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Die Krise als Inszenierung

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„Geschichten schaffen Handlung, Struktur, Sinn und Zweck, Tugend und Laster, Lohn und Strafe. Sie motivieren zielgerichtetes Handeln, das in der Realität immer wieder scheitert. Geschichten machen die Welt lesbar.“13 Gerade in Umbruchzeiten und Krisen werden Geschichten erzählt und dafür Inszenierungen geschaffen, damit überzeugend wird, was als große Erzählung gelten soll. Ein solches „Gesamtkunstwerk“ erschafft einen Resonanzraum, und hierfür – so nimmt Philipp Blom an – wird in den nächsten Jahren die Klimakatastrophe die Kulisse sein.14 Durch die Corona-Krise wurden einige grundlegende Probleme einer solchen Vorstellung vom Weltgeschehen als einer Bühne besonders deutlich. Zum einen ist die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Spiel ins Wanken geraten. Einige Staatsmänner wie auch gewisse Bevölkerungsgruppen leugneten die Bedrohung durch das Virus, wie sie vorher bereits die Klimakatastrophe als Erfindung von Wissenschaftlern denunziert hatten. Die Frage, was Wirklichkeit und was Illusion ist, wurde an den Rand gedrängt, es galten „alternative Fakten“. Zum anderen ist die Geschichte vom unendlichen Wachstum an ihr Ende geraten: „Die liberale Erzählung hat ihre Verführungskraft verloren, und noch gibt es zu wenige Bilder, die ein Leben unter völlig anderen Voraussetzungen denkbar und erlebbar machen, also greifen Angst und Frustration um sich.“15 Drittens ist ein bestimmtes Gefühl für Ästhetik und Form verloren gegangen. „ … Kunst ist nicht länger ein potentiell außermoralischer Raum, sondern muss sich mit den Normen und Werten der Gesellschaft befassen, deren eingebundener Teil sie nun ist.“16 Damit geht einher, dass einer ganzen Kultur „ihre eigene Formbeherrschung und -kompetenz unverständlich geworden“17 ist.

Gibt es hingegen eine robuste Erzählung in einer Gesellschaft, lässt sich eine Krise schnell als Krise erkennen, nämlich als Bruch in dieser Erzählung. Gelten in der Gesellschaft viele Erzählungen als gleichwertig und fehlt es an einer eingeübten sowie internalisierten Form, muss eine bedrohliche Situation so stark dramatisiert werden, dass sie überhaupt als Krise wahrgenommen wird. Es müssen erschreckende Bilder, wie zum Beispiel ein Saal mit vielen Särgen, gezeigt werden. Krisen verlangen Narrative der Bedrohung, die eindeutig den Ernst der Lage vermitteln können. Rigide Maßnahmen, die ergriffen werden, müssen hiermit anschaulich begründet werden und sie müssen als solche wiederum narrative Begründungsgrundlage sein. Entweder gibt es bereits Erfahrungen mit entsprechenden Narrativen oder aus den Erfahrungen werden Narrative neu oder angepasst auf die Situation entsprechend gebildet.

