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4.

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Mit dreizehn Jahren begann Norbert mehrere Stunden in der Woche, manchmal auch ganze Tage auf Björn Feldnersohns Hof zu arbeiten. Hans Lederer billigte es, obwohl die eigene Hofarbeit kaum noch zu bewältigen war. Beorns Sohn Oliver arbeitete bereits die meisten Tage der Woche wegen der Grete bei Kurt Morgner. Margit wohnte seit dem vergangenem Jahr mit Ulf Methorst im eigenen neuerrichteten Holzhaus beim Hof von Ulfs Mutter Verena.

Björn Feldnersohn nahm Norbert ohne Vorbehalte auf. Er redete zu ihm wie zu einem jungen Erwachsenen, nicht wie zu dem Kind, als welches ihn Lene immer noch behandelte. Norbert mochte die ruhige, besonnene Art, auf welche Björn Feldnersohn mit seiner Familie umging. Er schrie nicht und grollte nicht. Wenn er etwas zu kritisieren oder zu tadeln hatte, sprach er jede und jeden mit Bestimmtheit, aber ruhig an. Und er hörte immer zu, wenn jemand sich über etwas beschwerte. Nie gab es am Hof Björn Feldnersohns jenes lastende Schweigen, das Norbert von zuhause her kannte. Zu allen möglichen Anlässen wurde gesungen.

„Deine und unsere Familie sind die ersten und ältesten in Wildenbruch, Norbert,“ sagte Björn Feldnersohn dem Jungen, während sie gemeinsam den Weidenzaun hinter dem Haus ausbesserten.

„Es ist schön, dass du zu uns kommst.“

Der Familienvater warf einen wohlwollenden Blick auf Maja, die mit einem Eimer Wasser vorbeikam und so tat, als würde sie ihren Vater und Norbert nicht sehen.

Lene verspottete Norbert.

„Was willst du da bei den Feldnersohns, du bist doch viel zu jung dafür, um die Maja zu freien!“

Norbert stellte seine Holzkiepe ab, richtete sich auf und blickte seiner eineinhalb Jahre älteren Schwester in die Augen.

„Weißt du, was Petra dazu sagen würde?“

„Petra?“

„Das Holzpüppchen, das du mir vor vier Jahren geschenkt hast.“

Er holte die kleine Figur aus der Hosentasche und zeigte sie Lene.

„Ach,“ spottete Lene, „damit spielst du noch?“

„Nein, aber weggeworfen habe ich sie auch nicht. Weißt du, was Petra dazu sagen würde, dass ich wegen der Maja bei Björn Feldnersohn arbeite?“

„Nämlich was?“

„Gar nichts sagt sie dazu. Sie findet es völlig richtig, findet es sogar gut!“

„Ach du Schafskopf! Lass mich in Ruhe!“

Wütend lief das Mädchen ins Haus.

Immer seltener fanden Norbert und seine Altersgenossen sich bei den nachmittäglichen Treffen der Kinder ein. Alle hatten sie jetzt mehr auf den Höfen zu tun und die Geschichten und Beschäftigungen der jüngeren Kinder begannen uninteressant zu werden. Roderig kam schon lange nicht mehr.

Zusammen mit Ulrich durchstreifte Norbert den Wald nahe der Siedlung. Sie dachten sich Helden- und Kriegergeschichten aus, spielten Beowulfs Kampf mit Grendel oder seinen Schlachtzug gegen den Feuerdrachen. Doch am häufigsten traf sich Norbert nach der Tagesarbeit mit Maja. Sie setzten sich auf den Holzstapel neben dem Eingang zu Björn Feldnersohns Haus, tauschten Neuigkeiten aus oder saßen einfach nur beieinander, bis es Zeit wurde für Norbert, zum Hof seines Vaters zurückzugehen.

***

Den einen Abend hielt Roderig Norbert nahe beim väterlichen Hof an.

„Hör mal, Bert, sag doch deiner Schwester Lene, dass ich heute noch beim Schafgatter zu tun hab, also, ich meine da, wo euer Heuschober steht.“

„Sag ihr das lieber selber, mich verspottet sie bloß.“

Roderig sah nicht überzeugt aus. „Ich weiß nicht...“

„Komm einfach mit.“

Lene kam mit dem leeren Abfalleimer vom Schweinestall her. Norbert ging zu ihr.

„Der Roderig will dir was sagen.“

Lene machte ein wütendes Gesicht. Roderig trat von einem Bein aufs andere.

Norbert rief ihm zu: „Stimmt doch, Roderig, oder?“

Roderig holte Luft. „Ich wollte dich was fragen, Lene.“

„Was willst du von mir?“ schrie sie zornig.

„Also, nicht hier, unter vier Augen - hinten beim Heuschober.“

„Du hast wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!“ kreischte sie.

„Nur zwei Sätze, Lene!“

Lenes Gesicht war puterrot. „Aber nur einen Augenblick. Ich muss Mutter beim Gemüseputzen helfen.“

Sie stellte den Eimer ab und ging ums Haus. Im Vorbeigehen knuffte Roderig Norbert gegen den Arm.

„Danke, Bert!“

Lene kam erst am nächsten Morgen vom Heuschober zurück. Am folgenden Tag fragte Roderig Norberts Vater, ob er auf seinem Hof arbeiten dürfe. Lene, die beim Herd hantierte, fiel beinahe der Krug mit der Sauermilch aus den Händen. Sie fing ihn gerade noch auf, aber ein Schwall saurer Milch schwappte auf den Boden. Hans Lederer blickte erst Roderig, dann seine Tochter an.

Nach einigen Augenblicken des Schweigens knurrte er: „Lene wird dieses Jahr fünfzehn. Wenn du drei Jahre auf meinem Hof arbeitest, gebe ich sie dir nach Ablauf der drei Jahre zur Frau.“

„He, werde ich vielleicht auch noch gefragt?“ kreischte Lene.

„Halt die Gusche!“ fuhr Hans Lederer seine Tochter an. „Oder ich frag euch, was ihr gestern Nacht in meiner Scheune getrieben habt!“

Seit diesem Tag spottete Lene nicht mehr über Norbert und Maja.

***

Im Spätsommer gebar Margit ihr erstes Kind, ein Mädchen. Als das Neugeborene drei Tage alt war und Leika meinte, es sei kräftig genug, um zu überleben, bekam es den Namen Hanna. Margit zog ins Haus ihrer Eltern zurück und die Mutter und Leika halfen ihr, den Säugling zu pflegen. Ulf kam jeden Abend nach der Tagesarbeit, seine Frau und sein Kind zu besuchen. Er brachte Milch, Käse und Brot, manchmal auch einen kleinen Topf Honig für Margit mit.

Den einen Abend kam Oliver erst spät von der Arbeit an Sven Hüttners Hof herein, als die Familie bereits um den Esstisch saß. Der Mutter entfuhr ein Entsetzensschrei. Alle starrten Oliver an. In der betroffenen Stille war nur Hannas Quengeln zu hören.

Olivers Haar war blutig, sein rechtes Auge zugeschwollen. Er spuckte Blut aus und ließ sich stumm auf die Bank fallen. Mutter betete zur heiligen Dame der Grotte.

Leika betastete Olivers Schädel und Gesicht. „Warte, ich koche einen Kräutersud und mache dir einen Verband.“

Hans Lederer stand auf und trat auf seinen Sohn zu.

„Mit wem hast du dich geprügelt?“

Es fiel Oliver schwer, zu sprechen. Immer wieder musste er Blut ausspucken.

„Lars Weidner,“ brachte er hervor.

„Wer von euch hat angefangen?“

Es klang drohend. Oliver richtete sich auf.

„Er. Fing mich vor Kurts Hof ab. Sagte, ich soll mich zum Teufel scheren. Wegen Grete. Will sie selber heiraten. Aber ich hab‘s ihm gegeben.“

Hans Lederer schwieg. Stumm ging er zu seinem Platz am Kopfende des Tischs zurück.

Während Leika eine Kräuterpaste auf Olivers Kopfwunden auftrug und ihm ein Leinentuch umband, grollte Hans Lederer vom Tisch her: „Wen von euch beiden will die Grete?“

„Mich.“

„Sicher?“

„Ich schwör‘s. Frag sie selbst!“

Hans Lederer antwortete nichts mehr.

Am nächsten Morgen winkte der Vater Norbert zu sich heran.

