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Seelenverständnisse
ОглавлениеEinig sind sich die zahlreichen religiösen und mythologischen Vorstellungen darin, dass es wohl verschiedene Teile oder Funktionen der Seele gibt: Zum einen den für die Aufrechterhaltung der körperlichen Prozesse zuständigen Teil, Vital- oder auch Körperseele genannt. Hier finden sich denn auch Fauna und vielleicht sogar Flora als beseelte Wesen wieder. Es geht diesem Teil der Seele vorrangig um die Bewahrung der Intaktheit und Gesundheit. In diesem Sinne kann man wohl auch von Tieren als ‚beseelten‘ Lebewesen reden.
Was den Menschen als Lebewesen aus diesem rein planetarischen Funktionieren jedoch herausragen lässt, ist die Fähigkeit zu geistigen Prozessen und damit zu einer Verbindung der individuellen Seele mit überirdischen Welten. Dieses Streben und Suchen nach Überirdischem scheint etwas spezifisch Menschliches zu sein. Es ist unter anderem daran erkennbar, dass der Mensch das einzige Lebewesen auf diesem Planeten zu sein scheint, das sich für ein Leben außerhalb der Erdatmosphäre interessiert. Sei es durch tatsächliche Erforschung des Weltalls, sei es durch die persönliche Betrachtung und bewusste Hinwendung zu Sonne, Mond und Sterne - der Mensch strebt seit Jahrtausenden mit Leib und Seele nach eben diesem Überirdischen. Selbst Hunde, die gelegentlich den Mond anheulen, dürften dies wohl eher aufgrund biologischer Programmierungen, als zum Zweck der seelischen Erbauung, tun. Mir ist jedenfalls derzeit kein weiteres Lebewesen bekannt, das bewusst den Anblick der Himmelsgestirne genießt und dabei romantische oder schwärmerische Gefühle entwickelt.
Der zweite Teil der Seele des Menschen scheint daher - neben den starken Gefühlen der Erhabenheit und Verbundenheit mit der planetarischen Natur - ein sehr großes Interesse an den überirdischen Welten zu haben.
Die menschliche Seele hat also einen körperlichen wie auch einen geistigen Aspekt. Am Ende stellt sie das entscheidende Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen des menschlichen Lebens dar.
Die Seele als Dirigent
Beginnen möchte ich an dieser Stelle mit der Funktion der Seele, die in erster Linie der Aufrechterhaltung und Koordination der körperlichen Funktionen des Menschen dient: Nennen wir sie der Einfachheit halber Körper- oder Vitalseele. Dabei geht es nicht um die physischen Abläufe an sich, sondern um die Verbindung zwischen der körperlichen und der geistigen Ebene.
Wenn man nun das Zusammenspiel der biologisch-physiologischen Kräfte des Menschen, seine Sinne und die damit verbundenen Energiekreisläufe bildhaft mit einem großen Sinfonieorchester vergleichen würde, wäre die Rolle der Körper- oder Vitalseele die des Dirigenten. Ihre Aufgabe ist es, die natürlichen lebenserhaltenden Funktionen des Menschen mit seinem Erleben, seinen Gedanken, Empfindungen und Handlungen zu überwachen und in Einklang zu bringen - ihn im wahrsten Sinne zu einem beseelten Wesen zu machen. Dabei agiert sie eher konservativ, d.h. in dem Wortsinn erhaltend und ist Neuerungen und Veränderungen erst einmal skeptisch gegenüber eingestellt. Dies erklärt sich daraus, dass ihre Funktion in erster Linie darin besteht, dass das gesamte Orchester in größtmöglicher Harmonie zusammenspielt. Die einzelnen Instrumente werden zwar in ihrem solistischen Können gewürdigt und können phasenweise zur Geltung kommen. Dies jedoch nur so lange, wie der Gesamtzusammenhang - das heißt die Melodieführung der jeweiligen Sinfonie - gewährleistet ist. Auf den Menschen übertragen bedeutet dies: Wann immer wir uns aus unserem natürlichen Gleichgewicht der Kräfte hinausbewegen, sendet die Seele Warnsignale aus, um uns wieder ins rechte Lot, bzw. Gleis zu bringen.
Man denke beispielsweise an einen Extrembergsteiger, der aufgrund einer enormen physischen, emotionalen und mentalen Belastung die eigenen Grenzen erreicht oder zeitweise sogar überschreitet. Dabei wird er auch immer wieder bestimmte warnende Signale des Körpers in Form von Erschöpfung wahrnehmen oder innere Stimmen hören, die ihn zur Umkehr oder zumindest zum Innehalten bewegen wollen. Seine Lungenfunktion, das gesamte Herz-Kreislaufsystem und alle anderen lebensnotwendigen Körperfunktionen sind die entscheidenden Signalgeber. Das Gleiche passiert dem Berufstätigen, der über längere Zeit hinweg eindeutige Signale einer körperlich-geistig-seelischen Überforderung ignoriert und sich selbst in einen Zustand des Ausgebranntseins, fachsprachlich ‚Burnout‘ genannt, hineinmanövriert. Das reicht von Schwindelattacken über Magen- und Darmbeschwerden bis zu massiven Erschöpfungszuständen. Diese Warnsignale werden von unserer Körperseele ausgesendet, um uns daran zu erinnern, dass wir in einem Zustand der natürlichen Ausgewogenheit am Besten funktionieren und damit unser persönliches Wohlbefinden bewahrt wird. Ignorieren wir diese Warnsignale über längere Zeiträume, verbrennen wir im wahrsten Sinne unsere seelische Energie. Wir bleiben ausgebrannt und als nahezu seelenloses Wesen auf der Strecke. Mit anderen Worten: Wer seine Seele nicht ab und zu baumeln lässt, dem kann es passieren, dass er ins Taumeln gerät.