Die digitalen Medien, das Internet und Social Media haben dazu geführt, dass Nachrichten als einfache Informationen kaum noch Aufmerksamkeit finden. Der Vordenker des Internets Jaron Lanier18 forderte die Menschen auf, ihre Social-Media-Accounts zu löschen, weil durch die sozialen Medien die Demokratie zerstört würde. Es ist durch die digitalen Medien leichter, Fake News, Deepfakes und auch Verschwörungstheorien zu verbreiten. Die öffentlich-rechtlichen Medien sowie die großen Tagesund Wochenzeitungen stehen nicht mehr für eine seriöse Informationsverbreitung, allenfalls für das Bemühen, noch einigermaßen objektiv und ehrlich zu berichten. Aufmerksamkeit ist zu einer der wichtigsten Ressourcen in der Welt des 21. Jahrhunderts geworden, und daher müssen Inhalte publikumswirksam sowie unterhaltsam auf Kosten von Objektivität und Sachlichkeit gestaltet werden. Vor allem für Politiker gilt die Vorsichtsregel, keinen pointierten Satz zu formulieren, der im Mainstream auf massive Kritik stoßen könnte. Äußerungen müssen so „harmlos“ getroffen werden, dass die Gefahr, missverstanden zu werden, so gut wie ausgeschlossen ist. Damit verliert der gesellschaftliche Diskurs an Biss. Die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit und unter Politikern scheint kein Ringen um Positionen mehr zu sein, sondern um die beste Medienwirkung. Die Niederschwelligkeit im Internet, seine Kritik zu äußern und einen Shitstorm zu initiieren oder zu verstärken, hält manche, die im öffentlichen Leben stehen, von klaren oder unliebsamen Äußerungen ab. Und das nicht nur aus Angst, weil sie Opfer einer solchen Erregungswelle im Netz sein könnten, sondern manchmal auch, weil der Diskurs hierdurch banaler wird und eben nicht zu einer konstruktiven Meinungsbildung führt. „Der ‚Shitstorm‘ wird damit zur affirmativsten Form der Kritik, die sich selbst genügt und keine Unterscheidungen braucht.“19 Innerhalb der Gesellschaft verlagert sich die fehlende Polarisierung in extreme Gruppierungen, weil sie sich nicht vertreten oder gehört fühlen. Es entsteht eine Erregung, die um Skandale, Benachteiligung von Opfergruppen und Krisen kreist. Tritt eine tatsächliche und reale Krise ein, wird sie lediglich als außergewöhnliche Steigerung der gewohnten Erregungsgeschichten wahrgenommen. Die Konsumenten der Skandal- und Opfergeschichten haben das Gespür für die Form einer Krisenbeschreibung verlernt oder gar nicht erlernt. Es werden erst in der Krise Krisennarrative geschaffen und entwickelt, sodass es anfangs zu gewaltigen Irritationen, Übersprungshandlungen und Absurditäten kommt. Die Möglichkeit, dass die aktuelle Krise auch das Ende bestimmter Entwicklungen einleiten kann, wird nicht in Betracht gezogen. So ist zum Beispiel das Wachstumsnarrativ über Jahrzehnte wie zu einem Naturgesetz geworden und wurde daher gar nicht mehr als Narrativ gedeutet. Auch haben die Erregungsgesellschaft und die totale Medialisierung der Öffentlichkeit die Wahrheitsfrage verdeckt. Es entstand eine Kultur des Bullshits. Nach Harry G. Frankfurt geht es beim Bullshit nicht mehr um Wahrheit oder Richtigkeit, sondern nur noch um eine Aussage, die Wirkung hat. „Gerade in dieser fehlenden Verbindung zur Wahrheit – in dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind – liegt meines Erachtens das Wesen des Bullshits.“20

