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2.

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Der Vater schritt zügig voran, ohne sich nach Norbert umzusehen. Der Trampelpfad längs der Flussaue war feucht vom Frühnebel und Norbert musste aufpassen, dass er mit seinen nackten Füssen nicht ausrutschte, während er dem Packesel hinterhereilte. Morgendunst stieg vom sumpfigen Ufer auf. Erste Sonnenstrahlen brachen durch die Baumkronen. Norberts Herz klopfte wild.

Ich reise mit Vater auf den Markt!

Er konnte keinen anderen Gedanken mehr fassen.

Als sie sich der Anhöhe des Elbendorfs näherten, verdichtete sich der Nebel. Die Nebelschwaden um die Ruinen im Erlengehölz waren düsterer als sonst, fand Norbert. Der Pfad führte mitten hinein in die Nebelbank. Graue Schwaden quollen von der Anhöhe herab. Norbert blieb wie angewurzelt stehen. Oben auf der Anhöhe standen Gestalten im Dunst. Reglos schauten sie auf den Pfad herab.

„Norbert!“ Vaters Stimme klang harsch durch den Nebel.

Norbert stolperte den Pfad entlang.

„Da...“ Die Stimme versagte ihm und er musste schlucken. „Da sind Elben, Vater! Sie haben uns gesehen!“

„Glotz nicht in die Gegend! Bleib dicht hinter mir!“

Norbert hastete dem Vater hinterher. Der Esel schnaubte. Er machte einen Versuch, am Vater vorbei voran zu traben. Seine Flanken zitterten. Norbert hielt den Blick fest auf den Pfad gesenkt. Ein heiserer Flötenton hauchte den beiden Reisenden nach.

***

Sobald sie die Flussaue hinter sich gelassen hatten, verschwand der Nebel. Der überwucherte Pfad wand sich an der steilen Uferböschung entlang. Oberhalb der Böschung stand dichter Buchenwald. In den Baumkronen spielte Sonnenlicht.

Norbert schauderte noch immer beim Gedanken an die Gestalten auf der Anhöhe.

Sie wissen, dass ich in ihrem Dorf gewesen bin. Sie wollten mich nicht gehen lassen. Sie wollen mich holen!

Norbert biss die Zähne zusammen. Er lief dem Vater nach, der mit dem Esel schon wieder weit voraus war. Schließlich wollte er Krieger werden! Hatte Beowulf etwa Angst gehabt vor Grendel, dem Ungeheuer? Vielleicht – aber er hatte sich dem Ungeheuer gestellt und es besiegt.

Ich lasse mich nicht einschüchtern - von der schwarzen Dame nicht und nicht von euch!

Gegen Mittag legte der Vater auf einem vom Sonnenlicht beschienenen Hügel oberhalb des Flussufers eine Rast ein. Norbert taten die Füße weh. Er streckte sich im warmen Gras aus. Vater öffnete das Gepäck. Er schnitt einen Streifen Wurst ab, riss ein Stück vom Brotlaib ab und gab Norbert beides zusammen mit dem Wasserschlauch. Überrascht nahm Norbert das Essen entgegen. Der Vater kam ihm unerwartet großzügig vor. In Wildenbruch hatte Norbert außer Schlägen selten etwas vom Vater bekommen. Von der warmen Filzdecke letzten Herbst abgesehen, korrigierte er sich.

Sie aßen schweigend. Vater blickte auf den Fluss hinab.

Kauend meinte er: „Für deine Heilung werde ich im Kloster eine Menge Geld bezahlen müssen. Ich will, dass du dich dort zusammenreißt. Komm ja nicht auf die Idee, den Mönchen Widerworte zu geben.“

Hans Lederer betrachtete seinen Sohn mit einem Blick, der Norbert nachdenklich vorkam. Er wusste nicht, ob er zurückblicken oder lieber zu Boden schauen sollte. Der Vater kam ihm verändert vor. Norbert konnte sich nicht erinnern, je so von ihm angeschaut worden zu sein. Dazumal hatte der Vater noch nie so viele Worte an seinen Sohn gerichtet.

„Ja.“ Norbert hoffte, dass es die richtige Antwort war.

Noch immer schaute der Vater ihn an.

„In Wildenbruch,“ erklärte er, als müsse er sich die Worte mühsam zusammensuchen, „leben wir an der Grenze – im Urwald, wo vorher noch nie Menschen gelebt haben. Vieles ist dort gefährlicher, wilder als an den Orten, wo Menschen schon lange wohnen. Wir müssen uns in Acht nehmen. Wir müssen die Grenze respektieren, sonst ist es um uns geschehen, verstehst du?“

Hans Lederer suchte sichtlich nach Formulierungen. Norbert starrte seinen Vater mit offenem Mund an. Also wusste er...?

„Die Smeta Weidner...“ Es kam Hans Lederer nur zögernd über die Lippen, „die Weidnerin hat die Grenze nicht respektiert. Sie ist hinübergegangen...“

Norbert musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuschreien. Das Zittern überkam ihn wieder.

Vaters Blick war unerbittlich. „Verstehst du, Norbert?“

Norbert blickte zu Boden.

„Dein Gerede über Geister muss aufhören, hörst du?“ forderte Hans Lederer.

„Ja,“ hauchte Norbert.

Und ich hör doch nicht damit auf!

***

Bis zum Abend marschierten die Reisenden flussaufwärts. Immer höher erhoben sich die bewaldeten Hügel zu den Seiten des Flusses. Norbert hatte Seitenstiche vom schnellen Gehen. Wieder und wieder rutschten seine nackten Füße auf Lehm und feuchtem Gras aus. Die Freude über die Marktreise war verflogen. Seit der Mittagsrast war eine dumpfe Empörung über ihn gekommen, seit ihm klar geworden war, dass Vater wusste, was mit Smeta geschehen war. Vielleicht, bestimmt sogar hatte Vater es vorausgesehen – und er hatte nichts gesagt! Möglicherweise wusste er auch von Großmutter – und hatte ihn trotzdem geschlagen... oder gerade deswegen! Leika hatte behauptet, die anderen verstünden nichts. Doch eine viel grausamere Wahrheit dämmerte Norbert herauf.

Bei Sonnenuntergang erstiegen sie einen Hang und suchten sich zwischen den Wurzeln alter Buchen einen Schlafplatz. Nach dem Abendimbiss, den sie schweigend zu sich nahmen, gab Vater Norbert eine Wolldecke heraus. Norbert schmerzten sämtliche Körperpartien nach dem Tagesmarsch. Er streckte sich aus, wo er war und wollte sich in die Decke rollen.

„Nicht dort neben dem Gepäck – komm hier herüber auf meine andere Seite!“ grollte der Vater.

Es war der Tonfall, den Norbert gewöhnt war, nicht der jenes ernsten, nach Worten suchenden Mannes, der ihm während der Mittagsrast so fremd vorgekommen war.

„Nicht, dass du dich nachts ans Gepäck schleichst und heimlich am Proviant zu schaffen machst!“

Auf so blödsinnige Ideen konnten nur Erwachsene kommen.

***

So müde er war, fand Norbert doch keinen Schlaf. Er rutschte in der Wolldecke auf dem unebenen Boden umher und versuchte, eine halbwegs bequeme Schlafposition zu finden. Aber immer wieder drückte ihn eine Wurzel, ein Stein. Was Vater über Smeta gesagt hatte, ging ihm im Kopf herum: sie wäre über die Grenze gegangen. Die Schreie aus der Grotte. Ihre blutig aufgerissenen Arme und Hände. Leise stöhnend wälzte Norbert sich umher. Vater schnarchte laut. Norbert tastete in der Hosentasche nach Lenes Holzpüppchen und umschloss das glatte Holz mit den Fingern. Er brachte das Figürchen dicht vor sein Gesicht.

Du musst mir helfen, Petra. Ich darf keine Angst bekommen, weil ich doch ein Held werden will – wie Beowulf. Aber ich hab immerzu so schreckliche Angst!

Das Püppchen lachte nicht. Es blickte auch nicht höhnisch oder verächtlich. Norbert wusste, dass Petra ihn verstand.

Ein paar Schritt abseits döste der Esel mit hängendem Kopf im Stehen. Jetzt hob er den Kopf und gab ein kurzes Knurren von sich. Norbert blickte durch die Baumkronen hinauf in den Nachthimmel. Die Mondsichel war von einem trüben Hof umgeben. Wald und Hügel langen in fahlem Dämmerlicht. An Vaters Schulter glänzte die Silberfibel, die den Umhang zusammenschloss, hell im Mondlicht. Aber drüben, beim Gepäck!

Mit einem Ruck fuhr Norbert hoch. Ein fahlblauer Schimmer umgab die Gepäcktaschen. Norbert kroch ein Schauder über den Rücken, wie von tastenden Fingern. Die Nackenhaare sträubten sich ihm. Das blaue Glühen schien aus den Gepäcktaschen hervorzukriechen. Der Esel zerrte knurrend an seiner Leine. Vaters Fibel strahlte hell, obwohl kaum Mondlicht schien.

Vorsichtig wickelte Norbert sich aus der Decke. Er schob das Püppchen zurück in die Hosentasche. Vater schnarchte. Fröstelnd stand Norbert auf.

Ich hab keine Angst, erklärte er Petra.

