Dreyfuß und er in einem Gerichtsverfahren vor dem Markgrafen die Schuld oder Unschuld einer Angeklagten beweisen. Die Gefolterte konnte nicht mehr stehen, als die Kerkerknechte sie hereinschleppten. Sie starb noch während der Gerichtsverhandlung an den Folgen der Folter.
Und jetzt befahl der Markgraf Norbert, vor ihn zu treten! Nach der Katastrophe, den Verwüstungen und den unzähligen Toden, die sein Lehrmeister in der Stadt verursacht hatte! Erschreckt starrte Norbert auf seinen Bierhumpen.
„Aha. Danke, dass du's mir ausgerichtet hast.“
Sarah bemerkte seine Wortkargheit und stand auf. Sie machte die Andeutung eines Schnupperns und rümpfte noch einmal die Nase.
Im Weggehen bemerkte sie: „Ich hab in der Waschkammer eine Kerze brennen lassen. Das Waschwasser ist noch warm. Wenn du Lust hast, kannst du dich waschen, bevor du ins Bett gehst. Keine Sorge, du hast die Kammer garantiert für dich allein. Jetzt stört dich da niemand!“
Norbert kochte innerlich.
Aufspringen, das Schwert rausreißen und ihr mit einem Kriegsschrei den Pferdeschwanz abschlagen!
Gordon und die Harfenspielerin sprachen miteinander über irgendetwas. Ihren unbeteiligten Gesichtern nach zu urteilen schienen sie nicht zugehört zu haben.
Die Bardin rückte vom Tisch ab, setzte die Harfe auf ihren Schoß und spielte leise ein paar Klänge, die sich zu einer verhaltenen Melodie über dunklen, tiefen Akkorden entwickelten. Immer wieder wollten die tiefen, schweren Klänge die schüttere Melodie übertönen, doch bei jedem Aufbranden dunkler Akkorde wurde die Melodie deutlicher, stärker. Endlich mischte sich eine andere, rhythmisch voranschreitende, klare Melodie in das Spiel. Die beiden Melodien erhoben sich über die dunklen Klänge, verdrängten sie, wurden zu einem Lied voller Siegesgewissheit und Freude.
Norbert lauschte mit geschlossenen Augen. Die Musik legte sich wie eine heilende Hand auf sein verbittertes, wundes und enttäuschtes Herz, linderte den Schmerz in seiner Brust. Er ließ die bitteren Gedanken und Erinnerungen fahren, ließ sich treiben mit der Musik. Als die letzten Harfentöne verklangen, stand er auf, nickte Gordon noch einmal zu und verließ den Schankraum, um schlafen zu gehen.
***
In der Waschkammer zog Norbert seine Sachen aus, benetzte seinen Körper mit Wasser und schrubbte sich Staub, Dreck und verkrustetes Blut von der Haut. Er schüttete sich warmes Wasser über den Kopf und massierte prustend sein Gesicht, als könnte er mit dem Schmutz der vergangenen Wochen auch die bösen Erinnerungen aus seinem Kopf spülen. Und es kam ihm wirklich so vor, als könnte er das noch immer an seiner Haut klebende Entsetzen von sich abwaschen und einen Schlussstrich ziehen unter das Vergangene: die Hölle von Darulans Haus, sein Sehnen nach Melanie und dem kleinen Zimmer bei Elena, die irrsinnigen Experimente und Anderweltfahrten im Gefolge seines Lehrmeisters. Als könnte er all diese Erinnerungen ein für alle Mal von sich abschütteln und neu anfangen.
Er wusch sein Leinenhemd mit der Kernseife, die auf dem Rand des Waschbottichs lag, wrang es aus und zog es sich nass über den Leib, drückte die wollene Schlupfjacke im Wasser durch, presste das Wasser heraus und breitete sie auf der Bank zum Trocknen aus. Sie war an der Schulter arg zerfetzt, aber andere Sachen hatte er nicht. Von der Lederhose wusch er den Dreck ab, bevor er sie anzog. Die Stiefel waren ihm gleichgültig. Im Schlamm der Gassen blieben sie ohnehin nicht sauber. Seine Lederjacke hatte er im Schankraum vergessen. Er mochte nicht zurückgehen und sie holen. In Hose und Hemd ging er hinauf in sein Zimmer. Er stellte das Schwert ans Kopfende des Bettkastens – habe immer deine Waffe bereit! So sehr war er bereits vom Abenteurerdasein geprägt - und warf sich ins Bett.
Er fand keinen Schlaf. Aufgewühlt von den Schrecken der vergangenen Tage warf er sich zwischen den Laken umher. Erst jetzt, da die fiebernde Anspannung nachließ, in der er sich befunden hatte, seit er auf der Landstraße die Rauchwolken über den Mauern Altenweils erblickt hatte, brach das Entsetzen über das Geschehene in ganzer Schwere über ihn herein.
Noch vorgestern früh nach dem Morgenimbiss hatte er vor der Herberge in Köhlershofen gesessen und geglaubt, er habe alles Grauen hinter sich, hatte sich Pläne voller Hoffnung zurechtgelegt. Und nun... was war ihm geblieben?
Visionen von splitterndem Glas und lodernden Flammen standen ihm vor Augen, dazwischen Schreie Verbrannter und das Kreischen von Dämonen. Das grässliche Geräusch, mit dem der Eisenleuchter sich haarscharf neben ihm in den Boden rammte.
Elenas boshafte Greisenstimme: „Hat ihren Traumprinz gefunden, das dumme Mädchen!“
Stöhnend vor Qual wälzte Norbert sich umher. Das nasse Hemd klebte ihm am Leib. Unvermittelt kam ihm Ruths entsetztes Gesicht in den Sinn, im nächsten Augenblick von seinem Schwert in einen Blutklumpen verwandelt. Ihr gurgelnder Schrei beim Sturz in den Abgrund. Norbert fuhr zusammen. Darulan! Würde der Hexer ihn nicht verfolgen? Würde er nicht Rache nehmen für den Mord, den Norbert verübt hatte, den Diebstahl des Ritualgesangs, die Flucht aus der Gefangenschaft in seinem Haus? Er hatte auch Lonnie verfolgt. Vor zwanzig Jahren in Köhlershofen hatte sie sich im Brunnen ertränkt, um nicht von dem Hexer in die Hölle zurückgeschleppt zu werden, der sie entkommen war. Erst vor wenigen Tagen hatte sie Norbert ihr Schicksal offenbart.
Mit einem Ruck setzte Norbert sich auf. Durch das halbgeöffnete Pergamentfenster fiel bleiches Mondlicht ins Zimmer. Jeden Moment glaubte er, die Lederschwingen eines großen Flughunds vor dem Fenster auftauchen zu sehen. Mit einem Satz war er beim Fenster und schloss die Fensterflügel. Mit rasendem Puls kauerte er sich zurück aufs Bett, lehnte sich mit angewinkelten Beinen mit dem Rücken gegen die Wand. Der Hexenmeister war alles andere als dumm. Schon bei Norberts Ankunft in seinem Haus hatte Darulan ihn für einen Abenteurer gehalten. Er würde wissen, wo er nach Norbert suchen musste!