Freiheit, egal wie wir sie verstehen, muss immer einen Wahrheitsbezug haben, da sie ansonsten nicht als Wert eingefordert werden kann. In einer Krise wird der Wert der Freiheit durch seine negative Bestimmung ins Bewusstsein zurückgeholt, indem Freiheiten beschränkt und Disziplinarmaßnahmen verordnet werden. Michel Foucault hat in „Überwachen und Strafen“ zwei Grundmodelle gegenüberstellt. „Einmal ist es der Traum von einer reinen Gemeinschaft, das andere Mal der Traum von einer disziplinierten Gesellschaft.“21 Bei der Lepra versuchten die Gesellschaften die Erkrankten auszuschließen oder sie zu verbannen. Die Pest hingegen versuchte man zu bannen, indem der Einzelne total überwacht und diszipliniert wurde. Michel Foucault nahm an, dass sich diese beiden Modelle im 19. Jahrhundert miteinander verbunden haben. „Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts arbeitet die Disziplinargewalt daran, die ‚Aussätzigen‘ wie ‚Pestkranke‘ zu behandeln, die sublimen Unterteilungen der Disziplin auf den amorphen Raum der Einsperrung zu projizieren, diesen Raum mit den Methoden der analytischen Machtverteilung zu durchsetzen, die Ausgeschlossenen zu individualisieren, aber auch mit Hilfe der Individualisierungsprozeduren die Auszuschließenden zu identifizieren.“22 Die Inszenierung der Corona-Krise scheint eine Weiterentwicklung dieser Dynamik zu sein. Die Politik ist bemüht, die Zahl der Infizierten zu stoppen, und muss daher durch Tests die Infizierten erfassen und sowohl die Infizierten und diejenigen, die Kontakt mit Erkrankten oder Infizierten hatten, in Quarantäne schicken. Die, die ausgeschlossen werden sollen, müssen identifiziert werden. Gleichzeitig werden diejenigen, die sich nicht an die Ausgangsregeln halten oder gegen das Kontaktverbot verstoßen, geächtet und mit massiven Geld- und Haftstrafen zum Einhalten der Regeln gezwungen. In diktatorischen Staaten wird die Einhaltung rigoros durchgesetzt, die demokratischen Regierungen setzen hingegen auf Freiwilligkeit und lenken diese Freiwilligkeit durch eine gezielte Information oder das Nudging.

Die Medizin ist zu einem der Hauptdarsteller in dieser Inszenierung geworden. Allerdings sind es vor allem die Disziplinen der Medizin, die mit mathematischen oder statistischen Modellen operieren und scheinbar eindeutige Aussagen machen können, während für die Humanwissenschaften ansonsten festzustellen ist, „daß der unüberwindliche Eindruck von Verschwommenheit, Ungenauigkeit, Präzisionsmangel, den alle Humanwissenschaften hinterlassen, nur die Oberflächenwirkung dessen ist, was sie in ihrer Positivität zu definieren gestattet“23. Virologen und Epidemiologen bestimmten die Vorgehensweise der Politik. Diese Inszenierung, also die Geschichte von den Zahlen, wurde brüchig, als das Problem der wissenschaftlichen Methode offensichtlich wurde. Die Aussage über eine wissenschaftliche Erkenntnis ist immer nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage, die abhängig von vorhandenen Daten, durchgeführten Experimenten und Untersuchungen ist. Selbst das Verwerfen der gestellten Frage und in manchen Fällen sogar die Erkenntnis, dass psychodynamische Prozesse zu falschen Ergebnissen geführt haben, gehören zum Selbstverständnis der Wissenschaften. Weil die Politik den „harten“ Medizinrichtungen folgte, wurden auch „kalte“ Maßnahmen ergriffen, was der Logik einer technologieorientierten Gesellschaft entspricht. Eine „sprechende Medizin“ oder die Berücksichtigung sozialmedizinischer, pflegerischer, psychischer oder psychosomatischer Aspekte hätten das Narrativ von den Erfolgen der Medizin aufgrund einer prosperierenden Ökonomie und fortschrittlichen Technik aus einer anderen Perspektive sehen lassen. Andererseits bedürfen die Menschen im Falle der Krankheit oder der Gefahr einer Gewissheit und eines Zuspruchs. Sie wollen Hoffnung schöpfen können aus dem, was der Arzt ihnen sagt. Wolfgang Schmidbauer spricht hier vom warmen und vom kalten Denken: „Im kalten Denken wird Wissen zur Wahrheit erhoben, denn es ist grundsätzlich besser als Nichtwissen. Im warmen Denken dagegen ist Raum für beides. Das erlebende Ich muss seinen Weg finden zwischen falschem Sein und unerträglichem Wissen.“24 Die Fokussierung auf Virologen und Epidemiologen war am Anfang der Krise durchaus sinnvoll, um ein Realitätsprinzip den Vermutungen, wilden Meinungen und Leugnern entgegenzusetzen sowie eine klare Perspektive, nämlich das Impfen, zu geben. Dieses kalte Denken stellt sich allerdings selbst unter einen ungeheuren Druck, weil die Erwartungen idealisiert werden und bei einem Scheitern das Leben vieler Menschen auf dem Spiel steht. Dass es keinen Wandel in der gewohnten Medizininszenierung gab, zeigte sich darin, wie Pflegekräfte beklatscht wurden. Obwohl sich Pflege schon seit einigen Jahrzehnten in einem Krisenmodus befindet, der Pflegenotstand jedem bekannt sein dürfte, wird den Pflegekräften „nur“ für ihren besonderen Einsatz gedankt. Inwieweit Pflege zu einer notwendigen Weiterentwicklung des Gesundheitssystems beitragen könnte, wurde gar nicht in Erwägung gezogen.