Er biss die Zähne fest zusammen, damit sie nicht aufeinander schlugen. Norbert zitterte am ganzen Leib. Aber er schlich sich um Vater herum zu den Gepäcktaschen. Es war, als würde die Nachtluft kälter. Aus einer der Taschen glühte es fahlblau heraus.

Wenn Vater wüsste, was er in seinem Gepäck hat!

Norberts Wissbegier siegte über seine Angst, über die unterschwellige Ahnung drohender Gefahr. Petra passte auf ihn auf. Zumindest redete er es sich ein. Mit klammen Fingern öffnete er die Tasche.

Kaltes blaues Licht blendete ihn. Er hatte das Gefühl, fortgerissen zu werden, weit weg von aller Wärme, allem Leben. Reglos starrte er in dieses unirdische Licht, er kannte es, er hatte es schon einmal gesehen, aber wo? Es war wie ein Sog, der ihn mit sich fortriss, in eine fremde, andere Welt, deren Schemen nebelhaft in der Ferne auftauchten. Noch konnte Norbert nichts erkennen. Und dann wusste er, woher er dieses Licht kannte: Die Elbensiedlung! Die Frau mit dem blutigen Säugling! Der Bogenschütze! Der Pfeil zielte ihm mitten ins Gesicht. Irgendwo kreischte eine Flöte.

„Norbert!“

Vaters Hand packte ihn an der Schulter, riss ihn zurück. Norbert blinzelte, noch halb geblendet. Plötzlich bekam er wieder Luft.

„Ich habe dir gesagt, du sollst nicht an die Gepäcktaschen gehen! Willst du wohl verdammt nochmal auf mich hören!“

Etwas gleißte strahlend hell an Vaters Schulter.

„Aber da ist...“ Weiter kam Norbert nicht.

Die Ohrfeige schlug ihn ins Gras. Der grelle Schmerz verjagte Norberts Benommenheit. Er presste die Hand gegen sein Ohr, in dem die Schmerzen tobten, biss die Zähne zusammen, um nicht zu schluchzen. Durch Tränenschleier bekam er mit, wie der Vater die Gepäcktasche zu zurrte und sie hinter die anderen Gepäckstücke warf.

„Unter deine Decke!“ schleuderte er seinem Sohn entgegen. „Dass du dich ja nicht mehr rührst heute Nacht!“

***

Norbert lag in die Decke gewickelt und starrte durch das Baumgeäst in den Nachthimmel, lauschte den Schmerzen in seinem Ohr, wie sie langsam abklangen.

Vater weiß, was in der Tasche ist! Er weiß es, aber ich sollte es nicht mitbekommen! Warum nimmt er das mit? Was ist das?

Seine Gedanken gingen im Kreis. Er konnte an nichts anderes mehr denken.

In der Morgendämmerung stand der Vater auf und entfachte Feuer mit einem Feuereisen. Eine Nebelbank verbarg den Fluss. Aus den Hügeln rings umher stieg Dunst auf. Norbert schälte sich aus der Decke. Feuchte Kälte kroch durch seine Kleidung. Er machte kreisende Bewegungen mit dem Unterkiefer, um festzustellen, ob das Ohr noch schmerzte und verzog das Gesicht. Die Schmerzen waren noch da. Norbert ging Holz zusammenklauben und brachte es ans Feuer. Vater blies die Glut an. Dann hielt er Norbert einen kleinen Kessel entgegen.

„Wir brauchen Wasser für den Tee.“

Wortlos nahm Norbert den Kessel und stieg zum Fluss hinab. Er rang mit sich, während er den Hügel wieder hochstieg.

Ich will ein Held werden. Ich fürchte mich nicht vor dem Vater! Und wenn er tobt, ich sag‘s doch!

Trotzig hielt er dem Vater den Kessel hin. Hans Lederer betrachtete seinen Sohn, während er Teekräuter in den Kessel gab. Schweigend holte er Brot und Käse aus dem Gepäck und gab Norbert von beidem. Mit zusammengekniffenem Mund nahm Norbert das Frühstück entgegen. Der Vater rieb sich die Hände über dem Feuer, dann fuhr er mit den schwieligen Händen über sein Gesicht und schaute in den Frühnebel hinaus.

„Nun frag schon!“ knurrte er.

Norbert hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

Er schluckte einen Bissen hinunter, dann stieß er die Frage hervor: „Was ist in der Tasche drin?“

Der Vater sah seinem Sohn in die Augen. „Elbenholz!“

Norbert hustete den Bissen wieder hervor, den er hinunterschlucken wollte. Entgeistert starrte er seinen Vater an.

„Aus der... von dem...,“ Er bekam keinen Satz heraus.

„Aus dem Elbendorf. In den Ruinen dort liegen Mengen morscher Balken. In Altenweil gibt es einen verrückten Gelehrten, der zahlt bares Silber für die vergammelten Holzstücke.“

„Aber wie... du...“ Norbert konnte nur Wortfetzen schreien.

Vater tastete nach der Mantelfibel.

Langsam seine Worte suchend erklärte er: „Woher dachtest du, dass unser Geld kommt? Das Geld, mit dem ich in Altenweil einkaufe, was wir brauchen? Was haben wir schon in Wildenbruch, womit man handeln könnte? Lutz Torstensohn stellt Wildfallen auf und bringt Felle auf den Markt, die Verena Methorst sammelt wilden Honig, aber was ist das schon? In den Augen der Menschen in der Zivilisation sind wir Bettler!“

Norberts Kopf trieselte. Er hatte sich nie Gedanken darum gemacht, womit Vater bei seinen Marktreisen handelte. Es war ihm immer selbstverständlich vorgekommen, dass der Vater im Herbst zum Markt reiste und eine Woche später mit dem schwer beladenen Esel zurückkam. Die Elbenfrau mit dem blutigen Säugling im Arm stand ihm vor Augen. Er quetschte sein Brot in der Faust zusammen.

„Das Dorf gehört den Elben – es ist ihr Holz.“ Er konnte es nur flüstern.

Hans Lederer warf seinem Sohn einen mahnenden Blick zu. „Ich habe dir gesagt, dass wir im Gornwald an der Grenze leben. Wir Siedler müssen zusammenhalten. Wir ringen der Wildnis das Land ab, verstehst du? Wir sind es, die das Land urbar machen für die Menschen. Es ist gefährlich. Wo wir die Toten nicht vertreiben können, besänftigen wir sie, halten sie jenseits der Grenze. Es ist unser Wald!

Obwohl sein Herz heftig schlug aus Furcht vor Prügel, sah Norbert den Vater trotzig an. „Es ist böse, was der Smeta passiert ist! Und es ist böse, was den Elben passiert ist! Ihr habt sie nicht besänftigt! Die Soldaten haben die Elben erschlagen, alle, sogar Kinder und Säuglinge, und du...“ Er schrie es hinaus: „Du bestiehlst sie! Es ist ihr Holz!“

„Die Elben sind tot. Sie werden vergehen, Norbert, wie die Großmutter vergangen ist. Jetzt sind wir es, die im Gornwald leben.“

Norbert starrte auf den Fluss hinunter, von dem die Frühnebel sich gehoben hatten.

Sein Herz raste, aber dennoch sagte er es laut: „Ich werde ein Held, wie Beowulf. Dann räche ich all das Unrecht!“

Hans Lederer schlug seinen Sohn nicht. Er goss eine Blechtasse mit heißem Tee voll und reichte sie ihm.

„Du bist mutig, Norbert. Aber Beowulf war nicht bloß mutig, sondern auch klug. Deshalb kam er Grendel auf die Schliche. Ich rate dir: werde zuallererst klug. In Altenweil bekommst du die armen Teufel noch zu sehen, die zuerst mutig waren und danach erst klug wurden.“

Norbert umschloss die heiße Blechtasse mit beiden Händen. Er hatte keine Ahnung, wovon Vater sprach. Eine dumpfe, trotzige Wut gärte in ihm.

***

Bis zum Mittag wanderten sie flussaufwärts, dem überwucherten Trampelpfad durch die Hügel folgend. Norbert las einen Ast vom Boden auf, der halbwegs als Wanderstecken taugte. Sein Körper schmerzte von der ungewohnten Anstrengung und er hatte Mühe, mit dem Vater Schritt zu halten. Während dem Laufen kam er nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, warum der Vater so verändert war: Er sprach mit Norbert, er erklärte ihm Dinge. Schreckliche Dinge, fand Norbert, aber es war allemal besser als Vaters wütendes Schweigen und die stummen Prügel in Wildenbruch.

Sie rasteten in einem sonnenbeschienenen, von Buchenschösslingen und jungen Bäumen bestandenen Windbruch. Als sie von der Mittagsrast aufstanden, betrachtete Vater Norberts behelfsmäßigen Wanderstock, zückte sein Messer und ging zu einer nahen Gruppe junger Buchen. Mit wenigen Schnitten hatte er einen stabilen Stecken zurecht gearbeitet und reichte Norbert den Stab.

„Da hast du deinen Wanderstock.“

Norbert verstand nicht, womit er so viel Aufmerksamkeit verdient hatte.