Seelisches Gleichgewicht
Die Seele ist dabei in einem weiteren Bild vergleichbar mit der Elektrizität, die im Hause des Menschen - also seinem Körper mit all seinen Bestandteilen wie Knochen, Muskeln, Sehnen, Nerven und Organen mit ihren vielfältigen Sinnesfunktionen - die nötige Energie liefert. Ist unser seelisches Leben aus dem Gleichgewicht, so wirkt sich dies wie im Stromkreislauf auf alle angeschlossenen Geräte aus, sei es durch eine schwächere Leistung der einzelnen Teile oder aber durch einen kompletten Kurzschluss und damit den Ausfall des ganzen Systems. Dies ist ein Zustand, der sich in Formulierungen wie „Ich fühle mich saft- und kraftlos“ oder „Ich stehe ständig unter Strom“ bildhaft ausdrückt. Im Moment der anhaltenden seelischen Belastung sind wir scheinbar nicht mehr im Vollbesitz unserer seelisch-geistig-körperlichen Fähigkeiten. Das Wort ‚Stress‘, bzw. das englische Wort ‚distress‘ (= Sorge, Kummer), stammt ursprünglich vom lateinischen ‚distringere‘, was so viel bedeutet wie ‚einengen, abschneiden‘, will sagen: In dem Moment, in dem wir unter dauerhaftem, also chronischen Stress stehen, ohne ihn angemessen abbauen, bzw. bewältigen zu können, sind wir abgeschnitten von unseren natürlichen Fähigkeiten. Als Folge brennt uns entweder die eine oder andere Sicherung durch oder aber es bricht gleich der gesamte (Strom-) Kreislauf zusammen.
Gott sei Dank haben wir wie jeder geregelte Stromkreislauf ein gut ausgetüfteltes Sicherungssystem. Da gibt es einzelne Sicherungen wie die kleinen Warnsignale von Kurzatmigkeit über Schweißausbrüche bis zu Herzrasen. Wenn diese Sicherungssysteme versagen oder ignoriert werden, gibt es immer noch einen (FI-) Schutzschalter für den gesamten Kreislauf, vergleichbar mit einem Kreislaufkollaps beim Menschen. All diese, auch unter dem Namen ‚Stresssymptome‘ bekannten Warnsignale sind im Gesamtsystem Mensch eingebaute Sicherungsmechanismen, um uns vor Schlimmerem zu bewahren. Wenn wir sie ignorieren und uns nicht auf die Suche nach der möglichen Ursache der Störung der Stromversorgung machen, sind wir ständig damit beschäftigt, die Sicherungen zu wechseln. Im therapeutischen Sinne spricht man dabei von der so genannten Symptombehandlung, der sowohl im medizinischen wie psychiatrischen Bereich nach wie vor am Weitesten verbreiteten Behandlungsform. Dabei würde wohl kein professioneller Elektriker bei einer Störung des Stromkreislaufes auf die Idee kommen, den betroffenen Hausbesitzer dauerhaft mit einer ganzen Wagenladung Sicherungen zu versorgen und zu glauben, damit dem Übel nachhaltig Abhilfe verschafft zu haben.
Es gilt also im Falle wiederkehrender Unterbrechungen und Ausfälle der Stromversorgung, sprich chronischem Stress, eine Bestandsaufnahme zu machen. Eine Bestandsaufnahme, die sowohl die körperlichen Symptome, als auch die psychischen Spannungszustände des Menschen erfasst.
Auf den Komponisten kommt es an
Um zum ursprünglichen Bild der Seele als Orchesterdirigenten zurückzukehren: Wenn man dem Menschen zu einer wirklichen Heil-, das heißt Ganzwerdung verhelfen will, bedarf es also einer Betrachtung des ganzen Orchesters und seines Zusammenspiels mit dem Dirigenten. Misstöne im Klangkörper sind selten auf einzelne Instrumente oder Musiker beschränkt, sondern werden meist durch die mangelhafte Abstimmung zwischen den einzelnen Teilen verursacht. Selbst bei einem scheinbar eindeutigen Missklang im System des Menschen in Form eines Herzinfarktes ist es nie das Herz alleine, das das Problem darstellt. Das Zusammenspiel mit der Blutversorgung im Körper ist ein wesentlicher Zusammenhang, den es bei jeglicher Art von Herzversagen zu berücksichtigen gilt. Die Blutversorgung wiederum ist abhängig von einer Vielzahl von Faktoren wie Ernährung, Bewegung, geistiger und emotionaler Beanspruchung und damit der Gewohnheiten und der persönlichen Lebenseinstellung des betroffenen Menschen. Die Seele selbst, also der Dirigent, ist nämlich abhängig davon, welche Art der Komposition es zu interpretieren gilt. Die Vorlage des Komponisten ist immer noch die entscheidende Grundlage für jegliches musikalische Zusammenspiel. Das heißt, ohne Komponist kein Dirigent und auch kein Orchester. Drei mal dürfen Sie an dieser Stelle raten, wem in diesem Zusammenhang die Rolle des Komponisten zufällt. Genau. Sie selbst sind es, die Ihrer Seele die entsprechenden Vorgaben zu machen haben und Sie mit der Aufführung der Sinfonie beauftragen. Selbst der egozentrischste Dirigent wird zugestehen, dass er ohne die Komposition aufgeschmissen wäre und sich daher in erster Linie mehr oder weniger loyal dem Komponisten gegenüber verhalten. Das wiederum bedeutet, Sie selbst geben letzten Endes im wahrsten Sinne den Ton und den Takt an. Von Ihren Vorgaben wird es abhängen, wie sich Ihre Seele als ausführender Dirigent betätigen kann. Ihre ureigenste Aufgabe ist es also, Ihrer Seele konkrete Anweisungen zu erteilen und sie dazu anzuhalten, das zur Aufführung anstehende Stück nach Ihren Vorstellungen zu gestalten.
