Читать книгу Handbuch Ethik für Pädagogen - Thomas Kesselring - Страница 15
1.6. Weshalb moralisch handeln?
ОглавлениеNoch immer ist nicht ganz geklärt, was moralische Normen von sonstigen Normen unterscheidet. Klar ist, dass moralische Normen unsere ursprünglichen Freiheiten beschneiden und dass wir diese Beschneidung akzeptieren, weil wir sie gegenüber dem „Naturzustand“, in dem jeder tun und lassen kann, was er will und wie er will, als das geringere Übel empfinden. Wie ist das zu verstehen?
Die folgende Antwort kommt dem Wesen der moralischen Normen näher: Den Kern der Moral bilden einige elementare Rechte. Diese Rechte kommen allen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft gleichermaßen zu. Indem wir uns wechselweise diese Rechte zugestehen, begegnen wir uns als Personen mit Würde und behandeln uns gegenseitig respektvoll. Diese Rechte lassen sich nur durch bestimmte Normen schützen, wobei viele dieser Normen allgemeingültig sind – etwa die, dass wir im Umgang mit anderen Menschen immer höflich bleiben sollen… Die Pflichten oder Normen bilden also gleichsam die Außenseite dessen, was wir als Rechte in Anspruch nehmen.
Der erste Schritt in eine zivilisierte Gesellschaft besteht darin, „dass wir den Menschen, mit denen wir es zu tun haben, eigene Daseins-, Lebens- und Freiheitsrechte zuerkennen, ihnen Ansprüche uns gegenüber zugestehen, denen unsererseits Pflichten ihnen gegenüber entsprechen. Erst dadurch werden wir in einem moralischen Sinn gemeinschaftsfähig, erst dadurch wird eine Gemeinschaft möglich, die sich vom Naturzustand eindeutig unterscheidet“ (von Kutschera 1999, S. 254).
Mit der Erklärung, die Kutschera von der Moral gibt, wird auch klar, wieso sich die Mühsal der Moral unter dem Strich auszahlt: Wenn wir mit unseresgleichen kooperieren, erwachsen uns daraus mehr Vor- als Nachteile. Man erwartet von mir als Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft, dass ich mitmache und mich bemühe, den geltenden sozialen Standards zu genügen. Der Gewinn, den ich aus meiner Zugehörigkeit zu dieser Gesellschaft ziehe, liegt in der grundsätzlichen Bereitschaft aller (oder zumindest der meisten) anderen, auch mit mir zu kooperieren (vgl. auch Tugendhat 1993, 4. und 5. Vorlesung).