Sie bogen vom Fluss ab, der hier von den steilen Hügelketten im Nordosten herabgestürzt kam. Hinter den Hügeln warfen sich hohe Bergflanken auf. Hans Lederer und Norbert stiegen über bewaldete Hügel nach Westen. Norberts Lunge rasselte beim Aufstieg auf die Hügelflanke, trotz des Wandersteckens. Der Vater wartete mit dem Esel auf der Kuppe, bis Norbert nach Atem ringend ankam. Wortlos hielt er Norbert den Wasserschlauch hin. Als Norbert zu Atem gekommen war, stiegen sie hinab in ein enges, schattiges Hügeltal. Föhren klammerten ihre Wurzeln zwischen Felsblöcke. In der Talmitte schlängelte sich ein Bach entlang.

„Am Nachmittag kommen wir aus dem Gornwald in die Ebene heraus,“ erklärte der Vater. „Am Abend sind wir in Köhlershofen. Dort übernachten wir in der Herberge. Morgen Nachmittag erreichen wir Altenweil.“

Zwei volle Wandertage, fast drei von Wildenbruch bis Altenweil! Norbert hatte keine Vorstellung davon gehabt, wie groß der Gornwald und das Land dahinter waren.

Während er über Steine und Wurzeln dem Vater nach abwärts stieg, brachte er hervor: „Vater – wie groß ist die Welt?“

Hans Lederer dachte nach. „Von Altenweil nach Trümmelfurt sind es fünf oder sechs Tagereisen. Von dort geht eine Straße zwanzig Tagereisen weit nach Klagenfurt, der Kaiserstadt an der Lorn. Die Lorn entlang, nochmal vielleicht zwanzig Tagereisen, kommt man ans Meer im Westen. Das Meer geht bis zum Horizont, wo abends die Sonne versinkt. Dahin kann kein Mensch gelangen.“

Norbert hatte keine Ahnung, was oder wo der Horizont war. Er musste stehen bleiben, weil ihm der Kopf schwamm.

***

Sie stiegen aus den Hügeln herab und folgten einem Trampelpfad durch dichten Nadelwald. Die Sonne hatte sich hinter die Wolkendecke zurückgezogen und der Wald lag in schattigem Dämmerlicht. Es roch nach Harz und faulem Holz. Fichtennadeln klebten sich Norbert an die Fußsohlen. Sein Herz hämmerte. Wie würde es sein, das Land hinter dem Gornwald?

Am späten Nachmittag wanderten sie auf einen Streifen Helle jenseits der Fichtenstämme zu. Unvermittelt hörte der Wald auf. Sie traten auf eine Rodung hinaus. Vor ihnen breitete sich das flache Land - Äcker und Brachen, Knüppelzäune um kleine Felder, die in jungem Grün standen, hier und da ein vereinzelter Baum mit nach allen Seiten sich breitender Krone, Haufen von Feldsteinen um seine Wurzeln. In der Ferne, in weiten Abständen voneinander, einzelne Katen. Von ihren Strohdächern stieg Rauch auf. Das Land verlor sich in einer beängstigenden Ferne, die Norbert den Atem raubte. Stumm vor Ergriffenheit wanderte er dem Vater nach.

***

Bei Sonnenuntergang erreichten sie Köhlershofen. Der Flecken bestand aus einem knappen Dutzend getünchter Hütten längs eines wenig befahrenen Karrenpfads. Windschiefe Schuppen standen hinter den Hütten im Morast. Hühner und Ziegen liefen umher. Männer und Frauen in ungefärbter Filz- und Leinenkleidung standen beieinander, bärtige Alte rauchten Pfeifen unter den Hüttendächern, Mütter riefen die kreischend herumtollenden, halbnackten Kinder zur Nacht in die Hütten.

Ein bisschen wie in Wildenbruch, wunderte sich Norbert, nur enger und schmutziger.

Die Herberge war ein niedriger, rindengedeckter Anbau an einer der Hütten, ein einziger, fensterloser Raum mit einem Strohlager am Boden. Dämmerlicht rieselte durch den Spalt zwischen Wänden und Dach. Vor dem Anbau standen zwei Tische für die Herbergsgäste. Bretter dienten als Bänke. Ein paar Schritt abseits an einem gemauerten Ziehbrunnen verabschiedeten sich Köhlershofener Frauen voneinander, um zu ihren Hütten zu gehen.

Außer Norbert und dem Vater waren an diesem Abend vier Kriegsknechte in Köhlershofen zur Herberge. Sie saßen beieinander am Tisch, tranken Bier aus Holzhumpen und blickten verdrossen vor sich hin. Ihre Piken lehnten an der Hauswand hinter ihnen. Am vorderen Tisch saß ein in einen Kapuzenumhang gehüllter Reisender mit schmutzigen Stiefeln und einem Schwert in einer Lederscheide, das er neben sich an den Tisch gelehnt hatte. Er blickte kurz von seinem Humpen auf, als Hans Lederer und Norbert über die Bank stiegen und sich an den Tisch setzten. Der Esel stand an ein Gatter gebunden an der Tränke. Norbert erhaschte einen Blick auf das Gesicht unter der Kapuze des Fremden. Graue Augen in einem wettergebräunten Bartgesicht musterten ihn.

„Den Sternen zum Gruß,“ knurrte der Vater.

Er rückte den Dolch am Gürtel zurecht. Der Fremde nickte nur. Norbert schaute fasziniert nach den Landsknechten in ihren speckigen Lederrüstungen. Helme und Lederhandschuhe lagen neben ihnen auf den Bänken. Die ungekämmten Haare hingen ihnen wirr über die Schultern. Einer von ihnen nickte Norbert zu. Er blickte auf Norberts nackte Füße und verzog das Gesicht zu einer Art Grinsen. Es sah nicht unfreundlich aus, fand Norbert, eher wie in halber Anerkennung für einen Jungen, der barfuß über Land reisen musste.

„Siedler?“ Die Stimme des Kriegsknechts hatte den Klang eines Reibeisens.

„Wir sind aus Wildenbruch,“ erklärte Vater. „Mein Junge faselt ständig davon, dass er Gespenster sieht. Ich bringe ihn zum Kloster der Armen Brüder in Altenweil, damit sie über ihm beten.“

Der Fremde sah auf. Einige Augenblicke lang lag der Blick seiner grauen Augen auf Norbert.

„Vielleicht ist es gar kein krankes Gefasel,“ überlegte einer der Kriegsknechte. „Vielleicht sieht dein Junge einfach nur mehr als andere. Wir hatten einen Kameraden...“

„Es ist eine Krankheit!“ polterte Hans Lederer. „Die Armen Brüder werden ihn heilen!“

Der Klang seiner Stimme verriet, dass er keinen Widerspruch duldete, was seinen Sohn betraf. Irrte Norbert sich, oder hatte er dem Fremden bei Vaters Wutausbruch den Kopf schütteln sehen?

„Hör mal, Siedler, seid ihr unterwegs Leuten begegnet?“ wollte der Kriegsknecht wissen. „Wir sind vom Markgrafen ausgesandt, nach Wilddieben zu suchen.“

Vater schüttelte den Kopf. „Keiner Menschenseele.“

Die Schankmagd brachte Bier und Kohlsuppe mit Schwarzbrot.

„Ihr könnt den Esel über Nacht in den Stall bringen,“ erklärte sie.

Der Vater nickte. Der Fremde betrachtete ihn, während der Vater schmatzend seine Suppe schlürfte.

„Da wirst du den Armen Brüdern viel bezahlen müssen, damit sie eine ihrer wundertätigen Ikonen über deinen Sohn halten und beten.“

Norbert fand die tiefe Stimme nicht unsympathisch. Der Vater sah kauend auf. Er betrachtete den Fremden, dann blickte er kurz zu den Kriegsknechten hinüber.

„Ich kenne jemanden in Altenweil, der mir Geld leiht,“ knurrte er. „Anton Dreyfuß, ein gelehrter Herr. Er kennt mich schon mehrere Jahre.“

Zuckte da ein Grinsen um die Lippen des Fremden? „Anton Dreyfuß leiht dir Geld? Wofür?“

„Das ist nicht deine Angelegenheit!“ brauste Hans Lederer auf.

„Das stimmt.“

Der Fremde stand auf, nahm sein Schwert und nickte Norbert zu. Ja tatsächlich, ihm, nicht dem Vater.

„Ich hau mich hin. Hab einen langen Reisetag hinter mir.“

Die Herbergstür knarrte, während er drinnen verschwand.

„Vater, was für ein Mann ist das?“ flüsterte Norbert.

„Ein Dreckskerl von einem Vagabunden, ein Strauchdieb oder Freischärler, ein Vogelfreier, ein Abenteurer, einer vom freien fahrenden Volk, die sich keinem Fürsten und keinem König untertan fühlen!“ brummte der Vater ebenso leise. „Ich bin froh, dass die Kriegsknechte heute Nacht hier sind, sonst wär ich weitergezogen, eh ich mit dem eine Nacht unter einem Dach verbracht hätte!“

Norbert war kein bisschen schlauer. Er hatte keine Ahnung, was für Leute das sein mochten, über die der Vater schimpfte.

***

Als es dunkel wurde, brachte der Vater den Esel in den Stall. Die Kriegsknechte nahmen ihre Piken und zogen sich in die Herberge zurück. Die Herbergstür klapperte. Norbert ging zu den Latrinen hinüber, die ein Stück weit ab auf einer Brache standen. In der Dunkelheit stolperte er über den gefurchten Boden. Die Mondsichel war ein blasser Fleck in den Wolken, der kein Licht spendete. Ein paar Schritt vor dem Brunnen blieb er wie angewurzelt stehen.

