Читать книгу Gorloin - Thomas Hoffmann - Страница 5
3.
ОглавлениеUnter hohen Fichten hindurch und vorbei an sonnenhellen Windbrüchen, auf denen verschneite Junggehölze standen, führten die Elben uns bergan. Wir hatten die tiefstehende Sonne im Rücken, folglich gingen wir den weiten Gebirgstälern im Osten und Nordosten entgegen. Die Bäume warfen lange Schatten im schräg einfallenden Licht.
Der Krieger, der Lyana zuerst angesprochen hatte, ging voraus, die anderen folgten uns in lockerem Abstand. Es verwirrte mich, dass ich die Männer praktisch nicht mehr erkennen konnte, sobald sie aus den Sonnenstrahlen in den Schatten traten. Sie gingen so lautlos, dass ich nicht hätte sagen können, ob noch die gesamte Gruppe mit uns ging, oder ob ein Teil von ihnen andere Wege eingeschlagen hatte.
Die Elben hatten ihre Bögen über die Schultern gehängt. Sie schienen keine Sorge zu haben, dass wir ihnen gefährlich werden oder entkommen könnten. Die Mienen, in die ich sah, wenn ich mich umblickte, waren ruhig und wachsam. Es war offensichtlich, dass sie jede unserer Bewegungen wahrnahmen. Die junge Kriegerin, die uns vor dem Tod durch die Pfeile ihrer Gefährten bewahrt hatte, ging neben Lyana. Die beiden folgten Kat und mir. Sven ging ein wenig abseits. Immer wieder schaute er sich unruhig um. Fedurin drängte sich mit der Flanke dicht an Kat. Das Tier schien die Gefahr zu spüren, in der wir uns befanden.
Lyana und das Kriegermädchen sprachen leise miteinander in der Elbensprache. Hin und wieder sah ich zu ihnen zurück. Wären die hohen Stiefel und die lederne Umhängetasche nicht gewesen, Lyana hätte eine der Waldelben sein können. Wie sie lautlos und mit federnden Schritten neben der jungen Kriegerin einherschritt, ihren langen, abgespannten Bogen in der Hand, war sie praktisch nicht von den Elben zu unterscheiden. Ich betrachtete das Kriegermädchen verstohlen. Vor dem Licht der Abendsonne bekam ihr langes, hellbraunes Haar einen beinahe rötlichen Glanz. Sie ging aufrecht und weit ausschreitend. Ihr Gesicht war verschlossen. Auch das erinnerte mich an Lyana, die ihre Gefühle so häufig verbarg. Das Mädchen hatte zwei fingerbreite, kurze Narben unter dem linken Wangenknochen. Sie mussten von einer heftigen Verletzung herrühren, die Wange musste komplett aufgerissen gewesen sein. An einer Lederschnur um den Hals trug das Elbenmädchen ein krummes, spitzes Stück Horn von der Größe eines langen Fingers. Es sah aus wie eine einzelne Kralle. Ich konnte mir kein Tier vorstellen, das derart riesige Krallen hatte.
Kat blickte verbissen vor sich hin. Sie war sehr blass.
„Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Waldkrieger besonders gastfreundlich sind,“ meinte ich mit gedämpfter Stimme zu ihr.
Kat schimpfte leise los. „In eine schöne Scheiße sind wir da geraten! Mitten reingelatscht in ihren Hinterhalt, wie die letzten Trottel.“
Wütend sah sie sich um. „Jetzt können wir sehen, wie wir den Kopf aus der Schlinge wieder rausziehen.“
„Es war unmöglich, das vorherzusehen,“ fand ich. „Selbst Lyana hat die Bogenschützen nicht bemerkt. Auch sie hat nicht mit einem solchen Überfall gerechnet.“
Kat schnaubte. „Wenn sich wenigstens irgendeine Fluchtchance böte - wenn wir erst in ihrem Lager sind und ihr Kriegsrat verurteilt uns zum Tod, weil wir ahnungslos ihr Gebiet betreten haben, werden wir kaum noch davonkommen können.“
Auch mir war nicht wohl bei dem Gedanken an das, was uns bevorstand. Mit mulmigen Gefühlen spähte ich in die Schatten zwischen den Bäumen.
„In ihren Wäldern sind wir ihren Pfeilen wehrlos ausgeliefert. Es wär‘ blanker Selbstmord, zu versuchen, ihnen hier zu entkommen.“
„Elender Mist!“ fauchte Kat.
„Wir müssen versuchen, mit ihnen zu reden,“ meinte ich. „Vielleicht findet sich ein Ausweg.“
Kat warf mir einen zweifelnden Blick zu. „Übrigens wünschte ich, du hättest die Wahrheit gesagt, als du behauptet hast, du suchst einen Weg, Ligeias Gift loszuwerden.“
Unglücklich ging ich neben ihr her dem Elbenkrieger nach, der zwischen den Bäumen hindurch bergan stieg.
Über einen bewaldeten Hang gelangten wir an ein breites, in nordöstlicher Richtung verlaufendes Tal. Die Talsohle lag bereits in tiefem Schatten. Große, alte Laubbäume wuchsen unten im Tal. Ihre kahlen Äste waren schneebedeckt. Durch den Laubwald wand sich ein vereister Fluss.
Während wir durch den Wald ins Tal hinabstiegen, kam Lyana an meine Seite. Vorsichtig nahm sie meine Hand.
„Es tut mir leid, Leif,“ sagte sie stockend. „Es ist alles meine Schuld.“
„Du konntest nicht wissen, was passieren würde, Lyana.“
Sie sah mich verzweifelt an. „Die Elben im Süden waren zu meinem Vater und mir immer freundlich. Mir hätte klar sein müssen, dass sie uns hier als Eindringlinge betrachten. Sie hätten uns umgebracht, wenn Aeolin nicht dabei gewesen wäre.“
„Aeolin?“
„Die junge Kriegerin. Sie hat den höchsten Kriegerrang, den der Clan vergibt. Krieger von niederem Rang dürfen ihr nicht widersprechen, ohne dass es eine Herausforderung zum Zweikampf wäre.“
„Sie scheint ein ganz junges Mädchen zu sein.“
„Bei Elben lässt sich das Alter nur schwer schätzen. Ich glaube, sie ist ungefähr so alt wie ich.“
„Was hast du ihr gesagt?“
„Schon dem Krieger, der zuerst mit mir sprach, habe ich den Namen meines Vaters genannt, und dass er ein Freund der Elben im Süden war. Aber er antwortete nur, auch Raben können sprechen lernen, das mache sie nicht zu vernünftigen Wesen. Aeolin kannte meinen Vater vom Namen her...“ Sie stockte mitten im Satz und sah mich mit Tränen in den Augen an. „Du hast es immer gesagt, Leif.“
„Was?“
Zögernd hauchte sie: „Aeolins Familie ist über Freundschaftsbande mit der Familie meiner Mutter verbunden, obwohl über die weite Entfernung schon lange keine Kontakte mehr bestehen - Aeolin wusste den Namen meiner Mutter.“ Einen Moment lang konnte sie nicht weitersprechen.
Wie erstickt sagte sie schließlich: „Meine Mutter war Elbin.“
Ich drückte fest ihre Hand.
Lyana kämpfte mit sich, bis sie ihren nüchternen Gesichtsausdruck wiederfand. „Den anderen Kriegern hat Aeolin zum Beweis mein Amulett gezeigt, das die Elben im Süden mir gaben. Als sie nach euch fragte, musste ich die Wahrheit sagen - lügen ist nach dem Recht der Herren des Waldes ein schweres Verbrechen. Sie würden jeden töten, den sie einer Lüge überführen.“
Ich musste mich räuspern, bevor ich wieder sprechen konnte. „Dieser Rat der Alten, was hat es damit auf sich?“
„Aeolin hat es mir erklärt,“ meinte Lyana. „Alle Krieger des Clans bilden die Ratsversammlung, in der alle wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Frauen und Kinder haben dort keine Stimme.“
„Aber diese Aeolin ist ein Mädchen!“
„Sie ist Kriegerin der dritten Feder,“ erklärte Lyana. „Es stimmt, Aeolin sagte, es ist äußerst selten, dass eine Frau in den Kriegerrang aufgenommen wird, aber sie meinte, sie hätte es eben mit aller Macht darauf angelegt. Die Stimmen der ältesten Krieger haben in der Ratsversammlung großes Gewicht. Keiner der Jüngeren würde ihnen widersprechen. Die Alten müssen jetzt entscheiden, was mit uns geschehen soll. Eigentlich,“ sie schluckte, „eigentlich ist es Fremden bei Todesstrafe verboten, das Gebiet des Clans zu betreten.“
Die Elben führten uns ins Tal hinab und durch den verschneiten Wald an den Fluss. Am Flussufer wandten die Krieger sich flussabwärts und machten mit Armen und Händen abwehrende Zeichen. Dabei murmelten sie beschwörende Worte. Dann machten sie kehrt, nahmen uns in die Mitte und gingen den Fluss hinauf. Es waren noch acht Krieger, die uns begleiteten, Aeolin eingerechnet. Auch Lohan war dabei.
