Читать книгу Basiswissen Pädagogik bei Verhaltensstörungen - Thomas Müller J.J. - Страница 7
Оглавление2 Herkunft und Zukunft
Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ist eine „junge“ Disziplin. Ihre Entstehung ist auf verschiedene Strömungen und zeitgeschichtliche Umstände zurückzuführen. Ihr heutiges „Gesicht“ ist nur unter Betrachtung ihres Herkommens erkennbar. Aus dieser Sicht lassen sich die Gegenwart verstehen und aktuelle sowie möglicherweise zukunftsweisende Entwicklungen aufzeigen.
2.1 Gesinnung und Verantwortung
Ausgangspunkt der Befassung mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen ist ein ab dem 17. Jahrhundert gesinnungsethisch geprägtes Handeln, das im 19. Jahrhundert durch eine verantwortungsethische Praxis abgelöst wird (s. thematische Skizze 1).
Thematische Skizze 1: Ideengeschichtliche Aspekte zur Herkunft der Pädagogik bei Verhaltensstörungen
Die Pädagogik bei Verhaltensstörungen als universitäre Disziplin hat ihren Ursprung erst in den 1960er Jahren. Kinder und Jugendliche, die man heute als verhaltensauffällig, erziehungsschwierig oder emotional und sozial förderbedürftig bezeichnet, gibt es jedoch weitaus länger – stets abhängig von zeitgeschichtlichen Sichtweisen. Wo und wann genau die Beschäftigung mit diesen Kindern und Jugendlichen ihren Ausgangspunkt nimmt, lässt sich nicht sagen. Allerdings stechen über Epochen hinweg einzelne Personen besonders hervor. August Hermann Francke gründete ab 1695 die Halleschen Anstalten. Geprägt ist diese Gründung von pietistischen Motiven und einer gesinnungsethischen Haltung, in der die eigenen Werte und Moralvorstellungen in ein Handeln einfließen, das darauf ausgerichtet ist, eben jene Werte zu realisieren, ohne auf die Folgen des Handelns für die Betroffenen zu achten. Für Francke hieß das nicht nur eine Versorgung und Beschulung von sogenannten sittlich verwilderten Kindern und Jugendlichen, sondern auch ein Verbot des seiner Meinung nach unnützen Spiels und den Einsatz der Prügelstrafe. Francke steht stellvertretend für andere religiös motivierte Pädagogen und Anstaltsgründungen im 17. Jahrhundert, die gesinnungsethisch geprägt waren. Erst mit einem stärker medizinischen Interesse im 19. Jahrhundert und beflügelt vom Geist der Aufklärung sowie der Überzeugung, dass der Mensch unabhängig von Behinderung bildbar sei (Herbart 1835), wendet sich das Blatt und Kinder und Jugendlichen werden
„nun nicht mehr in moralischen Kategorien als ‚böse‘ und ‚sittlich verwildert‘ betrachtet […], sondern als ‚krank‘ und ‚schlecht erzogen‘ […]. Die im 19. Jahrhundert verbreitete Zuversicht, die Medizin könne jede Form von ‚Idiotie‘ und ‚Geisteskrankheit‘ heilen, wird im 20. Jahrhundert zunehmend abgelöst durch einen pädagogischen Optimismus, der sich auf der Idee gründete, kein Kind zurückzulassen, sondern alle Kinder ungeachtet ihrer persönlichen Befähigung optimal fördern zu können, sodass sie eine höhere Stufe der Entwicklung erreichen könnten“ (Willmann 2018, 51).
Gesinnungsethisches Denken wandelte sich nach und nach in eine verantwortungsethische Praxis, die auf die Resultate des Handelns und ihre Verantwortbarkeit zielt. Für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen können beispielhaft Johannes Trüper und die 1890 gegründete Sophienhöhe bei Jena oder Johann Hinrich Wichern und das 1833 gegründete „Rauhe Haus“ in Hamburg genannt werden.
Mit Aufkommen der Psychoanalyse im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert und dem gesteigerten Interesse am inneren Erleben des Menschen entsteht die Einsicht, dass sich hinter dem offensichtlichen Verhalten von Menschen innere Notwendigkeiten, ein subjektiver Sinn verbergen kann. Diese Anerkennung eröffnete, geprägt durch August Aichhorn, pädagogisch einen anderen Blick auf kindliches Verhalten und Erleben, eine neue Dimension der pädagogischen Handlungsmöglichkeiten. Bedeutsame Gründungen, die von diesem Geist geprägt sind, gehen auf Fritz Redl (Pioneer House) sowie auf Bruno Bettelheim (Orthogenic School) zurück.