Erfahrungen
Die Art und Weise, wie Sie die eigene Seelensinfonie gestalten, ist wiederum abhängig davon, welche Erfahrungen Sie im Laufe Ihres Lebens gemacht haben. Die Umwelt, in der wir aufwachsen und in der wir leben, die Menschen, denen wir auf dem Weg begegnen, die eigenen Aktivitäten und die Interessen, die wir verfolgen - all dies prägt uns und unsere Seele nachhaltig. Es ist tatsächlich vergleichbar mit der Software eines Computers: Aufgrund der von uns gemachten Erfahrungen erhält unsere Seele ein Programm, das auf ihrer Festplatte gespeichert wird. Bei Bedarf wird dieses Programm abgerufen und wir reagieren nahezu automatisch, das heißt entsprechend der installierten Software - unserer unbewusst gespeicherten Erfahrungen. Diese automatisierten, weil vorprogrammierten Aktionen und Reaktionen, laufen in erster Linie auf der unbewussten Ebene unseres Lebens ab. Das Beruhigende ist: Sobald wir unser Bewusstsein einschalten, haben wir jederzeit die Möglichkeit, uns über unsere gemachten Erfahrungen - also unsere Seelenprogramme - hinwegzusetzen. In diesem Augenblick können wir dann die aktuelle Situation relativ unvoreingenommen bewerten und neu angehen. In der Realität sieht es allerdings so aus, dass diese Situationen, in denen wir uns selbst und unserer Aktionen beziehungsweise Reaktionen völlig bewusst sind, eher die Ausnahme darstellen. Einen guten Teil unseres Lebensalltags absolvieren wir nämlich mehr oder weniger unbewusst. Die Psychologie behauptet sogar in ihrem Eisbergmodell der Wahrnehmung, dass der Anteil der bewussten Prozesse gerade einmal die berühmte Spitze des Eisbergs darstellt. Mit anderen Worten: Maximal 20-30% unserer gesamten Wahrnehmungsprozesse sind uns bewusst. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass unser Leben zu einem weitaus größeren Anteil (70-80%!) aus unbewussten - also weniger steuerbaren - Prozessen besteht. Angenommen, die Wissenschaft hätte in diesem Falle tatsächlich recht: Dann wird die Aussage, unser Seelenleben sei vor allen Dingen das Ergebnis früherer Erfahrungen und Prägungen, die auf der unbewussten Ebene unser heutiges Leben weitgehend bestimmen, etwas verständlicher.
Dies alles mag auf den ersten Blick sehr mechanisch klingen und wenig mit dem zu tun haben, womit man das Seelenleben im Allgemeinen in Verbindung bringt. Es sei daher an dieser Stelle daran erinnert, dass wir noch immer von dem Teil der Seele sprechen, der als Körper- oder Vitalseele bezeichnet werden kann. Zu den ‚höheren‘ seelischen Aspekten später mehr.
Allgemein gilt im Bereich der gemachten Erfahrungen der Grundsatz „Je früher die Erfahrung, desto gravierender und nachhaltiger die Auswirkungen“ (siehe auch im Buch „Psychologie für die Seele“). Wenn ich als Kind das so genannte Urvertrauen in vollen Zügen genießen durfte, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich als Erwachsener ein mehr oder weniger ‚gesundes Selbstvertrauen‘ besitze, relativ groß. Unter Urvertrauen wird dabei das bedingungslose Vertrauen des Kindes verstanden, dass die Mutter beziehungsweise die Eltern für das Kind da sind und für es sorgen, es während der ersten Lebensjahre bedingungslos annehmen und lieben. Fehlt dieses Urvertrauens während der ersten Lebensjahre, habe ich auch als Erwachsener unweigerlich ein dauerhaftes Problem. Das Thema ‚gesundes Selbstvertrauen‘ und die natürliche Sicherheit, sich von seiner Umgebung gewürdigt und angenommen zu fühlen, zieht sich unter Umständen wie ein roter Faden durch das weitere Leben. Dies ist schließlich der Grund, warum Generationen von Psychiatern und Psychologen der Kindheit so viel Bedeutung für das spätere Leben beimessen und sich in manchen Fällen mit wahrer Leidenschaft auf diese Lebensphase ihrer Klienten stürzen. Dabei kann es im Einzelfall tatsächlich von Nutzen sein, einschneidende und traumatisierende Kindheitserlebnisse ‚aufzuarbeiten‘. Die eigentliche Hilfestellung sollte sich jedoch meiner Ansicht nach immer auf die aktuelle Situation - das berühmte ‚Hier und Jetzt‘ - und vor allen Dingen auf die Zukunft des betroffenen Klienten beziehen. Die in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen lassen sich eben nicht einfach auslöschen, sie begleiten uns für den Rest unseres Lebens. Es ist vielmehr die Art, wie wir diese Erfahrungen aus heutiger Sicht einordnen und verarbeiten, die uns den Weg in eine unbeschwertere Zukunft ebnet.
Alte Erziehungssprüche wie „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“ zeichnen in diesem Zusammenhang ein eher fatalistisches Bild. In manchen Fällen kann man tatsächlich die fatale Wirkung frühkindlich gemachter Erfahrungen nur sehr schwer hinter sich lassen. Trotz dieser sicherlich sehr prägenden Einflüsse der Kindheit und Jugend auf das (Seelen-) Leben des Menschen ist meine feste Überzeugung: Jeder Mensch kann aufgrund seiner ihm ureigenen Freiheit der Wahl zu jedem Zeitpunkt seines Lebens entscheidende Schritte zur Veränderung oder Umkehr, unternehmen. Kein Schicksal ist unausweichlich, kein Schaden, aus dem man nicht irgendeinen Nutzen ziehen kann. Was es dazu braucht, ist eine bewusste Um- bzw. Neuprogrammierung der eingefleischten Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster. (Mehr zu diesem Thema im Kapitel 5 „Die 5 Intelligenzen der Seele“). Wenn ich also verhindern möchte, dass ein guter Teil meines Lebens dirigiert wird von mehr oder minder automatisch belaufenden Seelenprogrammen, bin ich dazu genötigt, diese Art der Umprogrammierung täglich neu zu überprüfen und immer wieder korrigierend einzugreifen. Dabei soll nicht der Wert von Lebenserfahrungen an sich in Abrede gestellt werden. Im Gegenteil. Es sind unsere gesammelten Erfahrungen, die uns zu dem machen, was wir sind, auch im positiven Sinne. Nicht umsonst spricht man mit einem gewissen Respekt von der reichhaltigen Lebenserfahrung eines Menschen. Wir - und damit unserer Seele - brauchen unsere Erfahrungen, die positiven wie die weniger positiven, um unsere eigene Identität zu formen. Sie sind die Bausteine, die das Haus unseres Ichs bilden. Der Unterschied liegt auch hier in der Bewusstheit, mit der ich mit diesen Erfahrungen umgehe. Selbst eine unglücklich verlaufende Kindheit führt nicht zwangsläufig zu einem unglücklichen Erwachsenen. Es geht es also nicht so sehr um das Wühlen in einer mehr oder weniger unglücklichen Vergangenheit, als vielmehr um Entscheidungen, welche Art von Erfahrungen ich mir und meiner Seele heute und zukünftig zumuten will.