Lyana wechselte ein paar Worte mit Aeolin. Dann kam sie zu Kat, Sven und mir zurück.
„Das Gebiet flussabwärts bei der Flussmündung am See gehört nicht zum Gebiet des Clans,“ erklärte sie. „Sie sagen, dort treibe eine schwarze Hexe ihr Unwesen. Mit ihren Bannsprüchen wollen sie sie von ihrem Gebiet fernhalten.“
Wir tauschten stumme Blicke. Allen von uns war klar, wer dort an der Flussmündung sein Unwesen trieb.
Die Uferböschung und der Wald sanken in die Dunkelheit. Die Elben gingen ohne Licht, immer dem Fluss aufwärts folgend, der sich irgendwann nach Osten wandte. Zuweilen ging es steil bergan über steinige Hänge, auf denen ich in der Dunkelheit über Wurzeln und Felsstufen stolperte. Ich fühlte mich müde und ausgezehrt. Wären wir unter uns gewesen, wir hätten längst unser Lager aufgeschlagen und am prasselnden Feuer das Jagdwild verzehrt, das Lyana zweifellos gefunden hätte. Fedurin versuchte Kat ein oder zweimal auf Eselart daran zu erinnern, dass es Zeit sei, den Tagesmarsch zu beenden. Aber er tat es nur zaghaft, und als sie entschieden am Seil ruckte, kam er ihr schicksalsergeben hinterher.
Wir gingen jetzt dicht beieinander in der Dunkelheit. Von den Elben sahen wir nur Schatten. Bei dem schnellen Marschtempo stolperte ich immer wieder auf dem unwegsamen Ufergelände. Sven und Kat ging es nicht anders. Wir wechselten kein Wort miteinander, aber ich wusste auch so, worüber die Gefährten sich Gedanken machten. Ich befürchtete das Schlimmste.
***
Das Unterholz wurde seltener. Schließlich verschwand es ganz. Es ging nicht mehr bergan. Wir folgten den Elben auf einem gewundenen Pfad durch ein Gehölz dicht stehender Stämme unterschiedlicher Größe. Der Schnee unter unseren Füßen war festgetreten. Die Elbenkrieger strebten jetzt schnell voran. Vor uns, einen Steinwurf vom Flussufer entfernt, sah ich Feuerschein zwischen den Bäumen. In der Dunkelheit konnte ich die Gesichtszüge meiner Gefährten nicht erkennen, aber ich spürte ihre Anspannung.
Wir traten aus dem Gehölz. Unter den ausladenden Kronen von Bäumen mit mächtigen Stammumfängen von einer Art, die ich nicht kannte, tat sich ein von Unterholz freier Platz auf. In der Mitte der Lichtung loderten die Flammen eines Feuers übermannshoch in den Nachthimmel. Langgestreckte Lehmhütten mit flachen, rindengedeckten Dächern verteilten sich zwischen den Bäumen über die Lichtung. Die schlanken Gestalten der Elben waren zwischen den Hütten zu sehen: Krieger mit langen Messern in den Gürteln über ihren mit Fransen versehenen Lederwämsern, Frauen in langen, weichen Lederkleidern, Kinder, auch sie in der gleichen Kleidung wie die Erwachsenen. Die Frauen waren fast alle ein bis zwei Köpfe kleiner als die Männer. Sie waren von zierlicher, schlanker Gestalt. Alle Bewohner der Waldsiedlung trugen ihr helles Haar von Stirnbändern gehalten. Irgendwo auf der Lichtung sang eine Frauenstimme einen sanften, melodischen Gesang.
Von einem Baum am Rand der Siedlung hing eine Strickleiter herab. Ich spähte in die Baumkrone. Unter dem dunklen Sternenhimmel erkannte ich hoch oben in den Baumästen die Umrisse einer Plattform. Ich entdeckte mehrere dieser Baumplattformen rings um die Lichtung verteilt.
Die Krieger führten uns dem Feuer in der Siedlungsmitte entgegen. Krieger, Frauen und Kinder hielten an, schauten von ihren Tätigkeiten auf und sahen uns mit reglosen Gesichtern nach, wie wir mit unseren Waffen, den bepackten Esel in der Mitte, zwischen den Lehmhütten hindurchgingen. Zwischen Pflöcken waren Felle zum Trocknen aufgespannt. Unter den vorspringenden, auf hölzerne Pfosten gestützten Rindendächern an der Längsseite der Hütten standen große Webrahmen. In den Längsseiten reihte sich Türöffnung an Türöffnung. Es sah aus, als hätte jeder Raum seine eigene Tür nach außen. Fenster gab es keine. An der Rückseite der langen Häuser lagen schneebedeckte Ackerbeete hinter niedrigen Knüppelzäunen. Magere Hunde liefen im Lager umher. Etwas weiter ab sah ich eine Koppel. Eine Gruppe kräftiger Ponys mit struppigem Fell war darin eingezäunt.
Rings um das hoch auflodernde Feuer standen Tontöpfe und Krüge auf dem Erdboden. Frauen hockten neben Bastmatten, auf denen sie Essen zubereiteten. Kinder schlugen mit Stöcken nach den bettelnden Hunden. In einem weiten Kreis um das Feuer standen niedrige Bänke aus bearbeiteten Baumstämmen. Auf einer saßen drei oder vier Krieger beieinander und rauchten abwechselnd aus einer langen Pfeife. Sie hatten die faltigen, wettergegerbten Gesichter alter Männer.
Der Krieger, der uns geführt hatte, deutete auf eine am Boden ausgebreitete Lederhaut. „Hier müsst ihr eure Waffen und Rüstungen ablegen.“
Vier Krieger stellten sich mit ihren Bögen in den Händen um uns auf. Sie hatten die Bögen gesenkt, aber sie hatten Pfeile aufgelegt. Lyana blickte sich hilfesuchend nach Aeolin um. Das Kriegermädchen stand mit unbeteiligtem Gesicht dabei und nickte stumm.
Als Lyana ihren Bogen auf der Lederhaut ablegen wollte, sagte der Krieger: „Bögen und Messer sollt ihr behalten. Wir sehen, dass ihr Krieger eines fremden Volks seid, und Messer und Bogen sind die Waffen des Kriegers. Es wäre eine Schande, einem Krieger seine Waffe zu nehmen, mit der er sich verteidigt.“
Ich legte Helm und Schild ab und legte mein Schwert daneben. Insgeheim betete ich ein Dankgebet zu meinem Stern, dass ich meinen Dolch behalten konnte. Sven setzte den Rucksack ab und legte seinen Zweihänder behutsam auf die Lederdecke. Das Schwert blitzte auf, als er es ablegte.
„Diese Waffe kann niemand berühren außer mir, ohne sich zu verletzen,“ sagte Sven zu dem vor uns stehenden Krieger.
„Niemand wird deine Waffe anrühren,“ antwortete ihm der Krieger. „Solltest du sie nicht mehr verwenden können, werden wir sie außerhalb unserer Grenzen vergraben oder im Wasser versenken.“
Sven stierte ihn mit zusammengebissenen Zähnen an. Dann warf er Helm und Kettenhemd auf die Decke. Der Krieger sah ihm ohne jede Regung zu. Während Kat Helm, Schild und Schwert ablegte, griff Sven in seinen Rucksack und holte sein Bootsmesser hervor. Mit trotzigem Gesichtsausdruck schob er es in seinen Gürtel. Der Elbenkrieger nickte anerkennend. Auch Lyana legte ihr Schwert ab.
Die Männer schlugen die Lederhaut um unsere Waffen und verschnürten sie zu einem festen Paket. Einer der Krieger nahm den Packen auf die Schulter.
„Wohin bringt ihr unsere Waffen?“ wollte Kat wissen.
Der Krieger, der bisher zu uns gesprochen hatte, deutete in die Baumkronen am Rand der Siedlung. „Auf eine der Aussichtsplattformen. Die Plattformen sind Tag und Nacht mit Wachen besetzt. Niemand wird dort eure Waffen stehlen. Falls ihr sie zurückerhaltet, werden sie vollständig und unversehrt sein.“
Wir vier wechselten stumme Blicke.