Erst nach durchwachten Stunden, die Norbert wie eine Ewigkeit vorkamen, als das Licht des untergehenden Monds rötlich wurde, verwandelte sich das Entsetzen in Norberts Kopf in dumpfe Leere. Er legte sich zusammengekauert aufs Bett, tastete nach seinem Schwert und schloss die Augen. Irgendwo im Haus erklangen Harfentöne. Norberts Angst beruhigte sich. Er fiel in traumlosen Schlaf.
***
Als er wach wurde, war der Morgen bereits angebrochen. Benommen schälte er sich aus den Laken und setzte sich auf. Es dauerte eine Weile, bis die bleierne Müdigkeit nachließ. Nach dem kurzen Schlaf zitterte sein Körper in der Morgenkälte. Er zog Rotz hoch, wischte sich die Nase mit dem Handrücken und streifte die Hand am Bettlaken ab. Dann massierte er sein Gesicht. Er schämte sich wegen der Angst in der Nacht.
Im hellen, nüchternen Morgenlicht schienen alle Schrecken weit weniger bedrohlich. Es würden sich immer Wege finden, hatte Gordon ihm einmal gesagt. Der Hexenmeister mochte mächtig sein, aber letzten Endes war er doch nur ein Mensch. Und auch Norbert beherrschte Magie! Mit wütender Entschlossenheit biss er die Zähne zusammen. Ein Feind mehr, der ihm auf den Fersen war – was machte das schon aus? Im Gornwald würde Lonnie, die Wolfsbanshee, an seiner Seite sein. Zu zweit würden sie dem Hexer gewachsen sein, sollte er es wagen, in ihre Nähe zu kommen.
Während er sich anzog, überlegte er, was er als nächstes tun sollte. Der Markgraf verlangte, dass er auf die Burg kam. Womöglich, um sich für die Katastrophe zu verantworten, die sein Meister verursacht hatte. Oder auch nur, weil der Markgraf ihn ausfragen wollte – ihn gar noch im Schindturm von seinen Folterknechten verhören lassen wollte. Besser, er ging gar nicht erst hinauf. In der Stadt konnte er sich gegen die Kriegsknechte zur Wehr setzen, sollten sie versuchen, ihn zu stellen. Oben auf der Burg war er in der Falle. Am besten, er verließ die Stadt so schnell wie möglich. Vielleicht borgte Gordon ihm Geld für einen Jagdbogen. Vermutlich wusste der Wirt des Schwarzen Raben, wo Norbert Jagdbogen und Pfeile auftreiben konnte.
Er verließ das Zimmer und ging hinunter in den Schankraum.
***
Aus der Waschkammer holte er seine wollene Schlupfjacke und streifte sie noch feucht über. In der Tür zum Schankraum schlug ihm Wärme entgegen. Ein Feuer prasselte auf der Feuerstelle. Der Schankraum war leer bis auf Gordon und die Bardin, die am Tisch bei der Feuerstelle zusammensaßen. Neben dem vierschrötigen, riesigen Wirt, dessen aufgekrempelte Kittelärmel sich über seinen Oberarmmuskeln spannten, sah die schlanke Frau in ihrer eng anliegenden, weichen Lederkleidung beinahe zierlich aus. Ihr blondes, offen über die Schultern herabfließendes Haar glänzte seidig. Sogar ihre Stiefel waren sauber, stellte Norbert mit Verwunderung fest.
Es wäre ihm lieber gewesen, der Harfenspielerin nicht begegnen zu müssen. Aber sich in eine Ecke des Gastraums zu verdrücken kam nicht in Frage. Er setzte sich zu den beiden an den Tisch. Gordon nickte ihm zu. Norbert wusste, dass der harte Blick, den der Wirt ihm aus seinem gesunden Auge zuwarf, freundschaftlich gemeint war. Gordon stemmte die Arme auf den Tisch und stand auf.
Mit einem geknurrten: „Frühstück ist fertig,“ ging er nach hinten zur Küche.
Norbert blickte stumm auf die Tischplatte. Ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte. Die blonde Abenteurerin – Bardin, Magierin oder was auch immer sie sein mochte – betrachtete ihn schweigend aus ihren hellen, seltsamen Augen, die Norbert nicht ansehen konnte, ohne irritiert zu sein. Sie war einen halben Kopf größer als Norbert, so dass er den Eindruck hatte, von oben herab von ihr angeschaut zu werden. Es war ihm peinlich, so stumm neben ihr zu sitzen, aber es wollte sich beim besten Willen kein Gedanke einstellen, den er hätte äußern können. Also schwieg er und nickte nur leicht mit dem Kopf in ihre Richtung, um nicht wie eingefroren dazusitzen.
Es war die Bardin, die endlich das Schweigen brach: „Ich komme mit auf die Burg zum Markgrafen.“
„Wie?“ Norbert blieb der Mund offen stehen.
Völlig aus der Fassung gebracht stotterte er: „Ich wollte ja gar nicht... ich hatte gar nicht vor...“
„Wir gehen zusammen hin,“ sagte sie.
Ihr Gesicht war offen und freundlich aber da war etwas in ihrem Blick, das es Norbert unmöglich machte, ihr zu widersprechen.
„Ja, danke,“ murmelte er, völlig überrumpelt von der neuen Wendung der Ereignisse.
Gordon kam herein und brachte einen Bierhumpen und einen Teller voller Rührei, gebratenem Speck, dicken Bohnen und Brot. Er stellte Teller und Bierhumpen vor Norbert hin.
„Geht aufs Haus,“ brummte er, als er Norberts verlegenen Blick sah.
Und wieder konnte Norbert nur „danke“ murmeln.
„Zu zweit werden wir oben auf der Burg keine Schwierigkeiten bekommen,“ erklärte die Bardin, während Gordon sich zu ihnen an den Tisch setzte.
Norbert war froh, sich mit den Essen beschäftigen zu können. Er aß mit den Fingern und wischte sich zwischendurch Mund und Nase mit dem Handrücken.
„Ich glaube eigentlich nicht, dass es Ärger geben wird,“ meinte die Bardin mit dieser sanften Stimme, die keinen Widerspruch duldete, „aber bei Grafen, Fürsten und Königen ist es besser, mit allem zu rechnen.“
Norbert fand endlich seine Sprache wieder. Er ließ sich doch von dieser Frau nicht einschüchtern! Egal, wie bestimmt sie sagte, was sie meinte.
Mit vollem Mund nuschelte er: „Du musst da nicht mit hinkommen. Ehrlich nicht. Ich komme schon irgendwie allein zurecht.“
Sie wechselte einen Blick mit Gordon.
Sanft antwortete sie: „Ich hatte sowieso entschieden, noch eine Weile in der Stadt zu bleiben. Da bietet es sich ja an, zusammen hinauf zu gehen.“
Sie schaute ihn an, offen, vertrauensvoll und zugleich sicher und fest.
„Du musst nicht alles alleine machen. Wir und alle, die zum freien Volk gehören, halten zueinander. Niemand von uns macht irgendwas im Alleingang, wenn es nicht absolut unumgänglich ist.“
Norbert konnte ihren Blick nicht erwidern.
„Ist schon in Ordnung,“ murmelte er. „Danke.“
Dabei hatte er völlig andere Pläne gehabt. Es wurmte ihn, dass diese Frau ihm so rätselhaft war.