Entscheidungen
Ein kluger Mensch sagte einmal, dass viele Menschen deshalb Probleme haben, weil sie sich nicht zu gegebener Zeit entscheiden oder entschieden haben. Mit Entscheidung ist dabei die im Wortsinn enthaltene Bedeutung von Ent-Scheidung gemeint. Also: Ich lasse mich nicht mehr hin- und herreißen zwischen verschiedenen Möglichkeiten beziehungsweise Alternativen, sondern lege mich auf eine bestimmte Richtung meines Handelns fest. Es ist wie bei einer Weggabelung, bei der ich mich für eine Richtung entscheiden muss, wenn ich nicht für ewig an derselben Stelle stehen bleiben will. Eine alte Yogi-Weisheit bringt es auf den Punkt: „Wenn sich der Weg vor dir gabelt, schlage ihn ein“.
Dabei sind hier in erster Linie Entscheidungen gemeint, die so genannte Weichenstellungen bewirken können. Also die Art von Entscheidungen, die in bestimmten Lebenssituationen und zu bestimmten Zeitpunkten im Leben den weiteren Fortgang desselben maßgeblich beeinflussen können. Das reicht von der Partnerwahl über die berufliche Ausrichtung bis hin zu Fragen der allgemeinen Lebensführung. Aber selbst im Alltag, wenn wir mit einer nahezu unüberschaubaren Zahl von Wahlmöglichkeiten konfrontiert werden, kann es sich manchmal als gesundheitsfördernd und -erhaltend erweisen, sich einfach nur zu entscheiden und nicht zu lange im Zustand der Unentschlossenheit zu verharren. Zwischen den Stühlen zu sitzen - also sich nicht zu entscheiden - ist wohl eine der unangenehmsten und unbequemsten Formen des Sitzens. Die Ernsthaftigkeit, mit der ich in manchen Lebenslagen eine Entscheidung treffe, bestimmt letztlich ihre Wirkung. Auf dem Niveau der allseits beliebten Neujahrsvorsätze kann ich nur mit einer begrenzten Halbwertszeit rechnen (die meist schon an Heilig-Drei-Könige, also nach einer knappen Woche, endet). Bei wirklich wichtigen Themen wie Partnerschaft, Familie und der allgemeinen Ausrichtung des eigenen Lebens empfiehlt es sich dagegen, nachhaltigere Prozesse der Entscheidungsfindung zu durchlaufen. Die guten Gründe, die für oder gegen bestimmte Entscheidungen sprechen, miteinander zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen, dies ist im wahrsten Wortsinne der entscheidende Schritt, um sich mit sich selbst in Einklang zu bringen und im seelischen Gleichgewicht zu halten. Unsere Seele erweist sich dabei als zuverlässig und verhält sich entsprechend unseren Anweisungen. Als Dirigent führt sie das aus vielen Einzelteilen bestehende Orchester durch das Programm, das wir - die Komponisten - ihr vorgegeben haben. Wenn ich mein Leben in erster Linie auf Beruf und Karriere ausrichte, wird sich meine Seele loyal dieser Entscheidung gegenüber verhalten und mich dazu befähigen, die dazu notwendigen Denk- Fühl- und Verhaltensweisen zu produzieren. Entscheide ich mich dagegen für ein Leben, in dem die Familie und die Pflege sozialer Kontakte absoluten Vorrang haben, wird sich die Seele ebenso loyal entsprechend dieser Entscheidung ausrichten.
Unsere Seele funktioniert also nicht ausschließlich nach einem - ihr von Natur aus mitgegebenem - Programm, dass uns automatisch durch alle Wirrnisse des Lebens führt. Sie ist vor allem von unseren im Laufe unseres Lebens getroffenen Entscheidungen und dadurch gemachten Erfahrungen abhängig. Es ist unsere Aufgabe, mittels dieser Entscheidungen und Erfahrungen unser eigenes seelisches Gleichgewicht zu gewährleisten.
Hindernisse
Allerdings sollte man mit einer einmal getroffenen Entscheidung, wie zum Beispiel der Neuausrichtung in einer Partnerschaft oder im Beruf, nicht die Illusion verknüpfen, dass ab sofort alles ganz anders wird - nur, weil man sich entschieden hat (oder gerade Silvester ist). Es kommt ja zur eigenen Entscheidung meist noch eine äußere Umgebung - beispielsweise in Form anderer Menschen - hinzu. Schließlich gilt der Mensch gemeinhin als soziales Wesen. Hier - in der sozialen Umgebung - wird diese persönlich mit scheinbar großer Klarheit getroffene Entscheidung unter Umständen täglich von Neuem auf ihre Ernsthaftigkeit getestet. Da wird der klare Vorsatz zur beruflichen Veränderung durch unvorhergesehene Einwände aus dem familiären Umfeld in Frage gestellt, die eigenen Entscheidungen innerhalb der Partnerschaft treffen unweigerlich auf einen entsprechenden ‚Gegenpart‘. Das heißt, wir sind einerseits herausgefordert, uns selbst immer wieder neu zu entscheiden. Andererseits müssen diese Entscheidungen in Einklang mit unserer jeweiligen Lebenswelt gebracht werden, neudeutsch formuliert ‚kompatibel gemacht werden‘. Klingt anstrengend, ist es nach meiner Erfahrung auch.