Am Brunnen stand ein Mädchen und schaute zu den Hütten hinüber. Das Haar hing ihr wirr ums Gesicht. Ihr Kleid triefte vor Nässe. Sie sah vierzehn oder fünfzehn Jahre alt aus. Das Mädchen stand vollkommen reglos. Auf dem Boden um sie bildete sich eine Pfütze. Ihr Blick war erfüllt von stummer Verzweiflung.

Norbert hielt den Atem an. Ein Gefühl wie von kalten Fingern rieselte ihm den Nacken herab. Es war ihm, als stünde er unter Zwang. Er konnte den Blick nicht von dem Mädchen wenden.

„Kannst du sie sehen?“ Die tiefe, warme Stimme ertönte unmittelbar hinter Norbert.

Norbert fuhr herum. Der Fremde im Kapuzenumhang stand hinter ihm. Er hatte die Kapuze abgestreift. Dichtes, dunkles Haar umgab sein Gesicht. Er deutete zum Brunnen. Norbert nickte stumm.

„Wer ist sie?“ flüsterte er.

„Die Köhlershofener erzählen, sie habe sich vor zwanzig Jahren in den Brunnen gestürzt, weil ein durchreisender Junker, in den sie sich verliebt hatte, weitergezogen sei, ohne sie mitzunehmen. Ich denke aber, es wird kein Junker gewesen sein, sondern irgendein Meierssohn aus Altenweil. Mag sein, dass sie sich gar nicht selbst ertränkt hat, sondern der Meierssohn hat nachgeholfen, als herauszukommen drohte, dass sie von ihm schwanger war.“

Norbert betrachtete die verlorene Erscheinung. Er meinte, ihren Schmerz körperlich zu spüren. Vorsichtig ging er einen Schritt auf sie zu. Ihm war, als wandte sie den Kopf ein wenig in seine Richtung.

Der Fremde hielt ihn am Arm fest. „Lass sie. Sie nimmt uns nicht wahr. Es ist gefährlich, die Toten zu stören.“

„Manchmal nehmen sie einen doch wahr,“ flüsterte Norbert.

Er musste an die Großmutter denken. Da war wieder die Wut, die jedes Mal gekommen war, wenn der Vater ihn von Großmutters Lehnstuhl weggezerrt hatte. Die ihn überkommen hatte, als Vater ihm vom Elbenholz erzählt hatte – und von der Smeta.

Er starrte zu dem Mädchen hinüber. „Ich werde ein Krieger, wie Beowulf. Dann räche ich alles Böse, was in Wildenbruch geschehen ist. Und was ihr passiert ist, auch!“

Der Abenteurer, wie der Vater ihn genannt hatte, nahm Norbert bei den Schultern. In der Dunkelheit waren seine Gesichtszüge kaum zu erkennen.

„Da werden dir Kriegskünste nichts nützen. Lerne lieber, mit deiner Begabung umzugehen. Es ist keine Krankheit, Junge. Du bist hellsichtig. Nur wenige Menschen sind das.“

„Das sagt Tante Leika auch,“ murmelte Norbert.

Er wand sich, aber der große Mann packte ihn nur fester an den Schultern.

„Statt ein Kriegsmann zu werden, solltest du zu einem Lehrmeister gehen, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult. Hör auf meinen Rat: Geh bei Anton Dreyfuß in die Lehre, dem dein Vater wer weiß was aus dem Grenzwald anschleppt.“

„Er bringt ihm Elbenholz.“

„Ich dachte mir so was. Sag Dreyfuß, Lars Wagenknecht hätte dich geschickt. Dann wird er dich aufnehmen.“

Der Fremde ließ Norbert los. Norbert betrachtete die Silhouette des Mannes in der Dunkelheit. Warum wollte der Abenteurer ihn zu dem sonderbaren Gelehrten schicken? Was hatte er davon?

„Was machst du hier? Wer bist du?“

Der Fremde schnaufte verächtlich. „Einer von den Wilddieben, die die Kriegsknechte suchen. Aber sag‘s ihnen nicht, sonst müssten sie versuchen, mich gefangenzunehmen und aufzuhängen.“

Die Hand des Fremden spielte mit dem Schwertknauf. „Und die armen Teufel wollen lieber heil und in einem Stück aus Köhlershofen wegkommen.“

„Vater sagt, du bist ein freier Abenteurer.“

„Mag sein,“ brummte der angebliche Wilddieb.

Er wies in Richtung Herberge. „Da kommt dein Vater vom Stall. Geh, lauf zu ihm. Er braucht nicht zu wissen, dass ich mit dir geredet habe.“

Während der Fremde sich mit raschen Schritten entfernte, schaute Norbert zum Brunnen hinüber. Das Mädchen war nicht mehr da. Auch die Pfütze nicht, die sich unter ihr gebildet hatte.

***

Auf dem Strohlager in der stockdunklen Herberge schwirrte Norbert der Kopf von den Ereignissen der letzten Tage: die atemberaubende Weite der Ebene - die Kriegsknechte mit ihren Waffen und Rüstungen - der geheimnisvolle Abenteurer... die vielen Dinge, die der Vater gesagt hatte - Norberts Wut beim Gedanken an die heftige Ohrfeige... das blaue Licht aus der Gepäcktasche, die Schatten der anderen Welt im diffusen blauen Licht, das entfernte Kreischen der Flöte... das verzweifelte Mädchen am Brunnen... dann das raubtierartige Grollen aus der Grotte und Smetas Schreie...

Die Worte des Abenteurers klangen Norbert in den Ohren: „Such dir einen Lehrmeister, der dich im Umgang mit der Anderwelt schult...“

Ich werde kein verrückter Gelehrter, ich werde ein Krieger wie Beowulf!

Norbert wälze sich im muffigen Stroh herum. Auf der Seite der Soldaten hustete jemand rasselnd. Ein anderer murmelte und schmatzte im Schlaf. Norbert konnte lange nicht einschlafen.

***

Der folgende Tag brachte Nieselregen. Über aufgeweichte Wege zogen die beiden Reisenden vorbei an Viehweiden, Hecken und von Bächen durchflossenen Gehölzen. Der Regen rann Norbert übers Gesicht und in den Nacken. Alle paar Schritte musste er Rotz hochziehen. Seine Nase lief, aber Petra störte das nicht. Er wusste, dass Lene das maßlos ärgern würde, wenn er es ihr erzählte. Insgeheim freute er sich schon darauf.

Am Nachmittag sichteten sie Altenweil. Die Stadt lag auf einer Anhöhe. Hoch oben auf einem Felsplateau inmitten der Stadt erhoben sich die grauen Mauern und der wuchtige Rundturm der Markgrafenburg. Norbert blickte atemlos zu den Stadtmauern und Wehrtürmen Altenweils auf. Schiefe, steile Dächer ragten hinter den Mauern hervor.

„Ist das die größte Stadt der Welt, Vater?“

„Du bist ein dummer Junge. Trümmelfurt ist viel größer als Altenweil. Und Klagenfurt, die Kaiserstadt an der Lorn, erst recht.“

Es gruselte Norbert bei der Vorstellung von Riesenstädten, in denen sich Haus an Haus drängte, deren Bewohner vielleicht nie in ihrem Leben gesehen hatten, wie Sonnenstrahlen durchs Blätterdach des Waldes rieselten. Die dunklen Mauern von Altenweil machten ihm Angst.

***

Im Stadttor mussten sie angeben, wie sie hießen und woher sie kamen. Ein Reiter in Kettenhemd und Kettenhaube zahlte den Wachen das Torgeld aus der Lederbörse an seinem Gürtel. Sein Knappe wartete mit den vom Ritt schwitzenden Pferden. Norbert blickte sich mit klopfendem Herzen um. Überall grauer Stein: Das Torgewölbe bestand aus großen Feldsteinen, der Boden war gepflastert. Der düstere Tordurchgang bedrückte ihn.

Als Vater erklärte, sie seien Siedler, durften sie passieren, ohne Torgeld zahlen zu müssen. Sie traten hinaus in die lärmende Gasse. Norbert hatte den Eindruck, die schiefen Fachwerkhäuser mit ihren über die Gasse ragenden Erkern müssten jeden Moment über ihm zusammenstürzen. Der Gestank von verrottenden Küchenabfällen und Fäkalien lag in der Luft. Männer und Frauen in ungefärbter und brauner Kleidung drängten sich um die Auslagen der Läden und versuchten, das Rattern der Handwagen auf dem Pflaster zu überschreien. Norberts erster Impuls war, auf der Stelle durchs Stadttor wieder hinauszurennen.

Hier halte ich es keinen Tag lang aus!

Aber der Vater führte den Esel zügig durch das Gedränge und Norbert musste hinter ihm her, damit er ihn nicht aus den Augen verlor. Drei oder vier Burschen in einem Hoftor grinsten, als er vorbei ging. Boshaft lachend zeigten sie auf seine nackten Füße. Norbert biss die Zähne zusammen. Seine Finger krampften sich um den Wanderstab.

Der Vater bog in eine enge Seitengasse ein. Der Lärm ebbte ab. Nur wenige Alte saßen in den niedrigen Hauseingängen und rauchten. Die Häuser neigten sich bedrohlich über der dämmrigen Gasse zusammen. In Winkeln lagen Haufen von Unrat. Ratten huschten umher. Norbert begriff nicht, wie man in solchem Dreck und solcher Enge leben konnte.