Und jetzt schaute er sie doch trotzig an: „Und wie heißt du?“
Sie schwieg kurz, bevor sie antwortete: „Sag Aila zu mir. Unten im Süden nennen sie mich Diana. Aber was bedeuten schon Namen.“
„Ich kann auch Diana sagen, wenn du willst.“
„Nein,“ entschied sie mit einem Blick auf Gordon. „Der Name passt hier nicht. Ich bin Aila, in Ordnung?“
Norbert begriff nicht, warum Aila besser „hierher“ passen sollte, als Diana. Aber wenn sie es so wollte...!
Er aß seinen Teller auf und trank das Bier. Dann stand er auf.
„Ich gehe mein Schwert holen.“
Ailas Gesicht zeigte einen Anflug von Lächeln: „Bis gleich.“
Er nahm seine Lederjacke von der Stuhllehne, über die er sie am Abend zuvor gehängt hatte und stutzte überrascht.
„Die Schulter ist geflickt! Und jemand hat die Jacke sauber gemacht!“
Das Lächeln stand immer noch in Ailas sonst so ernstem Gesicht.
„Eine Kleinigkeit. Das hab ich gestern noch nebenbei gemacht.“
Norbert prüfte den stabil aufgenähten Lederflicken.
„Wo hattest du das Leder her? Und das Werkzeug? Bei dem festen Rindsleder war das keine Kleinigkeit! Leder nähen ist echte Viecherei. Bei so steifem Leder erst recht!“
„Ich hab nicht lange gebraucht,“ meinte sie nur.
Norbert streifte die Jacke über. Zweifelnd sah er die hochgewachsene, schlanke Magierin an. Diese Frau wurde ihm immer unheimlicher. Mit unverstellter, sanfter Miene schaute sie zurück.
Während er zur Flurtür ging, murmelte er: „Wenn ich auch mal was für dich tun kann, sag Bescheid.“
„Alles in Ordnung. Mach dir keine Gedanken,“ war ihre Antwort.
***
Als er in den Schankraum zurückkam, standen Aila und Gordon an der Eingangstür im Gespräch zusammen.
„Es ist meine Aufgabe,“ sagte sie zu Gordon. „Aus diesem Grund sind wir hier, du und ich.“
Sie brachen ihr Gespräch ab und blickten Norbert entgegen. Überrascht stellte Norbert fest, dass Aila einen aufgespannten, großen Jagdbogen und einen Köcher mit Pfeilen über der Schulter trug. Er trat zu den beiden.
„Wenn du willst, können wir rauf gehen zur Burg,“ meinte er zu Aila.
Es hörte sich gröber an, als er gewollt hatte. Aila nickte nur. Gordon und sie wechselten noch einen Blick und Norbert und Aila traten zur Tür hinaus.
Auf der Mauergasse standen Frauen und Männer in schäbigen, geflickten Kleidern und Kitteln zusammen. Die Anwohner aus den Baracken um den Steinbau des Gasthofs zum schwarzen Raben steckten die Köpfe zusammen und schimpften erregt über irgendwelche Neuigkeiten. In Lumpen gekleidete Kinder balgten miteinander oder zerrten weinend an den Röcken ihrer Mütter.
Aila und Norbert bahnten sich ihren Weg durch die aufgebrachten Gruppen von Anwohnern des Armenviertels. Es war kühl. Die Luft war feucht von winzigen Tröpfchen, die ab und zu aus der grauen Wolkendecke nieselten. Aila ging weit ausschreitend mit federnden Schritten. Sie bewegte sich geschmeidig und aufrecht. Fast schien es, als würden ihre schlanken Stiefel den Boden kaum berühren. Norbert warf einen Blick auf ihren Bogen und Köcher.
„Du bist Jägerin!“
„Ja,“ sagte sie einfach und schaute ihn mit hellen, ernsten Augen an. „Du bist auch ein Jäger, Norbert. Das habe ich sofort gesehen.“
„Wie kann man mir das ansehen?“ wunderte sich Norbert.
„Andere sehen es dir wohl nicht an,“ meinte sie nüchtern. „Aber ich habe es gleich erkannt.“
Warum war diese Frau so seltsam? Sie verwendete keine Fremdwörter einer Gelehrtensprache, wie Anton Dreyfuß es getan hatte, und dennoch verstand Norbert oft nicht, was sie sagte.
Er blickte ihr direkt ins Gesicht: „Du siehst mehr als andere, nicht wahr?“
„Ja,“ war ihre Antwort. „Ich möchte nicht, dass du darüber sprichst. Zu mir nicht und nicht zu anderen.“
Norbert war keinen Deut schlauer.
„Du bist eine Elbin, nicht wahr?“ startete er einen neuen Versuch.
„Ich bin eine Tochter Landorlins.“
Norbert nahm es als Bestätigung.
Auf dem freien Platz um einen Brunnen drängte sich in Lumpen gekleidetes Stadtvolk um einen Fähnrich, der von zwei Kriegsknechten flankiert wurde. Die Knechte umklammerten ihre aufgepflanzten Piken nervös mit den Fäusten. Die stoppelbärtigen Männer in speckigen Lederrüstungen blickten grimmig in die Menge.
„Blutsauger, Hundsfötte,“ schrien einzelne Frauenstimmen in der Menge. „Geht in die Oberstadt! Die reichen Wänste haben Platz und Fressen genug in ihren Häusern!“
„Im Namen des Markgrafen Lothar!“ brüllte der Fähnrich mit Donnerstimme. „Ich lasse jeden in den Block schließen, der den Erlass nicht ausführt. Und wenn ich ganze Gassen lang reihenweise Blöcke aufstellen muss! Jeder von euch nimmt in seinem Haus eine Familie der Ausgebrannten auf! Jeder einzelne Haushalt! Ihr öffnet eure Türen den Notleidenden oder ich lasse euch zu Krüppeln peitschen!“
„Ich habe nicht genug Platz für meine acht Kinder in dem einen Raum, geschweige denn genug zu essen. Wo soll da noch eine Sippe hungriger Mäuler hin?“ schrie eine hagere Frau, der das graue Haar in Strähnen ins Gesicht hing.
„Soll der Markgraf sie auf die Burg nehmen,“ kreischte eine andere. „Soll er sie in seiner Halle durchfüttern!“
Aila und Norbert drängten sich am Rand des Platzes durch die Menge.
„Jetzt fluchen sie sich die Stimmen heiser,“ meinte Aila, „aber noch heute werden sie tun, was der Markgraf ihnen befiehlt. Sie sehen nicht, dass die Markgrafenknechte und ihre Hauptleute Angst vor ihnen haben. Würden ihnen einmal die Augen dafür geöffnet, es wäre vorbei mit der Herrschaft der Adligen und Reichen.“
Den Marktplatz füllte lautes, aufgeregtes Stimmengewirr. Kriegsknechte brüllten Befehle, scheuchten auf dem Platz Kampierende auf.