Fragen zum Verständnis:
Was ist mit Gesinnungsethik gemeint?
Was trug dazu bei, dass gesinnungsethisches Handeln durch eine verantwortungsethische Praxis ersetzt werden konnte?
Welche Bedeutung hat die Entwicklung der psychoanalytischen Pädagogik für die Pädagogik bei Verhaltensstörungen?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:
Comenius forderte bereits im 17. Jahrhundert für die Schule, „alle alles zu lehren“. Was bedeutet dies mit Blick auf die Diskussion um Inklusion; und was lässt sich daraus lernen, dass dieser Gedanke über die Jahrhunderte immer wieder verloren ging?
Wodurch lässt sich der für die Sonderpädagogik so wesentliche pädagogische Optimismus angesichts bisweilen aussichtslos erscheinender Situationen mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen rechtfertigen?
Bruno Bettelheim prägte als psychoanalytischer Pädagoge den Ausspruch „Liebe allein genügt nicht!“. Was ist damit gemeint?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.
Grundlagenliteratur:
Göppel, R. (1989): „Der Friederich, der Friederich …“. Das Bild des erziehungsschwierigen Kindes im 19. und 20. Jahrhundert. Edition Bentheim, Würzburg
2.2Exklusion und Vernichtung
Der gesellschaftliche, aber auch der „pädagogische“ Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen war in der Vergangenheit immer wieder von Ablehnung, Ausschluss und Vernichtung geprägt. „Die Geschichte der gesellschaftlichen Konstruktion des ‚Anders-Seins‘ führt von der Dämonologisierung und Moralisierung in der Frühzeit und im Mittelalter bis zur Biologisierung und Pathologisierung in der Neuzeit […]“ (Willmann 2018, 51).
In der jüngeren deutschen Geschichte sind insbesondere der Umgang der Nationalsozialisten, aber auch der des DDR-Regimes mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen eindrückliche Negativbeispiele (s. thematische Skizze 2).
Die Nationalsozialisten bestimmten den Wert von Menschen mit Behinderung bezogen auf Rasse und gesellschaftlichen Nutzen, wobei vor allem die Arbeitsfähigkeit zählte. Der aus diesen Kriterien bestimmte „volkswirtschaftliche Wert“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 245) entschied über Leben und Tod. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche bezeichnete man als Asoziale, als arbeitsscheu, schmarotzerisch und aufrührerisch. Sie galten als pädagogisch nicht beeinflussbar und hatten einen besonders geringen Status in der Gesellschaft des Dritten Reichs (Müller 2014). Man sagte ihnen nach, einen schlechten Charakter zu besitzen und äußerst raffiniert vorzugehen (Ellger-Rüttgardt 2019), unterstellte ihnen also Vorsatz. In den Schulen war kein Platz für solche Kinder und Jugendliche, wozu auch diejenigen zählten, die gegen den Nationalsozialismus aufbegehrten, sich der Hitlerjugend entzogen oder als eigensinnig galten. Nur dem Arbeitsdienst wurde eine positive Wirkung auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche zugeschrieben (Müller 2014). Gleichzeitig sah das NS-Regime in diesen Kindern und Jugendlichen besonderes Potenzial, sie für den Führerkult zu begeistern. Der gesamte Propagandaapparat war auf die Formung und Gestaltung des „Volkskörpers“ ausgerichtet – „die unbedingte Unterordnung des Individuums unter den absoluten Vorrang der Volksgemeinschaft“ (Ellger-Rüttgardt 2019, 243). Mit dem „richtigen rassischen Wert“ und potenziellen Nutzen für das Volk, wurde die Hitlerjugend als Besserungsanreiz in Aussicht gestellt. Dort konnten verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ihren volkswirtschaftlichen Wert unter Beweis stellen, ihre Behinderung auszugleichen versuchen und dem Vaterland dienen.
Thematische Skizze 2: Sicht auf verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche im Nationalsozialismus und in der DDR
„Jugendliche, die als sozial auffällig und sittlich verwahrlost galten, wurden ab 1940 […] Jugendschutzlagern […] zugeführt und zur Zwangsarbeit verpflichtet. In den 1970er Jahren wurden diese Lager in Westdeutschland als Konzentrationslager anerkannt“ (Müller 2014, 224).