Als zusätzliche Erschwernis kommt schließlich noch ein weiterer Aspekt hinzu: Nachdem der Mensch als Gewohnheits‘tier‘ beschrieben wird (wobei ich persönlich über den Vergleich mit dem Tierreich nicht wirklich glücklich bin), können jahrelange frühere Erfahrungen und Verhaltensweisen nicht einfach ausgelöscht und abgelegt werden. Wir alle sind ein Produkt unserer früheren Erfahrungen und nichts hat der Mensch im Laufe seines Lebens tatsächlich mehr lieb gewonnen als seine Gewohnheiten. Selbst wenn diese alles andere als erquicklich sind, für andere oder auch für mich selbst. Stichworte wie ‚Gesundheitsfürsorge‘ oder ‚Ernährungsgewohnheiten‘, Schlagworte wie Nikotin, Koffein, Zucker & Co. lösen vielleicht beim einen oder anderen Leser wohlbekannte und gewohnheitsmäßige Reaktionsweisen wie schlechtes Gewissen, schlichtes Verdrängen oder gar lautstarkes Wehklagen aus. Diese uns und unserer Gesundheit abträglichen Gewohnheiten sind uns zwar meist sehr gut bekannt und bewusst. Aber andere gewohnte innere Stimmen und Gedanken halten uns immer wieder davon ab, die eigentlich notwendigen Entscheidungen zu treffen und die geeigneten Schritte einzuleiten. Diesen so genannten ‚inneren Schweinehund‘ - den wohl jeder Mensch heutzutage täglich Gassi führt - haben wir zum großen Teil selbst herangezüchtet. Eben aufgrund der früher - bewusst oder unbewusst - getroffenen Entscheidungen. Sie wurden zu Gewohnheiten im Denken, Fühlen und Verhalten.
Aufgrund der jahrelangen Programmierung durch unsere Erfahrungen und Entscheidungen und ihren grundsätzlich loyalen - also ihrem jeweiligen „Herrn“ ergeben dienenden Charakter - fügt sich unsere Seele scheinbar in ihr Schicksal. Nur gelegentlich, manchmal - wenn wir uns etwas mehr Zeit nehmen, sie ein wenig baumeln zu lassen - spüren wir ein Aufflackern: Das Gefühl von Übersättigung oder des Überdrusses nach gewohnheitsmäßiger Völlerei oder anderer Formen von Maßlosigkeit. Dann taucht vielleicht sogar das berühmte schlechte Gewissen auf, verbunden mit der entschiedenen Entschlossenheit, fortan sein Leben endlich und endgültig gesundheitsbewusster gestalten zu wollen. Die Wirkung dieser Entscheidung lässt leider meist schon bei der nächsten, sich bietenden Gelegenheit schlagartig nach. Dennoch erfüllt unsere Körperseele auch weiterhin ihren Auftrag, uns zumindest seelisch halbwegs im Gleichgewicht zu halten. Dafür nimmt sie es oft genug sogar in Kauf, dass wir uns körperlichen Schaden - wie oben beschrieben - zufügen. Und so wird aus einem Akt der vorsätzlichen Körperverletzung, wie etwa der doppelten Zufuhr toxischer Substanzen beim Genuss einer Zigarre zusammen mit einem starken, nachtschwarzen Espresso, schnell ein Sinnbild für einen, in seinem seelischen Gleichgewicht schwebenden Menschen. Unser Seelenanteil, der sich um die körperliche Unversehrtheit bemüht, schreit währenddessen laut um Hilfe.
Die konservative Seite der Seele
Die Körperseele hat also zusammengefasst eine vor allen Dingen konservative, also Wert erhaltende Funktion für den Menschen. Dies bietet Vorteile im Überlebenskampf des Daseins. Die Körperseele dirigiert und orchestriert uns in der Vielfalt der täglichen Lebensanforderungen, ohne dass wir uns dessen allzu bewusst seien müssen. Sie gewährleistet dadurch eine grundlegende Stabilität im physischen und psychischen Leben. Sie bewahrt uns sozusagen vor den gröbsten Dummheiten. Vom Zusammenspiel der Organe bis zur Verarbeitung der Tagesereignisse im Schlaf und Traum - vieles von dem, was uns im Leben widerfährt, scheint mehr oder minder automatisch gesteuert zu werden. Wir müssen nicht über jeden einzelnen unserer Atemzüge nachdenken. Wir werden sozusagen beatmet. Und lassen nur ganz schwer von diesen automatischen, gewohnheitsmäßigen Prozessen ab, wie man am Beispiel des Atemreflexes unschwer nachvollziehen kann: Willentlich und dauerhaft die Atmung einzustellen ist eine der schwierigsten Übungen für den Menschen. Da kann die Entscheidung noch so ernsthaft getroffen worden sein, der lebenserhaltende und den Bestand sichernde Aspekt der Seele ist - Gott sei Dank - eine sehr schwer zu überwindende Hürde. Die Seele hat also offensichtlich einen fürsorglichen und beschützenden Aspekt, der sich teilweise ohne unser bewusstes Zutun um den Erhalt der wesentlichen Lebensabläufe kümmert. Vorausgesetzt, der Mensch hat es gelernt, auf seine inneren Stimmen zu hören und damit diese aufrechterhaltende Funktion der Seele zur Geltung kommen zu lassen.