„Auf, weg mit euch vom Platz! Erlass des Markgrafen! Der Markt muss wieder geöffnet werden!“
Überall rafften Familien die wenige aus den Flammen gerettete Habe, gespendete Decken und Planen zusammen. Ausgebrannte Unterstadtbewohner irrten mit zusammengeschnürten Bündeln ziellos über den Platz, blickten sich um wie Verfolgte, die nicht wussten, wohin sie fliehen sollten. Kinder schrien. Viele zogen mit Decken und Planen die Torgasse hinab zum Stadttor. Andere schlichen durchs Tor der Klostermauer in den Klosterhof. Hier und da kamen ein hohlwangiger, abgearbeiteter Graubart im schäbigen Kittel oder eine verbittert dreinblickende Mutter mit unordentlichem Haar, einen Säugling im Arm und ein heulendes Kleinkind am Rockzipfel, auf den Markt und sprachen Vorbeigehende an, um den demütig und schuldbewusst dreinblickenden Ausgebrannten voranzugehen ins Gassengewirr des Armenviertels.
Norbert und Aila bogen in die breite, gewundene Gasse ein, die durch die Oberstadt zum Aufgang auf den Burgfelsen führte. Das Geschrei auf dem Marktplatz blieb hinter ihnen zurück. Knechte mit Handkarren und sauber gekleidete Mägde blickten den beiden misstrauisch und neugierig nach.
Norbert betrachtete die zwei- und dreistöckigen Steinhäuser und überlegte kopfschüttelnd: „Warum nehmen sie hier in der Oberstadt keine Notleidenden auf? Die Leute im Armenviertel haben doch recht!“
Aila verzog keine Miene, als sie nüchtern bemerkte: „Weil man nicht reich wird, indem man mit anderen teilt, sondern indem man anderen möglichst viel wegnimmt und für sich selber behält.“
Sie blickte Norbert ernst von der Seite her an.
„Reichtum ist ein Fluch. Er führt zu Vereinsamung, schafft Feinde, macht Angst, überflüssigen Besitz zu verlieren und bewirkt Gier nach immer mehr Reichtum.“
So etwas hätte ich Melanie erklären müssen! schoss es Norbert durch den Kopf.
Er betrachtete die leicht und federnd neben ihm einherschreitende Aila. In der regenfeuchten Brise auf der Gasse wehte ihr das offene, blonde Haar um den Kopf.
„Bindest du dir die Haare nicht zusammen, wenn du mit dem Bogen umgehst?“ wunderte er sich. „Das Haar könnte sich beim Bogenspannen in der Bogensehne verfangen.“
„Das geschieht nicht,“ antwortete sie bloß.
Diese Frau war nicht zu begreifen!
„Anderen würde es schon geschehen,“ meinte er sarkastisch. „Aber dir nicht.“
„Ja,“ war alles, was sie antwortete.
Gegenüber dem Gasthof Zum eisernen Heinrich bogen sie auf den kopfsteingepflasterten Aufgang ein, der sich in flachen, weit auseinanderliegenden Stufen die Felswand entlang zur Burg hinaufwand. Auf halben Weg überholten sie einen vergitterten Karren. Das Zugpferd wurde von einer Gruppe von Kriegsknechten geführt. In dem Karren kauerte eine zerlumpte Gestalt. Ihr Gesicht war blutig geschlagen. Sie regte sich nicht und Norbert war sich nicht sicher, ob sie noch lebte oder schon tot war. Mit zusammengebissenen Zähnen ging er an den Kriegsknechten vorbei. Aila verzog keine Miene. Die Kriegsknechte packten ihre Piken fester, als Norbert und Aila sie passierten.
Auf der Zugbrücke holte Norbert Luft. Er merkte, wie sein Körper sich anspannte in Erwartung dessen, was ihm bevorstand. Das auf beiden Seiten von Monsterfratzen steinerner Wasserspeier flankierte Burgtor gähnte dunkel in der über einen Steinwurf hohen, zinnenbewehrten Mauer. Aus der trüben Helle des Burghofs jenseits der Torpassage drangen dumpf die Schmerzensschreie einer Frau durchs Tor. Unter dem knapp über ihren Köpfen hängenden Fallgitter hindurch betraten Norbert und Alia das Burgtor. Die Torwachen stellten sich ihnen entgegen.
„Keinen Schritt weiter!“
Die narbengesichtigen Männer in den steifen Lederrüstungen nahmen ihre Piken quer, um den beiden den Weg zu verbarrikadieren. Sie blickten nervös nach Ailas und Norberts Waffen.
„Kein Zutritt für Freischärler. Befehl des Markgrafen.“
Aila stand aufrecht und ruhig.
Ohne eine Miene zu verziehen, betrachtete sie die heftig atmenden Torwachen, deren eine über die Schulter nach hinten in Richtung Wachstube rief: „Karl, Hannes, Rüdiger, kommt mal her!“
Norbert setzte die Beine leicht auseinander. Sein Körper ging von allein in Kampfstellung. Er zwang sich, die Hand nicht an den Schwertgriff zu legen. Noch nicht. Ein großer Kerl schaute aus der Wachstube.
Er erkannte die Situation und murmelte: „heilige Scheiße!“
Er und die anderen Männer in der Wachstube hatten offenbar keine Eile, zum Beistand ihrer Kameraden herauszukommen.
Schnell erklärte Norbert: „Ich bin Norbert Lederer. Der Markgraf hat mich zu sich befohlen.“
Die Torwachen musterten ihn mit zusammengekniffenen Augen.
„So? Also gut. Aber nur du allein. Sie dort bleibt draußen!“
„Wir gehen gemeinsam hinein zum Markgrafen,“ sagte Aila.
Sie sagte es vollkommen ruhig, wie selbstverständlich. Die Hände der Torwachen begannen zu zittern.
Schwer atmend presste der Wortführer der beiden hervor: „Na gut, wie ihr wollt. Aber ohne Waffen. Die Waffen lasst ihr hier!“
An der Tür zur Wachstube beobachtete die Wachmannschaft mit unruhigen Mienen das Geschehen. Sie hielten ihre Piken, als wäre es ihnen peinlich, ihre Waffen zu zeigen.
„Wir gehen bewaffnet hinein, so wie wir sind,“ sagte Aila.
Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie dem Wortführer in die Augen.
„Wir kommen in Frieden!“
Ein kaltes Lächeln stand in ihrem Gesicht.
„Das geht nicht!“ murmelte jemand bei der Wachstube.
Die beiden Torwachen sanken unter Ailas Blicken in sich zusammen. Sie senkten zögernd die Piken und schwankten zur Seite.
„Na gut,“ raspelte der Wortführer der beiden heiser.
Mehr brachte er nicht heraus. Keiner seiner Kameraden kommentierte die Entscheidung. Aila und Norbert betraten den Burghof.
Der Geruch des Todes im Burghof drehte Norbert den Magen um. Obwohl er mit jener an den Nerven reißenden Spannung gerechnet hatte, die Menschen beim Anblick von Schwerverwundeten, blutig Geschlagenen, Folterkrüppeln und Sterbenden überfällt, hatte er einen Moment lang das Gefühl, ihm würde der Boden unter den Füssen weggezogen und er musste stehen bleiben, um nicht zu taumeln.