Letztendlich sah die NS-Sozialpolitik in verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen keinen Nutzen. Vielmehr galten sie als Gefahr für die „arische Rasse“ und wurden als „Minderwertige“, als „Parasiten am deutschen Volkskörper“ diskreditiert (Baringhorst / Böhnke 2017). Weder begegnete man ihnen mit Verständnis, noch wurde ihnen Unterstützung zuteil, dafür jedoch Verachtung, Demütigung und Hass. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs ging der Wiederaufbau des Sonderschulwesens nur schleppend voran. Die wenigen verbliebenen Hilfsschulen waren aufgrund der negativen Bewertung behinderter Menschen zur Zeit des Nationalsozialismus in katastrophalem Zustand.
Erziehung und Bildung wurden in der DDR maßgeblich durch den Einfluss des ukrainischen Pädagogen Anton Semjonowitsch Makarenko geprägt. Dieser galt als der einflussreichste Pädagoge der Sowjetunion. Das Leitziel seiner Bemühungen war, „den neuen Menschen zu schaffen“ (Zimmermann 2004, 52). Anfang der 1920er Jahre leitete Makarenko Arbeitskolonien, in denen „verwahrloste“ Kinder Disziplin lernen und resozialisiert werden sollten. Ein Verständnis von Erziehung als wechselseitigem Prozess und gegenseitiger Abhängigkeit fehlte bei Makarenkos Überlegungen. Auch Interessen, Fähigkeiten und Bedürfnisse der zu Erziehenden wurden nicht berücksichtigt. Vielmehr sollte ein klares Machtgefälle zwischen Erzieher und Zögling vorherrschen.
Die DDR übernahm Makarenkos pädagogische Lehren, verfälschte sie aber auch. Die Erziehung so genannter verhaltensabweichender Kinder und Jugendlicher fand in der DDR in Form von „Umerziehung“ statt. Oberstes Ziel war das Schaffen von sozialistischen Persönlichkeiten, die sich dem Kollektiv unterordnen. Paradigma war die „Machbarkeit von Erziehung“: Damit war zum einen die Realisierbarkeit von Erziehung gemeint, zum anderen die Manipulierbarkeit von Kindern und Jugendlichen. Sozialpädagogische Fragen hatten lange Zeit keinen großen Stellenwert, obwohl diese bei genauerer Betrachtung wichtig für die Umsetzung des sozialistischen Grundgedankens gewesen wären. Erziehung und Bildung sollten universal vermittelt werden, um die Kosten möglichst niedrig zu halten und das Einheitsgefühl der Gesellschaft zu stärken. Sozial- und Rehabilitationspädagogik mussten sich der Volksbildung unterordnen. Ab 1965 entstand eine Verhaltensgestörtenpädagogik in Ostdeutschland. Gesellschaftliche Erklärungen für Verhaltensstörungen wurden nicht anerkannt (Müller 2014, 224). Vielmehr führte man auffälliges Verhalten auf intra- und interpersonelle Gründe zurück, was einer reinen Schuldzuweisung an die betroffenen Kinder und Jugendlichen und deren Familien gleichkam. Man war zudem bestrebt, das Wissen in der Bevölkerung über die Existenz von Förderschulen möglichst gering zu halten, denn sie wurden als ein Eingeständnis für das Versagen des Schulsystems angesehen. Dennoch gab es „Sonderschulen mit Ausgleichsklassen für Verhaltensgeschädigte“, jedoch durfte diese Schulform nur von der zweiten bis zur vierten Klasse besucht werden. Wer auffällig wurde und sein Verhalten nicht unter Kontrolle bekam, war schnell ein Fall für Fremdunterbringung. Es gab ein hierarchisch aufgebautes System unterschiedlicher Institutionen, das sich nach der Schwere der Auffälligkeiten richtete. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche wurden per Zwangseinweisung aus ihrem „erziehungsunfähigen“ Umfeld genommen und sollten in Abgeschiedenheit diszipliniert werden. Deshalb waren alle Einrichtungen örtlich von Regelschulen getrennt und lagen teilweise an entlegenen Orten, um den Einfluss auf Regelschüler und die Aufmerksamkeit innerhalb der Gesellschaft zu minimieren. Von Einrichtung zu Einrichtung verschärften sich die Maßnahmen. Arbeitsmaßnahmen wurden härter, Freizeit weniger und Besuchszeiten seltener. Kinder und Jugendliche „wanderten“ von Aufnahmeheimen über Spezialheime zu Jugendwerkhöfen. Als ultima ratio galt der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau. Bereits in Aufnahme- und Spezialheimen herrschte extreme Strenge. Der Geschlossene Jugendwerkhof Torgau zeichnete sich