Und doch hatte diese Art der Seelenfunktion auch einen gewissen einschränkenden Charakter. Unsere Seele würde alles dafür tun, um uns in einem sicheren und balancierten Zustand zu halten oder zu versetzen. Neues und Ungewohntes wird erst einmal kritisch beäugt und durchleuchtet. Nicht umsonst heißt es, vor nichts habe der Mensch mehr Angst als vor dem Unbekannten. Wer kennt sie nicht, die Momente, in denen man vor der Qual der Wahl steht, etwas gänzlich Neues wie beispielsweise eine andere berufliche Tätigkeit zu beginnen. Die Angst vor einem eventuellen Scheitern ist oft so groß, dass wir im Zweifelsfalle lieber in einem uns zwar unangenehmen, aber bekannten und gewohnten Zustand verharren. Die Leidensfähigkeit des Menschen scheint hierbei nahezu grenzenlos zu sein. Gerade im Berufsleben hat die Zunahme des Burnout-Syndroms beängstigende Ausmaße erreicht. Oft genug wurde dabei eine klare Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt versäumt. Manches Mal muss man im Leben eben gewisse Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen, wenn man sich entscheidend verändern will. Oder, wie es der Hirnforscher Joe Dispenza formuliert: „In all meinen Studien, Reisen und Vorträgen über Veränderung ist es meine persönliche Erfahrung, …, dass es sich nicht gut anfühlt und unbequem ist.“ Dabei ist die Erkenntnis nicht wirklich neu, dass der Mensch an der Aufgabe beziehungsweise am Widerstand wächst und nicht durch Bequemlichkeit. Selbst das Laufen haben wir durchs Stolpern gelernt. Ein Teil unseres Seelenlebens findet diese Vorstellung von möglicher Veränderung mehr oder weniger schrecklich und ist daran interessiert, uns einem möglichst geringen Risiko auszusetzen. Im Wortsinn hat dieser Aspekt unserer Seele also einen konservativen (conservare = erhalten) Charakter.
Höhere seelische Funktionen
Wenn dem so ist, dass die Körperseele tatsächlich vor allen Dingen auf die Bestandssicherung hin ausgerichtet ist, wie können wir uns dann überhaupt seelisch weiterentwickeln? Gibt es außer der erhaltenden noch weitere Funktionen der Seele?
Schon Platon unterschied, wie zuvor erwähnt, zwischen verschiedenen Funktionen der Seele: Er spricht von der Körperseele, einer Ich-Seele sowie der so genannten Vernunftseele. Letztere befähigt uns im Zusammenwirken mit dem Geist, uns über bestimmte konservative Grenzen hinwegzusetzen und dabei auch neue Territorien zu erschließen. Dies lässt sich im bildhaften Sinne am Beispiel der Entdecker und Erforscher des Mittelalters verdeutlichen: Ganze Schiffsbesatzungen nahmen wochenlange Entbehrungen auf sich, um neue Horizonte für den Menschen zu erschließen. Dass dabei die seelischen Bedürfnisse auf der körperlich-emotionalen Ebene massiv leiden mussten, steht außer Zweifel. Die auf diese Art Wohlbefinden ausgerichtete Körperseele hatte an solchen Unternehmungen vermutlich denkbar wenig Vergnügen. Da wird der Satz von „Wer neue Kontinente entdecken will, muss den Mut haben, alle Küsten aus den Augen zu verlieren“ ganz schnell zur wahren Belastungsprobe für das Sicherheitsempfinden und lässt bei unserer Körperseele die Alarmglocken hörbar schrillen.
Diese Art der Seelenqualen können wir nicht nur auf hoher See spüren und erleben, auch im Alltag kennt wohl jeder das Gefühl der inneren Zerreißprobe: Stehe ich morgens mit dem Gefühl auf, einen neuen Tag gewinnen zu können oder schleppe ich mich mühsam gegen alle inneren Widerstände zuerst ins Bad und anschließend in den Tag hinein? Gönne ich mir im Tagesgeschehen Auszeiten, um einen Teil meiner Seele - wenn auch nur für kurze Zeit - baumeln zu lassen oder spule ich eisern und von abendlichen Erschöpfungszuständen begleitet, mein Tagespensum ab? Immer wieder scheinen wir die Erfahrung zu machen, dass zwei gänzlich verschiedene und gegensätzliche Seelenkräfte in uns wirken. Goethes Faust spricht von den „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ und meint damit den Spagat zwischen der Hinwendung zu irdischen Genüssen und dem gleichzeitigen Streben nach dem Überirdischen, sprich Geistigen. Man muss an dieser Stelle gar nicht an göttlich-spirituelles Streben denken, um zu verstehen, dass wir ein Wesen sind, das aus verschiedenen Komponenten, sprich Körper, Geist und Seele, besteht. Nicht immer gelingt das Zusammenspiel zufrieden stellend. Der Geist sei willig, aber das Fleisch sei schwach, heißt es dazu an anderer Stelle. Im seelischen Zusammenhang gesprochen, würde dies bedeuten, unsere Körperseele ist willig bis zu gewissen Grenzen, aber ein anderer Teil unserer Seele sehnt sich vielleicht gerade nach Überwindung dieser als einengend empfundenen Grenzen. Mitunter ist dieser höhere Teil unserer Seele sogar recht kreativ bei der Grenzüberschreitung. Man denke in diesem Zusammenhang nur an den Rausch der Befriedigung, der sich einstellen kann, wenn man sich entweder auf der körperlichen Ebene - etwa beim Sport - oder aber der geistigen Ebene - wie bei der Erschaffung eines Kunstwerkes - verausgabt hat. C.G Jung beschreibt diese scheinbar im Menschen eingebaute Leidensbereitschaft, wenn es um einen höheren Sinn und Zweck geht, mit dem Satz: „Aus dem Leiden der Seele entspringt jegliches schöpferische Handeln des Menschen.“
Offensichtlich gibt es also noch eine andere seelische Triebkraft im Menschen, die ihn dazu befähigt, über seine gewohnten und bekannten Fähigkeiten hinauszuwachsen, ja, ihn sogar dazu veranlasst, diese Grenzüberschreitung als selbst gewähltes und erklärtes Ziel verfolgen zu wollen.