„Bevor du zu Björn Feldnersohn gehst, gehen wir beide zu Lars Weidner. Du bist alt genug, um zu lernen, wie man mit solchen Dingen umgeht. Später wirst du an meine Stelle treten. Dann musst du die Angelegenheiten im Dorf regeln können.“

Sie trafen Lars Weidner beim Holzspalten vor der Hütte, die er seit dem Verschwinden seiner Frau allein beim Hof Lutz Torstensohns bewohnte. Er legte das Handbeil weg und richtete sich auf, als er Hans Lederer und Norbert kommen sah. Lars‘ rechtes Auge war blutunterlaufen, seine Lippen geschwollen und aufgeplatzt. Stumm erwartete er den Vater, der sich ihm gegenüber stellte. Norbert wartete ein paar Schritt abseits, was geschehen würde. Lars blickte Norberts Vater voller Hass entgegen.

„Was war das gestern vor Kurt Morgners Hof?“ schnappte Hans Lederer.

Norberts Vater war zwar zwanzig Jahre älter, aber fast einen ganzen Kopf größer als Lars. Seine Schultern waren beinahe doppelt so breit. Er hatte kein Messer, keinen Dolch dabei. Lars‘ Beil lag griffbereit neben ihm auf dem Block.

„Dein Sohn will mir die Grete Morgner streitig machen.“

Lars‘ Aussprache war undeutlich, aber der drohende Unterton war nicht zu überhören. Hans Lederer stand keine zwei Schritt vor ihm.

„Wen von euch will die Grete?“

Lars‘ Gesicht wurde dunkelrot.

„Was geht dich das an, Hans Lederer? Sie ist meine Braut!“

„Hat Kurt Morgner sie dir versprochen?“

„Halt dich aus der Sache raus, Lederer!“

Lars‘ Stimme überschlug sich vor Wut.

„Ich schlag deinen Sohn zum Krüppel, wenn er noch mal zum Kurt Morgner geht.“

Die Stimme Hans Lederers wurde hart.

„Du bist ein erwachsener Mann, Lars. Wir Siedler halten Frieden untereinander. Das ist Gesetz. Du bist Wildenbrucher, das Gesetz gilt auch für dich. Du hast die Smeta zur Frau gehabt. Du könntest sie noch immer haben. Deine Schuld, dass du sie dazu getrieben hast!“

Lars Weidner stand schwer atmend da. Endlich schaute er zur Seite.

„Lass mich in Ruhe, Lederer.“

Ohne Vorwarnung langte Hans Lederer nach dem Beil. Lars stolperte zurück. Seine Stimme überschlug sich.

„Was soll das?“

Hans Lederer wog das Beil in den Händen.

„Dies ist meine letzte Warnung an dich, Lars. Lass die Grete in Ruhe. Und benimm dich.“

Er warf das Beil auf den Block zurück.

„Norbert, wir gehen.“

Norbert sah, dass Lars zitterte, während er dem davonmarschierenden Vater nachsah. Sein Gesicht war aschfahl.

***

Lars Weidner ging Oliver aus dem Weg, wenn er ihm auch wütende Blicke zuwarf, sooft sie sich im Dorf begegneten. Er besuchte Sven Hüttner und fragte, ob es etwas zu tun gäbe, doch Gretes Vater wies ihm keine Tätigkeit an. Grete zeigte offen ihre Verachtung für ihn. Dennoch erschien Lars Weidner beinahe jede Woche am Hof.

Als es Herbst wurde, nahm Björn Feldnersohn Norbert mit in den Wald auf die Jagd. Er erklärte ihm die Fährten und Losungen der Wildtiere und den Umgang mit Pfeil und Bogen.

„Das Jagen ist im gesamten Reich nur dem Adel erlaubt, aber wir Grenzsiedler haben die Erlaubnis des Kaisers, für unseren Lebensunterhalt zu jagen,“ erklärte Björn dem Jungen.

Den gesamten Winter über gingen Norbert und Björn Feldnersohn gemeinsam jagen. Norbert lernte das Bogenschießen schnell und auch beim Abhäuten und Ausweiden des Jagdwilds erwies er sich als geschickt. Björn Feldnersohn machte keinen Hehl daraus, wie zufrieden er mit Norbert war.

***

„Du wirst ein guter Jäger werden,“ erklärte Björn.

Norbert hatte eine Rehkuh erlegt und die beiden machten eine Pause beim Aufbrechen des Wilds. Rings um das aufgeschlitzte Tier war der Schnee mit Blut getränkt. Björn reichte Norbert die Feldflasche mit dem Kornbrand. Tapfer nahm Norbert einen Schluck. Noch immer schüttelte es ihn, wenn er das scharfe Getränk hinunterspülte. Hitze stieg ihm in den Kopf.

„Du wirst später deine Familie ernähren können,“ fuhr Björn fort. „Und ich weiß, dass du die Gabe besitzt – wie dein Vater. Und auch, dass du ein ebensolcher Hitzkopf sein kannst, wie er.“

Betroffen blickte Norbert zur Seite. In den kahlen Ästen rings umher sammelten sich die Krähen. Die schwarzen Vögel warteten darauf, dass die beiden Menschen abzogen, um sich über das Gekröse und die blutigen Innereien herzumachen.

Björn blickte den Jungen ernst an: „Dein Temperament und deine Gabe wirst du später einmal einsetzen, um die Siedlung zu schützen. So, wie es jetzt dein Vater tut.“

Er schlug Norbert auf die Schulter.

„In vier Jahren gebe ich dir die Maja zur Frau. Es ist gut, wenn unsere Familien sich verbinden.“

***

Der Winter wurde mild. Die Schneestürme im Januar hielten nur wenige Tage an. Es war nichts im Vergleich zu jenem furchtbaren Winter in Norberts neuntem Lebensjahr, in welchem die Totengeister um die Siedlung wandelten.

Im Frühjahr nach der Schneeschmelze gestattete Kurt Morgner dem Oliver die Heirat mit seiner Tochter Grete. Sie sollte in der Woche nach dem Frühlingsopfer stattfinden. Die Männer Wildenbruchs zogen in den Wald, um Bauholz für die Blockhütte zu fällen, die das Paar bewohnen würde. Lars Weidner schloss sich ihnen nicht an. Er diskutierte eine halbe Nacht lang mit Kurt Morgner, bis Kurt Morgner laut wurde und ihn hinauswarf.

Lars Weidner lief durchs Dorf und erzählte jedem, der es hören wollte: „Ich gehe zurück in die Zivilisation. Diese verfluchte Grenzsiedlung hat mir nichts als Unglück gebracht.“

Meistens war er betrunken.

Hans Lederer forderte den Lars Weidner auf, zum Abendbrot an seinen Hof zu kommen. Die Hofgemeinschaft saß bereits am Tisch, als Lars mit verbitterter Miene erschien. Sein Filzumhang war dunkel vom Regen, der um die Wohnhütte rauschte. Klamme Feuchte sickerte vom Strohdach her in den Raum. Jenseits des schwachen Lichts der Kienspäne auf dem Esstisch und des rötlichen Scheins der Herdglut lag der Raum im Dunkeln. Die Familie rückte auseinander und Lars setzte sich stumm an den Tisch. Er roch nach Bier. Leika gab ihm Bohnensuppe und Speck in die Holzschale.

Auch zu anderen Zeiten wurde an Hans Lederers Hof beim Essen nicht viel gesprochen. Aber das Schweigen, das seit dem Hereinkommen von Lars auf der Tischgemeinschaft lastete, kam Norbert unheilverkündend vor. Nur Hanna greinte in ihrer Wiege, die Margit mit ihrer Hand schaukelte.

Der Vater würdigte Lars keines Blicks, so als wäre Lars gar nicht anwesend. Erst als die Familie vom Tisch aufstand und Schalen und Becher abgeräumt wurden, setzte Hans Lederer sich zu Lars an den jetzt leeren Tisch. Die Hofgemeinschaft versammelte sich stumm um den Herd.

„Du musst aufhören mit dem Trinken und wieder anfangen, zu arbeiten,“ begann der Vater ohne Einleitung. „Im Suff kommt dir lauter Unsinn in den Kopf. Im Dorf wird erzählt, du hättest behauptet, dass du aus Wildenbruch weggehen willst.“

Im Halbdunkel sah Lars‘ vom wilden Haar und Bart umrahmtes Gesicht blass aus. In seinem Blick lag ein trüber Glanz.