„Nehmt eurem Lasttier das Gepäck ab und bindet das Tier dort an den Pfosten,“ befahl uns der Krieger, indem er auf ein nahes Langhaus deutete. „Ihr selbst müsst euch unter das Dach setzen und warten, bis der Rat zusammengetreten ist.“
Als wir mit dem Gepäck zu unseren Füßen an der Lehmwand der Langhütte auf der niedrigen Bank saßen, holte ich einen Wasserschlauch hervor und trank ein paar Züge. Dann reichte ich ihn an Kat weiter. Ich fühlte mich ausgetrocknet nach dem langen Marsch. Mein Magen verlangte nach Essen, aber offensichtlich wollten die Elben uns nichts anbieten. Seit wir uns auf der Bank niedergelassen hatten, schien niemand mehr Notiz von uns zu nehmen, doch eine Gruppe von Kriegern mit geschulterten Bögen blieb in der Nähe. Reihum tranken wir aus dem Wasserschlauch. Sven holte die letzten Dörräpfel aus dem leer gewordenen Proviantbeutel und reichte sie herum. Ich tastete in meiner Hosentasche nach dem Griff meines Klappmessers.
Zwei Bögen, ein Waidmesser, ein Bootsmesser, ein Klappmesser und ein magischer Dolch gegen ein Heer von Bogenschützen, dachte ich mit bitteren Gefühlen.
Lyana legte stumm ihre Hand auf meine.
Eine Frau beim Feuer reichte den Kriegern, die mit uns in die Siedlung gekommen waren, einen Krug, aus dem sie reihum tranken. Andere Frauen gaben ihnen Holzschalen in die Hand, die sie aus einem großen Topf füllten. Die Krieger verteilten sich mit dem Gesicht zum Feuer auf Bänke und löffelten mit Holzlöffeln ihr Essen. Fedurin stieß einen langen Eselsschrei aus.
„Das arme Tier hat Hunger und Durst,“ fauchte Kat wütend. „Ich dachte, Elben sind edle, hochgesinnte Wesen. Diese Waldelben machen auf mich einen ganz und gar rohen, unzivilisierten Eindruck. Das sind Wilde!“
Sie hatte noch nicht zu Ende geschimpft, als ein junges Mädchen mit einem Eimer Wasser herankam, den sie vor Fedurin hinstellte. Der Esel soff das Wasser gierig. Eine andere Frau brachte einen Arm voll Heu und Kastanien für den Packesel. Die Frauen vermieden es, in unsere Richtung zu blicken.
„Der kriegt was, und uns lassen sie hier rumsitzen!“ stieß Kat hervor, als sie ihre Sprache wiederfand.
„He du, Krieger!“ rief Sven einen jungen Mann an, der nicht weitab mit geschultertem Bogen stand.
Der junge Krieger drehte sich zu uns um und blickte uns teilnahmslos an.
„Diesem unvernünftigen Tier gebt ihr zu essen und zu trinken,“ sagte Sven laut. „Sind wir in euren Augen weniger als Tiere, dass ihr uns die Gastgeberpflichten verweigert?“
Lyana sah Sven mit großen Augen an. Der Krieger musterte ihn. Seine Hand ruhte am Messergriff.
„Du sprichst in fremder Sprache, Krieger eines fremden Volks,“ sagte er in flüssiger Reichssprache. „Aber deine Worte ergeben Sinn!“
Er rief den Frauen am Feuer etwas in seiner melodischen Sprache zu. Bald darauf brachten Mädchen uns Holzlöffel, Schalen mit dampfendem Brei und einen Tonkrug mit Wasser. Der Brei schmeckte fade und mehlig und ein wenig nussig. Mein Magen jubelte über die warme Kost.
„Die sind nicht so unzivilisiert hier,“ schmatzte Sven. „Man muss nur wissen, wie man mit ihnen reden muss.“
***
Auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers stand ein Lehmhaus mit steilem Dach. Es hatte keine Fenster. Das Haus war höher und breiter als die Wohnhütten, in denen sich Raum an Raum reihte. Der Eingang war breit genug, dass zwei Männer nebeneinander hindurchgehen konnten. Die Türpfosten waren aus dicken, mit Schnitzwerk versehenen Stämmen gefertigt.
Die Krieger am Feuer standen einer nach dem anderen auf und gingen zum Eingang des Hauses. Weitere Krieger kamen aus der Siedlung und traten in das Gebäude.
„Das wird die Halle sein, in der sie ihren Kriegsrat abhalten,“ mutmaßte Kat düster.
Ein Krieger kam von der Versammlungshalle her. Die Hand am Messergriff stellte er sich vor uns.
„Die Ratsversammlung ist zusammengetreten,“ sagte er in hartem Ton. „Kommt nun!“
Der Innenraum des Hauses war eine einzige große Halle. Mehrere Pfostenreihen trugen die Dachkonstruktion. Längs der Wände erhellten Pechfackeln die Halle. Die Krieger saßen in dichten Reihen auf niedrigen Bänken hintereinander. Der Raum war gedrängt voll bis auf einen schmalen Gang, der vom Eingang zur Stirnseite der Halle verlief. Außer unseren Bewachern hatte keiner der Krieger seinen Bogen dabei.
Es war vollkommen still. Die Krieger sahen uns mit unergründlichen Mienen entgegen, während wir zwischen den Bänken hindurch nach vorn gingen. Ein mannsgroßer Lederschild war an der Stirnwand der Halle angebracht. Er war mit geometrischen Mustern in roten und schwarzen Farben bemalt. Hinter dem Schild waren zwei gekreuzte, zwölf Fuß lange Speere mit breiten Klingen befestigt.
Vor der Stirnwand strahlte eine mit glühenden Holzkohlen gefüllte Herdeinfassung Wärme aus. Der Bereich zwischen der Herdstelle und der Wand war freigehalten worden. Fünf Männer hockten dort mit untergeschlagenen Beinen. Sie waren in rotbraun gemusterte Decken gehüllt. Ihr langes, von Stirnbändern gehaltenes Haar war weiß, die blasse Gesichtshaut faltig und vertrocknet. Sie sahen uralt aus, aber sie blickten uns mit scharfen, wachen Augen entgegen.
Unsere Bewacher bedeuteten uns, vorne an der Seitenwand Platz zu nehmen, wo wir von allen Anwesenden gesehen werden konnten. Der Krieger, der zuerst mit Lyana gesprochen hatte, trat vor und erstattete den Alten, die der Kriegerversammlung gegenüber saßen, in der Elbensprache einen kurzen Bericht. Dann wurde Lyana aufgefordert, aufzustehen. In der Sprache der Herren des Waldes antwortete sie auf Fragen der fünf Alten und aus den Reihen der Krieger. Sie wirkte immer unsicherer, je mehr Fragen ihr von einzelnen Kriegern entgegengeschleudert wurden. Kat, Sven und ich wechselten besorgte Blicke.
Während Lyana noch versuchte, Antworten auf Fragen zu finden, hauchte Kat mir zu: „Die Hauswand, an der wir sitzen - meinst du...“
„Die Wand krieg' ich weg,“ flüsterte ich zurück. „Danach wird's biestig. Ich seh' nicht, wie wir uns bei einer Verfolgungsjagd vor ihren Pfeilen in Sicherheit bringen können.“
„Kannst du nicht Nebel erzeugen oder so was?“
„Möglicherweise... wenn keine mächtigen Magier unter ihnen sind...?“
Die helle, feste Stimme Aeolins erklang in der Halle. Obwohl sie stand, sah sie zwischen den sitzenden Kriegern klein aus. Aber ihre Haltung, die Rechte am Messergriff, strahlte Spannkraft und Würde aus. Lyana setzte sich mit Verzweiflung im Gesicht zu uns.
„Ich konnte sie nicht überzeugen.“ Sie unterdrückte ein Schluchzen. „Sie bleiben dabei, dass wir ihr Gebiet unerlaubt betreten haben. Kurmuk Dakar, unser Auftrag, die Prophezeiung kommender Kriege, es ist ihnen alles gleichgültig. Svens heilige Waffe... deine schwarze Magie, Leif... ich glaube, sie werden uns töten!“
Kat biss die Zähne zusammen. „Wir warten noch auf die Entscheidung. Dann sprengt Leif ein Loch in die Wand und wir geben im magischen Nebel Fersengeld.“
Lyana schniefte unterdrückt. Sie sah nicht überzeugt aus.