zudem durch besondere Härte aus. Militärischer Drill war an der Tagesordnung, der Alltag war reglementiert, penibel getaktet und permanent überwacht. Gegen Regelverstöße wurde drastisch vorgegangen: Durch Kollektivstrafen sollte dem Einzelnen vor Augen geführt werden, was sein Fehlverhalten angerichtet habe. Arrest und Züchtigung wurden für geringste Vergehen verhängt. Der Strafe selbst, unter Nutzung des Kollektivs, wurde eine erzieherische Wirkung zugeschrieben (Beyer / Strobl / Müller 2016). Die Willkür der Erziehenden fällt dabei besonders ins Auge: Bei vielen Maßnahmen ging es nicht um Erziehung, sondern darum, den Willen zu brechen und die Individualität der Insassen zu unterdrücken. Gerade die praktizierten Strafen wie Nachtisolierung, Zwangssport und Essensentzug verdeutlichen die Verletzung von Menschenrechten. „Verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche passten nicht ins sozialistische Weltbild. Ihre besonderen Bedürfnisse standen im Konflikt mit der angestrebten Kollektiverziehung. Deshalb wählte man den Weg der Umerziehung, welcher sich vor allem durch Exklusion, harte Arbeit und überzogene Strafen definierte.
Fragen zum Verständnis:
Wie versuchte man im Dritten Reich, die Euthanasie an verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen zu rechtfertigen?
In der DDR war „Fremdunterbringung“ die Universallösung für „verhaltensabweichende“ Kinder und Jugendliche. Welches Verständnis von Verhaltensstörungen liegt diesem Vorgehen zu Grunde?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur
Vertiefung:
Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche wurden in der NS-Zeit als „Asoziale“ bezeichnet und galten als „erbkrank“. Welche Rolle spielen soziale Einbindung und Vererbung jenseits von Ideologien für das Entstehen von Verhaltensauffälligkeiten?
Warum bemühte man sich in der DDR nicht um alternative Bildungswege für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar..
Grundlagenliteratur:
Beyer, C., Strobl, C., Müller, T. (2016): „Hier kommste nicht raus“. Geschlossener Jugendwerkhof Torgau: Endpunkt erzieherischer Willkür der SED gegenüber verhaltensabweichenden Jugendlichen. Schneider, Hohengehren
2.3 Separation und Institutionen
Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt der Ausbau eines vielgliedrigen Sonderschulwesens da an, wo er zuvor ins Stocken oder zum Erliegen gekommen war (s. thematische Skizze 3). Daher verbreiten sich auch Schulen für Erziehungshilfe in Deutschland mehr und mehr. Ausgangspunkt dieser Schulart waren Sonderklassen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zürich und in Berlin als „Erziehungsklassen (E=Klassen) für schwererziehbare Kinder der Volksschule“ (Fuchs 1930) entstanden. Auch wenn unter anderer Terminologie („kriegsgeschädigt“), wurden dort vermutlich „traumatisierte“ Kinder und Jugendliche beschult, die nach einer Phase intensiver pädagogischer Begleitung in einem pädagogischen Schonraum wieder dem Regelschulunterricht folgen sollten. Die Idee des Durchgangs ist von Anfang an ein Prinzip der Schule für Erziehungshilfe. Alsbald entwickelten sich diese Klassen zum „Sammelbecken“ für alle möglichen Kinder und Jugendlichen, die durch ihr Verhalten aus dem Rahmen fielen und an den Regelschulen als unbeschulbar galten.
Thematische Skizze 3: Separation und Institutionen
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in Bremen, Hamburg und Berlin Kleinklassen für kriegsgeschädigte Kinder gegründet (Klink 1962, 92). Bald wurden sie zu Institutionen für leicht erregbare, leistungsverweigernde und anderweitig schwierige Schülerinnen und Schüler. Mitte der 1950er Jahre wurden bundesweit Sonderschulen für Erziehungshilfe gegründet, die unter uneinheitlichen Bezeichnungen bestanden. Zudem wurden aus einigen Heim- bzw. Heimvolksschulen Schulen für Erziehungshilfe (Mau 1981). Dem Gutachten des Deutschen Bildungsrates, stärker integrativ statt weiter separierend zu beschulen, folgte die Kultusministerkonferenz nicht – stattdessen wurde 1972 die Bezeichnung „Schule für Verhaltensgestörte“ eingeführt und zudem entstanden sonderpädagogische Ambulanzen.