Auf der Richtstätte, die als erhöhte Bretterbühne die linke Seite des Burghofs zwischen dem Tor und dem Rundturm einnahm, zogen Kriegsknechte einen Verurteilten am Strick um den Hals in die Höhe. Dem Gehängten quoll die Zunge aus dem Mund. Er schwankte mit heftig zuckenden Beinen am Strick. Mindestens ein Dutzend Gehängte hingen an auf der Richtstätte errichteten Galgen. Entsetzt sah Norbert, dass auch in Lumpen gekleidete Kinder darunter waren. Scharen von Krähen hockten oben auf den Galgenbalken und warteten darauf, dass die Kriegsknechte von der Richtstätte stiegen, um sich auf die Kadaver der Gehängten zu stürzen. Vor der Richtstätte stand eine Bürgerin mit zwei kleinen Kindern. Sie verbargen ihre Gesichter in ihrem Rock.
„Recht geschieht dir das,“ kreischte sie zum Galgen hinauf. „Da hast du den Lohn für deine Plünderei!“
Aus dem vergitterten Kellerfenster des Rundturms hallten die schrillen Angst- und Schmerzensschreie einer Gefolterten über den Hof.
Mit steinerner Miene wartete Aila, bis Norbert sich gefangen hatte. Seite an Seite gingen sie über den Burghof.
„Die gerechte Herrschaft der Könige und Fürsten! Hier zeigt sie ihre wahre Fratze!“ sagte Aila, ohne darauf zu achten, ob jemand im Burghof ihre Worte mitbekam. „Sie behaupten, sie würden von Gnaden der Götter herrschen. Eine größere Lüge haben Menschen nie erfunden!“
Knechte, Mägde und Handwerker, die vor den Werkstätten und Ställen zusammenstanden, beäugten die beiden mit verhaltenem Unbehagen.
An der Pforte zur Markgrafenhalle mussten sie warten, während die Wache sie meldete. Kurz darauf wurden sie eingelassen. Drinnen wurden sie von einem halben Dutzend Wachen umringt. Die Wachen geleiteten Norbert und Aila an einen Platz an der Schmalseite der Halle nahe der niedrigen, eisenbeschlagenen Tür, von der Norbert wusste, dass sie zum Kerker hinabführte. Gedämpfte Schmerzensschreie drangen durch die Tür.
Norbert hatte die Markgrafenhalle zuvor nur ein einziges Mal betreten. Während der Gerichtsverhandlung über die Erbschleicherin waren die Schmalseiten und die Außenseite der Halle mit den hoch gelegenen Fenstern gedrängt voll gewesen mit Schaulustigen. Jetzt war die von einer Reihe hölzerner Pfeiler getragene Halle menschenleer. In der Hallenmitte stand ein Mönchsbruder mit geneigtem Kopf vor der langen Holztribüne, die sich an der Innenseite der Halle entlangzog. Wie beim vorigen Mal standen mit glühenden Kohlen gefüllte Becken vor der Tribüne. Sie spendeten kaum Wärme in der großen Halle.
Markgraf Lothar saß umgeben von Leibwachen auf einem ausladenden Lehnstuhl, dessen hohe Lehne über dem Kopf des Markgrafen das Wappen der Wulfinger zeigte: Eber und Schwert auf grünem und goldenem Grund. An der Seite des Markgrafen stand ein Mönch, ein beleibter kleiner Mann mit bis auf einen schmalen Haarkranz kahlgeschorenem Schädel. Er trug eine Kapuzenkutte aus grobem, braunem Stoff, nicht die weit geschnittene, weiße Kutte der Armen Brüder. Der Markgraf selbst saß breitbeinig zurückgelehnt, mit auf die Faust gestütztem Kopf da und betrachtete mit gelangweilter Miene den Klosterbruder, der vor ihm stand. Sein pelzbesetzter Umhang hing achtlos hingebreitet über die Armlehnen herab.
Der Mönch vor der Tribüne war offenbar gerade dabei, die Rede, die er vor dem Markgrafen gehalten hatte, zusammenzufassen: „...und so zweifle ich nicht daran, Eure Durchlaucht, dass Ihr aufgrund des aufopferungsvollen Einsatzes der Armen Brüder, der Opferung der großen Mengen kostbaren Weihrauchs und der hohen Auslagen des Klosters zur Linderung der Not in der Stadt Euch der demütigen Bitte des Abtes nicht verschließen werdet und dem Kloster die gegen alle Opfer der Armen Brüder zwar geringe, jedoch wohlfeile Summe von neunhundert Goldtalern an das Kloster auszahlen werdet.“
Der Markgraf antwortete nicht sofort. Mit auf die Faust gestütztem Kinn betrachtete er den sauber gekleideten Ordensbruder, der mit gesenktem Kopf und demütig gefalteten Händen vor der Tribüne stand.
Als er schließlich antwortete, klang seine Stimme gelangweilt: „Jeder in der Stadt hat Opfer gebracht. Alle haben sich bei dem Brand bis zum Äußersten aufgeopfert. Viele tun es noch immer. In Zeiten der Not Opfer zu bringen und für das Wohl der Stadt zu beten, ist die Pflicht der Armen Brüder zu Altenweil. Sollte das Kloster durch die erbrachten Opfer wirklich arm werden, dann würden die Armen Brüder ihrem Namen vielleicht einmal wieder Ehre machen.“
Der Ordensmann beugte den Kopf vor dem Markgrafen noch tiefer.
Der Markgraf wedelte mit der Hand: „Du kannst jetzt gehen. Grüße den Abt von mir.“
Der Mönch murmelte etwas, richtete sich hoch auf und verließ mit zornrotem Gesicht die Halle.
Norbert spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Nervös blickte er sich nach den Wachen um. Die großen Männer umstanden Aila und ihn in respektvollem Abstand, aber sie hatten ihre Piken mit den langen Klingenspitzen kampfbereit. Und Norbert zweifelte keineswegs, dass sie mit ihren Waffen umgehen konnten. Andererseits waren Aila und er zu zweit. Im Notfall würden sie sich schon raushauen. Der Mönch neben dem Markgrafen blickte von der Tribüne in ihre Richtung.
„Norbert Lederer!“
Aila nickte ihm zu: „Geh vor zum Markgrafen. Ich bin da!“
Während Norbert zur Hallenmitte ging, versuchte er, trotz seiner Aufregung genauso zu gehen, wie sein ehemaliger Meister es bei Auftritten vor hohen Persönlichkeiten getan hatte: Langsam, gerade aufgerichtet, die linke auf den Schwertknauf gelegt, ging er die Tribüne entlang. Vor dem Markgrafen kniete er sich auf ein Knie herab und senkte den Kopf, ohne die Wachen um den Markgrafen herum aus den Augen zu lassen. Er hatte den Titel vergessen, mit dem Dreyfuß den Markgrafen angeredet hatte, obwohl auch der Klostermönch ihn eben noch verwendet hatte. Sein Herz raste.
Da ihm nichts anderes einfiel, sagte er einfach: „Herr?“
Die wässerigen Augen in dem blassen Gesicht mit den gedunsenen Wangen und den großen Lippen betrachteten Norbert nur kurz, bevor der Markgraf ihm winkte, aufzustehen.