„Ich hätte es wissen müssen,“ flüsterte sie. „Ich hab alles falsch gemacht, vollkommen falsch! Wir hätten vor dem Urwald unser Lager aufschlagen müssen und warten, ob sie sich uns zeigen...“
Mit Tränen in den Augen sah sie mich an. „Aber ich habe ja überhaupt nicht daran geglaubt, sie wirklich zu treffen!“
„Wir haben schon mal ein Kloster niedergebrannt,“ zischte Kat kaum hörbar. „So was kann einem Lager voller Wilder auch passieren!“
An einigen Stellen der Halle war zustimmendes Gemurmel zu hören. Lyana blickte gespannt auf. Aeolin redete mit fester, lauter Stimme. Ich betrachtete die Reihen der Krieger. Einige von ihnen nicken. Die meisten jedoch blickten ablehnend und verschlossen zu Boden. Als Aeolin sich setzte, sprang ein anderer Krieger auf. Es war Lohan. Er setzte zur Rede an, doch einer der Ältesten bedeutete ihm mit der Hand, still zu sein. Lohan starrte den weißhaarigen Alten an, der seinem Blick ruhig begegnete. Langsam und widerstrebend setzte der muskulöse Krieger sich wieder. Der weißhaarige Alte winkte mir, aufzustehen. Mir rutschte das Herz in die Hose. Mit weichen Knien erhob ich mich.
„Leif, Krieger eines fremden Volkes,“ sprach der Alte mich in der Reichssprache an. Seine Stimme war streng, aber nicht unfreundlich. „Wir haben gehört, dass du des todeswürdigen Vergehens schuldig bist, schwarze Magie auszuüben. Was hast du selbst dazu zu sagen?“
„Ich... ich bin auf der Flucht vor der schwarzen Hexe, die mich gezwungen hat, an ihren Ritualen teilzunehmen. Sie hat mich gegen meinen Willen entführt, ich habe versucht, mich zu wehren, gegen sie zu kämpfen, aber ich habe nichts gegen sie vermocht.“
Der Alte nickte zufrieden. „Lohan, Krieger der zweiten Feder,“ sprach er in die Halle hinein. „Sage uns, ist jeder, der zum Opfer der schwarzen Magie wurde, des Todes schuldig?“
In der Halle erklangen an verschiedenen Stellen überraschte Ausrufe. Lohan stand langsam auf.
„Dieser dort ist kein Opfer der schwarzen Magie,“ sagte er gepresst. „Er selbst hat schwarze Magie angewendet, wie seine Blutsschwester uns berichtet hat. Er selbst ist ein Schwarzhexer!“
Unruhig blickte ich zu den anderen Ältesten hinüber. Ihre Mienen blieben versteinert. Der Älteste, der zu mir gesprochen hatte, forderte mich auf, zu berichten, wie Ligeia mich in die schwarze Magie hineingezogen hatte. Schweißperlen traten mir auf die Stirn, während ich versuchte, darzustellen, wie Ligeia mich mit ihren Träumen eingefangen, mich auf dem Opferhügel überwältigt und beinahe umgebracht hatte, mich endlich auf dem Dachboden ihrer Hütte mit berauschenden Tränken willenlos gemacht und mich mit Zaubern dazu gezwungen hatte, die Ziege zu opfern, um mir das Blut des Opfertieres einzuflößen. Hier und da hörte ich Anteil nehmende Ausrufe in der Halle, aber als ich geendet hatte, schwiegen die Krieger. Viele blickten ohne Regung vor sich hin.
Lohan stand langsam und würdevoll auf. Die Ältesten blieben stumm. Niemand hinderte ihn daran, das Wort zu ergreifen.
„Leif, Krieger eines fremden Volkes!“ In Lohans tiefer Stimme schwang ein drohender Unterton. „Sage uns, ob du seither - allein oder mit anderen Schwarzhexern zusammen - die schwarzen Rituale vollzogen, ob du lebende Wesen der schwarzen Magie geopfert hast.“
Mir gefror das Blut in den Adern. „Ich... das... ich...“
„Hört ihn an, meine Brüder!“ spottete Lohan. „Nur stottern kann er wie ein unvernünftiges Tier, wenn er nach der Wahrheit befragt wird!“
Auf allen Seiten erklang beifälliges Gemurmel. Lyana sprang auf.
Mit mühsam beherrschter Stimme schrie sie: „In Kingerhag hat er einer Königstochter das Leben gerettet mit seiner Magie! Er hat mich damit davor bewahrt, an einer Kampfwunde zu verbluten! Auf der barhuter Landzunge hat er seine Magie zum Kampf gegen Horden von Dämonen verwendet, die uns sonst umgebracht hätten! Das sind die einzigen Situationen, in denen er seine Magie angewendet hat!“
Bleiernes Schweigen folgte auf ihre Worte.
Mit belegter Stimme setzte ich zu einem weiteren Rechtfertigungsversuch an. „Es ist schwer, das schwarze Gift wieder loszuwerden. Ich bin auf der Suche nach einem Mittel dagegen... ich... ich habe nicht vor, das auf Dauer weiterzumachen...“
Selbst in meinen eigenen Ohren klang es nicht überzeugend.
„Hört mich an, meine Brüder!“ sagte Lohan ruhig. „Ich will in der Sprache der Fremden sprechen, damit sie verstehen, dass unser Gesetz gerecht und weise ist. Unsere Schwester,“ er nickte in die Richtung, in der Aeolin saß, „hat für die Fremden gesprochen, die in unser Gebiet eingedrungen sind. Sie ist eine große Kriegerin, und die Söhne unseres Clans und deren Kinder werden von ihren Taten am Feuer berichten. Aber ihre Sprache ist die Rede einer Frau, die ihre Gefühle nicht bezwingen kann, nicht die Sprache des Kriegers.“
Hier und da murmelte jemand zustimmend.
„Ihr Brüder,“ rief Lohan wütend. „Ist es recht, wenn ein Krieger sich feige seinem Feind ergibt, wenn er ihn nicht bezwingen kann? Ist es eine Ehre für ihn? Gereicht es dazu, Erbarmen und Gnade mit ihm walten zu lassen? Oder ist es seine Pflicht, seinem Feind bis zum Tod zu widerstehen?“
Überall in der Halle brandeten zustimmende Ausrufe auf. Die Ältesten hoben ihre Köpfe und schauten Lohan an. Nur der Älteste, der mir Fragen gestellt hatte, blickte nachdenklich zu Boden. Die lange Narbe an Lohans Hals glühte, während er seine Worte voller Hass in die Halle schleuderte.
„Dieser dort hat sich der schwarzen Magie hingegeben, statt bis zu seinem Tod dagegen anzukämpfen. Er hat ein Leben in Schuld dem Kriegertod vorgezogen. Nach unserem Gesetz hat er sich des todeswürdigen Verbrechens der schwarzen Magie schuldig gemacht. Dies ist meine, Lohans, Kriegers der zweiten Feder, Meinung. Er muss sterben! So will es unser Gesetz! Ob die anderen sofort aus unserem Gebiet verbannt werden oder mit ihm sterben sollen, mögen meine Brüder entscheiden!“
Laute Rufe in der Elbensprache kamen von allen Seiten, dann wurde es still. Die versammelten Krieger schauten zu den fünf weißhaarigen Alten, die einander ernst zunickten. Nur einer starrte mit sorgenvoller Miene in die Kohlenglut. Lohan stand, den flammenden Blick auf mich gerichtet.
Wir vier wechselten rasche Blicke. Ich konzentrierte mich auf einen Erd-Elementarzauber, legte mir rasch noch zurecht, mit welchen Zaubern ich die Halle mit den Kriegern darin belegen wollte, sobald die Wand eingebrochen sein würde - Orkanstoß, Feuerwalzen - als eine Stimme wie Gewitterdonner von Eingang her in die Halle dröhnte.
„Thweon, Lohan!“
***
Die große Gestalt stand vor den Fackeln im Eingang der Halle. Das unruhige, rötliche Licht beleuchtete sie von hinten, so dass nur die dunklen Umrisse des hoch aufgerichteten Neuankömmlings zu sehen waren. Sein langer Umhang wehte im Luftzug. Der Stab, den er in der Rechten hielt, war so lang wie er selbst. Am oberen Ende lief der Stecken in einem großen Wurzelknoten aus.
Unter der gewaltigen Stimme des neu Eingetroffenen verstummte schlagartig jedes Gemurmel in der Halle. Kat, Sven, Lyana und ich starrten der Gestalt in dem wehenden Umhang entgegen.