Fakten, wie Wissenschaftler gewohnt sind, sie darzustellen und davon zu reden, haben keine Wirklichkeit. Es ist ähnlich wie bei einer Chefarztvisite, wo der Mediziner zu den anderen Medizinern spricht und der Patient, um den es geht, sich wie eine Sache fühlt und nicht versteht, was da geredet wird. Nach der Visite werden die Pflegekräfte gefragt, was die Mediziner denn gesagt haben. Eigentlich will der Patient nur wissen, wie es um ihn bestellt ist. Eine sprechende Medizin würde größere Mühe darauf verwenden, wie ein schwieriger Sachverhalt erklärt werden kann. Hierfür müsste der Wissenschaftler in die Sprache der Kunst wechseln. Etwas Konkretes und Anschauliches beruhigt den Patienten, und der Arzt würde mit in die Gefühlswelt gehen, die durch ein solches Bild provoziert wird.

Pflege könnte hier genutzt werden, um neue Narrative zu entwickeln. Da Narrative auch Mittel der Macht sind, müsste der soziale Status von Pflegekräften angehoben werden; der ist nämlich deutlich niedriger als der von Ärzten. Zweitens müssten andere Wertigkeiten eingefordert werden, was für die schwieriger ist, deren sozialer Status nicht so hoch ist. So fällt es schwer, die Ausgaben für Personal, das Zeit für die Patienten hat, erfolgreich einzufordern, während Gelder für technische Entwicklungen in der Medizin fraglos unterstützt werden. In der Medizin sind mittlerweile robotergestützte Operationen keine Seltenheit mehr. Der Einsatz solcher Maschinen wird kaum in Frage gestellt. Der Effekt solcher Operationen ist leicht begründbar. Der Roboter kann es genauso gut und oft besser als der Mensch, vor allem ist er nicht so störungsanfällig. In der Pflege hingegen gibt es für den Einsatz von Pflegerobotern große Vorbehalte, weil menschliche Zuwendung und technische Versorgung nur schwer zu vereinbaren sind. Auch wenn der Mensch in diesem Sinne nicht so perfekt sein kann wie der Roboter, hat er doch etwas, was einer „Maschine“ fehlt.

Gedanken zu einer Kriseninszenierung müssen dieses Etwas aufzudecken versuchen. Der Blick auf das, was bei der Inszenierung fehlt, was nicht gesagt wird, ist oft wichtiger als das, was gesagt wird. Zum Beispiel gehört zum Wesenskern von Pflege maßgeblich Beziehungsarbeit, und die lässt sich nicht quantifizieren; vieles ist vorläufig, provisorisch, nicht berechenbar, uneindeutig. Beziehungsarbeit ist immer auch körperliche Zuwendung. Diese Aspekte spielten bei der Corona-Inszenierung keine große Rolle. Die Körperlichkeit von Pflege und Medizin wurde durch die Inszenierung im wahrsten Sinne des Wortes durch die Schutzkleidung bedeckt.