Trotz Diskussion um die Schule für Erziehungshilfe (Myschker / Stein 2018, 356 f.) kam es nach der Wiedervereinigung zu einem Ausbau in Ostdeutschland. Sowohl in den „Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland“ (KMK 1994) als auch in den „Empfehlungen zum Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ (KMK 2000, 24 f.) wird dies dargelegt. Ging es der Schule für Erziehungshilfe vormals eher darum, Fehlentwicklungen zu verhindern, stehen aktuell der emotional-soziale Förderbedarf und besondere Erziehungsbedürfnisse im Mittelpunkt: Kinder und Jugendliche sollen die Möglichkeit erhalten, sich mit ihren Verhaltens- und Erlebensweisen auseinanderzusetzen, lernen und sich bilden zu können. Mit Blick auf die Schulqualitätsforschung halten Opp / Wenzel (2003) fest:
„Die Begegnung mit gefühls- und verhaltensgestörten Kindern erfordert neben erweitertem theoretischen Wissen und methodischem Repertoire auch die kontinuierliche Reflexion der eigenen Arbeit. […] Es geht darum, dass sich die Professionellen selbst und in kollegialen Zusammenhängen mit den Herausforderungen, Möglichkeiten und Grenzen, Zielen und Problemstellungen der eigenen Arbeit konfrontieren“ (Opp / Wenzel 2003, 34).
Da die Schule für Erziehungshilfe von Beginn an als Durchgangsschule verstanden wird, werden Kinder und Jugendliche in einigen Bundesländern nur bis zur 6. Klasse oder aber erst ab einer bestimmten Jahrgangsstufe beschult, was aber bisweilen zu Anschlussschwierigkeiten führt.
Schulen für Erziehungshilfe sollen Regelschulen von als störend empfundenem und auffällig erlebtem Verhalten entlasten. Damit geraten sie jedoch in die Gefahr der Negativfunktion einer Bedarfserfüllung, welcher an anderer Stelle nicht abgedeckt wird. Umgekehrt entlastet sie Schülerinnen und Schüler, die Schwierigkeiten mit großen Klassenverbänden und dem Leistungsanspruch der Regelschulen haben – also solche, die aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen bereits ein oder zwei andere Kinder oder Jugendliche neben sich nicht aushalten. Aber auch der nicht auffällige Teil der Schülerschaft kann durch die Schule für Erziehungshilfe indirekt entlastet werden, wenn die Schülerinnen und Schüler ungestörter lernen können. Meist wird nach Regelschullehrplänen oder Adaptionen unterrichtet, um die Anschlussfähigkeit zu wahren. Darüber hinaus soll die Beschulungsfähigkeit bei Leistungs- und Schulverweigerung angebahnt bzw. wiederhergestellt werden. Emotional-soziale Ziele sind die Entwicklung von Ich-Stärke, Selbstwirksamkeitserleben, die angemessene Selbsteinschätzung eigener Potentiale, die Bewältigung subjektiv schwieriger Situationen, die Stärkung des Empathieempfindens, der Motivation und der Leistungsbereitschaft. Der Großteil der Schulen für Erziehungshilfe existiert als Halbtagsschule mit Klassen um die zwölf Schülerinnen und Schüler. Manche Bundesländer führen Spezial- oder Kleinklassen an Regelschulen. Zudem existieren noch einige wenige Heimschulen. Die Schulen haben ihre mobilen und beraterischen Hilfen ausgebaut. Formen integrativer und kooperativer Beschulung werden bisweilen erprobt. Zudem gibt es Schulen für Erziehungshilfe ohne Schülerschaft, deren Lehrkräfte „nur“ ambulant an Regelschulen arbeiten. Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche werden nicht nur in diesen speziellen Schulen beschult, sondern auch in Regelschulen, in anderen Förderschularten, an (einigen wenigen) Berufsschulen speziell für verhaltensauffällige junge Erwachsene, in Schulen an Kinder- und Jugendpsychiatrien (Schulen für Kranke) und in Einrichtungen des Strafvollzugs.