„Gut, gut, steh auf, Norbert Lederer.“
Norbert stand auf und blieb, wie Dreyfuß es seinerzeit getan hatte, mit leicht gesenktem Kopf und der Linken auf dem Schwertknauf stehen. Im Augenwinkel beobachtete er die Leibwachen. Die Männer um den Markgrafen standen müde und unachtsam da, wie Wachen, die schon lange gestanden hatten. An der Hallenseite stand Aila umgeben von den Kriegsknechten. Ihre Körperhaltung war entspannt, sie ließ die Arme locker hängen, als nähme sie die kampfbereiten Männer um sie her gar nicht wahr.
„Man hat mir gesagt, du bist der Sohn eines Siedlers?“ fragte der Markgraf mit uninteressierter Stimme.
Wie schon beim letzten Mal konnte Norbert seinen Abscheu vor der betont gelangweilten Miene des Markgrafen nur schwer verbergen.
„Ja, mein Vater Hans Lederer war Siedler in Wildenbruch im Gornwald. Aber die Siedlung ist letzten Sommer der Hungersnot zum Opfer gefallen. Sie sind alle tot.“
Wahrscheinlich interessierte es den Markgrafen überhaupt nicht. Warum musste diese Ausfragerei sein? Sollte der Markgraf doch einfach sein Urteil sprechen! Insgeheim schätzte Norbert ab, wie viel Zeit er hatte, bevor die Wachen an ihn heran sein würden. Der Markgraf seufzte, zurückgesunken in seinen Lehnstuhl.
„Der alte Gornwald widersetzt sich jeder Besiedlung durch Menschen. Kein Siedlungsversuch dort ist bislang geglückt,“ meinte er zu dem Mönch an seiner Seite, der schweigend nickte.
Dann wandte er sich wieder an Norbert: „Du bist der Schüler des im Stadtbrand umgekommenen Gelehrten Anton Dreyfuß?“
Jetzt kam es! Norberts Haltung straffte sich.
„Ja, Herr,“ murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Der Markgraf betrachtete ihn lange. Seine mit Edelsteinen beringten Finger trommelten leise auf der Stuhllehne. Norbert schaute kurz zu Aila. Sie stand ruhig und locker da. Aber er sah ihren aufmerksamen Blick.
„Meine Kriegsknechte,“ erklärte der Markgraf, „und viele Augenzeugen berichten, du seist vorgestern Abend, als die Brände noch wüteten, allein und aus freien Stücken in die Brandzone hineingegangen und hättest das dämonische Feuer mit deiner Magie bezwungen - gebannt, ausgelöscht, wie auch immer.“
„Ja, Herr,“ stotterte Norbert verwirrt. „Es wurde von einer ziemlich mächtigen Banshee, einer Untoten, entfacht. Ich musste sie bannen. Anders hätte dieses Feuer nicht gelöscht werden können.“
Der Markgraf schwieg, als warte er darauf, dass Norbert noch etwas anfügte. Aber Norbert fiel nichts ein, was er hätte sagen können. Schließlich nickte der Markgraf. Seine Finger hörten auf, auf der Stuhllehne zu trommeln.
„Du hast die Stadt gerettet. Ohne dich läge ganz Altenweil in Schutt und Asche.“
Verblüfft starrte Norbert den Markgrafen an.
„Was wünschst du als Belohnung für die Rettung der Stadt, Norbert Lederer?“
Norbert war fassungslos. Was wurde von ihm erwartet? War es ein Trick?
Der Mönch an der Seite des Markgrafen nickte Norbert freundlich zu: „Nenne dem Markgrafen deinen Wunsch ohne Scheu, Norbert. Du hast dich sehr verdient gemacht um die Markgrafenstadt. Wir alle stehen in deiner Schuld.“
Norbert blickte rasch zu Aila hinüber. Auch sie nickte. Also war es ernst gemeint? Verzweifelt suchte Norbert in seinem Kopf nach der richtigen Antwort auf die Frage des Markgrafen. Um Jagdwaffen konnte er den Landesherrn schlecht bitten!
Und mit einem Mal durchfuhr es ihn: „Herr, ich brauche zwanzig Goldtaler, um bei dem Burgschmied hier auf der Burg in die Lehre zu gehen. Er kann mit magischen Waffen umgehen. Ich... ich muss das auch lernen!“
Einige der Leibwachen starrten ihn an, andere schüttelten verständnislos die Köpfe. Hatte er doch das Falsche gesagt? Der Markgraf betrachtete ihn ernst, beinahe freundlich.
„Zwanzig Goldtaler wünschst du dir? Da kommen Klosterleute, die haben nichts ausgerichtet, als Weihrauch zu verbrennen und zu beten, von einer Suppenküche vielleicht einmal abgesehen, und verlangen fast das Fünfzigfache! Eigennutz kann man dir nicht vorwerfen, Norbert, Sohn des Siedlers Hans Lederer.“
Der Markgraf wechselte einen Blick mit dem Mönch, dann erklärte er: „Es sollen dir vierzig Goldtaler ausgezahlt werden und wenn du weiteres Geld brauchst, kannst du ein zweites und auch ein drittes Mal herkommen, um noch einmal dieselbe Summe ausgezahlt zu bekommen. Aber in die Lehre bei meinem Burgschmied zu gehen, erlaube ich dir nicht. Ich weiß, dass du in der Abenteurerschänke Zum schwarzen Raben verkehrst. Keinem Freischärler und niemandem, der mit Freischärlern verkehrt, erlaube ich, sich längere Zeit auf der Burg aufzuhalten.“
Norbert stand wie vom Donner gerührt. Seine neu angefachten Hoffnungen stürzten in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Was sollte er mit einer Menge von Gold, wenn er es nicht für das verwenden durfte, was ihm wichtig war? Wäre Melanie da gewesen... Aber sie war nicht mehr da.
Der Markgraf winkte Norbert mit der Hand, zum Zeichen, dass die Audienz beendet war: „Lass dir von Bruder Anselm die Summe auszahlen.“
Eine der Leibwachen fragte er gelangweilt: „Wer ist der nächste?“
Der Mönch nickte Norbert zu und wies ihn ans Ende der Halle zu den Stufen auf die Tribüne. Norbert hörte den Wortwechsel des Markgrafen mit seiner Leibwache, während er an der Tribüne entlang zum Aufgang ging.
„Die von der Ratsversammlung gesandten Ratsherren, Durchlaucht.“
„Heiliger Bimbam, ausgerechnet! Auch die noch!“
Norbert blickte Aila, die am Ende der Halle von den Kriegsknechten umgeben dastand, hilflos an. Sie schaute freundlich zurück. Ihre Haltung war vollkommen entspannt.
„Alles in Ordnung. Geh nur. Ich bin hier.“
Die Jammerlaute der Gefolterten hinter der Kerkertür hatten sich zu einem Kreischen in äußerster Pein gesteigert. Dazwischen schrie sie keuchend und schluchzend um Gnade. Norbert krampfte sich die Brust zusammen, während er auf die Tribüne stieg und dem Mönch durch eine Tür in den hinter der Halle gelegenen Gang folgte.
An der Tür holte er Luft und sprach den Mönch an: „Findest du das richtig, dass die Frau da im Kerker geschunden wird, bis sie stirbt oder zeitlebens ein Krüppel ist?“
Der kleine beleibte Mann seufzte. Sie gingen einen Gang hinunter an mehreren Türen vorbei.