„Was geht es dich an, was ich tue,“ murrte er. „Was soll ich noch in diesem Nest in der Einöde? Wenn ich gehen will, dann gehe ich. Schließlich könnt ihr mich nicht daran hindern.“

„Du bist einer von uns, Lars.“

Lars fuhr auf: „Hör auf damit! Was hab ich hier schon? Nichts! Ich gehöre nicht zu euch!“

„Hör mir zu! Als du vor acht Jahren in der Siedlung erschienst, haben wir dich nicht gefragt, woher du kommst, was dich aus dem Reich zu uns getrieben hat. Wir haben dich aufgenommen, haben dir angeboten, zu bleiben, Siedler zu werden. Du hast eine Frau genommen, wir haben gemeinsam dein Haus gebaut. Und du hast geschworen, dich an unsere Gesetze zu halten. Hast du das vergessen, Lars Weidner?“

Lars schnaufte wütend. Er antwortete nichts.

Drohend fuhr Hans Lederer fort: „Wir Grenzsiedler halten zusammen, Lars. Keiner von uns verlässt die Siedlung. Wir bleiben beieinander. Das ist das Gesetz. Und es gilt für dich genau wie für jeden von uns.“

Schwer atmend rief Lars: „Und wenn ich mich an eure verdammten Gesetze nicht halte? Was willst du dann machen, Lederer? Du kannst dich aufspulen, als wenn du der Dorfchef wärst, aber wenn ich gehen will, dann gehe ich!“

„Überleg dir das gut, Junge. Du hast einen Schwur getan. Es ist deine eigene Schuld, dass du dich so benommen hast, dass kein Mädchen in Wildenbruch dich mehr heiraten will. Geh wieder an die Arbeit. Und hör auf mit dem Saufen.“

Lars sprang auf.

„Nein! Ich brauch nichts zu überlegen. Du hast mir nichts zu sagen. Ich tue, was ich will.“

„Du bist betrunken, Junge. Sei vorsichtig, was du sagst.“

„Ich lasse mir von dir nicht drohen,“ schrie Lars. „Ich gehe! Morgen früh mach ich mich auf den Weg. Ihr könnt mich alle am Arsch lecken, ihr verfluchten Siedler!“

Hans Lederer stand auf.

„Komm mit vor die Tür, Lars Weidner. Wir reden draußen weiter.“

Norbert kannte diesen Tonfall. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.

„Du kannst genauso gut drinnen bleiben,“ krächzte Lars. „Ich rede nicht mehr mit dir.“

Er schwankte zur Tür und riss sie auf. Draußen strömte der Regen in der Dunkelheit. Als Lars zur Tür hinausstolperte, wandte Hans Lederer sich zum Herd. Sein Gesicht verzerrte sich. Er griff das Handbeil vom Holzstapel neben dem Herd, schritt hinaus und warf die Haustür von außen zu. Alle starrten blass in die Herdglut. Niemand sagte ein Wort. Draußen war Lars‘ empörte Stimme zu hören. Dann ein überraschter Ausruf, der in einen Schrei überging. Der Schrei brach ab. Etwas Schweres polterte gegen die Tür.

Hanna weinte in der Totenstille. Wie gelähmt saß die Hofgemeinschaft um den Herd. Der Vater kam nicht wieder herein.

Erst Stunden später kam Hans Lederer durchnässt vom Regen ins Haus. Norbert, Lene und die Mutter saßen noch immer an der wieder und wieder geschürten Glut. Die anderen hatten sich auf ihre Lager zurückgezogen.

Ein Schwall feuchter Kälte drang mit dem Vater in den Raum. Hans Lederers Kleider waren lehm- und dreckverschmiert. Mit einer von Erde schwarzen Hand warf er das Beil neben dem Herd auf den Boden. Langsam, als schleppte er eine schwere Last, ging er zum Lehnstuhl in der Ecke, ließ sich in den Stuhl sinken und begrub das Gesicht in den dreckigen Händen. Niemand wagte, ihn anzusprechen. Norbert, Lene und die Mutter schlichen zu ihren Lagern.

Der Regen rauschte in der Finsternis. Klamme Kälte kroch durch Norberts Decken. Mit rasendem Herzen lag er auf seinem Lager. Kaum wagte er zu atmen.

Er hat ihn umgebracht!

Er konnte und konnte den Gedanken nicht zum Schweigen bringen.

***

Hans Lederer sprach kein Wort über das, was vorgefallen war. Die Hofgemeinschaft und das gesamte Dorf schlossen sich seinem Schweigen an. Selbst wenn hier und da leise über den Mord getuschelt wurde, sprach niemand laut darüber. Lutz Thorstensohn räumte die leer stehende Hütte aus, die Lars Weidner bewohnt hatte, und nutzte sie als Schweinestall.

Mit niemandem außer Maja konnte Norbert über die quälenden Gedanken reden, die ihn verfolgten. Nicht einmal Leika traute er sich anzusprechen. Maja und er saßen auf einem Holzstapel beim Ziegenstall, wohin sie sich in der milden Luft des Frühjahrsabends vor den anderen zurückgezogen hatten. Es war fast dunkel. Maja hatte Schmalzkuchen gebacken.

„Es ist ganz einfach,“ meinte sie. „Mutter hat es mir gezeigt.“

Norbert schluckte den fettigen Teig, aber er empfand keine Freude daran.

„Alle tun so, als hätte es den Lars Weidner nie gegeben!“

Maja sah ihn erschreckt an.

„Wir wollen nicht darüber sprechen,“ flüsterte sie.

„Ich muss aber darüber reden. Mit wem kann ich das denn, außer mit dir?“

Maja blickte zu Boden. Sie knetete ihre Hände im Schoß.

Es drängte Norbert, sich von der Seele zu reden, was ihn verfolgte.

„Von der Smeta haben sie behauptet, sie hätte die Siedlung verlassen und sich davongeschlichen. Den Lars Weidner hätten sie auch ziehen lassen können.“

„Aus dem Dorf weggehen ist dasselbe, wie tot sein,“ sagte Maja leise. „Es macht keinen Unterschied.“

„Das heißt, du findest das richtig, dass... dass mein Vater ihn ermordet hat?“

Maja schniefte.

Erst nach einer Weile antwortete sie sehr leise: „Er war kein guter Mensch.“

Norbert spürte einen heftigen Stich in der Brust. Fassungslos blickte er Maja an.

„Es war Mord! Genau wie es Mord war, die Smeta zur schwarzen Dame gehen zu lassen. Und wie das, was sie den Elben angetan haben.“

Maja schüttelte verzweifelt den Kopf. Sie hatte Tränen in den Augen. Aber Norbert wurde nur noch wütender.

„Das Dorf ist auf Mord gebaut! Die Gesetze, von denen Vater redet, sind Mordgesetze! Ich will hier nicht mehr bleiben. Lass uns weggehen, Maja. Lass uns nach Altenweil gehen. Ich weiß dort von einem Gelehrten...“

Maja unterbrach ihn schreiend.

„So darfst du nicht reden, Bert! Das stimmt ja gar nicht. Mein Vater ist kein Mörder!“

Beim Gedanken an Björn Feldnersohn verstummte Norbert. Majas Vater hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen. Hilflos fuhr Norbert sich durchs Haar. Er konnte nicht verhindern, dass ihm ebenfalls Tränen in die Augen schossen.

Maja nahm seine Hände: „Bert, es sind so schlimme Sachen passiert. Aber wenn wir beide erwachsen sind, machen wir das Unheil wieder gut. Das hast du immer gesagt. Du willst Wildenbruch beschützen, hast du gesagt.“

Norbert zog durch die Nase hoch.

„Glaubst du, dass wir das können, Maja?“

Sie sah ihm in die Augen.

„Ja! Wenn wir beide zusammen sind, können wir es. Ich glaube es ganz bestimmt. Bitte, Bert, rede nie wieder vom Weggehen. Das Dorf – die Familie – sind mein Leben. Ich könnte nie woanders leben. Genauso gut könnte ich tot sein.“

Norbert schlang die Arme um das Mädchen und die beiden umarmten sich verzweifelt.