Seit Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1990 spielen die in diesem Rahmen eingerichteten Hilfen zur Erziehung auch für sonderpädagogische sowie für schulische Kontexte eine bedeutsame Rolle. Nahezu alle Kinder und Jugendlichen, die eine Schule für Erziehungshilfe besuchen, erhalten zusätzlich Hilfen zur Erziehung, um eine ganztägige und nachhaltige Versorgung zu gewährleisten. Neben der Stärkung des Elternwillens ist es Ziel des Gesetzes, ein gestaffeltes System von Maßnahmeangeboten zur außerschulischen Erziehungshilfe mit stark präventiven Anteilen vorzuhalten. Die Hilfen zur Erziehung sind in Form familienunterstützender, -ergänzender sowie -ersetzender Maßnahmen gestaffelt. Im Rahmen dieser drei Gruppen sind spezifische Maßnahmen vorgesehen, wobei sich Art und Umfang der Hilfe konkret am Einzelfall orientieren. Die Ausrichtung dieser Maßnahmen ist familien-, gruppen- oder auch einzelorientiert: Erziehungsberatung, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistand und Betreuungshelfer, Sozialpädagogische Familienhilfe, Erziehung in einer Tagesgruppe, Vollzeitpflege, Heimerziehung und sonstige betreute Wohnformen sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung.
Neben diesen Hilfen zur Erziehung bietet der §35a Möglichkeiten der Eingliederungshilfe für von seelischer Behinderung bedrohte oder betroffene Kinder und Jugendliche. Diese Hilfen können ambulant, in teilstationären Einrichtungen, durch geeignete Pflegepersonen oder in stationär therapeutischen Einrichtungen realisiert werden. Ergänzend kommt auch der §42, die Inobhutnahme, zum Zuge. Im Falle von Delinquenz bestehen darüber hinaus Möglichkeiten, Hilfen zur Erziehung mit den Sanktionen des Jugendgerichtsgesetzes (Jordan 2005, 227 f.) zu verbinden.
Empirische Untersuchungen (BMFSFJ 2002; Macsenaere / Klein / Scheiwe 2003) zeigen, dass gerade die Effekte der niedrigschwelligen, präventiven Maßnahmen teilweise problematisch sind, während stark interventive Maßnahmen wie etwa stationäre Unterbringung im Vergleich recht gut abschneiden. Die zentrale rechtliche Stellung der Sorgeberechtigten ist zwar stark, aber nicht immer „günstig“, denn das Recht und damit unter Umständen auch das Wohlergehen der betroffenen Kinder und Jugendlichen können dahinter zurückbleiben. Besonders deutlich wird dieses Problem bei massiven Erziehungsschwierigkeiten in der Familie, bei Gewalt, Misshandlung und Missbrauch. Zwar bestehen hier Eingriffsmöglichkeiten seitens des Jugendamtes; diese sind jedoch recht hochschwellig, was mitunter auch an Erfahrungen im Umgang mit Familiengerichten und deren Entscheidungspraxis liegt. Bis hier Maßnahmen greifen, kann viel geschehen sein, wenn es an Einsicht und Kooperationsbereitschaft seitens der Sorgeberechtigten mangelt.
Die Wirksamkeit erzieherischer Hilfen ist in verschiedenen Studien und Metaanalysen untersucht und belegt worden: Wolf (2007) verweist hinsichtlich der Wirkung erzieherischer Hilfen insbesondere auf die Passung des Hilfearrangements, die Partizipation von Jugendlichen und Eltern an den für sie wichtigen Entscheidungen, auf die Qualität der Beziehung, auf klare, Orientierung gebende Strukturen und Regeln, auf Respekt vor den bisherigen Lebenserfahrungen und den in diesem Rahmen entstandenen Strategien und Deutungsmustern. Macsenaere / Esser (2012) bestätigen diese Ergebnisse im Wesentlichen und weisen nach, welche Aspekte erzieherischer Hilfen in welchen Formen besonders wirksam sind.
Fragen zum Verständnis:
Wie veränderte sich der Auftrag der Schule für Erziehungshilfe von ihrer Entstehung bis heute?
Welche beiden Entlastungsfunktionen hat die Schule für Erziehungshilfe?
Welches sind wirksame Maßnahmen außerschulischer Erziehungshilfe?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:
Was macht sonderpädagogische Institutionen, die nach außen hin einen separierenden Charakter haben, für verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche möglicherweise zu integrativen Einrichtungen?
Warum werden sonderpädagogische Einrichtungen mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung vermutlich auch in Zukunft unentbehrlich sein?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.