„Diese Witwe war Mutter von acht Kindern. Sie alle seien in der Not im letzten Winter am Hunger gestorben, hieß es,“ erklärte der Mönch.
Er ging Norbert voran eine knarrende Holztreppe hinauf.
„Vor zwei Wochen fand man in ihrem Haus in einem Krug mit Pökelfleisch Knöchelchen: Menschenknochen, Fingerknochen von Kindern. Zweifellos hat sie ihre eigenen Kinder geschlachtet und eingepökelt, um den Hungerwinter selber zu überleben.“
So grauenhaft es sich anhörte, Norbert ließ die Begründung des Mönchs für die Folter nicht gelten.
„Vielleicht hat sie es gar nicht aus Bosheit getan. Vielleicht ist sie von einem Wahn befallen, für den sie nichts kann, von einem Dämon besessen!“
„Eben das herauszufinden, ist die Aufgabe der Kerkerknechte,“ erläuterte der Mönch seufzend.
Durch einen Raum mit getäfelter Decke und Sitzbänken längs der Wände gingen sie zu einer kleinen, eisenbeschlagenen Tür, die der Mönch mit einem Schlüssel aufschloss. Der schmucklose Raum dahinter wurde spärlich von trübem Tageslicht erhellt, das durch ein vergittertes Fenster hereinfiel. Es gab ein Bücherbord, ein Schreibpult und einen Tisch. In die Wand war eine eiserne Lukentür eingelassen.
„Hier befindet sich das Allerheiligste des Markgrafentums,“ erläuterte der Mönch dem verbissen schweigenden Norbert. „Der Geldtresor! Geld bedeutet Macht – und Herrschaftsgewalt. Es bedeutet noch mehr Macht, als Wissen. Und unendlich viel mehr, als Frömmigkeit und Rechtschaffenheit!“
Mit einem weiteren Schlüssel schloss er die Eisenluke auf.
Während er Goldtaler auf den Tisch zählte, redete er nebenbei zu Norbert: „Du gehst im Schwarzen Raben ein und aus. Dort hörst du so manches, was sich sonst in der Stadt nicht herumspricht. Es laufen Gerüchte um, der Stadtherr von Warnenbüttel plane einen Anschlag auf unseren Landesherrn Markgraf Lothar, weil unser Herr gemeinsam mit anderen Adligen ein Gesuch an den Kaiser gerichtet hat, die grausame Unsitte der Hexenverfolgungen zu verbieten, da sie auf nichts als dunklem Aberglauben gründet und unzählige Frauen dadurch unschuldig verbrannt werden. Wenn du hören solltest, dass sich Meuchelmörder in der Stadt befinden, lass es mich wissen, Junge. Es wird dir nicht zum Schaden gereichen.“
„Im Schwarzen Raben kehren keine Meuchelmörder ein,“ erwiderte Norbert.
Der Mönch schob ihm den Haufen Goldtaler hin.
„Hier, ich gebe dir einen Beutel für das Gold. Binde ihn dir an den Gürtel.“
Norbert zählte die Goldstücke nach. Er blickte den Mönch mit zusammengekniffenen Augen an.
„Es sind nur neununddreißig!“
Die unschuldige Überraschung im Gesicht des Mönchs sah beinahe echt aus.
„Tatsächlich? Sollte ich mich verzählt haben? Zähl noch einmal nach, Junge.“
Norbert zählte es ihm vor.
Der Mönch schüttelte den Kopf: „Na so was! Selbstverständlich bekommst du den fehlenden Taler! So etwas ist mir in all den Jahren, die ich Schatzmeister beim Markgrafen bin, noch nicht passiert!“
***
In der Halle stritten zwei Bürger in Pelzmänteln und mit opulenten, ausladenden Kopfbedeckungen lauthals mit dem Markgrafen. Die Schreie hinter der Kerkertür waren verstummt. Aila empfing Norbert mit dem Anflug eines Lächelns. Gemeinsam gingen sie zum Ausgang. Die Haltung der Wachen um Aila her entspannte sich.
Von der Tribüne her donnerte die Stimme des Markgrafen: „Ich habe den Gilden die Erlaubnis gegeben, in meiner Stadt Gewerbe zu treiben! Jahrhunderte lang habt ihr euch an Marktgängern und an den Armen der Stadt bereichert. Für Naturkatastrophen kann ich nichts. Baut eure Zunftgassen selber wieder auf!“
„Es ist die Pflicht des Landesherrn, die Stadt zu beschützen und erhalten!“ schrien die Ratsherren zurück. „Wozu zahlen wir Steuern? Wir senden ein Beschwerdeschreiben an den Kaiser, wenn Ihr Eurer Pflicht nicht nachkommt!“
Im Burghof hängten Kriegsknechte den blutig Geschlagenen aus dem Gitterkarren an einen der Galgen auf der Richtstätte. Scharen von Krähen umflatterten den Galgen. Norbert beeilte sich, über den Burghof zu kommen, durchs Tor hinaus und den Karrenweg hinab, weg von dieser Burg, die ihm Abscheu einflößte. Bittere Wut gegen den Markgrafen tobte in seinem Innern. Verbissen marschierte er den Pflastersteig hinunter. Aila nahm er an seiner Seite kaum wahr.
Erst auf halbem Weg den Burgfelsen hinab ließ die brennende Wut nach. Norbert verlangsamte seinen Schritt und atmete durch. Nach und nach klärten sich seine wirren Gedanken. Er hatte wieder nichts erreicht! Er hätte den wahnsinnigen Versuch der Geisteraustreibung im Haus der Hohenwarts gar nicht erst angehen müssen. Der Markgraf hätte ihm das Gold auch gestern schon gegeben. Und doch nützte es ihm nichts! Er hatte einen Haufen Geld, aber seine Träume und seine Zukunftspläne schienen unerfüllbar.
Aila berührte ihn leicht an der Schulter. Überrascht stellte er fest, dass sie noch neben ihm herging. Er hatte sie vollkommen vergessen. Sie deutete stumm auf eine von einer gemauerten Brüstung umgebene Felszacke an der Außenseite des Pflastersteigs, die vielleicht einmal zur Verteidigung des Aufgangs zur Burg eingeebnet worden war.
Aila und Norbert traten auf die Felszacke. Aila setzte sich auf die Brüstung und schaute über die Dächer der Stadt und die schwarzen Schornsteinruinen in der Brandzone hinaus auf das unter grauen Regenschleiern liegende Land. Zwei, drei Tagesreisen entfernt ragten in der Ferne die vagen Umrisse der Bergschemen des Laendorgebirges auf. Südlich davon lag verborgen hinter nebelverhangenen Hügelkuppen der Gornwald: Norberts ehemalige Heimat.
„Der Gornwald,“ meinte Aila, wie in Erwiderung auf Norberts Gedanken. „In lange vergangenen Zeiten war er die Heimat des Elbenvolks. Wie alle Wälder bis weit in den Norden hinein.“
Norbert schaute sie an.
„Dein Volk, nicht wahr?“
Sie schwieg.
Unvermittelt wechselte sie das Thema: „Warum willst du beim Burgschmied in die Lehre gehen?“
Norbert atmete heftig aus.
„Es geht ja doch nicht!“
Ruhig sah sie ihm in die Augen.