Körperliche Nähe, ohne die Medizin und Pflege nicht denkbar sind, verweist auf eine gefährliche Ambivalenz. Aids wie früher auch schon Syphilis oder andere Geschlechtskrankheiten kennzeichnen körperliche Nähe gleichzeitig als Lust und Gefahr. Aids wurde als gerechte Strafe für die Sünde der Homosexualität von einigen Kreisen gebrandmarkt. Syphilis, Ulcus molle u. a. galten als Strafen für sexuelle Promiskuität. Beim Coronavirus wird körperlicher Abstand inszeniert, eine Armlänge, und die Bilder aus der Silvesternacht 2015 / 2016 dürften noch präsent sein. Hier wird zu geringer Abstand mit Übergriffigkeit assoziiert. Nach #meToo, den Missbrauchsskandalen und der Forderung nach einer gendergerechten Sprache verbirgt sich gerade im körperlichen Abstand das Sexuelle, weil es nicht offensichtlich ist. Das Abstandsgebot ist die inszenierte Sehnsucht nach einer freien und ungezwungenen Körperlichkeit, die nicht mit Assoziationen von falsch, übergriffig oder Machtmissbrauch verbunden ist. Das Abstandsgebot wird möglicherweise von denen unterlaufen, die keine Sensibilität für die gefährliche Ambivalenz der körperlichen Nähe entwickelt haben und daher die Abstandsregeln als Verschärfung der Debatten um Missbrauch, Gleichberechtigung und Gendergerechtigkeit empfinden. Aber auch die, die eine hohe Empfindlichkeit für sexuelle Übergriffigkeiten haben, könnten das Abstandsgebot missachten, weil sie sich sicher sind, dass sie die Grenzen der körperlichen Unversehrtheit nicht überschreiten, dabei aber die Gefahr der Infektion unterschätzen.

Mit Vermutungen darüber, wie es nach der Krise weitergehen wird, werden solche blinden Flecke ausgeblendet. Ebola, Aids, Sars, die Finanzkrise und ähnliche Erschütterungen haben die Gesellschaft angekratzt, die Strukturen sind jedoch gleichgeblieben. Und insbesondere die Finanzkrise wie auch die Corona-Krise kennzeichnet ein starker Beharrungswillen. In den sprachlichen Formulierungen zeigt sich dies in dem Begriff „systemrelevant“. Banken, bestimmte Berufe, Betriebe und Geschäfte sollen gestützt werden, damit das System erhalten bleibt. Deutlicher kann das Festhalten-Wollen am Alten nicht gekennzeichnet werden, wobei das Alte mit technischem Fortschritt und Globalisierung irreführend übersetzt wird.

Es war vorauszusehen, dass sich ein Virus durch die Globalisierung, die Reisebewegungen, die internationalen Verbindungen der Unternehmen schnell und über die ganze Erde ausbreiten kann. Durch Covid-19 sind die hierdurch bedingten Gefahren deutlich geworden, und das löst Panik und Ängste aus. Also nicht die gegenwärtige Corona-Krise erschüttert die Menschen, sondern die Gewissheit, dass die Entwicklungen nun zu einem point of no return gelangt sind. Gleichzeitig ist die Argumentation, dass die Infektionsrate gesenkt werden muss, damit genug Intensivbetten zur Verfügung stehen, der Verweis auf einen Verteilungskampf, der mit den Flüchtlingsströmen schon begonnen hatte, doch noch nicht nah genug an der Alltagswirklichkeit der meisten Menschen war. Irgendwie ist den Menschen jedoch klar, dass sie sich durch ihren Egoismus in diesen Verteilungskämpfen schuldig gemacht haben. Dieses Schuldgefühl oder Wissen um die bereits schwelenden Verteilungskämpfe führt zu Übersprungshandlungen und es wird Klopapier gekauft, womit jedoch genau das wiederholt wird, was in den Verteilungskämpfen geschieht: Erst sorge ich für mich. Dass darüber eine Unzahl an Witzen, lustigen Filmchen usw. entstanden ist, ist letztlich eine andere Form der Abwehr. Indem die toilettenpapierkaufenden „Idioten“ verulkt werden, müssen die dahinterstehenden Ängste nicht ernst genommen werden.