„Das ist er!“ hauchte Kat. „Die Gestalt auf der Hügelkuppe in den Ahnenhügeln!“
Die große Gestalt trat mit langsamen Schritten durch den freien Gang zwischen den Bänken in die Halle. Im Licht der Fackeln erkannte ich einen hageren Greis. Unter dem bodenlangen Umhang war er in schmutzige Lederhäute gekleidet. Seine Füße steckten in Bastsandalen. Die Hand, die den langen Stab hielt, war mager und knochig. Die Haut am Kopf und an den Händen war fleckig gelb. Nur wenige schlohweiße Haarsträhnen hingen von seinem faltigen Schädel. Er hielt den Kopf mit dem eingefallenen, zahnlosen Gesicht hoch erhoben, als lausche er im Gehen. Sein Gang war langsam, wie tastend, und er schob das untere Ende seines Stabs vor sich her wie ein Blinder. Ich sah seine trüben, pupillenlosen Augen. Er war tatsächlich blind.
Langsam, als suche er seinen Weg aus der Erinnerung, tastete er sich in die Mitte der Halle. Kein Laut war zu hören außer dem Wind, der draußen aufgekommen war und um die Halle heulte. Die Krieger, an denen er vorbeiging, neigten die Köpfe. Der Greis blieb stehen. Er wandte seine blinden Augen Lohan zu, der noch immer stand, aber seine Haltung war nicht mehr stolz. Er hatte die Hand vom Messer genommen und stand mit hängenden Armen da.
„Ich habe dich sagen hören, Lohan, Sohn der Luwenda, ein Krieger, der der schwarzen Magie nicht zu widerstehen vermag, solle sterben,“ donnerte der Greis in der Reichssprache. Die Stimme passte nicht zu dem seinen Weg ertastenden uralten Mann.
Lohan antwortete leise etwas auf elbisch.
„Sprich auch diese Worte den Fremden verständlich, Lohan!“ grollte der Uralte.
Lohan antwortete nicht. Schweigend stand er und starrte den Alten an. Die blinden Augäpfel des Greises rollten umher, als sähen sie Dinge, die allen im Raum verborgen blieben. Er stand mit erhobenem Haupt, wie in die Halle hinein lauschend.
„Werden unsere Gesetze neuerdings von den jungen Kriegern ausgelegt?“ dröhnte seine Stimme durch die Halle. „Mein junger Bruder Lohan sagt, es sei Gesetz, dass ein Krieger, der im Kampf mit einem Schwarzmagier unterliege, des Todes sei. Ich sah Einverständnis bei meinen Brüdern im Rat. Habe ich Recht?“
Ein langes Schweigen folgte auf seine Worte. Niemand regte sich. Die blinden Augen des Steinalten irrten im Raum umher.
Endlich ergriff der Älteste, der mich befragt hatte, das Wort. „Wir freuen uns, das Gesicht unseres Bruders Lohan im Dorf zu sehen, Tamelund. Möge er leben und seinem Clan als Krieger dienen.“
„Seit wann messen die Krieger des Waldes mit zweierlei Maß?“ donnerte der Greis. „Sprach nicht Lohan selbst sein Todesurteil?“
Die fünf Ältesten wechselten stumme Blicke miteinander. Während der Alte, der mit mir gesprochen hatte, antwortete, blickten die anderen zu Boden.
„Ein Gesetz gilt bei den Herren des Waldes,“ sagte der Alte ruhig. „Wie für uns, so für die Fremden, die unser Land betreten. Ist einer meiner Brüder anderer Meinung, möge er reden.“
In der Halle herrschte absolute Stille. Lohan stand noch immer. Grimmige Wut stand ihm im Gesicht.
Nach einer Weile sagte derselbe Alte in den Raum hinein: „Möge unser Bruder Lohan leben. Wie er, so auch der fremde Krieger, der sich Leif nennt.“
Ich sah, wie Kats Haltung neben mir sich ein wenig entspannte. Wachsam und auf alles gefasst verfolgte ich das Geschehen in der Halle.
Die Stimme des Uralten dröhnte: „Wer hat meinen Brüdern Kunde gegeben, dass Fremde unser Gebiet betreten würden? Haben eure Späher sie entdeckt?“
Als niemand ihm antwortete, fuhr er fort: „War ich es nicht, der es euch gesagt hat? Habe ich euch nicht aufgefordert, sie als Gäste zu empfangen?“
Jetzt war es Lohan, der mit mühsam kontrollierter Stimme sagte: „Du bist alt, Tamelund, unser Vater. Lange haben deine Augen das Sonnenlicht nicht gesehen. Der beschwerliche Weg von deiner Hütte zur Ratshalle ermüdet dich. Du verdienst es, dich in deiner Hütte auszuruhen und dich von den Frauen pflegen zu lassen, bis du Sehnsucht verspürst, in die Heimat zu gehen.“
Sehr ruhig antwortete der Greis ihm: „Ich sehe wohl Dinge, die deinen Augen verborgen bleiben, weil das Sonnenlicht dich blendet, Lohan, Sohn der Luwenda. Wer war es, der dir das Leben rettete?“
Lohan schnappte nach Luft. Mühsam brachte er hervor: „Du, Tamelund, unser Vater.“
„Ziemt es dir da, mir zu widersprechen?“ fragte der Greis.
Lohans Gesicht lief dunkel an.
„Nein,“ stieß er hervor, während er sich setzte.
Die blinden Augen des Greises irrten in die Richtung, in der wir vier saßen.
„Die Fremden müssen bleiben und unsere Gastfreundschaft genießen.“ Die gewaltige Stimme erfüllte die Halle. „Noch habe ich nicht gesehen, was ihre Ankunft bedeutet. Bis dahin lasst sie sich frei bewegen, aber sie sollen nicht weiterreisen, bis ich klar gesehen habe, was ich sehen muss. Dann will ich euch erklären, meine Brüder, was mit ihnen geschehen soll.“
Ich hatte den Eindruck, die blinden Augen wanderten in meine Richtung. „Du, Leif, Sohn des Brog, Krieger aus dem Dorf Brögesand, sollst frei sein und unser Gast. Doch bei Todesstrafe darfst du keine schwarze Magie auf unserem Gebiet verrichten.“
Er richtete sich hoch auf. „Ist einer meiner Brüder anderer Meinung, dann möge er sprechen!“
Wieder war es Lohan, der sich erhob. Auf den Gesichtern der Ältesten sah ich Unwillen.
„So, wie du es gesagt hast, Tamelund, unser Vater,“ rief Lohan laut, „so soll es sein.“
Die Hand am Messer drehte er sich mir zu. „Meine Brüder, hört meinen Schwur! Bei Landorlin und Vendona schwöre ich, dass dieser fremde Krieger da, der sich Leif nennt, von meiner Hand sterben wird, wenn ich sehe, dass er seine schwarze Magie ausübt!“
Ich stand ebenfalls auf. „Ich werde eure Gesetze einhalten. Ich danke euch für eure Gastfreundschaft.“
***
An der wärmenden Glut in der Siedlungsmitte reichte eine stille Frau uns Wasser in einem Tonkrug und Schalen mit heißem, seltsam schmeckendem Tee von gelblicher Farbe. Wir erhielten große Stücke gebratenen Wildbrets und eine Schale mit ungeschälten, kartoffelähnlichen Wurzelknollen, deren weißlich-grünes Inneres mehlig schmeckte und ein wenig süß. Während wir das Essen hungrig hinunterschlangen, blickte ich mich verstohlen um. Nirgendwo waren Bogenschützen zu sehen. Es machte den Eindruck, als würden wir tatsächlich nicht mehr bewacht.
Nach und nach füllten sich die Bänke um die Feuerstelle mit Kriegern. Einige setzten sich direkt neben uns.
Ein Krieger an meiner Seite sagte mit ernstem Gesicht: „Tamelund, unser Vater, hat euch willkommen geheißen. Was wir besitzen, ist auch euer Besitz, und wie wir unser Leben verteidigen würden, so auch das eure.“
Ich sah in seine ernsten Augen. „Mein Leben für dich. So grüßen sich die Gefährten in meinem Heimatdorf, wenn sie - nun ja, in den Kampf ziehen.“
„Das ist ein gutes Wort,“ meinte der Krieger. Würde klang in seiner Stimme. „Mein Leben für dich, mein Bruder!“
Den Macht ausstrahlenden Greis, den die Krieger in der Halle Tamelund genannt hatten, konnte ich nirgendwo sehen. Er hatte als erster die Ratsversammlung verlassen, nachdem sein Schiedsspruch von den Ältesten bestätigt worden war. Der heulende Wind hatte sich schlagartig gelegt, als Tamelund im Dunkel der Nacht verschwand.
Die Frauen bewirteten die Krieger um das Feuer mit Tee und Wildbret.
„Sieht aus, als wenn die gesamte Arbeit in der Siedlung von den Frauen erledigt wird,“ flüsterte Kat mir mit verhaltener Verachtung zu. „Die Kerle strolchen bloß auf der Jagd durch den Wald, denken sich Mutproben aus, um ihre Federn verteilen zu können, lassen sich bedienen und palavern in ihrer Ratshalle darüber, wer wen zuletzt beleidigt hat.“
Schräg gegenüber erkannte ich Lohan. Er saß für sich allein. Eine junge Frau reichte ihm eine Schale mit Essen. Sie blieb in seiner Nähe stehen, während er aß. Von den anderen Kriegern schien sich keiner in seine Nähe setzen zu wollen.
Nach dem Essen nahmen einige Krieger lange Pfeifen von den Frauen entgegen. Die Frauen waren beständig um die Krieger herum beschäftigt, nahmen ihnen die Essschalen ab und reichten ihnen Trinkkrüge, hielten sich ansonsten aber im Hintergrund. Lyana holte unsere Pfeifen und den Tabak aus unserem Gepäck. Auf Anweisung der Elben hatten wir es in einem leeren Raum am Ende der Wohnhütte abgelegt, vor der wir auf die Ratsversammlung gewartet hatten. Der Krieger neben mir tat ein paar Züge aus der Pfeife, die sein Nachbar ihm gereicht hatte, dann gab er sie an mich weiter. Im Gegenzug reichte ich ihm meine Pfeife. Er nickte mir anerkennend zu. Sein ernstes Gesicht zeigte beinahe ein Lächeln. Er drehte die kleine, bauchige Pfeife mit unverhohlener Neugier in den Händen. Dann tat er einen kräftigen Zug. Überrascht riss er die Augen auf. Er versuchte mühsam, seine würdige Haltung zu bewahren, während er einen Hustenanfall unterdrückte. An dem amüsiertem Gemurmel erkannte ich, dass viele Krieger unseren Pfeifentausch beobachtet hatten. Belustigt schauten sie auf den neben mir sitzenden Krieger, den immer noch verhaltener Husten beutelte. Er gab meine Pfeife an seinen Nachbarn weiter, der sie mit Würde entgegen nahm. Zur Freude der Krieger um das Feuer musste auch er heftig husten, nachdem er einen Zug getan hatte.
Während meine Pfeife die Runde machte, zog ich an der langen Elbenpfeife. Der Rauch schmeckte nach Buchenlaub. Einige Krieger, die mir zusahen, schienen enttäuscht, dass ihre Pfeife nicht die gleiche Wirkung bei mir hervorrief wie umgekehrt. Ich gab die Pfeife an Kat weiter. Aeolin hatte sich neben Lyana gesetzt. Die beiden sprachen leise miteinander. Als meine Pfeife Lohan hingehalten wurde, stand er auf und verließ die Runde, ohne die Pfeife in die Hand zu nehmen.
Der Mond kam über den Bergspitzen hervor. Im blassen Mondlicht stimmte einer der Elbenkrieger einen sanften, wehmütigen Gesang an, der an die Melodien erinnerte, die Lyana auf ihrer Flöte spielte. Nach einer Weile standen Aeolin und Lyana auf und gingen in ein leises Gespräch vertieft zwischen den Hütten davon.
Ich sprach den Elb neben mir an. „Alle Krieger am Feuer sind Männer. Nur wenige Frauen bei euch scheinen Kriegerinnen zu sein?“
Der hochgewachsene Mann nickte. „Aeolin, die junge Kriegerin der dritten Feder, ist die einzige Frau des Clans, die den Weg des Kriegers gewählt hat. Nicht alle meine Brüder in der Ratsversammlung stimmten dafür, sie in den Rat der Krieger aufzunehmen. Tamelund, unser Vater selbst war es, der ihr den Weg des Kriegers erlaubte. Sie ist eine große Kämpferin und Bogenschützin. Ihr Herz kennt keine Furcht.“
„Lohan hat vermutlich dagegen gestimmt? Er schien heute immer wieder gegen sie zu reden.“
Der Elb blickte nachdenklich in die heruntergebrannte Glut. „Lohans Seele ist gebrochen. Seine Augen schauen das Licht der Morgenstunde im Wald, aber sein zerrissenes Herz bleibt dunkel. Hast du die Narbe an seinem Hals gesehen, die ihn brandmarkt?“
Eine Ahnung beschlich mich. Mit einem Mal begriff ich den blanken Hass, den Lohan mir entgegenschleuderte.
„Hat ein Schwarzmagier ihn so verletzt?“
„Du sprichst es aus. Tamelund, unser Vater, rettete ihn aus den Fängen der Hexe unten am See. Keiner der Krieger weiß, was Lohan in jener fluchbeladenen Vollmondnacht widerfahren ist. Er schweigt darüber, aber die Erinnerung frisst sein Herz auf.“
„Tamelund - ihr nennt ihn euren Vater. Wer ist er?“
„So lange ich denken kann, hat Tamelund den Rang derer inne, die keine Federn mehr zählen. Den gesamten Clan würden Tränen und Bestürzung blind machen, sollte Tamelund seiner Sehnsucht nachgeben und den Weg unserer Väter in die Heimat gehen. Wenn er lächelt, singen die Wälder. Ballt er die Faust, lassen die Bäume am Fluss ihre Blätter welken.“
***
Spät in der Nacht verließen Kat, Sven und ich das heruntergebrannte Feuer und gingen zu der Wohnhütte hinüber, in der die Elben uns einen Raum zugewiesen hatten. Der zu vier Fünfteln volle Mond stand im Westen. Unter seinem rötlichen Schein lag die Siedlung im Halbschatten.
Obwohl es ein anstrengender Tag gewesen war, mochten keiner von uns sich schlafen legen. Der Raum mit unserem Gepäck lag am Ende der Langhütte. An den äußersten Pfosten gebunden döste Fedurin mit hängendem Kopf vor sich hin. Er blickte auf, als wir näher kamen. Als wir uns neben der Tür auf die niedrige Bank unter dem Dach der Langhütte setzten, ließ der Esel sich aufs Heu nieder und legte den Kopf zur Seite ins Heu.
Kat beobachtete das Tier kopfschüttelnd. „Ich glaub's nicht. Der vertraut uns so sehr, dass er denkt, wenn wir da sind und aufpassen, kann er ja mal 'ne Runde im Liegen schlafen.“
Lyana war von ihrem nächtlichen Spaziergang noch nicht zurückgekehrt. Voller Unruhe blickte ich nach dem tief über den Bäumen stehenden Mond. In vier Nächten würde es Vollmond sein.
Neben mir ließ Kat den Blick durch die Siedlung schweifen. „Aber mal ernsthaft,“ meinte sie leise. „Das hier sind doch keine Elben. Elben sind lichte, edelmütige Wesen, mehr Göttern ähnlich, als Menschen. Elben leben tausende von Jahren ohne zu altern. Lyana muss sich irren. Die hier - das sind doch Wilde, ohne jede Kultur!“
„Sie sprechen die Sprache, von der Lyana sagt, es sei die Sprache der Herren des Waldes,“ meinte ich nachdenklich.
„Und was hat dieser Tamelund mit uns vor?“ überlegte Kat weiter. „Er hat uns in den Ahnenhügeln das Leben gerettet - und jetzt hält er uns hier fest. Mir gefällt das nicht.“
„Vielleicht,“ brummte Sven, „haben sie irgendein Buch verloren, und wir sollen es ihnen wiederbringen.“
Kat biss sich auf die Lippen, um nicht laut loszuprusten.
Sie schlug Sven sanft auf den Schenkel. „So ein Quatsch! Und wenn - wir gehen keine Bücher mehr suchen, für niemand mehr!“
Zwischen den Hütten erkannte ich Lyanas schlanke Gestalt. Sie kam mit ihrem leichten, federnden Schritt, der so sehr dem der Krieger der Siedlung glich, über den Platz und setzte sich neben mir auf die Bank. Ich schaute sie fragend an, aber sie erwiderte meinen Blick nicht. Schweigend sah sie auf den Platz hinaus. Sie saß sehr aufrecht. Ihr Gesicht hatte den stillen und ernsten Ausdruck der Waldelben, die Kat für Wilde hielt.
Bist du glücklich, Lyana?