Auf dem höchsten Punkt der Gasse zwängte sich ein Rundturm in die Häuserzeile. Er war kaum zwölf Schritt breit und die oberen Geschosse unter dem steilen Spitzdach sahen so schief aus, das Norbert geschworen hätte, er müsse sofort einstürzen. Es gab nur ein schmales Fenster in jedem Stockwerk. Ein paar Stufen führten zur Pforte hinauf. Über einem eisernen Türklopfer war ein vergilbtes Pergament an die Tür geheftet. Norbert vermutete, dass die verwaschenen Zeichen auf dem Pergament Buchstaben waren. Leika hatte einmal von Büchern erzählt, in denen Buchstaben sich zu Wörtern zusammenfügten, so dass man lesen konnte, was ein anderer in das Buch hineingeschrieben hatte. Norbert hielt es für schiere Zauberei.

Auf Vaters Klopfen wurde die Tür geöffnet und der Vater wechselte ein paar Worte mit jemandem hinter der Tür. Im dunklen Turmeingang konnte Norbert niemanden erkennen.

Der Vater drehte sich zu ihm um. „Warte hier mit dem Esel!“

Er verschwand mit der Gepäcktasche im Turm. Die Pforte schloss sich hinter ihm. Norbert blickte schaudernd zum Spitzdach des Turms hinauf. Er war fest überzeugt, dass in diesem Gemäuer inmitten der lärmenden, verdreckten Stadt nur ein Irrsinniger hausen konnte.

Der Esel stand geduldig, während Norbert von einem Bein aufs andere trat und auf den Vater wartete. Er wünschte, er hätte alles bereits hinter sich, wäre aus der Stadt hinaus und mit dem Vater unterwegs zurück zum Gornwald. Nie, nie würde er hierher zurückkehren, das schwor er sich. Als die Pforte sich öffnete, schreckte er auf. Er hörte den Vater mit jemandem reden. Vater trat aus der Pforte. Der alte Mann, der ihm nachkam, war in ein dunkles Gewand mit weiten Ärmeln gekleidet. Das hohlwangige Gesicht war von Falten durchzogen. Mit Fingern, die Norbert an Klauen erinnerten, schüttelte er Vater die Hand.

Norbert hörte Vater sagen: „Nein, ich bringe ihn zu den Armen Brüdern. Ich will, dass er geheilt wird.“

Der Blick des Alten lag auf Norbert. Kleine, stechende Augen musterten ihn. Norbert wäre am liebsten weggerannt. Der Alte sagte etwas zum Vater, dann schloss er die Turmpforte. Vater kam die Stufen herab und nahm Norbert die Leine aus der Hand.

„Das Kloster liegt am Marktplatz. Heute ist es zu spät, die Mönche aufzusuchen. Wir übernachten im Gasthof „Zum frommen Pilger“. Dorthin gehe ich jedes Mal in Altenweil. Dort ist es billig und gut.“

***

In der Torgasse wurden die Läden zu den Werkstätten der Handwerker geschlossen. Die Gasse leerte sich. Hinter der schwarzen Silhouette der Felsenburg über den Dächern der Stadt leuchtete trübes Abendrot.

Der Marktplatz lag am Ende der Torgasse. Obwohl der Burgfelsen den Platz überschattete, war es hier heller und die Luft kam Norbert reiner vor als in den engen Gassen der Unterstadt. Bei den großen Häusern vor dem Burgfelsen am gegenüberliegenden Ende des Platzes konnte es sich wohl nur um die Schlösser von Grafen oder Fürsten handeln, glaubte Norbert. Aber er wollte den Vater nicht schon wieder fragen. An der Ostseite begrenzte eine hohe Backsteinmauer den Marktplatz. Ein wuchtiges Gebäude ragte hinter der Mauer auf. Zwischen abgeschrägt gemauerten Außenpfeilern blickten oben unter dem Dach winzige Fenster aus den Mauern.

„Das Kloster der Armen Brüder,“ erläuterte Vater auf Norberts ehrfürchtigen Blick.

Die gewaltigen Tempelmauern waren nur ein weiterer drohender Schrecken dieser Stadt, von der Norbert glaubte, dass er sie bis an sein Lebensende hassen würde wie die Pest.

Auf dem Marktplatz wurden die Stände geleert. Händler luden ihre Waren in Schulterkiepen und Karren. In Lumpen gehüllte Frauen und dreckstarrende Kinder wanderten zwischen den Ständen herum und sammelten Gemüseabfälle auf. Die Händler fuhren sie an, manche traten auch zu, doch die Bettelleute zogen lediglich die Schultern ein und bückten sich nach dem nächsten Gemüserest. Ein Junge rannte über den Marktplatz, von rachsüchtigem Geschrei verfolgt. Er presste einen Kohlkopf gegen sein zerfetztes Hemd. Norbert blickte ihm mit klopfendem Herzen nach, bis er in einer Gasse verschwand. Ein untersetzter Mann in einer Schürze brüllte ihm hinterher. Er schwang ein Tischbein in der Faust.

Norbert blickte sich um wie gehetzt, als würde er selbst verfolgt von den wütenden Marktleuten. Da kauerten Gestalten an den Hausmauern längs des Platzes. Aus dreckigen Lumpen streckten sie den Vorbeigehenden Armstümpfe entgegen, blinzelten einäugig aus entstellten Gesichtern, ein Junge ohne Beine saß in einem Handwagen. Vater ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.

„Erbarmen, Junge, einen Viertelkreuzer für einen Diener des Grafen, der seinem Herrn treu gedient hat.“

Eine Krücke schwang vor Norbert. Der junge Mann, der sie hielt, hatte seinen Beinstumpf mit schmutzigen Lappen umwickelt. Sie waren dunkel von Blut. Auch das Sackleinen um die seltsam verkrümmte Hand waren blutverkrustet.

„Nur einen Viertelkreuzer, guter Junge!“

Fassungslos starrte Norbert in das ausgezehrte Gesicht. Er bekam keinen Ton heraus. Verzweifelt schüttelte er den Kopf, als könnte er die Erscheinung dadurch vertreiben. Dann rannte er dem Vater hinterher.

„Vater!“

Er konnte nicht anders, er musste sich an Vaters Jacke klammern. Tränen rannen Norbert übers Gesicht.

„Vater, was sind das für Leute?“

„Ich habe dir gesagt, dass du sie sehen würdest. Kriegskrüppel: Männer, die mutig aber dumm genug waren, in den Krieg zu ziehen. Jetzt sind sie klug geworden. Aber das schützt sie nicht mehr vorm Verrecken.“

Norbert wurde schlecht.

„Vater, lass uns weggehen. Lass uns draußen übernachten, nicht in der Stadt.“

„Unsinn, komm jetzt. Reiß dich zusammen!“

Der Vater schlug ihm über den Kopf – es war nur ein angedeuteter Schlag.

„Ich habe dir geraten, zuerst klug zu werden. Du wirst jetzt wohl auf mich hören, wie?“

Norbert nickte stumm.

***

Der Gasthof „Zum frommen Pilger“ lag ein paar Quergassen abseits vom Markt an der unteren Klostermauer. Es war ein großer Gasthof. Licht schimmerte aus den Pergamentfenstern im Erdgeschoss auf die Gasse hinaus. Aus der halboffenen Tür drangen Essensgerüche und Stimmengewirr. Der Vater und Norbert brachten den Esel in den Stall. Vater gab dem Stallknecht Trinkgeld und nahm dem Esel das Gepäck ab. Durch den Hinterhof mit den Latrinen und der Waschküche gingen sie zur Gaststube hinüber. Irgendwo lachte ein Mädchen. Ihr Juchzen passte nicht in eine Pilgerherberge, wie Norbert sie sich vorstellte.

Die Gaststube nahm das gesamte Untergeschoss des Wirtshauses ein. Viele der langen Tische waren voll besetzt. Männer mit abgearbeiteten, blassen Gesichtern hielten ihre Bierhumpen in die Höhe und prosteten den Schankmädchen zu, die mit Armen voller Humpen von den Bierfässern her kamen. Die Mädchen hatten saubere Kleider an, stellte Norbert staunend fest, manche sogar blau gefärbte Schürzen, die sie sich eng um die Taille geschnürt hatten. Eine junge Frau erzählte den Männern an den umgebenden Tischen mit in die Hüften gestemmten Armen eine Geschichte, die offenbar sehr lustig war, denn die Männer johlten und prosteten ihr zu. Über der Herdstelle wurde ein Spanferkel am Spieß gedreht. Es roch nach Bier, verschwitzten Körpern und Braten. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen.

Sie suchten sich einen freien Platz an einem Tisch am unteren Ende der Gaststube.

Der Vater fragte das Mädchen, das an den Tisch kam: „Ist Rebekka nicht da?“

Das Mädchen überlegte kurz. Dann sah sie Hans Lederer nachdenklich an. Der Vater holte den Geldbeutel aus der Jacke, legte ihn klimpernd auf den Tisch ohne ihn loszulassen und steckte ihn wieder ein. Norbert beobachtete die Szene gespannt, ohne etwas begreifen zu können.