Der Fortschritt, das unbegrenzte Wachstum ist als Ideal inakzeptabel geworden, viele Menschen ahnen, dass dieser Mechanismus einen Zusammenbruch zur Folge haben wird. Dies ist eine ungeheure Kränkung, weil die letzten Jahrzehnte, vor allem seit dem Aufkommen des Neoliberalismus, ad absurdum geführt werden. Dabei wird die Kränkung auf das Nichtkönnen bezogen und nicht auf die Handlungen und Einstellungen, die zu diesem Zustand geführt haben. Die Corona-Krise muss demnach so inszeniert werden, dass das politische und gesellschaftliche Geschehen auf das Meistern dieser Krise bezogen wird. Die Maßnahmen müssen als gelungen dargestellt, die Hoffnungen auf das Können bezogen werden, nämlich darauf, dass ein geeignetes Medikament und ein Impfstoff gefunden werden. Die exakten Wissenschaften werden zur Beratung herangezogen, und „fragende“ Wissenschaften werden an den Rand gedrängt oder dürfen sich zu Fragen äußern, die scheinbar zum Problem gehören, doch keine praktische Relevanz haben. Es wird versucht, das Ideal einer durch naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritt begründeten Wohlstandsgesellschaft aufrechtzuerhalten, statt die Kränkungen durch die Begrenztheit dieses Ideals zu ertragen.

Begonnen hat die Krise mit einem Schuldgefühl. Es ging um den Schutz vor allem der Alten. Es sollte eine Generation geschützt werden, die den Krieg und die ersten Jahre des Wiederaufbaus meist nur als Kinder und dann die Wohlstandsjahre in der Blüte ihres Lebens verbracht hatten. Gleichzeitig ist es die Generation, die maßgeblich an den Schaltstellen von Politik, Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft sitzt oder die vergangenen Jahre maßgeblich mitbestimmt hat. Diese Generation hat vor allem optimistische Entwürfe für die Gestaltbarkeit der Gesellschaft entwickelt, den Individualismus und die Befreiung des Einzelnen aus allzu starken Bindungen angestrebt,25 was insbesondere bei den nach 1940 Geborenen festzumachen ist. Die Identität der zu schützenden Alten ist äußerst schwierig, sie gehören nicht oder gerade noch zu den 68-ern, die Jüngeren unter diesen Alten gehören zur Generation, die als Zaungäste26 bezeichnet werden. Beruflich weisen sie oft keine stringenten Biografien auf. Es war die erste Generation, die Gesamtschulen und Gesamthochschulen besuchen konnte. Die Arbeiterkinder hatten nun Zugang zur höheren Bildung, mussten jedoch erfahren, dass damit nicht gleichzeitig der Zugang in die gehobene Gesellschaft garantiert war. Es ist die Generation, die noch mit strengen Moralvorstellungen erzogen und sozialisiert worden war und die dann ihren Kindern kaum noch das vermitteln konnte, was ihre Eltern ihnen mitgegeben hatten. Brüche in der eigenen Lebensbiografie wie auch erfahrene Brüche in der Tradition kennzeichnen diese Generation. Auch kirchliche Sozialisationen brachen ab. Der rigide Umgang mit theologischen Abweichlern wie Küng, Boff und Drewermann wie umgekehrt auch die Modernisierung der Liturgie und Pastoral führten dazu, dass sich Enttäuschte zum Kirchenaustritt entschlossen oder Zuflucht bei sektenähnlichen Gruppierungen suchten. Es ist eine zutiefst gekränkte Generation, die viele Gewohnheiten, Überzeugungen und Ziele aufgeben oder sich eingestehen musste, dass ihr Aufbruch ins Leere gegangen war. Die Wohlstands- und Wachstumsgesellschaft war fragwürdig geworden, die 68er wurden als Chiffre27 erkannt, viele Bewegungen wie die Antipsychiatrie, genossenschaftliche Betriebe, politisch orientierte Psychotherapien schienen sich in Wohlgefallen aufgelöst zu haben.

Gleichzeitig machte sich diese Generation schutzlos und glaubte an die Kraft des Diskurses und der Demokratie. An den Universitäten lernte sie, dass Kriegsspielzeug „böse“ ist. Die Antipädagogik kam auf, Autoritäten wurden abgelehnt. Macht und Gewalt wurden negativ gedeutet und grundsätzlich in Frage gestellt. Im Laufe der Zeit musste man jedoch die Erfahrung machen, dass die „bösen“ Tyrannen oder Präsidenten die Macht einfach an sich rissen, die Gesellschaften ihnen hilflos ausgeliefert waren und gegen sie keine Macht hatten. Und es war die bittere Erkenntnis, dass die offene und demokratische Gesellschaft solche Entwicklungen möglich gemacht hat. In der Krise konnten Macht und Gewalt jedoch wieder positiv gewendet werden, indem sie bei den Maßnahmen zur Einschränkung der Infektionen auf die Politiker übertragen wurden. Dieser Umgang mit Macht ist die Inszenierung einer Generation, die auf der einen Seite Macht und Gewalt ideologisch ablehnt und sich auf der anderen Seite hilflos fühlt. Die freiwillige Befolgung der einschränkenden Maßnahmen löst das Dilemma, dass Gewalt abgelehnt wird und gleichzeitig den Politikern übertragen wird. Weil diese Generation sich als ungeschützte Generation fühlte und „Waffen“ ablehnte, mit denen sie sich hätte schützen können, gleichzeitig erleben musste, dass die Emanzipationsbewegungen, der gesellschaftliche Diskurs und auch „Die Grünen“ als Sinnbild für eine neue politische Mitte die Welt nicht besser und menschlicher gemacht hatten, beansprucht sie jetzt als „Wiedergutmachung“ den Schutz der Gesellschaft. Was der Elterngeneration vorgeworfen wurde, nämlich im Nationalsozialismus schuldig oder mitschuldig geworden zu sein, wird formal fortgeführt. So wie die Eltern schon nicht ihre Schuld einsehen wollten, blenden die Töchter und Söhne aus, dass sie für die katastrophalen Folgen der Wachstumsgesellschaft mitverantwortlich sind. Die Aneinanderreihung von Krisen bzw. die Vorstellung, dass es so sei, ist die wiederholte Inszenierung von Schuldigen; bei der Finanzkrise waren es die bösen Banker, bei der Flüchtlingskrise diejenigen, die die Willkommenskultur kritisch sahen. Bei der Corona-Krise gibt es jedoch keine offensichtlich Schuldigen, es bleibt daher nur, diffuse Schuldgefühle zu evozieren, die sich auf den fehlenden Schutz einer Generation beziehen. Die Folgen für die folgenden Generationen werden dabei kaum beachtet. Dies entspricht der Perspektive einer Generation, die Schuld in der Vergangenheit sucht oder auch leugnet und noch zu wenig realisiert hat, dass ein umfassendes Verständnis von Schuld auch die Zukunft betrifft, also die Frage, was mein jetziges Verhalten für zukünftige Generationen bedeutet.