Grundlagenliteratur:
Macsenaere, M., Esser, K. (2015): Was wirkt in der Erziehungshilfe? Ernst Reinhardt, München
2.4 Integration und Inklusion
Mit der UN-Konvention von 2008 nahm die kritische Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit der Schulen für Erziehungshilfe zu. Dennoch hat sich die Zahl der in diesen Schulen geförderten Schülerinnen und Schüler zwischen 2001 und 2018 nahezu verdoppelt (KMK 2019b) und steigt weiter an. Aber auch Versuche integrativer Beschulung (z. B. regelschulintegrierte Klassen, Kooperationsklassen, ambulante und mobile Dienste und Hilfen, dezentrale schulische und außerschulische Erziehungshilfen, etc.) wachsen (s. thematische Skizze 4).
Thematische Skizze 4: Integration und Inklusion
„Der Weg zur Inklusion im Bereich der schulischen Erziehungshilfe wird dahinführen, bestehende Systeme weiter zu entwickeln, die sich fortsetzende Ausdehnung der separierenden Beschulung zu stoppen, zu reduzieren und inkludierende Förderformate auszuweiten […]. Ziel ist es, gestufte Fördersysteme mit differenzierten Ansätzen und intensiver Vernetzung v. a. mit der Jugendhilfe, flächendeckend zu etablieren […]“ (Willmann 2007, 130).
Verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche sind oft vielfältigen Exklusionserfahrungen ausgesetzt: dazu zählen massive Konflikte in der Familie ebenso wie im häuslichen Umfeld, in Kindergarten oder Schule. Diese Erfahrungen sind bisweilen tiefgreifend und führen bei ihnen selbst, aber auch in ihrem Umfeld vielfach zu Leid und Trauer, auch wenn es angesichts von Wutausbrüchen, Übergriffen und zerstörerischem Verhalten auf den ersten Blick nicht danach aussieht. Die Biographien der Betroffenen belegen dies jedoch „eindrucksvoll“ (Nölke 1994; Ader / Schrapper 2002; Hamberger 2008; Goblirsch 2010).
Die Schule, aber auch ein erheblicher Teil der Hilfemaßnahmen zur Erziehung sind so organisiert, dass sie auf ein gewisses Maß an Gruppenfähigkeit setzen. Es gibt jedoch Kinder und Jugendliche, die durch ihre biographischen Erfahrungen emotional und sozial so hoch belastet sind, dass sie nur wenige oder kein anderes Kind neben sich ertragen. Jenseits von zunehmender Professionalisierung im Bereich der allgemeinbildenden Schulen wird es daher auch weiterhin schulische Maßnahmen benötigen, die solchen Bedarfen gerecht werden. Darüber hinaus wäre es fahrlässig anzunehmen, dass jede Verhaltensweise eine Bereicherung innerhalb einer Klasse darstellt, besonders, wenn es zu gewalttätigen oder sexuell motivierten Übergriffen, selbstverletzendem Verhalten und Delinquenz kommt. In der Diskussion um Inklusion wird bisweilen aber ein zu idealistisches Bild vermittelt:
„Es scheint so, als träfen ausschließlich Schüler aufeinander, die guten Willens sind, bereit und in der Lage, sich miteinander zu verständigen. Auftretende Probleme sollen mit den gängigen pädagogischen Mitteln gelöst werden, eventuell unterstützt durch sonderpädagogische Hilfen. Aggressivität und Destruktivität, die diesen gemeinsamen Rahmen sprengen, haben im Normalitätstheorem keinen Platz, Grenzen einer fruchtbringenden Vielfalt kommen nicht vor“ (Ahrbeck 2011, 65).
Die Inklusionsdebatte sollte nicht den Eindruck erwecken, als sei das Miteinander von unterschiedlichen Menschen in der Verbindung zu einer Lerngemeinschaft grundsätzlich gut. Die Zunahme des emotional-sozialen Förderbedarfs (KMK 2020) sowie die Tatsache, dass etwa ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen an einer psychischen Störung erkranken (Hölling et al. 2008), lässt den Schluss zu, dass es eine intensive Unterstützung aller Schularten benötigt, besonders dann, wenn sie sich den Herausforderungen eines inklusiven Unterrichts stellen. Im Sinne der Kinder und Jugendlichen, die niemanden neben sich aushalten (können) und im Sinne derer, die es vor Übergriffen zu schützen gilt, werden spezielle Schulen auch in Zukunft unerlässlich sein. Wo diese Schulen abgeschafft werden, droht die Gefahr, dass verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche eine „In-klusion“ der anderen Art erleben: nämlich Einschluss in Psychiatrien, Forensiken und Justizvollzugsanstalten.