„Ich glaube, Rebekka ist in der Waschküche,“ sagte das Mädchen mit einem seltsamen Blick auf Norbert. „Ich sag ihr Bescheid. Soll ich dir Bier bringen?“

Der Vater nickte. „Und dem Jungen auch. Essen wollen wir auch was.“

„Ich bringe euch Eintopf und Bier. Wollt ihr auch Spanferkel?“

Oh ja, bitte, bitte! dachte Norbert.

Doch er wusste, dass der Vater kaum viel Geld ausgeben würde. In Wildenbruch achtete er stets genauestens darauf, dass niemand mit dem Essen verschwenderisch umging.

„Ja,“ sagte Hans Lederer. „Und gib uns Brot dazu.“

Norbert starrte den Vater mit großen Augen an.

Der duftende Krustenbraten, der Kartoffeleintopf und das frische Brot ließen Norbert die Schrecken der Unterstadt und des Marktplatzes vergessen. Er war so mit Kauen und Schlucken beschäftigt, dass er den Wirtshauslärm kaum noch wahrnahm. Das Bier stieg ihm in den Kopf und machte ihn dösig. Die junge Frau bemerkte er erst, als sie sich zu ihnen an den Tisch setzte. Ihre Schürze war ausgebleicht und sie hatte Schwielen an den Händen, aber die Haut ihrer Unterarme, des Gesichts und des Halses, der bis zum Schlüsselbein zu sehen war, war sauber. Ihr brünettes Haar war gewaschen und ordentlich aufgesteckt. So viel Mühe um ihr Äußeres gaben sich die Wildenbrucher Frauen nur an Festtagen. Die junge Frau hatte ein hübsches Gesicht, fand Norbert. Er wunderte sich, warum sie ihr Kleid nicht bis oben zugeschnürt hatte.

„Sonst kommst du immer im Herbst,“ sagte die Frau zu Hans Lederer.

Sie war wohl die Rebekka, nach der der Vater gefragt hatte.

Hans Lederer deutete auf Norbert. „Mein Sohn. Er ist geistersichtig. Es gibt Gerede darüber im Dorf. Ich bringe ihn zu den Armen Brüdern, damit sie über ihm beten.“

Den Blick, mit dem die Frau, die wohl Rebekka war, ihn betrachtete, fand Norbert freundlich.

„Glaubst du, die Gebete der Armen Brüder werden ihm helfen?“

„Wehe, wenn nicht!“ grollte Hans Lederer. „Er soll sich bloß zusammenreißen!“

Er sah Norbert drohend an. Norbert guckte auf seinen Teller und stopfte sich Spanferkel in den Mund, weil er nicht wusste, was er darauf für ein Gesicht machen sollte. Als er aufgekaut hatte, wischte er mit dem Finger den letzten Rest Suppe aus der Holzschale. Der Vater und Rebekka unterhielten sich leise. Rebekka nahm Norbert den Suppenteller aus der Hand.

„Ich hole dir noch Eintopf. Du brauchst bei uns nicht zu hungern.“

Norbert musste an die Kriegskrüppel draußen beim Markt denken. Plötzlich fühlte er sich schlecht.

Als Rebekka mit dem vollen Teller Suppe zurück an den Tisch kam, fragte Norbert, obwohl sein Herz dabei zu pochen anfing: „Warum gibt niemand den Kriegskrüppeln was zu essen? Und den Bettelkindern?“

Aus irgend einem Grund glaubte er, solange Rebekka am Tisch saß, würde er vom Vater keine Ohrfeigen kassieren. Der Vater schlug tatsächlich nicht zu.

Statt dessen grollte er: „Weil die nichts haben, womit sie bezahlen können! Wer sollte ihnen da was geben wollen? Wenn du allen Krüppeln der Welt dein Geld geben willst, bist du bald selber Bettler! Glaub bloß nicht die Ammenmärchen, die die Weiber im Dorf erzählen: Wenn eine ihr letztes Hemd weggibt, regnen die Sterne Gold auf sie herab. Im Dreck landet sie, nirgends sonst!“

Norbert musste wohl ein sehr bestürztes Gesicht gemacht haben, denn Rebekka legte ihm die Hand auf den Arm und sagte versöhnlich: „Die Armen Brüder betreiben ein Siechenhaus im Kloster. Da waschen sie den Kriegsversehrten die Wunden und verbinden sie. Sie geben ihnen auch etwas zu essen, aber dann schicken sie sie fort. Es heißt, es gibt einen Streit zwischen dem Abt und dem Markgrafen. Der Abt sagt, die Kriegsleute hätten dem Markgrafen gedient, zu dem sollen sie gehen, damit er sie versorgt.“

Das verstand Norbert nicht, aber er hörte auch kaum zu, weil er es mochte, wie Rebekkas Hand auf seinem Arm lag. Er hätte ihre Berührung gerne noch länger gespürt, aber sie zog die Hand weg.

Sie lächelte Hans Lederer an. „Du hast einen aufgeweckten Jungen, Hans.“

Der Vater betrachtete seinen Sohn zweifelnd.

„Noch ist er nicht klug, aber klug werden muss er, das rate ich ihm!“

***

Norbert döste am Tisch, während der Vater und die junge Frau leise miteinander sprachen. Das Bier und das Essen machten ihn müde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so satt gewesen war. Lärm, Bierdunst und das Durcheinander der Menschenmenge in der Gaststube schwammen ihm im Kopf und er wusste nicht, ob er noch wach war, oder ob er bereits im Halbschlaf träumte.

Irgendwann hörte er Rebekka sagen: „Dein Sohn schläft gleich ein, Hans, ihm fallen ja schon die Augen zu.“

Norbert dachte, sie wollte ihm eine Ohrfeige geben, aber sie fuhr ihm bloß zärtlich durchs Haar. Er konnte sich nur noch schwer konzentrieren.

„Ich bringe ihn nach oben in die kleine Kammer, da kann er schlafen, ohne dass die Betrunkenen ihn stören.“

Der Vater nickte. Norbert hatte gedacht, Vater und er würden zusammen übernachten. Aber der Vater machte diese Miene, die er immer machte, wenn er der Verena eine Speckseite oder ein Ferkelchen brachte. Norbert sah sich in der Gaststube um. Mit einem Mal hatte er den Eindruck, dass es gar nicht wegen dem Bier oder dem Essen war, weswegen viele der Männer im Raum in den „frommen Pilger“ gekommen waren.

Er folgte Rebekka zur Treppe neben der Küche. Rebekka brachte einen glimmenden Kienspan. Aus einer Truhe nahm sie Decken und ging ihm voraus nach oben. Neben dem Wäscheboden öffnete sie die Tür zu einer kleinen Kammer. Es gab einen schmalen mit Stroh gefüllten Bettkasten und eine Truhe. Die Dachluke war mit einem Laden verschlossen. Rebekka setzte den Kienspan in einen Ständer auf der Truhe.

„So, hier kannst du dich ausruhen.“ Sie legte die Decken im Bettkasten zurecht. „Wenn du später noch mal Hunger bekommst, geh nur runter in die Küche und lass dir ein Stück Brot geben. Die Küchenmägde wissen alle, dass du Hans Lederers Sohn bist. Du brauchst hier keinen Hunger zu haben.“

„Rebekka?“

Sie sah ihn fragend an.

„Bringt dir Vater auch ein Geschenk? Der Verena im Dorf bringt er immer eine Speckseite oder ein Stück Rauchfleisch oder so etwas, wenn er zu ihr geht.“

Sie fuhr ihm durchs Haar. „Du redest wie ein dummer kleiner Junge. Erwachsene sprechen nicht über solche Dinge.“

Sie reden nicht drüber, aber sie tun es trotzdem.

„Und nun schlaf. Träum schön.“

„Rebekka, ich hab Angst, dass ich von den Kriegskrüppeln träume.“

In Rebekkas Augen lag eine traurige Zärtlichkeit, als sie ihn sanft in die Decken drückte. „Daran musst du nicht denken. Wenn wir alle Nase lang an den Tod dächten und das Elend, das einen erwischen kann, wie sollten wir das aushalten? Du bist ein gewitzter, gesunder Junge und hast einen fleißigen, hart arbeitenden Vater. Du wirst deinen Weg gehen. Du brauchst keine Angst zu haben vor dem Elend.“

Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn und während Norbert sich noch darüber wunderte, ging sie hinaus und schloss die Tür leise hinter sich.

Norbert lag im Lichtschimmer des Kienspans und starrte zu den schrägen Dachbalken hinauf. Die Ecken der Kammer lagen im Dunkeln. Sein Kopf drehte sich. Er fühlte sich unendlich fremd in dieser Stadt. Jetzt im trüben Schimmer des Kienspans jagte ihm alles, was er gestern und heute erlebt hatte, Angst ein. Er tastete in der Hosentasche nach dem Holzpüppchen.

Petra, wenn ich groß bin, werde ich Krieger und räche alles, alles! Was sie den Elben angetan haben und der Smeta, dem Mädchen am Brunnen und den Kriegskrüppeln. Wenn ich erst ein Held geworden bin, dann werde ich...“

Aber er wusste gar nicht mehr, was er denn unternehmen würde, um das alles gut zu machen, was ihn bedrängte. Er presste das Püppchen an seine Brust und weinte vor Wut und Verzweiflung.

Ich bin bei dir, sagte Petra. Hab keine Angst.