In der Inszenierung der Corona-Krise zeigt sich auf der anderen Seite der Versuch, die Ideale der Alten gegen die neue Real-Politik vor dem Untergang zu schützen, und sei es schlichtweg dadurch, dass die Alten noch einige Jahre leben können. Die Ideale der Alten verweisen auf eine menschliche Grundkonstante, die durch Inszenierungen von Schuld, Schutzbedürftigkeit, Leugnen der Gefahr und auf der anderen Seite den „harten“ Maßnahmen ausgeblendet wird. Der Mensch lebt, weil er sich zwischen Natur und Kultur bewegt, in einem stetigen Krisenmodus. Er befindet sich in einem ständigen Widerspruch zwischen der Natur, die er auch ist, und dem Kulturwesen, das er geworden ist oder sein will. Ralf Konersmann nennt dies das „unbedingte Kulturprimat der Unruhe“28. Die Generationen nach dem Krieg haben an die Gestaltungsmöglichkeiten von Gesellschaft geglaubt, den Pol Kultur sehr stark betont und sich damit von dem Pol Natur weit entfernt. Sie haben daher oft nur wenig Gespür dafür, wie es „der Natur geht“. Dafür konnten sie Kultur in einer unermesslichen Vielfalt und einem fast grenzenlosen Angebot genießen. Der Widerspruch zur Natur war durch die maximale Verfügbarkeit von Kultur aufgelöst in die Inszenierungen von Natur durch die Kultur. Die Corona-Krise zwingt die Menschen dazu, die Natur wieder als Teil ihres Menschseins anzuerkennen, einmal weil durch die Beschränkungen das kulturelle Leben fast vollständig zurückgefahren wurde und weil zweitens SARS-CoV-2 ein Spieler aus dem Reich der Natur ist. Der Schutz des eigenen Lebens und das der anderen verlangt ein Wiederbesinnen auf Kulturtechniken wie Höflichkeit, Vornehmheit und Rücksicht. Das sind die Techniken, die im „Streit“ zwischen Natur und Kultur eingeübt werden müssen, um dem Ideal des Menschseins näherkommen zu können. Die Menschen gewöhnen sich in der Krise daran, dass auch die Inszenierungen andere sein werden und die Bilder der Alten langsam verblassen. „Die Bühne der gesellschaftlichen Debatte braucht neue Figuren und Geschichten, um eine neue Wirklichkeit zu beschreiben und Haltungen zu stärken, die dieser Wirklichkeit angemessen sind.“29 Philipp Blom benennt als eine solche Figur Greta Thunberg, die „zum Bild eines widerständigen Gewissens“30 geworden ist und die neue Erzählung einer kompromisslosen Forderung darstellt. Der Gedanke von Philipp Blom, dass die Klimakatastrophe die Kulisse für die nächsten Jahre bilden wird, müsste dahingehend korrigiert werden, dass es der Bezug zur Natur ist, der die Inszenierungen prägen wird. Durch die Ikone Greta Thunberg und die Fridays-for-Future-Bewegung ist auch die Verantwortung für den Planeten auf die Bühne der Weltpolitik gebracht worden. Verantwortung für den anderen als gegenseitige Rücksichtnahme wurde zu einem starken Narrativ, das bei der Inszenierung der Corona-Krise eine der Hauptrollen spielt. Vielleicht ist es ein wenig überzogen und die Deutung zu vorschnell, dass ohne das Narrativ Greta Thunberg die Corona-Krise nicht so gut hätte bewältigt werden können. In der Krise ist es notwendig, ohne vielleicht berechtigte Einwände für das Überleben einzutreten. Und genau an dieses Bild hatte sich die Weltbevölkerung bereits durch dieses Mädchen gewöhnt, das ganz unsentimental mit einer völlig einseitigen und kompromisslosen Forderung auf die Weltbühne getreten war. Dass sie während der Corona-Krise weitestgehend aus der medialen Aufmerksamkeit herausfiel, widerspricht dieser Annahme nicht. Das mahnende und ein schlechtes Gewissen machende Narrativ wäre kontraproduktiv zur Freiwilligkeit bei der Befolgung der Einschränkungen gewesen und auch in sich widersprüchlich, da die Kompromisslosigkeit das Kennzeichen dieser Bewegung ist. Um die Pandemie bewältigen zu können, kann wie beim Klima nur eine bedingungslose Konzentration auf ein Thema gefordert werden, und das ist in der Corona-Krise der Schutz vor Infektion und Erkrankung mit einem schweren Verlauf und möglicher Todesfolge.

Verantwortliche Gelassenheit

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