Seelische Erfüllung
Unsere Seele verhält sich normalerweise auch dann noch loyal, wenn wir bei der Verwirklichung einer Aufgabe oder einer Unternehmung körperliche, emotionale oder mentale Strapazen erleiden. Die Wichtigkeit, die wir einer Aufgabe beimessen und die Entschlossenheit, mit der wir an ihre Umsetzung herangehen, sind die ausschlaggebenden Faktoren, wenn es darum geht, ob wir von unserer Seele genügend Energie zur Verfügung gestellt bekommen. Extrembergsteiger sind immer wieder bereit, sich in Todesgefahr zu begeben, um das rauschhafte Gefühl zu erleben, dass sich bei der Eroberung eines Berges scheinbar einstellt. Manche Künstler arbeiten wie besessen an ihren Kunstwerken, manchmal tage- und nächtelang ohne nennenswerte Pausen oder Nahrungsaufnahme. Wenn das Ziel klar genug von uns formuliert ist, scheint sich unsere Seele entsprechend zu verhalten und unterstützt uns in dem, was wir verwirklichen wollen. Natürlich gibt es auch hier Grenzen der Belastbarkeit: Selbst der leidenschaftlichste Künstler oder Sportler wird irgendwann eindeutige Warnsignale von seiner Körperseele erhalten. Ob er der Aufforderung, innezuhalten und abzuwägen, Folge leistet, liegt in seinem Ermessen. Überschreitet er die Grenze zu oft und zu nachhaltig, kann auch die loyalste Körperseele den Untergang nicht verhindern.
Man muss jedoch als Normalsterblicher nicht notwendigerweise in diese Grenzbereiche (un)menschlicher Anstrengung eindringen, um in den Genuss der höheren Seelenfunktionen zu gelangen. Auch die Umsetzung recht bodenständiger Ideen und Vorstellungen erfordert immer wieder ein gewisses Maß an Leidensfähigkeit und Durchhaltewillen: Wer schon einmal ein für ihn selbst wichtiges Ziel verfolgt hat - sei es im Beruflichen oder im Privaten -, weiß um die Kraft und Energie, die ein entschlossener Wille freisetzen kann. Die Kräfte, die beispielsweise im Zustand der Verliebtheit freigesetzt werden, reichen meist aus, um Bäume auszureißen, wenn nicht gar die ganze Welt aus den Angeln zu heben. Und welche Qualen wurden für dieses hohe Gut der Liebe nicht schon ausgestanden. Die schönsten Gedichte und Lieder wurden just aus diesem Leiden heraus geschaffen. Und unsere Seele vermag mit ihrer höheren Funktion uns und unseren Gedanken und Gefühlen die dazu nötigen Flügel zu verleihen. Dieser Teil der Seele vermag uns also in einen Zustand zu versetzen, der uns scheinbar über uns selbst erhöht und gleichzeitig doch auf unser ganz persönliches und individuelles Glück und Wohlbefinden ausgerichtet ist. Die höheren Funktionen der Seele führen uns somit heraus aus den ‘Niederungen‘ unserer gewöhnlichen Erfahrungen und ermöglichen uns, über den eigenen Horizont hinauszusehen. Sie lassen uns erahnen, was es heißen könnte, ein erfülltes Leben zu führen.
Seele und Geist
Wenn man nun von ‚höheren Funktionen‘ des Seelenlebens spricht, empfiehlt es sich an dieser Stelle, eine begriffliche Unterscheidung zu machen. In all den überlieferten Mythen und Darstellungen kann es nämlich immer wieder passieren, dass es zu einer gewissen Begriffsverwirrung kommt: Um die nicht greifbaren und ungesehenen Einflüsse im und auf den Menschen zu bezeichnen, wurden im Laufe der Menschheitsgeschichte immer wieder verschiedene Begrifflichkeiten verwendet. So wird vor allen Dingen in vielen religiösen Zusammenhängen die Unterscheidung gemacht zwischen ‚Geist‘ und ‚Seele‘, wobei der Geist (im Englischen spirit) eigentlich immer den unpersönlichen, übergeordneten göttlichen Aspekt meint und die Seele als die Instanz angesehen wird, die den individuellen und persönlichen Anteil des Menschen an der Göttlichkeit bezeichnet. Diese Art Geist gilt es zudem zu unterscheiden von dem persönlichen, zum Denken befähigenden Etwas, mit dem jeder Mensch grundsätzlich ausgestattet ist, im Englischen mit ‚mind‘ bezeichnet. Damit hat man darüber hinaus zu den verschiedenen Facetten und Ebenen der Seele selbst noch einen zusätzlichen Begriff, der im wahrsten Sinne des Wortes durch die Geschichte der Menschheit ‚geistert‘. Manche Philosophen wie Platon sprechen von einer überirdischen, unpersönlichen ‚Weltseele‘, in die der Mensch von Zeit zu Zeit eintauchen kann. Andere Religionen wie der Katholizismus sehen im ‚Heiligen Geist‘ eine überirdische und außerhalb des menschlichen Einflussbereichs liegende göttliche Kraft, die das individuelle Seelenleben zwar beeinflussen kann, aber auch unabhängig von ihm existiert. Manchmal kann man es auch spüren, wie man von etwas so inspiriert wird, das die Trennung zwischen dem eigenen Ich und etwas Übergeordnetem, größerem Ganzen wie aufgehoben zu sein scheint. Meist währen diese Momente nicht allzu lange. Manchmal findet man sie in der Natur, manchmal in einem sehr bewegenden Musikstück, manchmal tauchen sie in einer intensiven zwischenmenschlichen Begegnung auf. Der Unterschied zum rein seelischen Wohlbefinden, dem Zustand, in dem man sich mit sich selbst und seiner irdischen Umgebung im Einklang fühlt, ist wahrnehmbar, aber nicht wirklich erklärbar. Über die Jahrhunderte hinweg haben die Mystiker der verschiedenen Kulturen und Religionen versucht, das Gefühl der Verbindung des eigenen seelischen Erlebens mit einer göttlichen Präsenz zu beschreiben. Dieses Gefühl jedoch in Worte zu fassen, fiel ihnen vermutlich ähnlich schwer, wie wenn ich Sie dazu auffordern würde, das Gefühl zu beschreiben, wenn Sie sich selbst in einem solchen Zustand der ‚Entrückung‘ befinden.