„Inklusion verwirklicht sich also nicht unbedingt mit dem Verbleib von störenden, auffälligen oder schwierigen Kindern und Jugendlichen an Regelschulen, genauso wenig wie die Schule zur Erziehungshilfe als Allheilmittel gelten kann. […] Ziel bleibt es, diesen Kindern und Jugendlichen Stabilität und Verlässlichkeit, Kontinuität und Orientierung, Wertschätzung und Anerkennung anzubieten, wie auch immer man die Schulen, die das realisieren können, systemisch verorten mag“ (Müller 2013, 43).
Aktuell steht die Pädagogik bei Verhaltensstörungen vor zwei großen Herausforderungen: dem „wait-to-fail-Problem“ und dem „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“. In vielen Fällen wird mit sonderpädagogischen Interventionen solange gewartet, bis das Verhalten eines Kindes oder Jugendlichen in der Regelschule nicht mehr tragbar ist. Oftmals haben sich Verhaltensweisen dann manifestiert und lassen sich auch durch gezielte Maßnahmen nicht mehr in den Griff bekommen, was im schlimmsten Fall zu späten Schulwechseln, aber auch Abbrüchen ohne Abschluss führt. Daher befasst sich die Pädagogik bei Verhaltensstörungen explizit mit Fragen der Prävention sowie der Wirksamkeit eingesetzter Maßnahmen (z. B. Hartke / Koch 2008; Hennemann et al. 2015), auch wenn damit Erziehungsprozesse nicht abgelöst werden können (Stein / Müller 2018, 258). Damit einher geht das Dilemma, dass Ressourcen für eine sonderpädagogische Intervention erst dann zur Verfügung gestellt werden, wenn eine Störung im Verhalten und / oder Erleben diagnostiziert wurde. Dies erfordert zum einen Zeit, in der sich Verhaltensweisen verfestigen können und leidvolle Erfahrungen vergrößern. Es bringt zum anderen das Problem mit sich, die Betroffenen ggf. zu stigmatisieren, selbst wenn dies nicht beabsichtigt ist (Kap. 4.3.4). Förderbedarfe aus Angst vor Stigmatisierung jedoch nicht mehr festzustellen, bringt wiederum die Gefahr mit sich, dass (existentiell) notwendige Hilfe, Unterstützung und Begleitung ggf. nicht realisiert werden können. Es bleibt zu überlegen, ob im Sinne einer advokatorischen Ethik, jenseits von paternalistischen Absichten, nicht genau dies das immer wieder zu reflektierende Wagnis ist, welches die Pädagogik bei Verhaltensstörungen einzugehen hat.
Mit Blick auf eine inklusive Zukunft hat die Pädagogik bei Verhaltensstörungen ihre Professionalität in mindestens drei Handlungsfelder einzubringen:
● Zum einen gilt es, eine präventive pädagogische Praxis in der Elementarbildung auszubauen,
● zum zweiten eine integrative und inklusive pädagogische Praxis an Regelschulen weiterzuentwickeln, ohne Exklusion in der Inklusion zu erzeugen,
● und zum dritten geht es um den Erhalt sonderpädagogischer, schulischer und außerschulischer Intensivangebote sowie ihre Weiterentwicklung im Hinblick auf Aufenthaltszeiten, Durchlässigkeit und Übergänge, aber auch konzeptionelle Qualitäten.
Fragen zum Verständnis:
Was ist mit dem „wait-to-fail-Problem“ gemeint?
Welche grundsätzlichen Versuche einer integrativen Beschulung verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher gibt es?
Weshalb muss sich gerade die Pädagogik bei Verhaltensstörungen mit präventiven Maßnahmen auseinandersetzen?
Fragen zum erweiterten Verständnis und zur Vertiefung:
Lässt sich das Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma auflösen? Wenn ja, wie?
Wie könnte ein gelingendes inklusives Bildungssystem aussehen, in welchem auch verhaltensauffällige Kinder und Jugendliche ihren Platz finden?
Antworthorizonte als Online-Material verfügbar.
Grundlagenliteratur:
Stein, R., Müller, T. (Hrsg.) (2018): Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Kohlhammer, Stuttgart