***

Norbert wachte früh auf und ging in die Küche hinunter, wo er Brot mit Schmalz bekam und auf den Vater wartete. Der Vater sah müde aus, als er hinunterkam. Sie frühstückten Gerstengrütze mit Bier und machten sich zum Tempel auf.

Im Klosterhof waren nur wenige Menschen. Ein paar Frauen mit abgedeckten Körben gingen zwischen den niedrigen Gebäuden an der oberen Mauer umher. Vor dem Tempelportal standen Reisende in Filzumhängen mit langen Stecken in den Händen. Pilger, vermutete Norbert. Echte Pilger. Die Morgensonne brach durch die Wolken und beschien mehrere Reihen steinerner Gräber zwischen dem Tempelgebäude und der Klostermauer. In die Grabstelen waren kleine Bilder in verwaschenen Blau- und Rottönen eingearbeitet.

Das massige Tempelgebäude stand wie ein unverrückbarer Fels dem Eingang zum Klosterhof gegenüber. Norbert glaubte, die wuchtigen Mauern müssten von Riesen erbaut worden sein. Hinter dem Tempelportal öffnete sich eine von Pfeilern getragene Halle. Das Deckengewölbe lastete in einer derartigen Höhe auf den Stützpfeilern, dass es Norbert den Atem raubte. Die höchsten Waldbäume, die er kannte, waren kaum so hoch. Diesiges Licht rieselte aus kleinen Fenstern zwischen den Seitenpfeilern in die Halle herab. In fensterlosen, vergitterten Seitengewölben brannten unzählige Kerzen vor dunklen Bildaltären, deren Konturen in den Schatten verschwanden.

Norberts Herz klopfte heftig. Der Vater sprach mit einem Mönch und zählte ihm mehrere Münzen auf die Hand. Der beleibte Mann in der schwarzen Kutte schaute Norbert nicht an. Er ging Norbert und dem Vater voraus zu einem Seitengewölbe, schloss das Gitter auf und wies Norbert hinein vor den dunklen Altar. Kerzen standen vor einer Kniebank auf dem Boden. Überall an den Wänden zu den Seiten des Altars waren kleine Tafeln angebracht.

„Dies alles sind die Votivtafeln derer, die von der heiligen Mutter von Altenweil geheilt oder von großem Unglück erlöst worden sind,“ erklärte der Mönch dem Vater. „Bei deinem nächsten Besuch in Altenweil wirst du ebenfalls eine Tafel zum Dank für die wunderbare Heilung deines Sohnes hier anbringen lassen können.“

„Mögen eure Götter es geben,“ knurrte der Vater.

Der Mönch legte Norbert seine fleischige Hand auf die Schulter. „Zweifle nicht, mein Sohn, du wirst von deiner Plage erlöst werden.“

Ich hab keine Angst, dachte Norbert, am ganzen Körper zitternd. Ich lasse mich nicht verzaubern. Auch nicht von eurer heiligen Mutter.

Der Mönch befahl ihm, sich auf die Bank vor dem Altar zu knien. Dann öffnete er die Altarklappen. Das Bild dahinter war im Schimmer der Kerzen kaum zu erkennen. Aber es stellte keine Mutter dar, dachte Norbert. Es war das Bild eines jungen Mädchens mit verdrehten Augen, die ein Rehkitz im Schoß hielt. Sicher würde der Mönch böse werden, wenn Norbert fragte, was das Bild bedeutete. Er hielt lieber den Mund.

Vielleicht mag sie das Rehkitz nicht und guckt darum so komisch.

Der Mönch murmelte ein Gebet. Norbert biss die Zähne zusammen. Es passierte nichts. Kein Wunder geschah. Verstohlen beobachtete Norbert eine Maus, die hinter dem Altar am Boden entlang schnupperte.

***

Vor dem Eingang zum Klosterhof erklärte der Vater: „Ich will ein paar Sachen einkaufen für zu Hause. Geh zum Gasthof und warte auf mich in der Küche bei den Mägden. Mach flott und trödle nicht!“

Norbert ließ es sich nicht zweimal sagen und lief auf den Marktplatz hinaus.

Zwischen den Ständen drängte sich eine bunte Menge. Frauen in graubraunen Kleidern und Holzschuhen trugen Körbe in den Händen. Sie diskutierten mit den Marktfrauen. Händler in Schürzen und Handwerker in kurzen Arbeitskutten schrien sich über die Standtische hinweg an. Männer in Stiefeln mit Dolchen oder Schwertern an der Seite, die Norbert für Reisende hielt, betrachteten die Auslagen auf den Tischen. Es gab Stände mit Säcken und Körben voller getrockneter Früchte, an denen Norbert das Wasser im Mund zusammen lief, Tücher und Stoffballen in unglaublicher Menge, glänzende Kupferkessel in jeder Größe und Becher und Teller aus Zinn, die wohl für hohe Adlige ausgestellt wurden, dachte Norbert staunend. An einem Gemüsestand plauderte ein Händler mit zwei Kriegsknechten. Sie hatten ihre Piken gegen die Schultern gelehnt und kauten Rettich. Der Händler warf Norbert einen feindseligen Blick zu.

„Die Betteljungen solltet ihr aus der Stadt jagen. Wozu bezahlt euch der Markgraf eigentlich?“

Einer der beiden Knechte zuckte mit den Schultern. „Gib ihnen halt ab und zu was von deinem vergammelten Grünkram ab, dann klauen sie es nicht.“

Norbert beeilte sich, vom Stand wegzukommen.

Neugierig lief er zwischen den Ständen umher. Er mied den unteren Teil des Marktes, wo die Krüppel und Bettler an den Hausmauern saßen und um Mitleid warben. In der Hosentasche spielte Norbert mit den zwei Viertelkreuzern, die Leika ihm mitgegeben hatte. Ein Bäcker verkaufte Rosinenbrötchen, zwei Stück für einen Viertelkreuzer. Norbert konnte kaum widerstehen, aber er wollte sicher gehen, dass es nichts gab, was noch leckerer war. Und er wollte noch weiter über den Markt schlendern und die Rosinenbrötchen erst ganz zuletzt kaufen.

Auf der dem Kloster gegenüberliegenden Marktseite nahm das Gedränge ab. Einige Stände waren leer. An einem Bierausschank war kaum Betrieb. Nur ein paar Alte standen beim Ausschank hinter den leeren Bänken. Ein Mädchen ging zwischen den Ständen umher, sie mochte etwa in Norberts Alter sein. Das blonde Lockenhaar floss ihr um die Schultern. Ihr Kleid war an mehreren Stellen geflickt. Die Füße hatte sie mit Lappen umwickelt. Sie hielt den Marktgängern einen abgedeckten Korb entgegen. Mit einer hellen Glockenstimme pries sie Schmalzkuchen an, drei Stück den Viertelkreuzer. Norbert fand, sie sang es beinahe.

Er ging zu dem Mädchen. Sie sah ihn kommen und guckte wie Lene, wenn sie ihm einen Nasenstüber geben und mit ihm schimpfen wollte. Er hielt ihr einen Viertelkreuzer entgegen.

„Drei Schmalzkuchen!“ Norbert musste schlucken. „Bitte.“

Die Augen des Mädchens wurden groß.

Du hast einen Viertelkreuzer für Kuchen?“

Sie blickte auf seine schmutzigen, nackten Füße, auf seine staubige Reisekleidung.

„Ja, den hat mir Leika mitgegeben, als wir zu Hause losgegangen sind.“

Es klang trotzig, obwohl Norbert es nicht wollte. Die Kleine nahm die Münze.

„Halt die Hände auf!“

Die fetten Schmalzkuchen waren etwas größer als Hühnereier. Sie hatten eine braune Kruste. Norbert lief das Wasser im Mund zusammen. Das Mädchen schaute ihn nicht noch einmal an. Sie deckte ihren Korb zu und ging weiter.

„Warte!“

Sie drehte sich um und guckte böse.

„Ich schenk dir einen Schmalzkuchen. Damit du auch mal was Leckeres essen kannst!“

Norbert mochte es, wenn sie diese großen Augen machte.

„Aber – wieso...“

Er streckte ihr das Küchlein entgegen.

„Nimm! Komm, wir setzen uns auf die Bank da drüben.“

Zögernd nahm sie den Kuchen. Sie gingen zu der leeren Bank abseits des Marktgetriebes. Das Mädchen strich ihren Rock glatt, setzte sich und ließ die Beine baumeln. Sie biss in den Schmalzkuchen. Norbert setzte sich neben sie. Aus irgendeinem Grund pochte ihm das Herz, aber es war ein angenehmes Pochen.

„Die hab ich selbst gebacken,“ sagte sie mit vollem Mund.

„Lecker!“

Auch Norbert hatte den Mund voll Schmalzkuchen.

„Mutter wäscht den ganzen Tag Wäsche für andere Leute,“ plauderte das Mädchen. „Ich mach den Haushalt und am Abend backe ich die Schmalzkuchen. Die verkaufe ich am nächsten Tag auf dem Markt, dann haben wir ein bisschen mehr, um einzukaufen und Mutter muss abends nicht immer weinen.“

Norbert schaute das Mädchen an. Sie hatte braune Augen und einen hübschen Mund.

„Und dein Vater – prügelt er dich auch immer? Meiner prügelt mich zu Hause ständig.“

„Ich hab gar keinen Vater,“ sagte sie traurig.