Für einen Moment schloss sie die Augen. Dann lehnte sie sich kaum merklich an meine Schulter.
***
Wir verbrachten die Nacht in unsere Decken gehüllt auf dem Lehmboden. Die Siedlung lag grau im Morgenlicht, als wir aus dem fensterlosen Raum ins Freie traten. Irgendwo zwischen den Hütten klang eine Flöte. Die sanfte Melodie stieg wie ein Gebet über die Kronen des Waldes dem Morgenrot entgegen, das hinter den Spitzen der Berge im Osten am Himmel stand - Vorbote der hellen Strahlen der aufgehenden Sonne.
Am Siedlungsfeuer waren Frauen mit Essensvorbereitungen und dem Verarbeiten von Lebensmitteln beschäftigt. Wie am gestrigen Abend lagen Tontöpfe und Küchengerätschaften um die große Feuerstelle auf dem Boden verstreut. Anscheinend wurden sie nur dann eingesammelt und gereinigt, wenn sie gebraucht wurden. Hunde streunten zwischen Töpfen mit Essensresten vom Abend umher. Nur wenige Krieger saßen um das Feuer und aßen aus hölzernen Schalen. Sie hatten ihre Bögen dabei. Offenbar hatten sie vor, auf die Jagd zu gehen.
Wir setzten uns ans Feuer und Frauen brachten uns dampfenden Tee in Holzschalen. Es war das aromatische Getränk, das wir schon am Abend zuvor bekommen hatten. Der Tee war sehr heiß. Ich fühlte mich munterer, nachdem ich ein paar Schluck geschlürft hatte, ähnlich wie nach dem Kaffee, den Ligeia mir morgens nach gemeinsamen Nächten vorgesetzt hatte.
Ligeia! Ich spürte einen heftigen Stich in der Brust.
Ich wollte nicht an sie denken, aber mit dem Nahen des Vollmonds wanderten meine Gedanken immer häufiger zu ihr. Auch diese Nacht hatte ich von Blut geträumt und von ihrer Liebe. Ich merkte, wie Lyana mich unglücklich ansah. Ich blickte zurück und zuckte hilflos mit den Schultern. Sie legte mir die Hand auf den Arm.
„Wenn ich nur wüsste, wie ich dir beistehen kann, Bruderherz,“ flüsterte sie.
Wir bekamen Schalen mit einer warmen Speise aus Bratäpfeln und weißen, runden Knollen, die aussahen wie große Bohnen. Sie schmeckten mehlig und auf eine nussige Art süß.
„Kastanien,“ meinte Kat mit vollem Mund.
Sven blickte ohne Begeisterung auf seine Schale. „Pferdefutter!“
„Probier' erst mal, bevor du 'rummaulst,“ sagte Kat zwischen zwei Bissen. „Das schmeckt besser, als die ewige Hafergrütze!“
Ich beobachtete ein junges Mädchen, das bei der Arbeit inne hielt, aufstand und zu den fernen Berggipfeln im Osten emporschaute, über denen das Morgenrot in kräftigen Farben leuchtete. Mit heller, klarer Stimme begann sie zu singen. Die Melodie ihres Gesangs und die Weisen der Flöte, die irgendwo in der Siedlung klang, umrankten einander, spielten miteinander, bis Flötenspiel und Gesang zu einer gemeinsamen Musik wurden, heiter und feierlich zugleich. Lyana hatte ihre Essschale in den Schoß gesetzt und lauschte geistesabwesend.
Nachdem das Mädchen den Gesang beendet hatte, stand sie noch eine Weile dem Morgenrot zugewandt, die Arme leicht angehoben zu einer anbetenden Geste mit offenen Händen. Auf Lyanas Gesicht lag ein kaum erkennbares Lächeln. Tränen rannen ihr über die Wange.
Als sie ihre Essschale wieder aufgenommen hatte, fragte ich Lyana nach der jungen Kriegerin, die sich am Tag zuvor zweimal für unser Leben eingesetzt hatte.
„Diese Aeolin, das Mädchen mit den hohen Kriegerrang, die von deiner Mutter gewusst hat - du hast nachts noch mit ihr gesprochen. Hast du sie gefragt, was Tamelund meinte, als er sagte, er müsse erst noch klarer sehen, was mit uns werden soll?“
„Ja, sicher,“ meinte Lyana leise. „Was er gemeint haben könnte, wusste sie auch nicht. Er hatte den Kriegern unsere Ankunft angekündigt - andernfalls hätten sie uns nicht mit solch einer Übermacht überrascht. Aber sie sagte, wir sollen uns keine Sorgen machen, Tamelund habe nur das Wohl aller Wesen im Sinn.“
Als sie mein Unbehagen bemerkte, meinte sie eindringlich: „Auch deines, Leif - ich bin sicher, dass das stimmt!“
Ich sah sie lange an. „Du verstehst dich gut mit Aeolin, nicht wahr?“
Ein Anflug von Röte trat ihr ins Gesicht. Einen kurzen Moment blickte sie zu Seite, aber sie lächelte gleich selbst über ihre Verlegenheit.
„Weißt du,“ sagte sie nachdenklich, „es geht ihr in ihrem Clan ähnlich, wie es mir gegangen ist, seit mein Vater tot ist. Niemand versteht sie wirklich, Tamelund einmal ausgenommen. Sie wollte immer Kriegerin sein, ihr eigenes Leben leben, nicht bloß in Kleidern herumlaufen und Männer bedienen - sie hat sich ihr eigenes, freies Leben erkämpft, aber sie ist zu einer Fremden in ihrem eigenen Volk geworden...“
Lyanas Augen leuchteten auf. Die Kriegerin, über die wir gesprochen hatten, kam über den Platz ans Feuer. Sie setzte sich neben Lyana und blickte mit unbewegter Miene in die Glut. Die beiden Mädchen wechselten ein paar Worte. Lyana sah mich an. Sie verzog keine Miene, aber aus ihrer Stimme hörte ich die unbändige Freude heraus.
„Aeolin und ich gehen in die Wälder zum Jagen. Wir werden wohl den Tag über unterwegs sein.“
Mit einem Mal war es, als fiele mir ein Stein vom Herzen.
Lyana, ich freue mich so für dich!
„Viel Glück,“ lächelte ich ihr zu. „Macht's gut, ihr beiden!“
Sie lächelte kurz zurück. Die beiden jungen Frauen standen auf, um ihre Waffen zu holen.
„Wie...?“ rief Kat, die Aeolin erst jetzt bemerkte. „Wo geht Lyana hin?“
„Alles in Ordnung,“ meinte ich. „Die beiden machen einen Jagdausflug.“
***
„Und wir?“ fragte Kat, als Aeolin und Lyana zwischen den Hütten verschwunden waren.
Ohne Begeisterung meinte sie: „Wir könnten auch auf die Jagd gehen.“
Ich streckte die Beine dem Feuer entgegen. „Die letzten Tage sind wir von frühmorgens bis zum Anbruch der Dämmerung auf den Beinen gewesen. Ehrlich gesagt, ich hätte nichts dagegen, einfach mal ein paar Tage auszuruhen - falls dieser Tamelund sich mit seiner Entscheidung noch ein bisschen Zeit lässt.“
„Wir können uns ja mal ein bisschen in der Siedlung dieser angeblichen Elben umsehen,“ schlug Sven vor.
Wir blieben noch eine Weile am Feuer sitzen, schlürften heißen Tee und sahen den Frauen bei der Arbeit zu. Als die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Spitzen der Berge aufleuchteten, standen wir auf. Die Elbenfrauen ließen nicht zu, dass wir unsere Holzschalen selber abspülten. Lächelnd aber entschieden nahmen sie uns das Essgeschirr aus den Händen.
„Ihr seid Krieger. Ihr habt andere Aufgaben.“
Kat rollte mit den Augen, aber sie sagte nichts.
Die Krieger und Frauen, denen wir auf unserem Erkundungsgang begegneten, grüßten uns kopfnickend, manche mit ernster Würde, manche freundlich. Niemand ignorierte uns oder starrte uns an wie am Abend zuvor, als wir von den Kriegern durchs Dorf geführt wurden. Wir gaben uns Mühe, die Höflichkeit der Siedlungsbewohner zu erwidern und an niemandem ohne Gruß vorbeizugehen.
Am Rand der Siedlung erregte ein knapp mannshoher, bauchiger Schlot aus Lehm, aus dem dicker Rauch quoll, Svens Interesse. Ein grauhaariger Mann in der Tracht der Krieger - Lederhosen, ledernes Fransenwams, Mokassins und Stirnband mit zwei Federn daran - schob durch einen Lehmschacht am Boden Feuerholz in den Schlot. Lächelnd betrachtete er unsere rätselnden Mienen.