„Es wird gut,“ flüsterte Maja. „Wir schaffen es - du wirst es schaffen, Bert, das Unheil gutzumachen. Ich helfe dir.“

Norbert hielt Maja fest in den Armen. Nichts wünschte er sehnlicher, als dass sie recht hätte.

***

Unmittelbar im Anschluss an das Frühlingsopfer feierten die Wilderbrucher die Heirat von Oliver, dem Sohn von Norberts Onkel Beorn, mit Grete Morgner. Die beiden zogen in die neuerrichtete Blockhütte beim Hof Kurt Morgners. Ulf Methorst, der sich auf das Zimmererhandwerk verstand, hatte das Bett, eine Truhe, Tisch und Bank als erste Einrichtung gebaut. Alle Familien steuerten Hausrat als Hochzeitsgeschenk bei.

„So muss es sein,“ erklärte Hans Lederer seinem Sohn. „Wir Siedler halten zusammen, unterstützen uns gegenseitig. Niemand ist ausgenommen.“

Drei Tage nach der Hochzeit kam Oliver verstört an den väterlichen Hof.

„Die Grete sagt, sie kann in unserem Blockhaus nicht leben. Sie ist bei der Mutter und will nicht mehr zurückkommen in die Hütte. Sie meint immerzu, jemand schleiche nachts ums Haus. Sobald es dämmert, traut sie sich nicht mehr vor die Tür. Sie zittert immer so. Dabei war sie vor der Hochzeit doch so mutig und selbstbewusst, deshalb hab ich sie ja genommen. Gestern ist sie mitten in der Nacht aufgewacht und hat geschrien, der Lars Weidner stehe am Bett und wolle sie töten. Ich hab einen Kienspan am Herd entzündet, aber das Licht ging gleich wieder aus. Da war so ein eisiger Luftzug, wie ein Todeshauch.“

Hans Lederer hörte seinem Neffen mit zusammengekniffenen Lippen zu. Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

„Bleib heute Nacht hier,“ knurrte er. „Wenn es Abend wird, gehe ich zu Kurt Morgner.“

Leika wechselte einen Blick mit Norberts Vater.

„Ich gehe hinüber zu den Morgners und spreche mit der Grete.“

Als der Vater billigend nickte, sagte sie zu Oliver: „Mach dir keine Sorgen. Es wird gut.“

Hoffnungsvoll blickte Oliver von Leika zum Vater.

Am Abend nahm Hans Lederer seinen Dolch aus der Truhe und verließ den Hof. Zwei Stunden später kam er wieder herein. Er hielt sich die rechte Hand, als hätte er Schmerzen. Die Hand war rot und geschwollen. Der Dolch steckte in seinem Gürtel. Mit aufgerissenen Augen betrachtete Norbert die Klinge. Sie glühte blau.

Der Vater ließ sich schwer auf die Bank fallen. Er nickte Oliver zu.

„Grete ist wieder in eurer Hütte. Leika ist bei ihr. Geh zu ihr. Es ist vorbei. Der Lars Weidner behelligt euch nie wieder.“

Mit verhaltener Wut blickte er auf seine Frau, die ein Dankgebet an die schwarze Dame murmelte.

Norbert konnte lange nicht einschlafen. Er wurde den Gedanken nicht los, in dieser Nacht hätte der Vater den Lars Weidner zum zweiten Mal ermordet. Kurz vor Morgengrauen, als die Nacht fadenscheinig wurde, hörte er weit weg einen Wolf heulen.

***

Der Regen hielt bis weit in den Mai an und ein großer Teil der Saat verfaulte. Dazu brach unter den Schafen eine Krankheit aus, die viele Tiere dahinraffte. Die Wildenbrucher hielten Prozessionen zur Grotte der schwarzen Dame ab und beteten um Segen.

„Die schwarze Dame will die Wiesenblumen, Möhren und Erbsenschoten nicht, die sie ihr bringen,“ konnte Norbert sich nicht verkneifen, Maja zu erklären. „Sie will Fleisch. Aber wenn sie welches bekommt, wird sie wild und grausam.“

„Bert, erzähl doch nicht solche Sachen!“ schrie Maja.

„Ich kann das gar nicht anhören. Was sollen wir denn machen, wie sollen wir denn um Segen bitten?“

„Wir müssen es eben aushalten, bis es wieder besser wird,“ murmelte Norbert.

Im Sommer wurde Norbert fünfzehn. Zu Sonnenwend schenkte Björn Feldnersohn seinem zukünftigen Schwiegersohn einen Jagdbogen, Köcher und Pfeile. Am Morgen nach der Sonnenwendfeier legte der Vater Norbert ein in Leinen gewickeltes Bündel auf den Tisch. Darin war ein Messer. Die Stahlklinge war eine Spanne lang. Norberts Herz machte einen Sprung.

„Du wirst ein Mann,“ knurrte der Vater. „Für deine Jagdstreifzüge kannst du ein vernünftiges Messer gebrauchen. Ich hab es letzten Herbst aus Altenweil für dich mitgebracht. Aber bilde dir nichts darauf ein. Gegen die von jenseits der Grenze nützt es nichts.“

Maja schenkte ihm eine wollene Schlupfjacke.

„Ich hab sie selbst gestrickt. Mutter meinte, dafür sei es noch zu früh, ich soll dir erst zur Hochzeit was schenken, aber ich wollte unbedingt dieses Jahr schon etwas für dich machen.“

Die beiden saßen auf der Bank vor Björn Feldnersohns Haus. Die Familie war bereits zur Hofarbeit auseinandergegangen. Norbert betrachtete die braun gemusterte Jacke. Maja gab ihm einen Kuss auf die Wange.

Er nahm ihre Hände. „Wo du jetzt Schmalzkuchen backen kannst, da kann ich dir doch auch zeigen, wie man sich richtig küsst.“

Vor Überraschung blieb ihr der Mund offen stehen. Norbert drückte schnell seinen Mund auf ihre Lippen. Sie wehrte sich nicht.

Als sie sich genug geküsst hatten, flüsterte sie: „Nachher gehe ich Holzsammeln. Die kleine Lichtung bei den Haselsträuchern, weißt du, welche ich meine?“

Norbert nickte. Sein Herz begann zu rasen.

„Ich warte dort auf dich,“ hauchte sie. „Kommst du?“

Norbert konnte wieder nur nicken. Er brachte kein Wort hervor. Sie küssten sich noch einmal.

Es war ein heißer, trockener Sommer nach dem verregneten Frühling. Staubige Hitze brütete zwischen den Haselsträuchern, als Norbert sich mit klopfendem Herzen durch die Büsche zwängte. Es roch nach Harz und Kiefernnadeln. Maja wartete auf ihn auf der kleinen Grasnarbe zwischen den Sträuchern. Sie saß barfuß mit angezogenen Beinen im braunen Gras. Ihre bloßen Unterschenkel lugten unter ihrem Kleid hervor. Die Kiepe mit dem Klaubholz stand bei den Büschen.

Wie hübsch sie ist, dachte Norbert, während er das hagere Mädchen betrachtete.

Mit mulmigem Gefühl im Bauch setzte er sich neben sie. Der Staub trockener Grasrispen kitzelte ihn in der Nase. Maja strich sich die Locken hinters Ohr. Sie versuchte ein schüchternes Lächeln. Norbert nahm sie in die Arme.

„Ich liebe dich, Maja.“

Sie küssten sich. Norbert war schwindlig.

Und jetzt? Was kommt jetzt?

Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Und er konnte überhaupt nicht denken. Er nahm nichts wahr, als Majas warme, aufregende Nähe. Sanft schob sie ihn weg und begann, an ihrem Kleid zu nesteln.

„Ich muss mich ausziehen,“ erklärte sie leise. „Mädchen bluten beim ersten Mal, wusstest du das?“

Norbert schüttelte stumm den Kopf. Er wusste nicht, warum er sich plötzlich schämte.

„Jedenfalls behauptet Liese das. Sie sagt, ihre Mutter hätte es ihr erklärt.“

Sie trauten sich kaum, einander anzuschauen, während sie ihre Kleider abstreiften und sich zueinander ins trockene Gras legten. Und obwohl sie beide von Kindheit an mitbekommen hatten, was nachts auf den Lagern in den Wohnküchen passierte, mussten sie feststellten, dass sie es so ganz genau doch nicht mitgekriegt hatten.