„Weißt du,“ versuchte Norbert, seine Gedanken zu sammeln, „mein Heimatdorf im Gornwald – es wurde von einem sehr üblen Schwarzalb ausgerottet, einem Behemoth. Das ist...“
Als er Ailas Blick sah, brach er ab.
„Aber natürlich weißt du, was ein Behemoth ist,“ brummte er genervt.
Sie nickte nüchtern.
Stockend erklärte er weiter: „Man kann sie nur mit diesen heiligen Schwertern, heftig magischen Waffen vernichten. Und der Burgschmied weiß, wie man damit umgeht. Er wollte es mir beibringen, für zwanzig Goldtaler Lehrgeld!“
Aila antwortete nichts darauf. Sie sah ihn ernst und lange an.
Schließlich fragte sie, erneut das Thema wechselnd: „Wer ist Lonnie?“
Es fühlte sich nicht an, als wollte sie ihn ausfragen. Eher hatte Norbert den Eindruck, dass sie versuchte, ihn zu verstehen. Und insgeheim war er froh über ihr Interesse. Er suchte nach den richtigen Worten, um ihr zu erklären, worüber er bisher nur selten in knappen Andeutungen gesprochen hatte.
„Sie... sie ist eine Untote. Dreyfuß meinte, sie sei eine Banshee. Ich glaube, es stimmt auch. Manchmal erscheint sie mir als Wölfin, manchmal als das Mädchen, das sich vor zwanzig Jahren in Köhlershofen im Brunnen ertränkt hat. Vorher, hat sie mir erzählt, hat sie sich bei den Wölfen im Gornwald versteckt. Sie war bei Darulan gefangen gewesen. Wie ich auch. Er hat sie unter Zwang in die schwarze Magie initiiert. Dadurch hat sie gelernt, sich in eine Wölfin zu verwandeln. So was können Schwarzmagier. Er selber kann sich in einen Flughund verwandeln. Als Wölfin konnte sie ihm entkommen. Als er sie später wiederfand und zurückholen wollte, hat sie sich in den Brunnen gestürzt.“
Aila ließ Norberts Bericht auf sich wirken.
Dann fragte sie: „Sie spricht mit dir? Und du mit ihr? Über die Grenze hinweg?“
„Ja.“
„Du weißt, dass du in Lebensgefahr schwebst?“
„Ja.“
Sie sagte lange nichts.
„Es ist nicht so, wie alle glauben,“ erklärte Norbert, wütend darüber, dass alle das Wolfsmädchen so falsch einschätzten. „Sie will mich nicht hinabziehen. Na ja, doch... eigentlich schon, aber in Wirklichkeit will sie zurück ins Leben! Ich hole sie aus der Anderwelt zurück! Dafür bin ich doch bei Darulan gewesen und hab den Ritualgesang gelernt! Ich muss nur ihren Quellort finden.“
Auf Ailas alarmierten Blick ergänzte er schnell: „Ich war schon öfters drüben! Mit Dreyfuß und auch allein. Ich weiß, dass es gefährlich ist. Einmal hätte ich nicht zurückgefunden, wäre drüben umgekommen, wenn Lonnie mir nicht zurückgeholfen hätte! Ich hab das gelernt – über die Grenze gehen und zurückkommen. Aber es geht nur an heimgesuchten Orten. Wie im Gornwald.“
Aila saß hoch aufgerichtet auf der Brüstung, die Hände auf die Brüstung gestützt. Sogar sitzend war sie einen halben Kopf größer als Norbert. Ihr schlanker Körper war voller Spannkraft. Ihr langes Haar flog ihr im Wind ums Gesicht. Der strahlende und zugleich drohende Blick ihrer Augen hatte etwas Ehrfurchtgebietendes. Verwirrt hielt Norbert den Atem an. So mussten Königinnen blicken, ging es ihm durch den Kopf. Vorsichtshalber ging er einen halben Schritt zurück.
Ihre Stimme klang, als verstärkte der Wind sie noch: „Ist dir klar, was du dir da vorgenommen hast?“
Norbert senkte den Kopf. Er konnte ihrem Blick nicht standhalten.
„Ich glaub schon,“ murmelte er.
Dann riss er sich zusammen und schaute sie an.
„Ja. Ich glaube, es ist mein Weg.“
Die seltsame, ehrfurchtgebietende Ausstrahlung, die von Aila ausgegangen war, verschwand. Der plötzlich aufgekommene Wind legte sich. Die elbenhaft schlanke, hochgewachsene Frau in enger Lederkleidung, die ihre Jagdwaffen über der Schulter trug, saß mit der unverstellten Selbstverständlichkeit vor Norbert, die er inzwischen von ihr gewohnt war.
Sie ist in der Tat eine Magierin! dachte er. Und eine sehr mächtige dazu!
Aila blickte über die schwarze Brandfläche hinweg, die fast den vierten Teil Altenweils ausmachte.
„Was hast du also vor?“ fragte sie in ihrer üblichen, nüchternen Art. „Was willst du als nächstes tun?“
„Weißt du,“ druckste Norbert, „mit der Lehre beim Burgschmied wird es ja doch nichts. Und mit der Ausbildung bei Dreyfuß ist es auch vorbei. Ich glaube, ich gehe in den Gornwald zurück. Dort kann ich versuchen, über die Grenze zu gehen, um nach Lonnie zu suchen. Ich hab es ihr versprochen! Aber...“ er zögerte.
Aila schaute ihn offen an.
„Ich brauche Jagdwaffen, verstehst du? Dann kann ich von der Jagd leben. In den Weilern nahe beim Gornwald kaufen sie Wildbret von den Wilderern. Weißt du vielleicht, wo ich einen Jagdbogen und Pfeile herbekommen kann? Kannst du mir helfen, einen zu bekommen?“
Aila blickte auf den Goldbeutel an Norberts Gürtel und ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.
„Du machst dir Gedanken, wovon du leben sollst?“ lächelte sie.
Dann stand sie auf.
„Gehen wir hinunter in die Stadt. Zuerst mal kannst du dir ein paar Sachen kaufen gehen. Der Markt wird heute Mittag wieder geöffnet. Was du hattest, ist ja alles im Feuer verbrannt. Dann sehen wir weiter. Um Jagdwaffen kann ich mich kümmern, wenn es soweit ist. Mach dir darüber keine Gedanken. Wir sehen uns heute Abend bei Gordon, ja?“
„Ja, sicher,“ meinte Norbert. „Ich wohne ja dort. Wo sollte ich sonst hin?“
Sie lächelte.
„Ich würde auch nirgendwo sonst einkehren in dieser Markgrafenstadt. Egal, wie viel Gold ich hätte.“
Statt einer Verabschiedung nickte sie Norbert mit einem freundlichen Blick kurz zu. Mit federnden Schritten ging sie den Pflastersteig hinab davon. Beinahe sah es aus, als schwebten ihre Füße in den schlanken Stiefeln eine Handbreit über dem Boden.
Norbert schaute hinab auf das rußgeschwärzte Trümmerfeld, in dessen Mitte die zerbrochenen Reste von Dreyfuß' Turm aufragten. Der Anblick erschien ihm wie ein Spiegelbild seines zerbrochenen, unter den Trümmern seiner Träume verschütteten Herzens.