Norbert überlegte, ob das nicht besser war. Sie aßen die Schmalzkuchen auf und wischten sich die Münder ab.

„Ich bin Norbert. Wir sind Siedler im Gornwald.“

Sie betrachtete ihn staunend. „Gibt‘s da wirklich Geister?“

„Ja. Manche sind schlimm.“

Sie dachte darüber nach.

Dann sagte sie: „Ich bin Melanie. Jetzt muss ich weiter.“

Sie nahm ihren Korb. Norbert schoss eine Idee in den Kopf. Schnell sprach er sie aus, damit er es sich nicht gleich wieder anders überlegte.

„Hier – ich schenk dir den dritten Schmalzkuchen auch noch, wenn... wenn du mir einen Kuss gibst.“

Er liebte ihre großen Augen. Sie sah aus, als überlegte sie, ob sie böse gucken sollte. Norbert hielt ihr den Schmalzkuchen hin.

„Bitte, Melanie.“

Er konnte es nur flüstern. Sie nahm den Schmalzkuchen.

Ihr Kuss schmeckte nach Speichel und Norbert wurde ein bisschen übel im Magen und hinterher wusste er nicht, ob er den Kuss gemocht hatte oder nicht. Aber später musste er immer wieder an diesen Kuss denken. Das Mädchen ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, bis Jahre später Maja und er andere Sachen miteinander ausprobierten.

***

Am nächsten Morgen wachte Norbert früh auf. Schales Dämmerlicht sickerte durch die Spalten der Dachluke. Norbert warf die Decken beiseite und ging hinunter in die Küche. Im Haus war es noch dunkel. Irgendwo schnarchte jemand. Die Küchenmagd gab ihm ein Stück Brot und stellte ihm den Schmalztopf hin. Sie schöpfte eine Kelle Wasser in einen Becher und stellte ihn dazu.

Norbert wippte ungeduldig auf der Bank, während er das Schmalzbrot aß. Nach dem Frühstück würden Vater und er abreisen. Er hoffte, dass Vater heute genauso lange bei Rebekka bleiben würde, wie gestern Morgen. Den ganzen Abend lang hatte der Vater in der Gaststube neben Rebekka gesessen und mit ihr geschmust, wenn er glaubte, Norbert sähe nicht hin. Norbert schluckte den letzten Bissen hinunter und sah sich nach der Küchenmagd um. Sie hantierte am Herd. Schnell huschte er zur Tür und schlüpfte hinaus.

Auf dem Marktplatz waren die Händler dabei, die Stände aufzubauen und Waren auszulegen. Norbert fröstelte im kalten Wind. Aber die klare Morgenluft gefiel ihm besser als der Dunst des Menschengedränges über Mittag. Ein Bettler streckte ihm eine fleckige Hand entgegen.

„Um der Milde der Götter willen, sei gut zu einem Kranken, Junge!“

Norbert lief schnell auf den Platz hinaus.

Am Bäckerstand drängten sich Städterinnen, um Brot zu kaufen. Einige sahen Norbert unwillig an. Er achtete nicht darauf. Norbert kaufte zwei Rosinenbrötchen für seinen letzten Viertelkreuzer. Sie waren noch warm und dufteten verführerisch. Dann ging er nach dem Mädchen mit den Schmalzkuchen suchen, die gesagt hatte, sie heiße Melanie. Er wanderte über eine Stunde auf dem Markt umher, aber er konnte sie nicht finden. Schließlich setzte er sich allein auf die Bank bei dem noch leeren Bierausschank, wo Melanie und er gestern gesessen hatten. Enttäuscht betrachtete er die zwei Rosinenbrötchen. Sie mitzunehmen hatte keinen Sinn, sie würden ihm in der Tasche nur zerknautschen. Außerdem würde der Vater ihn prügeln, wenn er erführe, dass Norbert Süßigkeiten auf dem Markt gekauft hatte. Er wartete noch eine Viertelstunde, ob Melanie nicht doch noch kam, dann aß er die Brötchen alleine auf. Aber sie schmeckten ihm längst nicht so gut, wie gestern Melanies Schmalzkuchen.

***

Im Gasthof empfing Hans Lederer seinen Sohn mit einem Wutanfall.

„Wo hast du dich rumgetrieben? Ich habe dir verboten, in der Stadt rumzustrolchen! Hier im Gasthaus hattest du zu bleiben. Früh aufbrechen wollte ich! Wann wirst du missratener Bengel endlich einmal auf mich hören?“

Norbert zog die Schultern hoch in Erwartung der Ohrfeige, aber die Küchenmagd ging dazwischen.

„Lass ihn, Hans Lederer. Es war unsere Schuld. Wir hätten besser auf ihn aufpassen müssen. Jeder Junge will doch mal durch die Straßen wandern und sich die Stadt ansehen. Warum soll dein Sohn nicht auch ein bisschen Vergnügen haben?“

Hans Lederer zog mürrisch die Hand zurück.

„Wenn die Stadtwache ihn als Betteljungen eingefangen hätte, hätte ich teuer bezahlen müssen, um ihn auszulösen.“

„Die Kriegsleute fangen gar keine Bettelkinder ein,“ platzte Norbert heraus. „Die sind viel klüger als die fiesen Markthändler.“

Jetzt kassierte er die Backpfeife doch noch.

Hans Lederer hatte bereits gefrühstückt. Er saß schlecht gelaunt dabei, während Norbert hastig seine Hafergrütze hinunterschlang. Rebekka erschien nicht. Der Vater zahlte dem Gastwirt die Zeche. Der Wirt war ein fettleibiger kleiner Mann mit misstrauisch blinzelnden Augen. Er drehte die Silbermünzen in den Händen und hielt sie ins Licht, um zu prüfen, ob sie echt waren. Norbert fragte sich, wie viel man wohl in einem „teuren“ Gasthaus bezahlen musste. Und wie es dort wohl zugehen würde.

Als sie die Stadt verließen, war es früher Vormittag. Wind strich über die Äcker und flüsterte in den Hecken. Wo Sonnenstrahlen durch wandernde Wolkenlücken schienen, leuchtete helles Grün auf den Feldern. Norbert atmete auf. Nach dem Gedränge und den üblen Gerüchen in den Gassen der Stadt war er glücklich, wieder Erdboden unter den Füssen und weite Felder um sich zu haben. Der Vater marschierte schnell. Norbert hatte Mühe, ihm und dem beladenen Esel hinterherzukommen. In seinem Kopf überschlugen sich die Eindrücke der letzten Tage. Er hätte gerne inne gehalten, um nachdenken zu können über alles, was er erlebt hatte, aber Vater trieb den Esel an und Norbert blieb nichts übrig, als sich darauf zu konzentrieren, mit dem Vater Schritt zu halten, um nicht zurückzufallen.

In Köhlershofen machten sie Rast. Norbert taten die Füße weh, aber der Vater wollte vor Einbruch der Nacht noch den Gornwald erreichen und hörte nicht auf Norberts Betteln, doch in der Herberge zu übernachten. Am Tisch vor der Herberge waren sie die einzigen Nachmittagsgäste. Beim Brunnen spielte eine Schar Kinder. Ihr Kreischen und Lachen drang durch den Wind herüber. Vater bestellte Bier und Essen für sich und Norbert. Es gab Kohlrübeneintopf. Das Bier machte Norbert müde und er fragte sich, wie er die Wanderung bis zum Wald durchhalten sollte. Wenn es nicht mehr ging, würde er sich eben einfach an den Wegrand setzen. Wenn der Vater ihn dann prügelte, würde er ja doch nur noch schlechter weitergehen können. Das musste der Vater ja wohl begreifen.

Die Kinder tanzten im Reigen um den Brunnen. Sie sangen ein Lied dazu. Die Melodie klang wehmütig, fand Norbert. Wie die Erinnerung an einen lange vergessenen Traum.

Ein Mädchen steht am Brunnen,

sie stehet da so still,

wartet auf ihren Liebsten,

der nicht kommen will.

Geh nicht zum Brunnen am Abend,

warte den Morgen ab.

Das stumme Mädchen am Brunnen,

sie zieht dich sonst hinab.

Der Köhler fand sie im Wald bei den Wölfen,

er nahm sie mit ins Haus.

Sie brachten ihr bei, im Hause zu helfen,

doch immer wieder riss sie aus.

Sie war nicht geschickt am Weberahmen,

zerbrach Topf und Krüge, die man ihr gab.

Sie biss die Jungen, wenn sie kamen,

sie zu besuchen am Feiertag.

Der reisende Junker, den sie liebte,

zu Sonnenwend ließ er sie allein.

Sie fand keine Tränen für ihre Liebe,

stürzte sich in den Brunnen hinein.

Geh nicht zum Brunnen am Abend,

warte den Morgen ab.

Das Wolfsmädchen am Brunnen,

sie zieht dich sonst hinab.“

Norbert stand auf und ging zum Brunnen. Er blickte in den dunklen Brunnenschacht. Aus weiter Ferne drangen Klänge an sein Ohr. Sie hallten im Brunnenloch. Zuerst glaubte Norbert, das Kreischen einer Flöte zu hören, aber es war das langgezogene, einsame Heulen einer Wölfin.

Die Kinder tanzten kreischend um Norbert herum.

Das Wolfsmädchen am Brunnen,

sie zieht dich hinab!“

Blaues Feuer

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