„Nicht so,“ flüsterte Maja. „Ich glaube, du musst... Ja, da – Au!“

Ein jagendes, unendlich süßes Gefühl durchfuhr Norbert und ein paar Atemzüge lang wusste er nicht mehr, was er tat.

Als er sich außer Atem neben Maja legte, murmelte sie: „Es hat nur ganz wenig geblutet.“

Es klang enttäuscht.

Doch Majas fester Entschluss, in ihrer Liebe zu Norbert Erfüllung zu finden, bewahrte die Jugendlichen vor einer ersten großen Ernüchterung. Noch scheu und vorsichtig ertasteten sie einander, ließen ihre Körper einander kennenlernen.

Als die beiden am Nachmittag zum Hof von Majas Vater zurückkehrten, lag ein heimliches Glück auf ihren Gesichtern.

In der Wohnküche empfing sie Majas Mutter. „Heut ist wohl kein Arbeitstag für euch beide? Deine ganze Küchenarbeit ist liegengeblieben, Maja – und Vater ist allein zur Jagd gegangen!“

Als sie in die Gesichter der beiden sah, wurde sie milder. „Na, setzt euch noch ein bisschen auf die Bank. Ich koche euch einen Tee.“

Sie fuhr Maja durch die zerrauften Locken. „Alles in Ordnung, Töchterchen?“

Majas Augen glänzten vor Glück. „Ja, Mama.“

***

Wenn Norbert später an diesen Sommer zurückdachte – seinen letzten in Wildenbruch – dann konnte er sich einzig an Maja erinnern, an ihre Liebe, ihren Körpergeruch, den Sommerduft ihres einfachen Kleids. Das Vertrocknen der Ernte, der Streit zwischen Verena Methorsts Söhnen Ulf und Boris um den Anteil an den kargen Erträgen des Hofs, die Schlichtung durch Björn Feldnersohn und Hans Lederer, all das zog an ihm vorüber, als ginge es ihn nichts an. Er lebte und arbeitete nur für die ein, zwei Stunden, die er nach der Hofarbeit mit Maja verbrachte. Sie gingen Hand in Hand hinunter zur Flussaue oder saßen nebeneinander auf der Bank vor dem Haus und plauderten. Oder sie zogen sich vor den anderen zurück in den Wald, auf die kleine Grasnarbe zwischen den Haselsträuchern, die sie „ihre Lichtung“ nannten. Maja holte sich Rat bei Leika, die ihr erklärte, wie sie sich verhalten musste, um nicht schwanger zu werden. Norbert und Maja schworen sich bei allen Sternen am Himmel, zueinander zu stehen bis an ihr Lebensende.

***

Von seiner Herbstreise brachte Hans Lederer Säcke voller Getreidemehl mit, so viele der Esel tragen konnte. Was die Familie auf den eigenen Feldern geerntet hatte, reichte nicht, um durch den Winter zu kommen. Für Norbert brachte der Vater zwei Fußleder mit. Sie waren an den Seiten gelocht, damit man sie unter die Fußlappen schnüren konnte.

„Wirst schließlich erwachsen,“ knurrte Hans Lederer.

„Ich kann auch für unsere eigene Familie jagen gehen, damit wir besser durch den Winter kommen“ erklärte Norbert.

„Red keinen Unsinn,“ fuhr der Vater ihn an. „Du arbeitest für Björn Feldnersohn um der Maja willen. Lass dir ja nicht einfallen, nachlässig zu werden. Bei uns arbeitet Roderig mit. Wir kommen zurecht.“

Der Winter nahm die Siedlung in seinen eisigen Griff. Im

Heulen des Sturms und im Krachen der Bäume in der Kälte glaubten die Wildenbrucher die Dämonen heranschleichen zu hören. Björn Feldnersohns alter Vater erkrankte am Schüttelfieber. Die Feldnersohns hüllten ihn in Decken, rückten seinen Lehnstuhl nahe ans Herdfeuer und Majas Mutter flößte ihm Tag und Nacht schluckweise Brühe und heißen Tee ein. Er starb in den ersten Januartagen. Norbert half, das Grab im gefrorenen Boden auszuheben.

Grete war schwanger. Oliver und sie zogen hinüber ins Haus ihres Vaters, wo das große Herdfeuer mehr Wärme spendete und die Familie sich um die Schwangere kümmern konnte.

Anfang März änderte sich das Wetter. Mit heftigen Frühjahrsstürmen setzte die Schneeschmelze ein. Regengüsse verwandelten den Boden in der Auenniederung und den Talwiesen in Morast. Die Gorn stieg über die Ufer. Schmelzwasser und Regenfälle in den Bergen verwandelten den Fluss in eine strudelnde schlammige Flut, die binnen einer Nacht die Siedlung, die Tiergatter und die Felder mit dem im Herbst gesäten Winterweizen überschwemmte, Gatter zerstörte, Ziegen und Schafe mit sich fortriss, die Hütten knietief überflutete und die Herdfeuer löschte. Die Wildenbrucher knüpften, was sie an Vorräten retten konnten, an die Dachbalken und übernachteten in klammer Kälte im Gebälk. Erst Tage später nahm die Flut ab. Viele der Frauen weinten vor Verzweiflung über die Zerstörungen. Die Männer sichteten stumm den Schaden, pferchten die überlebenden Tiere ein, pflügten die verwüsteten Felder um und bereiteten das wenige, was sie an Saatgut gerettet hatten, zur Aussaat vor.

Die Flutschäden waren noch nicht repariert und die Böden der Hütten bedeckte noch immer eine knöcheltiefe Schlammschicht, als Gretes Wehen einsetzten. Die Frauen hatten die Geburt erst in einem halben Monat erwartet. Aber die Strapazen der vergangenen Wochen hatten Grete zugesetzt. Beim Herdfeuer errichteten die Morgners ein Deckenlager. Leika kam, um bei der Geburt zu helfen. Die Männer, auch Oliver, wurden aus dem Haus verwiesen. Es wurde eine lange, schwere Geburt und als die Frauen das Blut von dem schreienden Neugeborenen abwuschen, war seine Haut von einem ungesunden Rot und seine Oberlippe war gespalten. Die Geburtshelferinnen beschlossen, es sei ein Mädchen, obwohl das Neugeborene sowohl ein weibliches als auch ein männliches Geschlechtsorgan zu haben schien.

Der Säugling schrie pausenlos mit einer heiseren, röchelnden Stimme, die anders klang als die anderer Neugeborener. Die verzweifelte Grete ließ ihn nicht von ihrer Brust und Leika zeigte ihr, wie sie ihn an die Brustwarze anlegen musste. Oliver und die Männer wurden auf Abstand von der Mutter und dem Neugeborenen gehalten, aber es merkten doch alle, dass etwas nicht stimmte. Schnell sprach sich in der Siedlung herum, die Grete habe ein krankes, verkrüppeltes Kind zur Welt gebracht.

Als der Säugling nach drei Tagen wider Erwarten nicht gestorben war und trotz dem unverminderten heiseren Röcheln ein wenig kräftiger wurde, bekam er den Mädchennamen Wanda. Oliver nahm das schreiende Bündel in die Arme.

„Sei vorsichtig!“ schrie Grete, die ihr Kind noch immer kaum zum Wickeln und Waschen aus den Händen geben wollte.

Oliver brachte das Neugeborene, von dem nur das rötliche, vom Schreien verzerrte Gesicht mit der Hasenscharte zu sehen war, nah an sein Gesicht.

„Wanda, du bist meine Tochter,“ sagte er mit brüchiger Stimme. „Ich will für dich und deine Mutter sorgen und ich werde dich großziehen.“

Die Gesichter der Hofmitglieder und Freunde um das Paar entspannten sich. Mehrere atmeten auf. Nur einige schüttelten stumm die Köpfe.

***

In diesen Tagen erinnerten sich die Wildenbrucher abends an den Herdfeuern an die Sage vom Geisterdorf. Norbert hörte die Sage zum ersten Mal bei den Feldnersohns, wo Majas Großmutter sie nach dem Abendessen erzählte. Schon im Winter hatte Norbert hin und wieder bei den Feldnersohns in der Wohnküche übernachtet, wenn der Sturm ihm nach der Tagesarbeit daran hinderte, zum Hof des Vaters zurückzukehren. Dann gab ihm Majas Mutter eine Decke und er und Maja schliefen nebeneinander auf ihrem Lager. Außer Norberts Schwester Lene fand niemand etwas dabei.

„Das kann man in den Wochen vor der Hochzeit machen, aber doch nicht jetzt schon,“ hatte sie geschimpft, als Norbert am Morgen nach seiner ersten Übernachtung bei den Feldnersohns nach Hause kam.

„Aber hinten beim Heuschober rumknutschen und mitten während der Tagesarbeit heimlich für ein paar Stunden ins Heu schleichen, das kann man?“ erwiderte Norbert seiner Schwester.

Lene zischte verächtlich und lief durch den Schnee davon. Aber Norbert hatte doch gesehen, wie sie knallrot wurde.

Die Feldnersohns saßen um die knisternde Glut der in den Boden eingelassenen Herdstelle. Rings umher lag die Wohnküche im Dunkeln. Die Luft war dumpf und feucht. Gebälk und Fußboden waren noch nicht getrocknet seit der Überflutung. Maja rückte dicht an Norbert heran und nahm seine Hand in ihre. Er liebte es, so nah bei ihr zu sitzen, dass er den Schweißgeruch ihres Kleids riechen konnte. Norbert träumte von diesem Geruch, wenn er allein auf seinem Lager am väterlichen Hof übernachtete.

„Vor langer Zeit, viele Tagereisen von hier im Osten, wo der Gornwald sich weit hinauf in die wilden Berge erstreckt,“ begann die Großmutter ihre Erzählung, „gründeten Siedler am Oberlauf der Gorn eines der ersten Siedlungsdörfer im Gornwald. Damals waren die Wälder noch von Elben bewohnt und die Siedler der ständigen Gefahr eines Überfalls ausgesetzt. Erst Jahrhunderte später ließ der Kaiser den Gornwald durch Strafexpeditionen seiner Ritter von den Wilden säubern.“

Norbert verzog das Gesicht. Er dachte an den Geist der Elbin mit dem erschlagenen Säugling im Arm. Maja drückte fest seine Hand.

„Die Siedler nannten ihr Dorf Schwarzenrode. Die ersten Jahre gedieh die Siedlung gut und die Siedler lebten im Überfluss von Feldfrüchten und von der Jagd. Aber dann kam eine Reihe strenger Winter und das Leben in Schwarzenrode wurde hart. Als nach der ersten guten Herbsternte seit Jahren Elben das Dorf überfielen, mehrere Männer töteten, die Ernte, Vieh und auch einige Mädchen wegführten, verließ die Überlebenden der Mut. Sie hatten den Siedlerschwur getan, ihr Siedlungsland der Wildnis auf immer zu entreißen und die Siedlung unter Einsatz ihrer aller Leben zu behaupten. Doch in der Dorfversammlung setzten sich die Stimmen einiger Männer durch, die behaupteten, in der Zivilisation würden sie alle besser leben können. Obwohl der Kaiser ihnen per Dekret Schwarzenrode unabänderlich als Siedlungsort zugeschrieben hatte.“

Ein drohender Tonfall schien in den heiseren Worten der Großmutter mitzuschwingen.

„Die Dorfleute beschlossen, ihr Hab und Gut auf Karren zu laden und Schwarzenrode und den Gornwald vor Wintereinbruch zu verlassen. Am Abend vor dem Aufbruch kamen alle zusammen, um ein letztes Fest miteinander in der Siedlung zu feiern. Es wurde ein trauriges Fest. Stumm und mit schlechtem Gewissen saßen sie beim Mahl. Als nach dem Essen zum Tanz aufgespielt wurde, tanzten die jungen Leute ohne Freude miteinander. Immer wilder drehten die Paare sich, einander verzweifelt umklammernd, im hektischen Tanz Vergessen suchend vor dem Eidbruch, den der nächste Morgen bringen sollte. Und draußen vor dem Haus heulten die Dämonen im Nachtwind.“

Die Greisin machte eine Pause und blickte mit brennenden Augen in die Runde. Es war absolut still, nur die Holzkohlen knackten in der erlöschenden Glut.

„Um Mitternacht hielten die Tanzenden plötzlich inne. Atemlos lauschten sie in die Dunkelheit, aber es war kein Laut mehr zu hören, kein Windheulen, keine Musik, nicht einmal mehr ein Knacken im Gebälk oder jemandes Atem. Der Fluch legte sich über sie mit blinder Schwärze und die Menschen in der Siedlung erstarrten zu Stein um ihres Eidbruchs willen. Die Siedlung verschwand wie vom Erdboden verschluckt. Wo sie einst stand, befindet sich heute ein undurchdringliches Dornengestrüpp, aus dem ein Pesthauch denjenigen anhaucht, der dort hinein vordringen will. Nur einmal alle hundert Jahre erwacht das Dorf für einem Tag zum Leben und die Schwarzenroder müssen den letzten Tag vor ihrem geplanten Aufbruch noch einmal durchleben, wissend, dass um Mitternacht der Todeshauch sie ergreifen wird, dass sie in alle Ewigkeit verdammt sind, als Untote auszuharren an dem Ort, der ihnen als Siedlung zugeschrieben wurde.“

„So geht es denen, die den Schwur brechen und ihre Siedlung aufgeben wollen,“ endete die Alte ihre Erzählung.

***

Nach der Überschwemmung blieb der Regen aus und die Ernte des Frühgemüses fiel spärlich aus. Die vor der Flut geretteten Vorräte gingen schnell zur Neige. Die Wildenbrucher stellten oben im Wald Kaninchenfallen auf und wer Bogen und Pfeile besaß, ging auf die Jagd. Aber auch so reichte es kaum noch zum Leben. Die Kinder durchstreiften den Wald in der Nähe der Siedlung auf der Suche nach Käferlarven und aßen sie vor Hunger gleich vor Ort. Die Kleinsten bekamen aufgeblähte Hungerbäuche vom ständigen Wasser trinken, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Mit hohlen Augen und blassen Gesichtern gingen die Wildenbrucher ihrer Hof- und Feldarbeit nach.

„Die schwarze Dame will ein Opfer haben,“ murmelte Norberts Mutter am Abendbrottisch.

Ein Teller Radieschen, gerade zwei oder drei für jeden, und eine Schüssel Brühe mit ein paar Stückchen Kaninchenfleisch waren alles, was auf dem Tisch stand.

„Sie ist wütend. Wir haben sie erzürnt,“ hauchte die Mutter in ihrem weinerlich-klagenden Tonfall.

„Wie sollen wir sie denn erzürnt haben?“ fuhr Norbert trotzig auf.

Aber der Vater rief ihn sofort zur Ordnung. „Halt den Mund. Du bringst nur noch mehr Unglück über uns.“

Norbert schleuderte dem Vater einen wütenden Blick zu.

Du weißt es doch selber besser!

Hans Lederers Miene blieb hart. „Kein Wort mehr, Norbert!“

Grete kam zu Leika, um sich von ihr Rat zu holen wegen Wanda. Der Säugling wollte nicht wachsen. Wanda schrie nahezu ununterbrochen mit hochrotem Gesicht. Aber auch Leika wusste Grete und ihrem Kind nicht zu helfen.

Es war Gerlinde Hüttner, die als erste raunte, Gretes Säugling sei ein Götterkind. Bald wurde es in der gesamten Siedlung hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Oliver ging herum wie gelähmt. Grete klammerte ihr Töchterchen schluchzend an sich. Sie kam nicht mehr aus der Hütte, versteckte sich und ihr Kind vor allen außer Oliver.

Den einen Nachmittag, als er von den Feldnersohns kam, traf Norbert Leika allein in der Wohnküche an. Er verstaute Bogen und Köcher bei seinen Sachen unter der Schlafstätte und setzte sich mit knurrendem Magen zu ihr an die Herdstelle.

„Leika, was ist ein Götterkind?“

Sie blickte kurz auf, dann machte sie eine zornige Handbewegung und widmete sich wieder dem Putzen des Gemüses für den Abendimbiss. Es waren nur wenige verschrumpelte Möhren, die in der Schüssel schwammen.

„Aberglaube!“

„Alle reden darüber, Leika. Was soll das sein, ein Götterkind?“

„Hör nicht hin. Sie hören auch wieder auf, davon zu reden.“

Mehr war aus ihr nicht herauszubekommen.

Maja klärte ihn auf. Er hatte sie am Abend von der Feldarbeit abgeholt und die beiden gingen gemeinsam zum Dorf zurück.

„Alle reden davon, Gretes Kind sei ein Götterkind, aber niemand will etwas darüber sagen, was das bedeuten soll.“

Maja blieb stehen und sah Norbert scheu an aus ihren braunen Augen, die er so liebte.

„Weißt du‘s denn nicht?“ flüsterte sie.

„Woher soll ich es denn wissen, wenn es mir keiner erklärt?“

Sie rieb sich Erde von den Händen.

Stockend meinte sie: „Die... die Götterkinder sind nicht wie die anderen Kinder, die geboren werden. Mutter hat es mir erklärt. Sie werden geboren, weil...“

Maja blickte zu Boden, während sie hauchte: „Weil sie zu den Göttern zurückwollen, von denen sie gesandt sind. Sie wollen nicht bei uns auf der Erde leben, wie andere Kinder. Deshalb sind sie so anders und wachsen nicht richtig.“

Norbert begriff nicht. „Wie – wollen nicht bei uns auf der Erde leben?“

Er wunderte sich, warum Maja Tränen in den Augen hatte.

„Bert... Weißt du denn nicht, was mit ihnen geschieht?“

Es traf ihn wie ein Schlag. „Was?“

„Sie müssen geopfert werden – den Göttern.“ Sie hauchte es kaum hörbar.

Es dauerte eine Weile, bis Norbert seine Sprache wiederfand. Er griff Maja an den Schultern.

„Aber du glaubst das nicht, oder? Du würdest so was nie mitmachen, nicht wahr?“

Mit bebenden Lippen wandte sie sich zur Seite.

„Wenn die Götter es doch fordern – Wenn es doch ihr Wille ist...“

Norbert konnte nicht mehr an sich halten.

„Das ist nicht der Wille der Götter!“ schrie er Maja an. „Götter, die so was wollen, gibt es nicht! Nur die Dämonen fressen Menschen! Und die helfen uns nicht, niemals!“

Maja hielt sich mit beiden Händen den Mund. Entsetzt starrte sie ihren Freund an. Ein stummes Schluchzen schüttelte sie.

Atemlos redete Norbert auf sie ein: „Wenn die das machen, gehen wir weg, Maja! In Altenweil gibt es einen Gelehrten, der würde mich in die Lehre nehmen. Wir...“

Mit einem Aufschrei fiel sie ihm ins Wort: „Bert! Rede nicht so! Wir sind Siedler! Wir dürfen nicht gehen. Der Fluch!“

„Ich hab keinen Schwur getan! Und außerdem würd‘ ich ja später wiederkommen. Und dann töte ich die schwarze Dämonendame!“

Sie weinte an ihn geklammert. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf.

Norberts Herz raste, aber er konnte nicht anders, er schleuderte es ihr noch einmal entgegen: „Wenn die das tun, gehe ich!“

Lange hielten die beiden sich umschlungen.

Endlich flüsterte sie ihm ins Ohr: „Bleib heute Abend da, Bert, mein liebster Bert! Wir wollen zusammen auf meinem Lager schlafen. Wenn wir uns nur lieb haben, können wir das alles überstehen!“

Norbert nickte. Aber in seinem Innern schwärte eine Wut, die er lange nicht mehr gespürt, die er längst vergessen geglaubt hatte.

***

Das Gerede über Wanda hörte nicht auf. Als der Zeitpunkt des Frühlingsopfers näher rückte, wurde es nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand gesagt. Die Männer bestätigten es einander offen, wenn die Vorbereitungen des Frühlingsopfers zur Sprache kamen.

„Sie ist ein Götterkind!“

Oliver und Grete verbargen sich in ihrer Hütte. Auch zur Feldarbeit ließ Oliver sich nicht mehr blicken. Aber es fragte auch niemand nach ihm oder Grete.

Bei den Feldnersohns versuchte Norbert ein paar Mal, das Thema anzusprechen, das ihm so ungeheuerlich vorkam. Aber jedes Mal verbot Björn ihm, darüber zu reden. Eine bedrückende Stille herrschte an diesen Abenden in Björn Feldnersohns Wohnküche, in der sonst auch in dieser Notzeit noch so häufig geplaudert und gesungen wurde.

„Es ist ein schlimmes Jahr,“ sagte Majas Großmutter dann mit ihrer brüchigen, drohend klingenden Stimme. „Wir müssen den Fluch lösen, mit dem die Götter uns belegt haben für unsere Sünden.“

Maja nahm Norbert bei diesen Worten fest an der Hand und sah ihn flehend an. Aber er spürte nur die Wut, die hinter seinen Augen brannte.

***

Es war drei Tage vor dem Frühlingsopfer, die Blumenkränze waren geflochten und von den wenigen Feldfrüchten, die die Hofgemeinschaft hatte, waren die besten beiseitegelegt. Norbert war zum Abendimbiss am Hof seines Vaters.

Mit nur ganz leicht zitternder Stimme erklärte Norberts Mutter: „Zum Frühlingsopfer geben wir die Wanda den Göttern zurück. Wir bringen sie der schwarzen Dame. Dann wird der Segen wiederkommen.“

Norbert hatte geahnt, dass es kommen würde. Insgeheim hatte er darauf gewartet. Obwohl sein Herz zu rasen begann, stand er auf. Alle starrten ihn an. Hans Lederer richtete sich ebenfalls auf, aber als Norbert ihm mit bleichem Gesicht in die Augen sah, schwieg er, anstatt zu tadeln. Norbert ging geradewegs auf den Vater zu. Seine Fäuste ballten sich von ganz allein.

Er wusste nicht, ob seine Stimme vor Angst oder vor Wut zitterte, als er hervorstieß: „Sag ihnen, dass es nicht geschehen wird!“

Leika versuchte, ihn festzuhalten, aber er wich ihr aus, ging bebend vor Wut und Angst auf den Vater zu.

„Sag ihnen, dass es nie, niemals geschehen wird! Wir geben die Wanda nicht der schwarzen Dame zu fressen!“

Er hörte die Mutter schreien, auch Lene schrie. Hans Lederer stand mühsam auf, als hätte er eine schwere Last zu tragen. Der Vater war über einen Kopf größer als sein fünfzehnjähriger Sohn.

„Norbert, setz dich hin. Iss dein Essen und halt den Mund.“ Es hörte sich müde an.

„Nein!“ schrie Norbert mit geballten Fäusten. „Nein, das lasse ich nicht zu! Sag ihnen, dass es Lüge ist! Die schwarze Dame ist ein...“

Mitten in das Durcheinander am Tisch brüllte der Vater: „Halt dein Maul!“

Es wurde schlagartig still. Nur Norberts heftiger Atem war in der Wohnküche zu hören. Alle waren aufgesprungen.

Mit zornesrotem Gesicht grollte Hans Lederer: „Komm vor die Tür, Norbert!“

Die Mutter weinte schluchzend. Leika versuchte, Norbert etwas zuzuflüstern, aber er hörte nicht hin. Sein Herz hämmerte. Ohne auf Norbert zu warten, stapfte der Vater zur Tür.

Ich bring ihn um! Oder er mich, ist mir egal. Ich mache das nicht mit!

„Bert, bleib hier,“ schrie Lene, als Norbert dem Vater vor die Tür folgte.

Der Vater stand mit dem Rücken zur Tür in der Dunkelheit. Er hatte den Kopf gesenkt. Norbert zog die Tür von außen zu und schritt mit rasendem Puls auf den Vater zu.

Soll er doch versuchen, mich umzubringen! Soll er doch!

Hans Lederer drehte sich zu seinem Sohn um. Norbert hob die Fäuste. Er hatte einen Knüppel, eine Waffe erwartet, aber die Hände des Vaters waren leer.

Statt mit der Faust zuzuschlagen, sagte Hans Lederer: „Norbert, nimm Vernunft an!“

Norbert wollte ihn anschreien, aber der Vater befahl: „Hör mir zu!“

Norbert senkte schwer atmend die Fäuste.

„Du weißt, dass Gretes Kind krank ist. Vielleicht würde es kein Jahr alt werden. Selbst wenn es das siebente Lebensjahr überlebte, es würde ein Krüppel, eine Schwachsinnige. Wir können keine Kranken und Krüppel durchfüttern, Norbert! Du weißt das genauso gut wie alle im Dorf!“

Keuchend starrte Norbert seinen Vater an. „Das ist noch lange kein Grund, sie...“

Der Vater fiel ihm ins Wort. „Sie brauchen etwas, woran sie glauben können, Norbert. Etwas, was ihnen Mut macht, durchzuhalten. In dem Jahr, in dem du geboren wurdest, hatten wir eine Notzeit ähnlich der diesjährigen. Damals gab die Dorfgemeinschaft den lebensunfähigen Säugling der Gerlinde Hüttner an die Götter zurück. Der Segen stellte sich ein. Deine Mutter hätte dich nicht durchgebracht ohne den Erntereichtum dieses Jahres. Die Opfer sind nicht unnütz, Norbert!“

Norbert spürte eine eisige Klaue nach seinem Herzen greifen. Die Wut wich einer Kälte, in der die Worte des Vaters und alle Dinge rings umher glasklar hervortraten. Norbert begriff, was er zu tun hatte.

„Du wirst nach mir die Siedlung leiten,“ fuhr der Vater fort. „Es wird Zeit, dass du vernünftig wirst.“

Ohne ein weiteres Wort ließ er Norbert stehen und betrat das Haus.

Norbert folgte dem Vater stumm in die Wohnküche. Er ertrug die Umarmungen seiner weinenden Schwester ohne eine Regung, machte sich von ihr los, aß seine Schale leer, ging zu seiner Schlafstatt und legte sich lang. Er blieb auf dem Lager liegen, während die anderen sich um die Herdstelle setzten. Es wurde nichts gesprochen an diesem Abend an Hans Lederers Hof. Nur Hanna weinte leise auf Margits Schoß.

In dieser Nacht träumte Norbert von dem Mädchen am Brunnen. Reglos, mit nassem Haar stand sie in der Finsternis und blickte mit dunklen Augen zu ihm herüber.

***

Anderntags ging Norbert zur Arbeit an Björn Feldnersohns Hof wie alle Tage. Maja blickte ihn erschreckt an, als sie seine Miene sah, aber Norbert ging sofort an die Arbeit, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln. Er mistete den Schweinestall aus, dann ging er hinauf in den Wald, um die Kaninchenfallen zu kontrollieren. Am frühen Nachmittag ging er zum Hof seines Vaters zurück. In der Wohnküche traf er niemanden an. Norbert holte den Bogen, den Köcher mit den Pfeilen, sein Messer und die Fußleder unter dem Lager hervor und wickelte sie in seinen Filzumhang. Dann schlich er zur Herdstelle. Mit angehaltenem Atem starrte er zur Tür und lauschte. Es waren keine Schritte vor der Haustür zu vernehmen. Rasch langte er nach dem Feuereisen und einem Feuerstein und ließ beides zusammen mit einem Büschel Wolle in seiner Hosentasche verschwinden. Er spähte zur Haustür hinaus – es war niemand zu sehen. Norbert schlich sich vom Hof und verbarg sein Bündel in Kurt Morgners Scheune. Den Rest des Tages spaltete er Holz hinter dem Haus der Feldnersohns und schichtete es auf.

Maja kam, ihn zum Abendimbiss abzuholen. Stumm blickte er ihr entgegen. Sie nahm ihn an den Händen.

„Du bist so blass. Was ist passiert?“

„Ich gehe. Ich gehe weg von hier - nach Altenweil.“

Maja wurde bleich. Sie suchte seinen Blick, aber Norbert wandte sich von ihr ab.

„Ich werfe doch der Dämonin in der schwarzen Grotte nicht Gretes Säugling zum Fraß vor. Von dem Zauberer in Altenweil kann ich lernen, die Dämonen zu besiegen. Und dann komme ich wieder und töte sie.“

Verzweifelt zog Maja ihn an sich.

„ Bert, du darfst nicht gehen! Dein Vater bringt dich um!“

„Nicht, wenn du es niemandem verrätst.“

Sie klammerte sich an ihn, fuhr ihm mit ihren schmalen Händen über die Brust, Schultern und Wangen.

„Liebster, bitte, bleib! Bleib bei mir. Wir haben uns doch versprochen...“

Wild sah er sie an.

„Komm mit mir, Maja!“

Aber sie schüttelte nur schluchzend den Kopf. Norbert machte sich von ihr los. Er sah sie nicht an, während er vom Haus wegging.

„Bert! Ich liebe dich! Bitte, Bert, bleib hier!“ weinte sie ihm hinterher.

Er blickte sich nicht mehr nach ihr um.

***

Norbert verbrachte die Nacht in Kurt Morgners Scheune, weil er befürchtete, im Heuschober seines Vaters könnte er von Lene und Roderig überrascht werden. Er wusste, dass Björn Feldnersohns Hofgemeinschaft glauben würde, er übernachte bei seiner Familie. Und dort würden sie meinen, er sei bei den Feldnersohns, bei Maja.

Majas Weinen klang ihm im Ohr. Er hatte den Geruch ihres Kleids in der Nase. In seinem Magen rumorte der Hunger. Norbert wälzte sich auf seinem Lager aus leeren Getreidesäcken hin und her, aber je mehr er versuchte, die Gedanken an Maja zu verscheuchen, um so stärker wurden sie. Er zwang sich, nicht von seinem einmal gefassten Entschluss abzugehen. Die ganze Nacht über hörte er draußen in der Finsternis die Wölfin heulen.

Als er den Morgen nahe glaubte, tastete er im Dunkeln nach seinem Bündel, schnürte sich die Ledersohlen unter die Fußlappen, hüllte sich in den Filzumhang und hängte den Köcher um. Die Bogensehnen steckte er sich unter die Hemdjacke, das Messer klemmte er in den Hosenstrick. Er nahm seinen Bogen und schlich aus der Scheune.

Die Nachtluft war kalt und feucht. Der Mond stand weit im Westen hinter einer dünnen Wolkenschicht. Er war von einem orangeroten Hof umgeben. Der Felsenwald jenseits der Äcker lag in Nachtschwärze verborgen. Vom Fluss her stiegen Frühnebel auf. Sie schimmerten geisterhaft im Dämmerlicht des untergehenden Monds. Unter mehreren Strohdächern quoll der Rauch soeben entfachter Herdfeuer hervor.

Norbert schlich geduckt durch die Siedlung und hastete zum Fluss hinunter. Außer Atem blickte er sich um. Noch war keine Menschenseele zwischen den Hütten zu sehen. Norbert zwang sich, ruhig zu atmen. Er schlug den Weg flussaufwärts durch die feuchte Flussaue ein. Noch einmal blickte er sich zur Siedlung um. Zwischen treibenden Nebelschwaden erhaschte er einen Blick auf die Hütten Wildenbruchs. Er spürte keine Wehmut, aus dem Dorf seiner Kindheit, von Maja, seiner Jugendliebe, wegzugehen. Wenn er überhaupt etwas empfand außer der Angst, im letzten Moment entdeckt zu werden, dann war es bittere Enttäuschung. Er wunderte sich darüber. Er dachte, er würde mit den Tränen zu kämpfen haben. Aber da war nur die dumpfe Wut, die ihn begleitet hatte, so lange er denken konnte. Und ein jagendes, überschäumendes Gefühl, das ihm neu war: das Gefühl, frei zu sein, zu gehen, wohin er wollte.

Er ließ die Auenniederung hinter sich und folgte dem überwucherten Pfad durch das Buschwerk unterhalb der noch im Dunklen liegenden Elbenruinen. Auf dem Pfad standen zwei hochgewachsene Gestalten. Er sah ihre ernsten, blassen Mienen, umgeben vom langen, blonden Elbenhaar. Sie hatten keine Waffen in den Händen. Schweigend traten sie zur Seite. Norbert ging keine drei Schritt entfernt an ihnen vorbei. Hinter ihnen glühte der ferne, blaue Horizont jener anderen Welt.

Sie wissen, dass ich gehe, um sie zu rächen. Sie und die Smeta – und die kleine Wanda! Und das Mädchen am Brunnen.

Norbert erreichte das Steilufer des Flusses. Nach einem Dutzend Schritten flussaufwärts blieb er stehen und wandte sich zur Elbensiedlung um. Die Geistergestalten waren verschwunden. Zügig folgte er dem kaum auszumachenden Pfad das Flussufer entlang. Über den Baumkronen am gegenüberliegenden Flussufer erwachte eine erste Ahnung des Morgenrots.

Blaues Feuer

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