In dieser Siedlung lächeln nur die alten Männer und die Frauen, ging es mir durch den Kopf.
„Dies hier ist die Magie Gehwdyns, des roten Sterns,“ erklärte der Grauhaarige.
Sein hellhäutiges Gesicht war von unzähligen Runzeln durchzogen. Seine graublauen Augen blinzelten wach und freundlich.
„Gehwdyn der Rote erzeugt das feuerflüssige Blut unserer Mutter, der Erde, tief im Gestein.“
„Verstehe!“ rief Sven aufgeregt.
Mit einem Blick auf den Krieger änderte er seinen Tonfall. Würdevoll sagte er: „Mir ist bekannt, wovon du sprichst. Vorcinger nennen wir den roten Wanderstern. Unter seinem Einfluss bilden sich die Eisenadern im Gestein.“
Zu Kat und mir gewandt erklärte er: „Sie verhütten ihr Eisen selbst - das ist ein Schmelzofen!“
Ich nickte bewundernd. In Wirklichkeit verstand ich das, was Sven erklärte, genauso wenig, wie die mystischen Andeutungen des Elbenkriegers.
Gegen Mittag hatten sich ein paar Krieger auf den Bänken um das Siedlungsfeuer eingefunden. Sie aßen schweigend aus hölzernen Schalen. Wir setzten uns auf eine leere Bank und zwei Mädchen brachten uns Schalen mit am Feuer gerösteten Wurzelknollen.
„Wie heißt dieses Knollengemüse?“ wollte Kat wissen.
„Das sind Bataten,“ lächelte das eine Mädchen.
„Süße Kartoffeln!“ war Svens Kommentar.
Ohne jedes Geräusch setzte sich ein weißhaariger, in rotbraun gemusterte Decken gehüllter Mann neben mich. Sein dichtes, weißes Haar fiel locker über seine Schultern. Ich erkannte den Ältesten, der mich gestern in der Ratsversammlung befragt hatte. Die Krieger am Feuer neigten ihre Köpfe, während der Alte sich setzte. Ich gab mir Mühe, ebenfalls eine ehrerbietige Verbeugung im Sitzen hinzubekommen.
Die Augen in dem faltigen Gesicht blickten freundlich. „Haben meine Brüder und meine Schwester eine angenehme Nacht gehabt?“
„Danke,“ ich verneigte mich noch einmal. „Ihr habt uns sehr freundlich aufgenommen.“
„Ein bisschen kalt war die Nacht,“ ließ Kat sich vernehmen. „Sag, heizt ihr eure Häuser nicht?“
„Ihr könnt den Frauen sagen, dass sie euch Holzkohlen in eurem Schlafraum aufschichten sollen,“ antwortete der Alte. „Und lasst euch Bastmatten geben, um darauf zu schlafen, wenn ihr keine eigenen besitzt. Unsere jungen Leute haben meist den gesamten Winter über kein Kohlenfeuer an ihren Schlafplätzen.“
„Wie Lyana,“ meinte ich. „Die friert auch nie.“
Der Alte beobachtete uns lächelnd. Unsere Unwissenheit über die Gebräuche seines Volks schien ihn zu amüsieren.
„Was immer ihr zu eurem Wohlsein benötigt, sagt es uns nur. Was unser ist, ist auch das eure - unser Besitz ist auch euer Besitz. Es ziemt sich, dass Brüder und Schwestern auf diese Art untereinander teilen.“
Ich nahm meinen Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die mich am meisten beschäftigte. „Wann wird Tamelund entscheiden, was mit uns geschehen soll?“
„Landorlin mag es wissen.“ Der Alte blickte nachdenklich ins Feuer. „Mögen es Tage sein oder Jahre - die Wege unseres Vaters vermag niemand zu enträtseln.“
„Jahre?“ Kat starrte den weißhaarigen Alten an.
Wahrscheinlich sah sie sich schon jahraus, jahrein durch den Wald pirschen - in Mokassins und ledernem Fransenwams, eine Feder im Stirnband - oder in der Ratshalle sitzen bei endlosen Palavern mit den Kriegern.
„Ich habe Tamelund seit gestern Abend nicht mehr gesehen,“ meinte ich. „Wohnt er nicht in der Siedlung?“
Der Alte nickte. „Die meiste Zeit weilt er in der kleinen Waldhütte, die er zu seiner Wohnstatt gewählt hat. Es ist ein Weg von einer Viertelstunde von der Siedlung. Die Frauen bringen ihm täglich Essen und alles, was er benötigt. Früher saß er oft im Kreis der Krieger am abendlichen Feuer. Jetzt sind seine Besuche am Siedlungsfeuer selten geworden.“
„Darf ich mal was anderes fragen?“ mischte sich Sven in das Gespräch ein. „Diese Plattformen in den Baumkronen rings um das Dorf - wozu sind die?“
„Sie dienen unseren Spähern als Aussichtsposten. Kein Feind kann sich in unsere Siedlung schleichen, ohne von den Wachen entdeckt und von ihren Pfeilen getötet zu werden.“
„Habt ihr denn Feinde?“ wollte Kat wissen.
Der Alte blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne. „Früher hat es Kriege gegeben mit den Ludwoanneran, deren Gebiet jenseits des Flusses liegt. Als junger Krieger bin ich noch über den Fluss in den Krieg gezogen gegen sie. Aber das ist viele, sehr viele Jahre her. Sie sind wenige geworden, wie wir auch. Viele von uns haben seit damals ihrer Sehnsucht nachgegeben und sind in die Heimat gegangen.“
Der Gedanke, dass im Nordwesten ein weiteres, feindliches Elbenvolk lebte, dort, wo wir langgehen mussten, wenn wir zurück wollten in die Hauptstadt des kleinen barhuter Königreichs am Meer, verursachte mir Unbehagen.
Nach einer Weile meinte ich in einem Tonfall, von dem ich hoffte, dass er ehrerbietig klang, zu dem schweigenden Alten: „Mein Vater, in der Ratsversammlung gestern hast du freundlich mit uns gesprochen. Wie heißt du?“
Anscheinend hatte ich den richtigen Ton getroffen, denn der Weißhaarige blickte mich milde an. Als er antwortete, lag in seinem humorvollen Blick etwas, das mir deutlich machte, dass der freundliche Alte in Wahrheit einer der mächtigsten Zauberer seines Clans sein musste.
„Ich bin Thweronund, Krieger des Clans der Munawhin - vom Rang der Krieger, die keine Federn mehr zählen.“
Eine Zeit lang saßen wir schweigend nebeneinander, bis der Alte seine Decken um sich schlug und sich erhob. Gemeinsam mit den Kriegern verneigten wir uns vor ihm.
„Das sind ja heitere Aussichten,“ schimpfte Kat leise, als Thweronund zwischen den Hütten verschwunden war. „Wochen, wenn nicht Monate warten zu dürfen, bis dieser Tamelund sich dazu bequemt, uns wieder ziehen zu lassen.“
„Oder uns umbringen zu lassen!“ murmelte Sven.
Ich schaute Kat an. „Wo willst du denn hin? So schlecht ist es hier doch gar nicht, dass wir nicht eine Weile hier bleiben könnten.“
Verdutzt blickte sie auf. „Stimmt eigentlich. Ein besseres Versteck vor Verfolgern - mordlüsternen Hexen und jähzornigen Zwergen - können wir kaum finden.“
Als wir zu der Langhütte zurückgingen, an deren Ende unser Raum lag, trat Lohan mir entgegen. Kat und Sven waren ein paar Schritte voraus und bemerkten den Krieger nicht. Hoch aufgerichtet und mit gewölbter Brust stellte er sich mir in den Weg. Seine Hand umschloss den Griff des langen Messers in seinem Gürtel. Der breitschultrige Krieger war nahezu zwei Köpfe größer als ich. Hasserfüllt fixierte er mich. Er reckte das Kinn grimmig vor. Die Schlagader an seinem Hals, dicht neben der roten Narbe, die sich von seinem linken Ohr herabzog, pulsierte heftig.
Ich neigte den Kopf zum Gruß, ohne Lohan aus den Augen zu lassen. Vorsichtig tastete meine Hand nach dem Dolch. Langsam, in zwei Armeslängen Abstand, setzte ich meinen Weg um ihn herum fort. Er wandte sich nicht nach mir um. Mit raschen, lautlosen Schritten entfernte er sich zwischen den Hütten.