Der entscheidende Punkt bei all diesen Betrachtungen: Der Mensch ist ein sehr vielschichtiges Wesen, das durch die Benennung und Offenlegung dieser Schichten einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Entfaltung der ihm innewohnenden Möglichkeiten tun kann. Der Weg zur Heilung und Ganzwerdung kann nach meiner Auffassung nur über die Vertiefung, Anwendung und Umsetzung all dieser Bewusstheit erfolgen. Das Kenntlichmachen der verschiedenen Instanzen und Funktionen im Menschen kann dabei als Formsache, als Zwischenschritt verstanden werden. Am Ende ist es vielleicht sogar unbedeutend, wie ich die verschiedenen Instanzen benenne und wie fein zwischen den verschiedenen Seelen- und Geistanteilen unterschieden wird. Das Bewusstsein darüber, dass ich als Mensch mit irdischen Kräften ebenso ausgestattet bin wie mit überirdisch-kosmischen Verbindungsmöglichkeiten, das ist letzten Endes der Casus knaxus, die wesentliche Erkenntnis, die man daraus ziehen kann. Ob es die Seele ist, die uns persönlich und individuell dazu befähigt, uns der großen kosmisch-geistigen Welt näher zu bringen, oder ob es unser persönlicher Geist ist, der den Weg dahin frei macht, ist im Endresultat vielleicht nicht von entscheidender Bedeutung. Aber um den Weg selbst überhaupt erkennen zu können und die ersten Schritte auf ihm zu unternehmen, bedarf es eines wahrnehmbaren Signals vom planetarischen Teil des Menschen hin zu den überirdischen Welten.
Aus der Physik weiß man, dass der Blitz nicht wahl- und ziellos einschlägt, sondern dort, wo er zuvor ein Signal von diesem Platz der Erde erhalten hat, selbst wenn dieses Signal nur Millisekunden zuvor ausgesendet wurde. Auf die Situation des Menschen bezogen, der sich auf der Suche nach seinem Seelenheil befindet, heißt dies: Meine Seele kann den lebensspendenden Nährboden für eine Befruchtung durch höhere geistige Welten bilden und nur im Zusammenwirken dieser beiden Kräfte kann ich zu einer tatsächlichen Heilung gelangen.
Männlicher Geist und weibliche Seele?
Wenn man an diesem Punkt der Nachforschungen über das Wesen der Seele angekommen ist, stößt man auf ein entscheidendes Konzept auf dem Weg zum Seelenverständnis: Die Unterscheidung zwischen der eher weiblichen Natur des Seelischen und der eher männlichen Natur des Geistigen. Anhand einer Vielzahl von Beispielen aus der Geschichte, über die verschiedenen Kulturen und Religionen hinweg, lässt sich dieses Phänomen verfolgen: Von der bildhaften Darstellung der Psyche als Frauengestalt in der griechischen Mythologie und der vom römischen Gelehrten Augustinus getroffenen Unterscheidung zwischen dem Geist- und Vernunftprinzip Animus und der an die Körperlichkeit gebundenen Seele Anima bis zum chinesischen Yin (weiblich-seelisch) -Yang (männlich-geistig) -Prinzip reicht das Spektrum. Dabei taucht immer wieder die Vorstellung von einer weiblich-empfangenden Seele und einem männlich-erzeugenden Geist auf. Auch in der sehr plakativen Darstellung der Befruchtung der beseelten ‚Mutter Erde‘ durch die ‚gottväterlichen‘ geistigen Energien - in der Bibel beispielsweise mit dem Bild der vom Heiligen Geist befruchteten, ansonsten jungfräulichen Maria beschrieben - kann man diese Zuordnung erkennen.
Die Verwendung der Begriffe männlich und weiblich ist hierbei weniger auf das physische Geschlecht als vielmehr auf die damit verbundenen Qualitäten und Eigenschaften bezogen. Schließlich schlummert in jedem menschlichen Lebewesen - unabhängig von der eigenen geschlechtsspezifischen Ausstattung - die Fähigkeit zur Vielseitigkeit. Jeder Mensch verfügt über weibliche und männliche Anteile, wenn auch in verschiedener Dosierung. Im Hineinversetzen in das Gegenüber - auch und gerade wenn es dem anderen Geschlecht zugehörig ist - liegt nach meiner Auffassung einer der Schlüssel für die eigene seelische und spirituelle Entwicklung. Jedem Menschen wurde die Fähigkeit zur Empathie, das heißt des verstehenden Ein- und Mitfühlens, mitgegeben. Damit besteht zumindest die Möglichkeit, die Welt auch aus einer scheinbar gegensätzlichen Perspektive wahrnehmen zu können. Dies mag in manchen Einzelfällen und im Angesicht der Realität des zwischenmenschlichen Zusammenlebens nicht immer und so klar erkennbar sein, was jedoch nichts am Konzept selbst ändert.
Das Ziel ist es dabei nicht, einen künstlichen Graben zu ziehen zwischen zwei sich scheinbar gegenüberliegenden Prinzipien, sondern eine Verbindung zwischen diesen beiden Polen herzustellen. Gemäß dem schönen Sinnspruch: „Es ist eine der schönsten Künste, Brücken zu bauen, damit die Menschen trockenen Fußes zueinander finden.“ ist es unsere Aufgabe, die nötigen Schritte zu unternehmen, um in uns selbst zwischen der befruchtenden Funktion des Geistes und der empfangenden Funktion der Seele eine Brücke zu bauen. Wir selbst sind es schließlich, die zwischen unseren geistigen, seelischen und körperlichen Bedürfnissen entlang unseres Lebensflusses hin- und herschwanken. Oft genug holen wir uns dabei nicht nur nasse Füße, sondern verlieren manches Mal den Boden unter denselbigen. Daher sind diese Brücken sowohl zwischen unseren weiblichen und männlichen, seelischen und geistigen, empfangenden und abgebenden Anteilen von so großer Wichtigkeit. Wenn uns dies nämlich innerhalb unseres eigenen Kosmos gelingt, haben wir gute Chancen, auch in zwischenmenschlicher und spiritueller Hinsicht in die Nähe und die Verbindung mit anderen kosmischen Energien zu gelangen.
Dieses Prinzip der scheinbaren Gegensätzlichkeit zwischen dem ewig Männlichen und dem ewig Weiblichen hat also eine wesentliche Bedeutung für ein vertieftes Seelenverständnis und wird daher im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen.