Читать книгу Kampf um Katinka - Thomas Pfanner - Страница 3

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Das All war leer und wüst. Die verschiedenen Bildschirme zeigten allesamt ein grausiges Nichts an, das den Betrachter unwiderstehlich anzusaugen schien. Begünstigt durch die dreidimensionale Darstellung gewann Tadeusz Duda regelmäßig den Eindruck, mitten in der Zentrale mit gleich drei schwarzen Löchern konfrontiert zu sein. Der Zweite Offizier wusste um die Gefahren des Alls und die überaus plastische Darstellung dessen, was da draußen existierte. Oder eben nicht existierte. Die Holos galten bei ihrer Einführung vor vierzig Jahren als Sensation, weil sie das All rings um ein Raumschiff absolut lebensecht darzustellen vermochten. Besonders in Kampfsituationen ergab sich hieraus ein nicht zu unterschätzender Vorteil, weil man Bewegungen feindlicher Schiffe mithilfe der Echtdarstellung mehr fühlen als sehen konnte, was der Intuition der Menschen eine größere Chance gegenüber jedem noch so schnellen Waffenrechner gab. Die Reaktionszeiten sanken mithilfe der neuartigen Bildschirme auf ein Niveau, das mit den Möglichkeiten des Schiffes endlich auf einer Höhe lag. In kurzer Zeit wurden alle Schiffe mit den neuen Systemen bestückt und alle Besatzungen freuten sich, endlich ein Mittel in die Hand zu bekommen, mit dem bei Gefechten der schiere Zufall praktisch ausgeschlossen wurde. Von nun an gaben Ausbildung und Qualität der Mannschaften den Ausschlag, nicht zu vergessen das taktische Können der Offiziere. Dennoch, einen Nachteil besaß die neue Technik, den die Wissenschaftler bis zum heutigen Tage nicht ausmerzen konnten. Die Bildschirme waren und blieben für das Personal enorm anstrengend, es bedurfte langer und intensiver Ausbildung, bis die jeweiligen Besatzungsmitglieder in der Lage waren, für einen längeren Zeitraum in die Holos zu blicken, ohne unter Schwindelattacken umzufallen und ohne die zeitliche Orientierung zu verlieren. Die größte aller Gefahren bestand im so genannten Aufsaugeffekt. Der arglose Betrachter blickte in den Bildschirm … und wechselte die Zeitebene. Während rings um ihn herum die Zeit nach normalem Bordstandard weitertickte, tauchte der Betrachter seine Sinne in den Bildschirm ein und blieb darin kleben wie eine Fliege in Bernstein.

Die Wissenschaftler waren während der Erprobung öfters in lebensbedrohliche Situationen geraten, wenn sie unbeaufsichtigt Versuche durchführten. Der Bildschirm lief, ein Wissenschaftler tat irgendetwas anderes und blickte beiläufig in das Holo: Am nächsten Morgen fanden ihn die Kollegen bei Dienstantritt immer noch da stehen und in den Bildschirm starren. Für den armen Mann waren gerade zwei Sekunden vergangen, für die übrige Welt beinahe zehn Stunden. Nach Abschaltung der Apparatur war der Wissenschaftler zusammengebrochen, in seinen nun aufgedunsenen Beinen hatte sich Blut und Gewebswasser wie bei einem schwer Herzkranken gesammelt, er hatte nicht getrunken, nicht gegessen und nicht gepinkelt. All das musste auf der Stelle nachgeholt werden, zuerst wurde allerdings die gnadenvolle Bewusstlosigkeit nachgeholt. Der Effekt, einmal erkannt, verführte die Entwickler natürlich zu weiteren Experimenten. Kein Wissenschaftler von Rang hatte sich jemals von unbekannten Gefahren abschrecken lassen, besonders, wenn man die damit verbundenen Risiken dem unterstellten Personal aufhalsen konnte. Man stellte im Laufe der Versuche fest, dass der Effekt potenziell unendlich war. Und er wirkte auch auf alle anderen Lebewesen. Hasen und Katzen starrten in das Holo, bis sie verdursteten. Bei den Menschenversuchen berichteten die Delinquenten, dass für sie sehr wohl die Zeit verging, sie spürten keine Verlangsamung.

Mit der Entdeckung der zähflüssigen Betrachtungsweise stand das gesamte Projekt auf der Kippe. Da gab es nun diese schöne, neue Technik, und ihre Nutzung war brandgefährlich. Selbstverständlich wurden die Versuche intensiver und breiter angelegt, um einen Weg zu finden, die Holos doch noch nutzbar zu machen. Letzten Endes führte der Weg zum Erfolg allein über ein mühseliges mentales Training. Jeder Betrachter eines Holo musste lernen, zweigleisig zu denken. Auf dem zweiten Gleis konzentrierte er sich auf den Zeitablauf und zählte quasi mit. Unterstützt wurde er darin von seiner Ausrüstung. Brücken- und Waffenpersonal trugen in den ersten Jahren eine spezielle Brille, die ihnen die Echtzeit einspiegelte, und zwar in der altmodischen Zeigerform. Bewegten sich die Zeiger sehr schnell, blieb dies das einzige Zeichen für eine Verschiebung des Zeitempfindens in Richtung Zähflüssigkeit. Heutzutage implantierte man den Crews einen kleinen Chip, der sowohl die Zeit einspiegelte als auch im Falle eines Falles als sensorische Warnung ein Prickeln unter der Kopfhaut bewirkte. Normalerweise genügte das Training jedoch, um den Überblick zu behalten und in Echtzeit zu handeln. Gebraucht wurde die Warnung lediglich in komplizierten Situationen, im Gefecht etwa, wenn zusätzlich noch alles Mögliche schief ging, dann aber umso verzweifelter.

All das ging dem Zweiten Offizier durch den Kopf, während er in das Kommando-Holo blickte. Das völlige Nichts, das so nur während eines Fluges durch die Raumkrümmung dargestellt wurde, wirkte eher abschreckend und somit der zähflüssigen Betrachtungsweise entgegen. Andererseits vermochte der Anblick Depressionen auszulösen ob der Winzigkeit und Unwichtigkeit menschlichen Handelns angesichts des unendlichen Nichts.

Duda atmete durch und erinnerte sich, dass die Wissenschaftler bis heute ohne Erfolg nach dem Grund für die erstaunlichen Effekte suchten, die ein profanes technisches Gerät beim Menschen auszulösen imstande war. Ein schwacher Gong ertönte, die Pflicht erfüllte ihn mit neuem Antrieb.

»Hyperspleiß löst sich in dreißig Sekunden.«

Die Pilotin sah von ihren Kontrollen nicht auf. Nazifa musste so oft in ein Holo schauen, dass sie die Phasen, in denen sie es vermeiden konnte, nach Kräften in die Länge zog. Duda rückte sich im Sessel des Kommandanten gerade und löste die Gurte aus. Mit einem Schnalzen fuhren die Bänder aus und legten sich zielsicher um seinen Körper. Die Kopfstütze passte sich ihm an, die Fußrasten umklammerten mit leisem Knacken seine Unterschenkel.

»Beschleunigungsalarm«, sagte er ruhig. Um ihn herum ertönten von anderen Stühlen ähnliche Geräusche. Das blecherne Rattern des Alarms quoll aus allen Lautsprechern, um auch die Schlafenden der Tagschicht zu alarmieren. Die Cheftechnikerin gab Bescheid, ohne von ihren Kontrollen aufzusehen:

»Überraumendoskop meldet freies Feld. Plasmakupplung bereit. Hypertauscher online.«

Duda nickte beiläufig und ruckelte seinen etwas untersetzten Körper einige Millimeter zurecht, um sein Gewicht gleichmäßiger auf beiden Gesäßhälften zu verteilen. Die Gurte quittierten die Bewegung mit einem kleinen Ruck, der die Verbindung zwischen ihnen und dem Objekt ihres Bemühens um einen Zacken fester werden ließ.

»Hyperspleiß geht in zehn Sekunden offline.«

Der Bordrechner begann, mit seiner typischen quakenden Stimme zu zählen. Der Boden vibrierte ganz sachte, als die Fusionsmaschine auf Volllast ging. Das Ende eines Fluges in der Raumkrümmung verdiente das gesamte Augenmerk von Besatzung und Maschinerie. Der Zweite Offizier verzog mürrisch den Mund bei dem Gedanken, in welch ungeheurem Ausmaß seines und das Leben der Besatzung von Technik abhing, die nicht bis ins Letzte verstanden war, und von Methoden und Handlungsabläufen, die nie frei von Überraschungen und Unwägbarkeiten bleiben würden. Wenn zum Beispiel jetzt gleich der Hyperspleiß seine Energie verbraucht haben würde und das Schiff wieder in den Einstein-Raum spuckte, konnte alles Mögliche passieren. Manchmal ging es sogar glatt und gar nichts passierte. Meist bewirkte das Ausspucken jedoch einen knackigen Gravitationsschub, den der Negator nicht vollständig ausgleichen konnte, weil die Schwankung schlicht zu schnell kam. Nein, Duda korrigierte sich sogleich, der Schub kam nicht zu schnell, er kam sofort, aber nie zur gleichen Zeit. Das Ausspucken dauerte etwa null Komma vier Sekunden, innerhalb dieser Zeitspanne und noch drei bis vier Sekunden danach konnte innerhalb einer tausendstel Sekunde eine Gravitationswelle durch das Schiff orgeln. Immerhin war es bisher noch nie vorgekommen, dass dieser Gravitationseinschlag die Belastbarkeit trainierter Menschen überstieg. Warum das so war? Wieder etwas, auf das die ansonsten überschlauen Wissenschaftler des Reiches keine Antwort geben konnten. Der Countdown endete, das Nichts im Holo wechselte abrupt zu schlichtem Schwarz. Duda nahm die Änderung wahr, in seinem Empfinden verging eine Sekunde, dann knirschte es bedenklich. Erst als das Knirschen längst wieder aufgehört hatte, bemerkte er den Grund hierfür; seine Gurte und sogar seine Rippen hatten das Geräusch verursacht. Ein Blick auf das Display auf der rechten Armlehne belehrte ihn über den Andruckwert. Leise pfiff er durch die Zähne. Neun g, der Höchstwert in diesem Monat.

»Beschleunigungsalarm beibehalten. Fertig für Manöver. Nazifa … übernehmen.«

Die kleine, zierliche Pilotin lächelte ihr Holo an und hantierte an den Sticks. Mit einer fast fröhlich klingenden Stimme gab sie bekannt, was sie gerade tat.

»Plasmakupplung umgeschaltet. Gravitationsnegator zeigt grün. Manövrierdüsen ausgefahren. Schwenke auf neuen Vektor ... jetzt.«

Das Schiff bewegte sich bei ausgeschaltetem Hauptantrieb mit etwa der gleichen Geschwindigkeit durchs All, mit der es zuvor in die Raumkrümmung gegangen war. Der Unterschied zwischen vorher und nachher bestand in kaum achtzig Metern pro Sekunde, eben jener Unterschied, der durch den gerade erfolgten Beschleunigungsstoß bewirkt worden war. Niemand wusste um die Gründe, wie man überhaupt wenig über die Gesetzmäßigkeiten der List wusste, die man Raumkrümmung nannte und die eine Art überlichtschnelle Fortbewegung ermöglichte, eine mit Haken und Ösen, aber immerhin in gewissen Grenzen berechenbar. Da der Hyperspleiß nur dann den Weg zwischen zwei Orten über große Distanz zu einer sehr viel kleineren Distanz krümmen konnte, wenn sich sowohl an beiden Orten als auch auf der kompletten Strecke dazwischen absolut nichts befand, waren Raumschiffe gezwungen, ihre Flüge in mitunter zahlreiche Einzelschritte aufzuteilen. Wie beim Halma mussten immer wieder Richtungsänderungen im Normalraum vorgenommen werden, jedoch nicht, um Hindernisse zu überspringen, sondern um sie im Gegenteil zu umgehen. Erleichternd kam hinzu, dass der Bewegungsvektor im Normalraum keine Rolle spielte. Das Schiff musste lediglich akkurat in die neue Richtung gedreht werden, um die Nase und damit die Ausrichtung des Hyperspleiß auf das neue Etappenziel zu richten, dann wurde das Ziel auch mit absoluter Sicherheit erreicht.

Sollte das Schiff dabei gleichzeitig querab treiben, so wirkte sich das in keiner Weise aus. Ein Vorhalteeffekt wie etwa bei der Beschießung eines Planeten aus einem vorbei fliegenden Raumschiff fand schlicht und einfach nicht statt. Aus diesem Grund brauchte die Pilotin nichts weiter zu tun, als den Rumpf mit den Steuerdüsen neu auszurichten. Das Haupttriebwerk blieb kalt, was auch gar nicht hinderlich war, benötigte man doch für die Krümmung des Raumes beinahe alle Energie, die sich auftreiben ließ.

»Schiff dreht auf neuen Vektor alpha-zwo-zwo-unten. Hyperspleiß wird geladen mit dreiunddreißig Giga. Ladevorgang abgeschlossen in dreizehn Minuten, ab … jetzt.«

Duda nickte beifällig und ließ seinen Blick über die Brücke wandern. Alles funktionierte perfekt, wie er es gewohnt war. Sie wären selbst dann das beste Schiff der Flotte gewesen, wenn der Fehlerquotient bei fünf Prozent gelegen hätte. Aber niemand an Bord begnügte sich damit, unter den Blinden der Einäugige zu sein. Um ihrer eigenen Sicherheit willen und wegen ihres ungebrochenen Stolzes strebten sie nach Perfektion. Laut Qualitätsprotokoll lagen sie zurzeit bei gerade Mal einer Fehlbedienung pro Jahr, aber sie arbeiteten daran.

Dudas Blick blieb am Ortungspult hängen. Er kannte seine Leute und er konnte ihnen ansehen, wenn etwas Ungewöhnliches geschah. Die in dieser Schicht für Ortung und Kommunikation diensthabende Nagama Tai geriet plötzlich in Bewegung. Die große und dabei unglaubliche dünne junge Frau legte den Kopf schief, während ihre endlos langen Finger in rasender Hast über die Kontrollen flogen. Duda wartete den Moment ab, bis die große Frau bereit war, sich zu ihm zu wenden. Aus ihren Mandelaugen schaute die Verwirrung, als sie leise Meldung machte:

»Ich empfange einen Notruf. Genau genommen ist es der Notruf der kaiserlichen Kurierjacht Saskia. Er lautet >Angehörige der kaiserlichen Familie unter Beschuss<. Das ist alles. Der Satz wird fortlaufend wiederholt. Nein, jetzt bricht das Signal gerade ab.«

Duda runzelte die Stirn: »Kenn’ ich nicht.«

Nazifa stand auf und ging zur Ortungszentrale, um Nagama zu unterstützen. Während sie dort zur Tat schritt, besprach diese den Fall weiter mit dem Zweiten Offizier.

»Ich auch nicht. Und die Datenbank ebenfalls nicht. Es gibt überhaupt keine Kaiserliche Jacht „Saskia“, hat es auch nie gegeben. Eine verschollene Einheit kann es demzufolge nicht sein, abgesehen davon, dass auch von der Kaiserlichen Familie niemand verschollen ist. Im ersten Augenblick hätte ich an einen Scherz gedacht, jedoch existiert sehr wohl eine Jacht mit diesem Namen, nur eben keine kaiserliche.«

Nagama zuckte mit den Achseln und schaute ihren Vorgesetzten Rat suchend an. Tadeusz Duda kratzte sich den kahlen Schädel und überlegte kurz. Seit Jahren hatte sich niemand mehr einen Scherz mit den Notfunkfrequenzen erlaubt, seitdem der letzte Spaßvogel von einem Schlachtkreuzer der Ordunesen vernichtet worden war. Allein schon deswegen gab es ganz sicher einen realen Hintergrund für den Notruf. Leider konnte er sich keinen Reim darauf zu machen.

»Quelle des Notrufs erfasst. Wir könnten in vierzig Minuten dort sein. Ist nicht weit weg, noch in diesem Quadranten. Keine scharfen Emissionen, aber irgendetwas ist dort und erzeugt Energie. Meldung vom Teleskop kommt gleich rein.«

Nazifas Meldung brachte etwas Sicherheit in Dudas Gedankenspiele. Was oder wer auch immer den Notruf abgesetzt hatte, trotz der durch die Grenzen der Lichtgeschwindigkeit mittlerweile verstrichenen Zeit seit Absetzen des Notrufes befand sich das Objekt noch an Ort und Stelle. Hieraus ergaben sich verschiedene Handlungsoptionen, deren Prüfung er gerne jemand anderem überlassen wollte.

»Nagama, ruf den Skipper auf die Brücke.«

*

Das Büro des Großadmirals bot mit Sicherheit den schönsten Ausblick über das Rotsteingebirge. Wie der Name schon sagte, erhob sich ein buntes, aber stets ins Rote spielendes Sammelsurium gewaltiger, nackter Felsen bis auf über dreitausend Meter Höhe. Kleine Krönchen aus Schnee und Eis ließen sich ausmachen, die in der rötlichen Umgebung ebenfalls in dieser Farbe zu schimmern schienen. Im Grunde handelte es sich gar nicht um ein Gebirge, sondern um gigantische Findlinge, die zudem noch mindestens tausend Meter in den Erdboden hinein ragten, was der Stabilität sicherlich keinen Abbruch tat. Die kleine und im übrigen vom Kaiserlichen Sicherheits-Dienst streng verfolgte Gruppe der so genannten aufgeklärten Heiden verbreitete die Legende, der urzeitliche Besuch eines Riesenraumschiffes sei hierfür verantwortlich. Ein intergalaktischer Frachter mit den Ausmaßen eines Planetoiden hätte, bedingt durch einen Notfall, die sieben titanischen Blöcke fallen gelassen. Das Problem mit derartigen Theorien war immer, dass sie in sich schlüssig und nur schwer zu widerlegen waren, selbst wenn nichts daran sich eines Tages als wahr erweisen würde. Die chemische Zusammensetzung der roten Gesteinsmasse fand sich leider an keiner anderen Stelle von Horave wieder, außerdem blieb die Wissenschaft eine schlüssige Theorie für die natürliche Entstehung des Gebirges bis zum heutigen Tage schuldig. Unglücklicherweise passten die äußeren Zeichen unfassbar gut zur Theorie der Heiden. Die Eindringtiefe der Felsen in die Erdkruste entsprach genau einem Abwurf aus einhundertsiebzehn Kilometer Höhe, wobei dann noch zu klären wäre, warum um alles in der Welt ein Riesenraumschiff so nah an einen Planeten herangeht, nur um ohne jeden Sinn ein paar gigantische Felsbrocken abzuwerfen. Man hätte auch jede andere Höhe wählen können, vorzugsweise eine mit größerem Abstand zum Planeten, zum Beispiel, weil ein Riesenraumschiff ein so unfassbares Gewicht aufweist, dass es aufgrund der Anziehungskräfte ganz unzweifelhaft die Energie zweier Sonnen benötigt hätte, um sich wieder entfernen zu können.

Der Großadmiral schüttelte die morbiden Gedanken von sich. Sein Büro maß an die zweihundert Quadratmeter, die Deckenhöhe betrug sechs Meter, befand sich in einem Erker an der Nord-West-Ecke im einhundertsten und damit höchsten Stockwerk des Flottenturms und war von drei Seiten vollständig verglast. Der Blick nach draußen zeichnete sich durch eine Klarheit und Plastizität aus, die einem Holo unangenehm nahe kam. Die Nebenwirkungen ließen sich in gleicher Weise verspüren, sodass sich der Großadmiral zum wiederholten Male fragte, welcher Teufel wohl den Architekten geritten hatte, als er ein solches Büro schuf, für Leute, die darauf trainiert waren, die meiste Zeit ihres Lebens nur bis zur nächsten Schiffswand zu blicken. Aber selbstverständlich wusste er um die wahren Gründe. Auf Horave umgaben sich die Behörden seit Anbeginn der Zeiten mit dem Odium der Unnahbarkeit und des Geheimen. Deshalb wurden Verwaltungsgebäude traditionell ohne Außenfenster gebaut. Niemand, keine Niederer, kein Bittsteller, noch nicht einmal ein Beamter aus einer anderen Behörde, sollte ungehindert in der Lage sein, einem Kaiserlichen Beamten über die Schulter zu schauen. Große Fenster waren ganz allgemein unüblich, der bevorzugte Baustil näherte sich seit Jahrhunderten immer mehr der Bunkerform an, bei beinahe ständig bestehendem Kriegszustand kein Wunder. Eine derartig offenherzige Fensterfront wirkte auf gewöhnliche Horaver ganz und gar schockierend und obszön. Die Admiralität hatte damals dieses Büro, und noch einige wenige andere, aus nur einem Grund mit dieser gewaltigen Fensterfront ausgestattet, nämlich um offen zu zeigen: Seht her, wir haben die Macht dazu! Nur, seit mehr als fünfzig Jahren war das Betreten dieses Raumes für Krethi und Plethi bei Todesstrafe untersagt. Mithin war die Fensterfront in ihrer Funktion als Furcht einflößende Machtdemonstration für Bittsteller niederer Herkunft überflüssig geworden. Die ständig schärfer werdenden Sicherheitsmaßnahmen des KSD verhinderten mittlerweile jeglichen Kontakt zwischen Offizieren und Gemeinen, sofern sie nicht einem Offizier gehörten.

Ein leiser melodischer Gong hallte durch das Büro, gefolgt von der respektvollen körperlosen Stimme des Büroleiters: »Ihro Gnaden, Eure hochwohlgeborenen Gäste sind soeben eingetroffen.«

Der Großadmiral seufzte unhörbar und wandte sich vom Fenster ab.

»Ich lasse bitten. Tee für alle.«

»Sehr wohl, Ihro Gnaden.«

Ein leises Knacken ertönte, nicht aus technischen Gründen, sondern um aus Gründen der Etikette deutlich anzuzeigen, dass der Büroleiter nicht mehr mithörte. Es gab zu diesem riesenhaften Büro nur zwei Zugänge, beide dicht nebeneinander. Dies war nichts Ungewöhnliches, alle offiziellen Räume und alle Privaträume der Edlen des Landes verfügten über zwei Türen. Meist, wie in diesem Falle, führten beide Türen in dasselbe Zimmer. Just in diesem Augenblick wurde die rechte Tür von unbekannter Hand aufgerissen und seine beiden Gäste traten gemessenen Schrittes ein. Sie benötigten einige Zeit, um den Raum mit hallenden Schritten zu durchqueren. Der Großadmiral nutze dies, um seinen auch nicht eben kleinen Schreibtisch zu umrunden und den kurzen Weg zu einem zierlichen, runden Teetisch zurückzulegen, wo er seinen Gästen mit freundlichem Lächeln die Hand reichen und einen Sitzplatz anbieten konnte. Nachdem er sich selbst zu ihnen gesetzt hatte, schloss sich die rechte Tür, die linke Tür öffnete sich im gleichen Moment und drei hagere Männer in der Uniform der Prätorianer traten im Gleichschritt hindurch. Während die Prätorianer herankamen und ein jeder einen Edlen mit Tee, Gebäck und weiteren Utensilien bedachte, musterte der Großadmiral seine Gäste.

Nicht, dass an ihnen etwas unbekannt gewesen wäre. Die beiden trafen sich jeden ersten Tag der Woche bei ihm zu etwas, was sie taktische Abstimmung nannten.

Der eine, Reichsprotektor Stephan Kardinal Attacant, sah genau so aus, wie sich das gemeine Volk seit Äonen einen Würdenträger der Erleuchteten Kirche vorstellte. Während der Großadmiral im Grund über einen schlanken Körperbau verfügte, der lediglich durch einen recht großen Bauch, der wie ein auf den Rumpf draufgeschraubter halber Prellball wirkte, verunstaltet wurde, war der Kardinal an jeder einzelnen Körperstelle fett. Bei einer Körpergröße von fast einsneunzig besaß der Mann einen Körperbau, der in frappierender Weise an ein Steckmännchen erinnerte: Eine Bauernnuss als Kopf, eine um etliches größere Gantanuss als Körper, zwei Sapara-Stangen als Beine. Und zwischen den Stangen nichts weiter, fügte der Großadmiral boshaft hinzu. Ein Kirchenfürst hielt sich üblicherweise einen ganzen Stall von Soziolatricen, um mittels der richtigen Mischung aus Erholung und Anstrengung den Körper in geeigneter Weise zu formen, da galt es als wahrhaft leuchtendes Zeichen, wenn sich ein derart Privilegierter lieber den kulinarischen Genüssen zuwandte. Immerhin sollte man dem Kardinal zugutehalten, seiner alternativen Methode der Vergnügung mit absolut vergleichbarer Hingabe nachzugehen. Der Reichsprotektor verkörperte die zivile Regierung des Reiches, das Sprachrohr der Kaiserin. Er verkündete die neuen Gesetze, die Anweisungen der Kaiserin an die Behörden, und, nicht zuletzt, die Kriegserklärungen, vorzugsweise kurz nach dem ersten Schuss. Die Regierung bestand im Wesentlichen aus einer, eben seiner Person, alle anderen Mitglieder der Regierung waren nichts anderes als Untergebene. Technisch gesehen traf dies auch auf den zweiten Besucher zu.

Der Sicherheitsdirektor Vladimir Baron Taragona fungierte als Chef des KSD, des Kaiserlichen Sicherheits-Dienstes, eine Spitzel-Krake, die sich beinahe ausschließlich auf die Kontrolle und Ausforschung der eigenen Leute beschränkte. Seit Jahrhunderten hielt der KSD den Pöbel in eiserner Umklammerung, um jede defätistische Regung bereits während der Entstehungsphase zu unterdrücken, aber erst der Baron hatte eine Kunst daraus gemacht. Indem er seinen Dienst in mehrere völlig unabhängige Abteilungen aufspaltete, wurde er in die Lage versetzt, seinen Untergebenen dabei zuzusehen, wie sie sich gegenseitig ausspionierten. Womit nun auch innerhalb des Sicherheitsdienstes für Ruhe gesorgt war. Der Baron war für sein eisernes Regime bekannt, Mitgefühl oder Skrupel konnte man ihm beim besten Willen nicht unterstellen. Glücklicherweise sah man ihm seine Eiseskälte zu jedem Zeitpunkt von Ferne an. Böse Zungen behaupteten, der Gesichtsausdruck des Sicherheitsdirektors gleiche aufs Haar den bedauernswerten Noca-Süchtigen, bei denen die Droge zu Darmlähmungen führte und die armen Menschen in der Folge einen verkniffenen Gesichtsausdruck an den Tag legten, der überdeutlich anzeigte, wie sehr sie darunter litten, seit einer Woche oder länger nicht mehr Stuhlgang gehabt zu haben. Zwar waren die Besitzer der bösen Zungen gefunden und liquidiert worden, dennoch hatte sich das einmal in die Welt gebrachte Gerücht wie ein Lauffeuer verbreitet. Zu den verkniffenen Zügen gesellte sich beim KSD-Chef ein tödlich kalter Blick, absolut mitleidlos und hart, sodass sein Gesicht als eine seiner besten Waffen galt. Manch ein armer Wurm hatte beim bloßen Anblick dieses Gesichtes Schandtaten gestanden, die er nie begangen haben konnte.

Zwar war Taragona nominell dem Kardinal unterstellt, im real existierenden Alltag operierte er jedoch völlig unabhängig. Niemand, selbst der frei von jeglicher moralischer Last handelnde Kardinal, wollte über die Arbeit des KSD genau informiert sein, noch sich mit dem alltäglichen Kleinkram der immer gleich ablaufenden Folterungen und Hinrichtungen befassen. Soweit die vordergründigen Erklärungen. Hinter vorgehaltener Hand wurde da noch ein weiterer Grund kolportiert: Angst. Selbst auf die meisten Edlen wirkte der Sicherheitsdirektor nicht wirklich menschlich. Wichtige Wesenzüge eines Menschen schienen ihm komplett abhandengekommen zu sein. Die vollständige Gefühlskälte, die technokratisch angehauchte Grausamkeit, der absolute Mangel an Gewissen und Skrupel, das störte niemanden, derlei passte in die Zeit. Bei Taragona jedoch ging es noch weiter, wesentlich weiter. Er war ein absoluter Soziopath, er hatte keine Freunde, er vermied es geradezu, auch nur ein einziges privates Wort mit wem auch immer zu wechseln. Er war nie freundlich, er lächelte nie, er sagte nie etwas, was nicht mit seiner Tätigkeit zu tun hatte und somit unumgänglich war, gesagt zu werden. Zur nicht geringen Erleichterung des Großadmirals besaß der kleine, drahtige Sicherheitsdirektor weder die Weihen eines Priesters noch die Qualifikation zum Schiffsführer, weshalb er die höchste für ihn erreichbare Stufe der Hierarchie bereits erklommen hatte. Zum Glück schien er in seiner Aufgabe aufzugehen, zumindest gab es keinerlei Hinweise auf weiterführende Ambitionen.

Die Prätorianer beendeten ihre Arbeit und zogen sich lautlos zurück. Der Kardinal sah sich nicht um, er schien das nicht hörbare Zuschlagen der Tür zu hören, denn er begann im gleichen Augenblick zu sprechen: »Großadmiral Minutaglio, die heutige Sitzung entbehrt nicht einer gewissen Wichtigkeit. Wir sind gehalten, einige Entscheidungen zu treffen, deren Tragweite die sonst notwendigen Schritte doch um einiges zu übersteigen verspricht.«

Herzog Anastasius von Minutaglio, seit acht Jahren Großadmiral der Kaiserlichen Flotte, seufzte unhörbar. Der Kardinal empfand ganz sicher hohe Freude, wenn er sich so gedrechselt ausdrückte, seine Zuhörer dagegen eher nicht. Attacant sprach mit Bedacht auf diese Weise, um sich selbst und seiner Zuhörerschaft ständig die hohe Herkunft deutlich zu machen. Dies, so wusste Minutaglio, zu einem nicht geringen Teil wegen der ganz und gar nicht bombenfesten Sicherheit eben dieser Herkunft. Sicher, der Erzherzog hatte ihn als seinen legitimen Sohn anerkannt, dennoch oder gerade deswegen blieb die Frage stets ungeklärt, weshalb er so frappant der Nichte seiner vorgeblichen Mutter glich, einer Nichte, die in Ungnade fiel, und nach Katinka verbannt worden war. Zumindest glich er dieser Nichte, bevor er vor zehn Jahren beschloss, von nun an nur noch dicker zu werden.

Der Großadmiral wälzte jedoch ganz andere Gedanken, denn er kannte bereits das Anliegen des Reichsprotektors.

»Mir ist Euer Wunsch vor einigen Tagen hinterbracht worden, Reichsprotektor.«

Er sagte das mit einer winzigen Spur Ironie, wusste er doch um die Empfindsamkeit seines Gastes, wenn es um seine geheimen Vorhaben ging. Attacant hasste es, wenn er durch Verrat das Moment der Überraschung verlor. So gesehen galten ihm auch die Angehörigen des eigenen Führungszirkels als Feinde. Dem Großadmiral war völlig klar, dass seine kleine Spitze noch heute Abend eine umfassende Suche nach der undichten Stelle auslösen würde. Eine Hinrichtung mehr oder weniger würde nichts ausmachen, wenn Minutaglio dafür ein Ärgernis gelang und gleichzeitig seine tatsächliche Quelle sicher war. Doch ging es um wesentlich mehr, daher fuhr er rasch fort:

»Ebenso wisst Ihr seit geraumer Zeit von meinen Bedenken. Wir führen seit dreißig Jahren mit unbedeutenden Unterbrechungen Krieg gegen die Hurshen-Union. Wir haben endlich einen bedeutenden Sieg errungen und ihnen drei Systeme abgenommen. Gleichwohl ist die Gefahr weiterhin latent und, wenn ich das in aller Deutlichkeit sagen darf, die anderen Feinde sind noch immer da draußen. An erster Stelle wäre Ordune zu nennen, dessen Stärke wir nicht abschätzen können. Ich sehe mithin keinen Grund, unsere Kampfflotte zu schwächen.«

Attacant schnaubte verächtlich. Er kannte die strategischen Rahmenbedingungen durchaus, die Politik ging ihm jedoch über alles. Wenn die Realität nicht passte, wurde sie eben durch politisches Handeln passend gemacht.

»In Jahrhunderten bestand keinerlei Grund, sich der Hilfe, der tätigen Hilfe, einer Kolonie zu versichern, bis auf diese kleine Episode von sechs Jahren, und in Zukunft wird es wieder keinen Grund geben. Wir besitzen unsere Kolonien, um uns von ihnen zu nähren. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, wir könnten uns womöglich ohne sie nicht behaupten. Daher ist es unumgänglich, die Realitäten unserer Auffassung anzupassen.«

Minutaglio seufzte leise in seine Teetasse. Womöglich war er doch ein wenig anders als die anderen Edlen.

»Ich wäre sicherlich Eurer Meinung gewesen, vor sieben Jahren. Fakt ist aber, ob uns das gefällt oder nicht, dass die Kolonien einen, wenn nicht den entscheidenden Faktor bei der Bezwingung unseres Feindes darstellten. Ohne die Schiffe der Kolonien wären wir überrannt worden, ganz ohne jeden Zweifel. Von daher halte ich es für mindestens fahrlässig, in Zukunft auf deren Anteil an der Flotte zu verzichten.«

Die Hände des Kardinals krampften sich um die Teetasse, dass die Knöchel weiß aufblitzten. Widerworte waren etwas, womit er ganz und gar nicht zurechtkam. Im Allgemeinen traf er innerhalb dieses Gremiums auch nicht auf abweichende Worte. In diesem speziellen Fall hätte er jedoch damit rechnen müssen. Aus Ärger über sich und über seinen Kontrahenten noch viel mehr wählte er eine höchst bürgerliche Anrede.

»Mir ist bewusst, Herr Großadmiral, dass wir hier über Ihr Steckenpferd sprechen. Sicherlich haben die Schiffe der Gemeinen ihren Beitrag geleistet, in dem sie die Reihen wieder auffüllten, als der Todfeind vor unserer Tür stand. Dennoch, die Zeit der Schwäche ist vorbei. Unsere Zukunft ist gesichert, die Hurshen-Union wird nie wieder das Haupt erheben. Also sollten die Gemeinen auch wieder zurückkehren zu ihren originären Aufgaben. Damit wäre dann alles in guter Ordnung.«

Minutaglio ignorierte die Beleidigung mit leichtem Lächeln, nahm sich die Zeit, einige tiefe Schlucke zu sich zu nehmen, in der das Schweigen auf den Kardinal zurückfiel.

»Ihr habt sicher recht, was die gute Ordnung anbetrifft. Zu unser aller Leidwesen teilen unsere Feinde die von Euch gepflegte Definition jedoch in keiner Weise. Für die Hurshen-Union, Ordune und die anderen Reiche und Domänen würde es der guten Ordnung eher entsprechen, gelänge die völlige Vernichtung von Horave. Insofern bitte ich zu überdenken, in welcher Weise die Sicherheit des Reiches am besten gewährleistet werden könnte. Bei allem schuldigen Respekt vor dem Amt und Eurer Person, ich denke, wir benötigen die Kolonisten, damit bei der Verteidigung des Reiches die Gemeinen sterben und nicht die Edlen. Unsere Taktik, die Gemeinen in die Hochrisiko-Einsätze zu schicken, sie allgemein bevorzugt an vorderster Front einzusetzen, schützt und bewahrt das Leben der Adligen und aller wichtigen Persönlichkeiten. Es kann doch nicht angehen, dass die Grafen wieder den großen Gefahren spekulativer Einsätze ausgesetzt sind. Man hatte sich gerade daran gewöhnt, die lästigen Aspekte des Krieges den Gemeinen zu überlassen.«

Der Großadmiral konnte nicht vermeiden, seine Antwort in versteckter, aber doch deutlich spürbarer Weise stichelnd vorzubringen. Als Flottenchef war er darauf trainiert, die Dinge in sachlicher Weise zu betrachten. Er allein zeichnete für die letzten großen Siege verantwortlich, was er ganz überwiegend seinem Talent zur objektiven Analyse zuschrieb. Die anderen Herzöge, Barone, Grafen und Edelleute betrachteten die Welt aus einer Sicht, die man nur als extrem einseitig bezeichnen konnte. Alles gut und schön. Im Angesicht tödlicher Gefahr sollte man aber doch die Fähigkeit zum Umdenken erwarten können. Leider war dem nicht so. Die Rettung des Reiches war allein dem Umstand zu verdanken, dass die Kaiserin in der Not den unpopulären und mutigen Schritt unternahm, einen Außenseiter wie ihn zum Chef der Flotte zu berufen und ihm bei seinen noch unpopuläreren Maßnahmen den Rücken zu decken. Eine dieser Maßnahmen hatte in der Erlaubnis bestanden, den Kolonien den Bau eigener Kriegsschiffe zu erlauben, bemannt mit eigenen Leuten und ausgebildet nach selbst entwickelten Direktiven. Die Admiralität und der Konvent hatten sich empört gezeigt, hochwertige, wenn auch todbringende, Aufgaben an Gemeine, noch dazu an noch tiefer stehende Gemeine von den Kolonien, abzugeben, die ihrem Wesen nach einzig den Edelleuten zustanden. Nun, die Lage erlaubte keine langwierigen Diskussionen, und so wurden die Pläne Minutaglios in die Tat umgesetzt. Der Erfolg rettete ihm den Kopf, der Groll seiner Widersacher steigerte sich jedoch unaufhörlich, gerade wegen der Erfolge durch Neid und teilweise auch Hass befeuert. Heute also wurde die Rechnung präsentiert. Kardinal Attacant ging es ums Prinzip, er verabscheute alle Menschen mit niederem Rang, er hasste es, ihnen auf leidlich gleicher Ebene zu begegnen, noch mehr hasste er es, Vertretern niederer Stände einen noch so kleinen Anteil am Erfolg des Staates zugestehen zu müssen. Daneben oblag es ihm Kraft seines Amtes, die Kirche vor Verfall und schlechten Einflüssen zu schützen. Da die Kirche eine gute Kirche und damit eine wichtige Stütze des Systems darstellte, ergab sich hieraus ein weiterer Grund, Veränderungen jedweder Art auf das Schärfste zu bekämpfen. Der Großadmiral gab sich keinen Augenblick der Hoffnung hin, den Eiferer mit sachlichen Argumenten umzustimmen. Attacant kannte nur eine Sorte Argumente, seine eigenen. Aber schwer machen wollte es Minutaglio ihm schon, soviel schuldete er seinen Leuten, die für ihn gesiegt hatten. Attacant verzog das Gesicht, als ob er auf eine besonders saure Zitrone gebissen hätte. Aufreizend gönnerhaft entgegnete er:

»Mein lieber Großadmiral. Sie hatten sicher Ihre Freude an den Schlachten der letzten Monate. Diese unwürdigen Gestalten haben sich in die Gefechte geworfen und den Feind besiegt, nicht immer mit den Methoden hochherrschaftlicher Kampf-Kultur, sodass sie ihren Preis zu zahlen hatten. Aber nun ist es an der Zeit. Ich dulde nicht länger, den Pöbel unter Waffen zu sehen. Die Macht und das Recht auf Waffen gelangt von Gott zur Erleuchteten Kirche, von dieser in die Hände der Kraft ihrer Geburt und göttlicher Vorsehung dazu ausersehenen Vertretern der Edelleute, und damit hat es seine Bewandtnis. Das Gesinde, ob Gemeine, freie Kolonisten, Niedere oder sonst was, das ganze Kroppzeug hat nur eine Aufgabe zu erfüllen: Gehorchen! Die natürliche Ordnung wurde durch diese gefährliche Attitüde der Marine auf den Kopf gestellt. Die Habenichtse unter Waffen. Großer Gott! Das muss ein Ende haben. Und zwar jetzt.«

Der Großadmiral straffte seinen voluminösen Oberkörper und strich das Uniformhemd über dem Bauch bedächtig glatt. Er erkannte, wie bitterernst es dem Kardinal war. Die Uhren sollten zurückgedreht werden, die fast schon beleidigende Anrede sollte dem Militär in hellem Licht klarmachen, dass er sich zu fügen habe. Es wurde Zeit, den letzten Joker auszuspielen.

»Nun, es scheint fast so, als wäret Ihr fest entschlossen. Fein, ein jeder begehe den Fehler, der ihm gerade in den Sinn kommt. Im Großen und Ganzen sehe ich kein Problem in der Umsetzung. Ich möchte Eure Heiligkeit auf eine Kleinigkeit aufmerksam machen. Unser erfolgreichstes Kriegsschiff ist zufälligerweise ein Schiff der Kolonisten. Die heimische Propaganda unseres hoch verehrten Sicherheitsdirektors«, er nickte nicht ganz ernsthaft zu dem kleinen Mann hinüber, der selbst den köstlichen Tee aus den kaiserlichen Gärten von Nemsafroh mit saurer Miene zu sich nahm, als müsse er den finalen Giftbecher schlürfen, »hat in der Vergangenheit dafür gesorgt, dass dieses Schiff dem Pöbel, wie Ihr die Massen unseres Volkes zu beschreiben beliebt, als mittlerweile beliebtester Held gilt. Sicherlich macht es keinen Unterschied, jedoch würde das Volk das ersatzlose und abrupte Verschwinden ihres besten Idols mit, gelinde gesagt, Unverständnis aufnehmen. Vielleicht wollt Ihr in Eure unfehlbaren Überlegungen die Möglichkeit einbeziehen, dieses Schiff von Eurem Plan auszunehmen.«

Die Hautfarbe des Kardinals wechselte ansatzlos von der durch seine Fettleibigkeit erzeugten sanften Röte in blutiges tiefrot. Bei seinen Lakaien brauchte er sich nicht lange aufzuhalten, bei einem Edlen, der ihm in der Rangfolge nahe kam, begannen die Probleme. Die gewohnte rasche Beseitigung der armen Kreatur, die es gewagt hatte, sich zu unbotmäßigen Widerworten aufzuschwingen, verbat sich von selbst. Der Großadmiral beliebte zudem seinen schwachen Punkt zu treffen, in dem er sich der Ironie bediente. Damit konnte Attacant nicht umgehen. Eine passende Erwiderung würde ihm auch in hundert Jahren nicht über die Lippen kommen, ergo gelang ihm nichts Besseres als ein Wutausbruch, der anstelle direkterer Maßnahmen den Widersacher niederringen sollte. Minutaglio lächelte sanft in Erwartung einer längeren Brüllattacke, die er mit verräterischen Zuckungen in den Mundwinkeln weiter in die Länge zu ziehen gedachte. Auch die Spitze der Regierung gab sich gerne kleinen Spielchen hin, die man eher in einem Kinderhort erwarten durfte als in den erlesen Kreisen im hundertsten Stock des Flottenturms. Natürlich verband der Großadmiral als ausgebuffter Taktiker mit diesem kleinen Trick die Hoffnung, dass sein Widersacher vor lauter Wut und verletzter Eitelkeit sein eigentliches Anliegen aus den Augen verlor.

Beide hatten ihre Rechnung ohne den Sicherheitsdirektor gemacht. Taragona stellte in die Pause hinein, die von den beiden anderen zum Atemholen benötigt wurde, seine Teetasse mit einem Klirren auf dem Tisch ab, gerade laut genug, um die Anwesenden aufmerken zu lassen. Mit einer Stimme, die angenehm warm klang und dadurch einen geradezu schockierenden Kontrast zu seinem furchterregenden Gesichtsausdruck bildete, warf er einen einzigen Satz in die Runde:

»Nicht das Schiff ist der Held, sondern die Besatzung, allen voran der Captain.«

»Wie?« Attacant brachte sein Erstaunen mit pfeifendem Ausatmen zum Ausdruck, was ein wenig an die typischen Geräusche der verbeulten Kessel erinnerte, mit denen die Niederen den Tee bereiteten.

»Ich sehe kein Problem. Wie die hochwohlgeborenen Diener der Kaiserin unzweifelhaft wissen, war es notwendig, die Arbeitsleistung des gemeinen Volkes über alle Maßen zu steigern. Die Psychologie des Krieges lehrt uns, dass es der Motivation förderlich ist, wenn es gelingt, einen Vertreter des gleichen Standes zu einer Heldenfigur aufzubauen. Nichts weiter geschah, der Erfolg gab uns recht. Ich stimme mit dem hochverehrten Reichsprotektor in der Frage bezüglich der Stände überein und demzufolge gilt es nun, dem Volk seinen Helden wieder zu entreißen. Der Held ist dieser Kolonist Tanner, der sich angemaßt hat, ein Schiff zu führen. Er ist den schlichten Gemütern ein strahlender Held, aber wir sind es, die über die Frage befinden, ob und wann sich dies ändern wird. Wir gebieten über die Medien und alle Informationskanäle. Was wir verbreiten, wird geglaubt. So einfach ist das. Das Schiff selbst ist den Leuten gänzlich gleichgültig. Tanner allein ist der Kristallisationspunkt. Fällt er in Ungnade, ist dem Volk das Schicksal des Schiffes herzlich gleichgültig. Es gilt mithin, ihn als den zu entlarven, der er ist: ein erbärmlicher Emporkömmling.«

So wie du, fügte der Großadmiral in Gedanken hinzu, ohne einen Hauch von Gemütsregung auf sein Gesicht zu lassen. Er hatte keine Vorstellung von den Motiven des KSD-Chefs, der den angesprochenen Kommandanten gar nicht kannte, ihm niemals begegnet war. Die Staatsraison genügte wohl als Motivation, vielleicht auch die hellsichtige Erkenntnis, es selbst niemals auch nur zu Anerkennung durch das Volk zu bringen, ganz zu schweigen von der Verehrung, die Tanner genoss. Bei dem Versuch würde Taragona erstmals die Grenzen seiner Beeinflussungsmaschinerie kennenlernen. Daneben bezweifelte Minutaglio die Behauptung des kleinen Mannes sehr. Das Volk bildete sich seine Meinung nicht ausschließlich aufgrund der staatlich vorgegebenen Informationen. Die Mundpropaganda erst hatte den farblosen und ganz und gar unpolitischen Kommandanten zum Supermann aufgebläht. Aber natürlich war dem KSD-Chef alles, was sich nicht unter seiner absoluten Kontrolle befand, völlig fremd. Und in seinen Augen befand sich alles unter seiner Kontrolle, absolut alles.

»Was genau schwebt Euch vor?«

Attacant schaute den Sicherheitsdirektor durchdringend an.

»Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen. Der Held verschwindet auf genau die gleiche Weise von der Bühne, mit der er sie einst betrat. Auf die Heldentaten folgen die Untaten. Ich werde eine Situation arrangieren, in der er einen verhängnisvollen Fehler macht und natürlich wird dieser Fehler zeitnah dokumentiert und verbreitet.«

»Darf ich es etwas genauer erfahren? Unterlasst die nebulösen Anspielungen.«

Minutaglio nickte beifällig. Gut, dass der Kardinal diese Frage stellte, so musste er sich nicht in den Ruch der Anteilnahme für seinen besten Kommandanten begeben. So, wie es aussah, hatte er für heute verloren. Seine Gäste waren in der Überzahl und zu allem entschlossen. Er persönlich fand die Ansichten der beiden ideologisch verblendet und einfach dumm, doch was sollte er unternehmen? Ein Großadmiral und Chef der Flotte rangierte in der heiligen Hierarchie des Kaiserreiches erst an dritter Stelle, direkt nach dem Kardinal, aber eben hinter ihm. Da war der Sicherheitsdirektor als graue Eminenz aus dem Hintergrund noch gar nicht eingerechnet. Minutaglio machte sich im Geiste eine Notiz und hörte weiter den Erläuterungen zu.

»Eine Falle. Er wird in eine Situation gelockt, in der er nur noch die Alternative hat, sich selbst zu entlarven. Anschließend wird dem Volk gebetsmühlenhaft die Aufzeichnung vorgespielt, der Mann selbst in einem Schauprozess abgeurteilt und hingerichtet. Das Schiff wird komplett neu bemannt und bricht zu neuen Heldentaten auf. Ende der Affäre. Alles, was nun noch fehlt, ist die Anwesenheit dieses Subjektes auf Horave.«

Der Kardinal überlegte eine Zeit lang, zumindest gab er seinem Gesicht diesen grüblerischen Gesichtsausdruck, den er stets aufsetzte, bevor er eine Entscheidung fällte. Schließlich verzog sich seine Miene zu einem heiteren Lächeln.

»Fein, ich bin überzeugt. So machen wir es. Ich hoffe, Euer Vorhaben geht rasch über die Bühne. Wo befindet sich die Grizzly zurzeit? Die Schlacht bei den drei Sonnen ist doch schon mehr als drei Wochen vorüber.«

Der Großadmiral lächelte falsch.

»Ich glaube, Ihr wisst um die Direktive dreizehn. Mit Kolonisten bemannte Schlachtkreuzer dürfen das Zentral-System nicht ansteuern. Dies nur, um das geringe Restrisiko eines fehl geleiteten Gemeinen, der an der Konsole seines Planetenbrenners einige fatale Handgriffe tun könnte, zu vermeiden. Daher bewegt sich das Schiff an der äußeren Schale unserer Sphäre entlang. Man nennt es Patrouille.«

Einen Rest an Spott mochte Minutaglio nicht unterdrücken. Seine beiden Gäste wollten ihn in die Schranken weisen, ihm innerhalb ihres Zirkels die Rolle des Bedeutungslosen zuweisen. Natürlich, der Krieg war aus. Nur war er in den letzten hundert Jahren immer wieder aus gewesen, immer wieder hatten die zivilen Machtpolitiker der Versuchung nicht widerstehen können und ihre Militärs zu entmachten versucht. Luxus statt Rüstung lautete dann für einige Zeit die Devise. Immer wieder war für diesen Fehler ein hoher Preis zu entrichten gewesen. Ein Edler zu sein bedeutete nicht automatisch, gegenüber dem Rest der Welt über einen intellektuellen Vorsprung zu verfügen. Taragona schnitt die defätistischen Gedanken ab, indem er mit leiser, beinahe freundlicher Stimme meinte:

»Nun, dann wird es Zeit, unsere tapfere Kolonisten mit einer Einladung in das Zentrum der Macht zu belohnen.«

*

Das Schott glitt auf und der danebenstehende und immer schweigsame wachhabende Füsilier schnarrte:

»Kommandant auf der Brücke!«

Die Crew drehte sich erwartungsvoll zu ihrem Captain herum, der Zweite Offizier Duda räumte seinen Stuhl und nickte konzentriert. Roscoe Tanner machte kein Aufheben um seinen Status, auch deshalb respektierte ihn seine Besatzung. Beinahe lässig hob er die rechte Hand und zeigte die Handinnenfläche, während er mit den für ihn so typischen langen und langsamen Schritten seinem Stuhl näherte und mit einer fließenden Bewegung Platz nahm. Er war ein nicht übermäßig großer Mann, durchtrainiert wie alle Besatzungsmitglieder, mit einem scharf geschnittenen Gesicht, in dem die leicht knollige Nase nicht so sehr auffiel wie die großen, brauen Augen, die stets einen melancholischen Ausdruck aufwiesen. Seine Stimme klang warm und weich und ein ganz klein wenig nasal, als er Nagama ansprach:

»Also gut, wie ist der aktuelle Stand?«

Die überschlanke Ortungsspezialistin erwiderte den fragenden Blick des Kommandanten und antwortete, ohne sich zu ihrem Pult umdrehen zu müssen:

»Wir haben den Notruf eines Schiffes, das vorgibt, eine Kaiserliche Jacht zu sein, in Wahrheit aber allenfalls eine ganz normale Mittelstreckenjacht für privat finanzierte Forschungen sein dürfte. Der Notruf begann, kurz nach unserem Auftauchen aus der Raumkrümmung, scheint aber nicht ursächlich damit zu tun zu haben.«

»Worauf gründest du diese Annahme?«, hakte Tanner ein. Im Ton sachlich versteckte sich keinerlei Argwohn oder Bevormundung hinter seinem Einwand. Er war der wohl einzige Raumschiff-Captain, der sich mit seiner Mannschaft in kollegialer und absolut sachlicher Form unterhalten konnte. Er tat dies aus der Gewissheit heraus, dass das Überleben eines Schlachtkreuzers von der Kompetenz aller Besatzungsmitglieder abhing. Aus diesem Grund führte er das Schiff wie ein Lehrer, der seine Schüler zu selbstständigem Denken und kreativen Lösungen ermunterte, und nicht wie ein ungnädiger Zuchtmeister, was die anerkannte Führungsmethode auf allen anderen Schiffen der Kaiserlichen Flotte darstellte. Er konnte sich das erlauben, auf diesem Schiff bestand die Besatzung aus Vertretern eines einzigen Standes, dem er selbst ebenfalls entsprang. Nagama Tai beantwortete denn auch die Frage ruhig und konzentriert und völlig angstfrei.

»Erstens wurden wir nicht erwartet, weil wir unseren Kurs in eigenem Ermessen gewählt haben, und man ein Kriegsschiff in diesem Sektor nicht erwarten würde. Zweitens brach der Notruf nach dreiundneunzig Komma sechs Sekunden ab und dauerte nicht an, bis wir die womöglich erwartete Reaktion zeigten. Drittens kommt von der Quelle des Notrufes keine Reaktion. Es treibt dicht am zweiten Planeten und damit weitab jedweder Fluchtmöglichkeit.«

Tanner nickte zustimmend. Ihm würde zwar der eine oder andere schmutzige Trick einfallen, um auf geeignete Weise ein Schiff mittels Notruf anzulocken, jedoch nicht hier am Ende der erforschten Weiten, weitab von strategisch bedeutsamen Objekten. Darüber hinaus wollte er den fanatisierten Kommandanten der Gegenseite nicht unbedingt unterstellen, sorgfältig geplante Fallen aufstellen zu können oder zu wollen.

»Das Teleskop hat eben den Ausgangspunkt des Notrufs ins Bild genommen. Es handelt sich der Form nach um eine Jacht kleineren Typs, was zum Katalogeintrag über die Saskia passt. Das Bild ist kalt.«

Tanner zog die Augenbrauen hoch. Offensichtlich lag tatsächlich ein Notfall vor. Ein kaltes Bild bedeutete nichts anderes, als dass der Antrieb ausgeschaltet war oder grundsätzlich nicht funktionierte, ansonsten wäre das Bild heiß, wenn nämlich eine glühende Ionenspur für Vortrieb sorgte.

»Zusammenfassend sehen wir eine Jacht Horaveischen Ursprungs, deren Notruf abgerissen ist und die jetzt kraftlos durch das Planetensystem treibt.«

Der Captain wollte etwas sagen, doch Nagama zeigte sich als erstklassiges Besatzungsmitglied und erriet die Frage: »Relativ zu uns bewegt sie sich querab nach unten mit kaum einem Kilometer je Sekunde.«

Tanner lächelte und schüttelte ansatzweise den Kopf. Hätte er sich denken können, schließlich erwartete er von seinen Leuten, Gedanken und Vorhaben vorausahnen zu können. Im Gefecht stellte dies einen wichtigen Siegfaktor dar.

»Irgendwelche Vorschläge?«

»Nachsehen! Wozu sonst quatschen wir hier endlos über diesen komischen Kahn?«

Alle Augen wandten sich zum Schott, obwohl mehr als klar war, wer dort gerade auftauchte. Der Erste Offizier war ein derart unverwechselbarer Kauz, dass man ihn im Dunkel der Nacht erkannt hätte, im Raumanzug und schlafend. Sir Ulrich Betzel bekleidete offiziell die Planstelle des >Aufsicht führenden Adligen<, was bedeutete, dass er der einzige Mann von Rang und Bedeutung an Bord war. Die Admiralität hatte diese Planstelle geschaffen, um zum einen den Schein zu wahren. Ein Kriegsschiff ohne einen einzigen Adligen konnte es per Definition nicht geben, also musste wenigstens dieser eine mitfliegen. Und wenn er schon mal da war, fungierte er, zum anderen, als Notfall-Kommandant, kraft seines Standes und der Befehle der Admiralität befugt, in der Krise das Kommando zu übernehmen. Dem Adel stand nun mal, in den Augen des Kaiserreichs, naturgemäß das Kommando zu über alles, was da an niederem Volk kreuchte und fleuchte. Das Kommando auf Kolonistenschiffen blieb demzufolge, technisch gesehen, nur ausgeliehen, ohne jede Kündigungsfrist allzeit widerruflich. Auf diese Weise wollte das Kaiserreich einerseits die Form wahren, andererseits eine Revolte unmöglich machen.

Praktisch scheiterte das kaiserliche Vorhaben an verschiedenen Faktoren. Bereits die Vorstellung, ein einziger Adliger könne in der Lage sein, eine proletarische Besatzung von fast einhundert Männern und Frauen plus eine komplette Kompanie Raumlande-Füsiliere in Schach zu halten, entsprach dem größenwahnsinnigen Selbstverständnis der Admiralität, nicht jedoch der täglich erlebten Realität. Und dann war da noch der nicht zu vernachlässigende Umstand, dass Sir Ulrich weder größenwahnsinnig war, noch seinen Realitätssinn verloren hatte. Entscheidend war auch nicht so sehr, dass er dem sogenannten Landadel Katinkas entstammte, also von der gleichen Welt wie alle anderen Besatzungsmitglieder und allein deswegen im Zweifel dem eigenen Schiff mehr Patriotismus entgegenbrachte als dem fernen Horave. Nein, das Wichtigste war: Er wollte zu dieser Besatzung gehören.

Während der Jahre an Bord hatte er sich als absolut loyal, engagiert und verlässlich erwiesen. Im Gegenteil empfand er seine Herkunft eher als Makel und versuchte, ihn auszugleichen. Zum Leidwesen der Besatzung versuchte er dies, in dem er proletarischer wirken wollte als der hinterletzte Schweinehirt. Im Ergebnis gebärdete sich der Erste Offizier in einer Weise burschikos und hemdsärmelig, die gar nicht selten ins Peinliche abglitt. Nur: Er war wirklich so. Im Grunde äußerte er seine stets fundierte Meinung auf eine unübliche direkte Weise, was in den meisten Fällen durchaus hilfreich sein konnte.

»Ah, Sir Ulrich, Eure Anwesenheit vermag hoffentlich das Rätsel zu lösen, das diesen Kahn umgibt.«

Der Erste Offizier hob beide Augenbrauen gen Himmel und grinste unverschämt. Wenn ihn der Kommandant mit solch lässigen Worten auf den Arm nahm, drohte keine unmittelbare Gefahr, wohl aber ein schönes Abenteuer. Nagama Tai erläuterte kurz, um was es ging, was Sir Ulrich in kurzes Grübeln versetze. Leise brummte er:

»Mhm, so etwas hat es seit achtzig Jahren nicht mehr gegeben. Schon komisch, ausgerechnet jetzt und hier. Mhm.«

»Bedeutet dein Ausspruch, dass es das schon mal gab? Ich würde gerne mehr wissen.«

Sir Ulrichs Blick zuckte hoch, als ob er erst jetzt wach würde. Er nickte so beiläufig wie fahrig und begab sich an seinen Platz, halb rechts vor dem Sessel des Kommandanten. Von dort konnten ihn alle Anwesenden gut sehen und hören. Mit nachdenklichem Kopfkratzen begann er:

»Ich bin mir nicht wirklich sicher, aber es ist damals fast genauso abgelaufen. Also, normalerweise halten sich Angehörige der Kaiserlichen Familie ausschließlich in der Heiligen Stadt auf, oder auf der Imperator, dem Flaggschiff, auf dem entsprechende Gemächer installiert sind. Die vier Kaiserlichen Jachten sind nichts anderes als Kurierschiffe, die Botschaften zwischen den Planeten, Flotten und der Kaiserin austauschen, Gesandte befördern oder persönliche Gefangene. Es ist bisher zwei Mal vorgekommen, dass ein Angehöriger der Kaiserlichen Familie auf ein Schiff zurückgegriffen hat, das für den Transport hochherrschaftlicher Personen nicht gebaut und vorgesehen wurde. Wie gesagt, das letzte Mal vor achtzig Jahren.«

Tadeusz Duda kaute schon eine ganze Weise auf der Unterlippe herum und nutze die Atempause des Ersten zu der Frage, die ihn vor allen anderen bewegte:

»Ist das gut oder schlecht für uns?«

Sir Ulrich nickte ihm traurig zu.

»Wir sitzen in der Tinte, und zwar bis zum Scheitel.«

»Aha?« An dieser Stelle merkte der Kommandant auf. Sein weiterhin entspannter und freundlicher Gesichtsausdruck täuschte über seine wahren Gefühle hinweg. Wenn der Vertreter des Adels angesichts der Lage und seiner Kenntnisse bezüglich der Kaiserlichen Familie überaus große Schwierigkeiten sah, dann musste Tanner einfach alarmiert sein. Bislang hatte er es verstanden, seine Leute und sein Schiff weitgehend unsichtbar durch den Krieg zu steuern, war keinem Vertreter des Hochadels über die Füße gefahren, gab sich bei offiziellen Anlässen blass und schüchtern, hielt die Augen gesenkt. Er hatte seine Befehle befolgt und sich ansonsten bedeckt gehalten. Und jetzt sollte die Camouflage nicht mehr möglich sein?

»So ist es, Captain«, fuhr der Erste Offizier fort. »Wir müssen eine Entscheidung treffen, sie wird aber immer falsch sein. Am einfachsten wäre es, einfach abzuhauen. Anhand der automatischen Aufzeichnungen wird man uns im Hauptquartier unverzüglich auf die Strümpfe kommen. In diesem Fall wird das Letzte, was wir sehen, eine grau angemalte Wand sein, vor die man uns stellen wird. Der Krieg ist zwar aus, aber fürs Hängen lassen einer Kaiserlichen Angehörigen gilt Kriegsrecht allemal als absolutes Minimum. Außerdem entspricht es nicht unserem Naturell, einfach wegzulaufen.«

»Dann gehst du also davon aus, dass es sich tatsächlich um einen authentischen Notruf handelt?«

Nagama zog ihre lange Nase kraus, die ebenso dünn war wie der Rest der Ortungsspezialistin. Dabei übersah sie das wichtige Detail, dem Kommandanten war es nicht entgangen.

»Eine kaiserliche Angehörige? Eine Frau. Wie kommst du darauf? Die Kaiserliche Familie besteht fast ausschließlich aus Männern. Von der Wahrscheinlichkeit her müsste da drüben einer von denen stecken.«

Sir Ulrich verzog das Gesicht, mit leichtem Missvergnügen verschwendete er ein paar düstere Gedanken an die Vertreter des Kaiserlichen Amtes für Statistik. Deren Berechnungen über die wahrscheinlichste zu erwartende Aktion des Feindes hatte man in der Flotte immer sehr gut gebrauchen können. Weil die von den Eierköpfen in Aussicht gestellten Ereignisse niemals eintrafen, konnte man sie kategorisch ausschließen und sich um andere Objekte kümmern, bei denen kompetente Flottenoffiziere wie Roscoe Tanner aufgrund eines miesen Gefühls aus dem Bauch heraus den Angriff erwarteten. Das funktionierte wesentlich besser. Im Übrigen war es gerade heute wieder an der Zeit, dem Gefühl aus dem Bauch die notwendige Beachtung zu schenken.

»Tja, nur haben die Jungs allesamt keinen Grund, sich in Richtung Niemandsland aus dem Staub zu machen. Die beiden Mädels hingegen schon.«

Tanner musste nur kurz sein Gedächtnis durchforsten, schon klappte ihm der Unterkiefer herunter.

»Nein. Sag, dass das nicht wahr ist.«

»Ich wünschte, ich könnte.« Zu den anderen Mitgliedern der Crew gewandt, die nicht verstanden, erläuterte er:

»Lady Penelope, Kaiserliche Tochter und zweite in der Thronfolge, hat einen verdammt guten Grund, sich aus dem häuslichen Nest zu verabschieden. Die ist so dicht dran am Thron, wird ihn aber niemals besteigen, da Eleonore vor ihr rangiert. Der klassische Verwendungszweck für die Nummer zwei ist es jedoch seit alters her, sie mit der Nummer zwei eines anderen Reiches zu verheiraten, um gegenseitige Bindungen aufzubauen und, das ist der eigentliche Grund, einen Krieg oder ähnlich gelagerte Überraschungen zu verhindern.«

Die Mannschaft stöhnte auf, es fiel ihnen wie Schuppen von den Augen. Die Propaganda hatte das Ereignis ebenso vermeldet wie die Latrinen-Gerüchte.

»Treptichore.«

»Ja, mein Captain«, stimmte Sir Ulrich gallig zu. »Großherzog Willi befindet sich in der gleichen Lage wie Lady Penelope, er ist fast ganz oben, aber eben nur fast. Sein Bruder möchte ihn aus den Füßen haben und unsere holde Kaiserin vom Hals. Da bietet es sich geradezu an, gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.«

Tanner blies die Backen auf. Das Problem nahm mit Lichtgeschwindigkeit Formen an. Ohne Zweifel hatte Lady Penelope jeden Grund, sich vor der Hochzeit mit Großherzog Willi in Sicherheit zu bringen. Horave zeichnete sich nicht gerade durch Menschlichkeit aus, das Leben der Bevölkerung war die Hölle und für den Adel sah es auch nicht wirklich rosig aus, nach hundert Jahren Krieg nicht weiter verwunderlich. Ein altes Horaveisches Sprichwort lautete: Schlimmer geht immer! Offenbar hatte der Verfasser an Treptichore gedacht.

Treptichore ließ sich mit einem einzigen Wort umfassend charakterisieren: barbarisch.

Es würde für immer ein in der Geschichte der Menschheit einmaliges Rätsel bleiben, wie es dieser Planet schaffen konnte, die Fähigkeit zum Raumflug nach hunderten von Jahren erneut zu erlangen. Ein heißer, feuchter Planet, dessen Klima einem das Hirn zermalmt, eintönige, ewige Sumpflandschaft, kein einziger Meter mit festem Boden, Dreck über Dreck, der Himmel ständig düster und mit geschlossener Wolkendecke, aus der es ununterbrochen schüttet. Das war Treptichore, und weil es noch nicht reichte, hatten die Götter die geschundenen Kolonisten zusätzlich mit einer wahrhaft bösartigen Tierwelt geschlagen, gegen die auch moderne Waffen ihre liebe Not hatten. Die Kolonisten segelten einige hundert Jahre am Rand der vollständigen Ausrottung entlang, vermutlich der Grund für die armselige genetische Ausstattung der Menschen dort. Mittlerweile betrug die Bevölkerung wieder um die zweihundert Millionen Köpfe, und sie sahen sich alle derart ähnlich, als wären sie Verwandte ersten Grades. Für einen Horaver waren die Leute fast gar nicht zu unterscheiden, alle besaßen breite Köpfe mit breiten Nasen, eng stehende braune Augen, braune Haare und Blumenkohlohren. Schlimmer als alle Äußerlichkeiten hingegen wirkte die charakterliche Entwicklung, die der Planet seinen Bewohnern aufgezwungen hatte. Sie waren allesamt bösartige, brutale und absolut rücksichtslose Wesen. Untereinander herrschte das Gesetz des Stärkeren, Außenweltler wurden gehasst wie die Pest und nur die auf mehr als mangelhaften Ressourcen gründende Schwäche der eigenen Industrie bewahrte die Galaxis vor einem Eroberungszug von Mordbrennern und Plünderern. Gleichwohl galt Treptichore als ewiger Stachel im Fleisch aller Nationen. Die Treptichorer waren quasi gezwungen, sich ihre dünne Existenzgrundlage durch Piraterie aufzubessern. Die Abscheu der restlichen Welten zogen sie sich aber durch ihre Gewohnheit zu, ihre Mordlust hemmungslos auszuleben. Auf überfallenen Schiffen gab es regelmäßig keinen einzigen Überlebenden, wurde ein Planet überfallen, so zogen es die Angreifer vor, erst eine ordentlich große Bombe abzuwerfen, um dann in den Ruinen nach Brauchbarem zu suchen. Frauen galten dabei als eine überaus begehrte Beute und das nicht nur, um den Genpool aufzubessern.

»Lady Penelope wird von ihrer Sippe offensichtlich nicht mehr als Verwandte betrachtet. Mann, die muss ja ordentlich was angestellt haben.«

Sir Ulrich schüttelte den Kopf.

»Nee, auch in höchsten Kreisen reicht es schon völlig aus, anderer Meinung zu sein. Nur weil die reich und mächtig sind, ist bei denen noch lange nicht die Nächstenliebe ausgebrochen. Wie ich höre, soll sie ein zähes und stures Luder sein. Treptichore hat sie aber nicht verdient, niemand hat das verdient.«

Sir Ulrich glitt in eine etwas ordinäre Sprache ab, adlige Zuhörer hätten zudem genügend Anhaltspunkte für Majestätsbeleidigung gefunden und ihn unverzüglich gefordert. Ihm blieb das egal, auf seine Weise war auch er zäh und stur. Tanner ergriff wieder das Wort, fast meinte man, ein Seufzen herauszuhören.

»Wenn ich das richtig verstehe, stehen wir vor der Aufgabe, diese Penelope aus dem Flieger zu holen und sie nach Hause zu bringen. Gegen ihren Willen und zum Missfallen der Kaiserin, weil durch die kleine Aktion ein paar Außenweltler von einem familiären Zwischenfall Kenntnis erlangt haben. Klasse. Bitte sagt mir, dass es durchaus möglich ist, dass da draußen ein besoffener Scherzkeks einen Joke gerissen hat und wir niemanden von hoher Geburt finden werden.«

Lustlos ratterte der Erste das Gewünschte herunter: »Es ist durchaus möglich, dass da drüben ein besoffener Scherzkeks einen Joke gerissen hat.«

Sofort machte er seine Worte zunichte: »Es ist aber extrem unwahrscheinlich. Niemand macht einen Scherz vor leeren Rängen. Die wissen doch gar nicht, dass es einen Zuhörer gibt. Wenn der Notruf in zwölf Jahren auf Freblinse eintrifft, kräht da kein Hahn mehr nach.«

Tanner hatte nichts anderes erwartet.

»Schön. Nun ist es also an mir, die Entscheidung zu treffen, nicht wahr?«

»Das ist der Job.«

Sir Ulrich grinste unverschämt. Er liebt die Stimmung an Bord, vor einem Gefecht ließ sie sich ganz einfach charakterisieren: Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst.

»Du wirst doch nicht wirklich umdrehen und darauf verzichten, die Dankbarkeit einer entzückenden Prinzessin entgegen zu nehmen?«

»Doch, jederzeit«, entgegnete Tanner, und alle wussten, dass er es verdammt ernst meinte. »Es hilft aber nichts. Wir sind ein Kriegsschiff der Kaiserlichen Marine und somit verpflichtet, auf einen Kaiserlichen Notruf angemessen zu reagieren.«

Tanner setzte sich auf seinem Sessel zurecht, vertrieb jeglichen Frohsinn aus seinem Gesicht und gab entschlossen die notwendigen Kommandos:

»Ladys and Gentlemen, alles auf Station. Vorbereiten für Beschleunigung. Kampfstationen besetzen. Füsiliere bereit machen für Enter-Operation, Major der Füsiliere auf die Brücke. Nazifa, Abfangkurs berechnen und eingeben. Meldung an mich.«

Unverzüglich kam Leben ins Schiff. Für sehr kurze Zeit entstand heftiges Gerenne, alle Besatzungsmitglieder warfen sich regelrecht auf ihre Sitze und Stationen. Die Grizzly war schließlich ein Schlachtkreuzer mit reichlich Erfahrung im Umgang mit plötzlich auftretenden Herausforderungen. Sie besaß eine Besatzung, die ihr Handwerk verstand. Im Zuge der Alarmierung sprang auch ein kleiner, drahtiger Mann durchs Schott und nahm seinen Platz ganz unten auf der Brücke ein. Leutnant Istvan Horvath fungierte als Waffenoffizier. Seine Fähigkeiten waren Legende. Er konnte nicht nur mit den Händen unglaublich schnell und zielsicher über die Waffenkontrollen hetzen, er vermochte auch die Bewegungen der Gegner mit schier unglaublicher Präzision vorherzusagen. Vor allem aber arbeitete er gut mit der Pilotin zusammen. Nazifa Kadhar tippte ihrerseits auf einige Schalter und zwei Geräte fuhren aus den Armlehnen, die auf den ersten Blick wie kleine Säckchen ohne weitere Funktion wirkten. In Wahrheit stellten sie die zweite Art der Steuerung dar. Normalerweise, also auf dem Marschflug, wurde die Grizzly über ein paar Monitore und Joysticks gesteuert. Das reichte im Normalfall völlig aus. Im Kampf wurden blitzschnelle Reaktion und wesentlich präziseres Manövrieren gebraucht, auch, um im Zusammenspiel mit den Waffen die für einen Abschuss optimale Position zu erreichen, bevor jemand anderer eine solche Ausgangslage gegenüber der Grizzly einnehmen konnte. Dafür gab es die Säckchen, der technische Ausdruck lautete Myelo-elektronische Echtzeitsteuerung. Nazifa steckte die Hände in die Säckchen, wo sich feine Elektroden auf definierte Stellen ihrer Haut legten. Die Elektronik des Antriebes und der Steuerung vernetzte sich mit den Händen, jede Anspannung unter Haut würde nun unmittelbar in Steuerungsimpulse umgesetzt. Die Pilotin brauchte buchstäblich keinen Finger zu rühren, der Gedanke an die Bewegung löste ein feines Zucken, eine Veränderung der Oberflächenspannung, eine veränderte Leitfähigkeit der Haut aus, der Rechner erfasste alles und handelte, bevor sich die menschliche Reaktionszeit dazu durchgerungen hätte, die Finger wirklich zu bedienen. Langes Training vorausgesetzt, ließen sich mit der Methode die entscheidenden Zehntelsekunden gewinnen, die man für den Sieg in der Schlacht benötigte. Aus einem nicht zu klärenden Grund hatten die anlässlich der Rekrutierung auf Katinka durchgeführten Tests ergeben, dass Frauen weitaus besser mit der Myelo-Elektronik zurechtkamen als Männer. Sie konnten schneller denken und ihre Muskeln präziser bewegen. Nazifa schnitt damals als Beste ab, vor acht anderen Frauen. Erst als Zehnter rangierte der erste Mann.

Die Standardmonitore klappten weg und ein kleiner, länglich konstruierter Holo-Bildschirm baute sich vor der Pilotin auf. Im Gegensatz zu dem großen Kommando-Holo sah man darin nicht das Weltall vor dem Schiff, sondern die komplette Umgebung, mit der Grizzly im Zentrum. Ein winziges Scheibchen zischte aus der Kopfstütze und positionierte sich über einen ausgeklügelten Teleskop-Mechanismus knapp neben dem linken Auge. Es ersetzte die großen Displays, in dem es begann, Daten direkt auf Nazifas Netzhaut zu spiegeln. Einige Sekunden des angespannten Arbeitens vergingen, bis sie das Ergebnis bekannt geben konnte.

»Wir können bei Maximalbeschleunigung ohne x in achtunddreißig Minuten längsseits gehen. Mit x plus zwei gewinnen wir nur eins Komma sieben Minuten.«

»Wie steht der Rumpf?«

»Laut Teleskop von uns weg, Überdeckung achtundachtzig Prozent. Angleichung auf hundert kostet etwa zwanzig Sekunden.«

Tanner spielte einige Sekunden auf seinem eigenen Display verschiedene Berechnungen durch.

»Sehe ich auch so. Schön. Nazifa, bring uns in ihren blinden Fleck und dann maximale Annäherung gemäß deinen Berechnungen. Beschleunigungswarnung. Es geht los.«

»Dreck!«

Fluchend stieg ein Riese in grauer Uniform durch das Schott, legte die wenigen Schritte zu dem einzigen noch freien Platz im Sturmschritt zurück und schaffte es, sich in den Sessel fallen zu lassen, bevor das Heulen des Alarms einsetzte. Der Sessel stöhnte regelrecht auf, umschlang seinen voluminösen Gast aber doch in rasender Eile mit den Gurten. Niemand beachtete ihn weiter, das Beschleunigungsmanöver ging vor.

Einige Steuerdüsen flammten kurz auf, als die Pilotin den Rumpf auf den geringfügig angepassten Kurs ausrichtete. Jedes Raumschiff benutzte als Hauptantriebsquelle den Ionenhammer, der für die Formgebung eines Raumfahrzeuges das wesentliche Element darstellte, weil die Austrittsöffnung für das heiße Plasma sehr groß und quadratisch sein musste. Wegen dieser Anordnung waren Schiffe nach hinten nicht ganz blind, aber fast. Im Effekt gab es hinter jedem Schiff einen stabförmigen Bereich, in dem Nullsicht herrschte für alle Sensoren. Nazifa wollte die Grizzly auf einen Kurs bringen, der erst in den Bereich führte, in dem für die treibende Jacht blind blieb und dann innerhalb des Bereichs rasch zu einer Annäherung führte. Das Manöver war sehr schnell abgeschlossen, die Pilotin starrte äußerlich unbewegt in den Holo-Bildschirm, den Oberkörper steif und aufrecht haltend, die Hände in der Myelo-elektronischen Steuerung. Mit der leicht abwesenden Stimme einer voll konzentrierten Schiffspilotin säuselte sie: »Ionenhammer auf volle Leistung … jetzt.«

Die Meiler fuhren hoch, die Plasma-Kupplungen brüllten auf und beruhigten sich nicht mehr. Den eigentlichen Antrieb hörte man dagegen kaum, dafür spürte man ihn überdeutlich. Die Zelle des Schiffs begann zu vibrieren, als würde ein mittleres Erdbeben unter ihren Füßen toben. Auf diese Weise spürten die Besatzungsmitglieder die Beschleunigung körperlich. Nach den langen Jahren auf der Grizzly setzte das Gehirn die Geräusch- und Erschütterungsentwicklungen ganz selbstverständlich in die Empfindung von Fortbewegung um. Man glaubte durch die täuschend echten Eindrücke, die Innenohr und Gehirn produzierten, wirklich, die Beschleunigung hautnah zu fühlen. Es dauerte etwa eine Minute, dann erstarb der Ionenhammer für wenige Sekunden, in denen der Rumpf neu ausgerichtet wurde. Weitere dreißig Sekunden mit hoher Beschleunigung folgten sowie eine weitere Manövrierphase.

»Blinder Fleck erreicht. Vollschub für neunzehn Minuten und drei Sekunden ab … jetzt.«

»Sensoren stellen weiterhin keinerlei Aktivität fest, die Jacht treibt immer noch.«

Nagama hielt den Blick unverrückbar auf ihre Anzeigen gerichtet, wechselte immer wieder Einstellungen, mit denen sie die verschiedenen Sensoren ständig neu abfragte, fein justierte und nach kleinsten Abweichungen fahndete. Tanner beobachtete die Brückenmannschaft wohlwollend bei der Verrichtung ihrer Aufgaben, wandte sich dann dem Riesen zu.

Major Dwight D. Anheuser fungierte als Commander der an Bord stationierten Füsiliere. Die achtzig Männer und Frauen starke Truppe machte sich im normalen Bordleben als ein Zwischending zwischen Ordnungsmacht und Service-Einheit nützlich. Eventuelle aufkommende Streitigkeiten wurden von den Füsilieren geschlichtet, bei Unfällen, Reparaturen und medizinischen Notfällen waren sie zur Stelle. Die allumfassende Ausbildung machte es möglich, dass in allen relevanten Bereichen zumindest fundierte Grundkenntnisse bestanden, darüber hinaus verfügte jeder Füsilier über ein Spezialgebiet. Das eigentliche und für alle verbindliche Spezialgebiet blieb hingegen der Kampf. Im Gefecht wurde die Truppe zu einer Raumlande-Einheit, die sowohl auf Planeten niedergehen, als auch Raumschiffe entern konnte, seien sie nun intakt oder angeschossen und unmittelbar vor dem Reaktorbruch stehend.

Anheuser sprengte jedes vernünftige Maß. Knapp über zwei Meter groß wirkte er wie die überlebensgroße Werbepuppe einer Firma, die Dopingmittel an den Mann zu bringen trachtete. Jeder einzelne Muskel quoll aus der eng anliegenden Uniform hervor, als handele es sich um eine allergische Reaktion auf den Stich einer treptichorischen Tantalusspinne. Kein Zweifel, der Mann trainierte wie ein Besessener, dennoch waren die ungeheuren Muskelpakete nicht ohne pharmazeutische Hilfe aufzubauen, so viel musste jedem Betrachter klar sein. Einen wirklichen Grund für das Aufbauen gab es nicht, bei Einsätzen mit zehnfacher Beschleunigung waren die Muskelmassen eher hinderlich, da sie nun mal wie der Rest des Körpers ebenfalls um das Zehnfache an Gewicht zunahmen. Unter den Füsilieren an Bord befanden sich Männer und Frauen von durchaus zierlicher Gestalt, die mit den körperlichen Strapazen kein Problem hatten. Anheuser pfiff auf die Erfordernisse des Dienstes, so lange sie seinem Körperkult entgegen standen. Er galt als rücksichtslos im Einsatz und als überaus kreativ. Einen Auftrag führte er unter allen Umständen durch, koste es, was es wolle. Tanner störte sich nicht an der grimmigen Miene des Füsiliers, der selbst im vertrauten Gespräch seine abweisende Aura um keinen Deut verminderte.

»Dwight, wir haben da ein kleines, aber hässliches Problem«, begann Tanner. Anheuser antwortete mit kratziger Stimme, die in dem gewaltigen Resonanzkörper einen Tick zu hell ertönte: »Gibt es denn andere Probleme als die hässlichen? Hatte noch nie mit einem netten Problem zu tun. Komme was wolle, meine Leute sind zu jeder Schandtat bereit.«

Tanner verkniff sich ein Lächeln. Die Angewohnheit des Majors, seine kleinen Scherze mit todernster Miene rauszuhauen, war wirklich nicht jedermanns Sache. Drei Minuten später hatte der Kommandant die wesentlichen Eckdaten ausgebreitet und der Major schaffte es tatsächlich, seinem Gesicht ein paar Sorgenfalten hinzuzufügen, obgleich nicht sofort ersichtlich war, wo auf dem eckigen und verkniffenen Antlitz der Platz dafür hergekommen war.

»Verstehe. Das ist wirklich ein hässliches Problem. Wie soll ich es lösen?«

Pragmatisch wie immer konzentrierte sich der Soldat auf das Naheliegende.

»Im Kern machen wir es wie immer. Nachdem wir längsseits gegangen sind, werdet ihr rübermachen und die Lage klären. Der einzige aber zugleich extrem wichtige Unterschied besteht in der Notwendigkeit einer gewissen Zurückhaltung beim Schusswaffengebrauch. Daraus erwächst ein ziemliches Risiko für die eigene Sicherheit, soviel ist klar. Was wir hingegen ganz und gar nicht gebrauchen können, ist eine angeschossene Prinzessin.«

»Verstehe«, wiederholte Anheuser und diesmal klang es so, als wollte er mit seinem breiten Kiefer ein Stück Blech zermalmen. Er schätzte die gute alte Rein-Raus-Taktik, auf alles schießen, was sich bewegt, ohne zu fragen oder zu zögern, und dann unverzüglich umkehren. Enteraktionen im freien Raum wurden praktisch nie zur Rettung oder Gefangennahme von Menschen unternommen. Damit hatten die Füsiliere in der Regel keine Last, da die Waffentechnik mit der Technologie der Panzerung in einem stabilen Ungleichgewicht zueinanderstand. Einen Wirkungstreffer zu landen gestaltete sich extrem schwierig, wenn er jedoch gelang, gab es für die komplette Besatzung des getroffenen Schiffes kaum Überlebenschancen. Daher ging es beim Entern um die Rettung oder Eroberung von Datenträgern, Papieren oder anderen Geheimnissen.

Hinter der Stirn des Majors arbeitete es. Als Frontoffizier benötigte er nicht lange, um zu einem ersten Ergebnis zu gelangen.

»Schätze, ein gewöhnlicher Frontalangriff zieht diesmal nicht. Die sehen uns kommen, töten die Prinzessin oder schieben sie als Geisel in den Flur zwischen uns. Im letzteren Fall wird aus der Veranstaltung eine fiese Hängepartie mit offenem Ausgang. Ich schlage daher eine taktische Täuschung vor. Diese Jacht ist nicht übermäßig groß, deshalb muss ein Loch im Rumpf reichen. Wenn ihr zwei oder drei Löcher reinballert, entlüftet der ganze Kahn und es gibt nichts mehr zu retten. Also ein Loch, durch das ein Trupp in Standard-Vorgehensweise aufentert. Ich komme derweil durch den Ionenhammer ins Schiff.«

Tanner atmete scharf ein, seine Fähigkeit, sich die Dinge plastisch vorzustellen, gab ihm einen Vorgeschmack auf das, was Anheuser gerade vorzuschlagen im Begriff war.

»Der Trupp, der durchs Loch kommt, lässt sich aufhalten, verzettelt sich, biegt falsch ab, irgend so was, was die Situation gerade hergibt. Alle im Schiff befindlichen Verteidiger sollen sich auf den Trupp konzentrieren, gleichzeitig aber keine übergroße Besorgnis entwickeln. Wenn die in Panik geraten, wäre es nicht so gut um unser Ziel bestellt. Wir gehen von hinten durch die kalte Küche und überraschen sie. Ende der Geschichte.«

Tanner bewunderte die Entschlusskraft Anheusers, insbesondere in Verbindung mit dem grenzenlosen Optimismus, den der Major wie einen Schild vor sich hertrug. Natürlich wussten sie beide, dass jede andere Gemütsregung nicht zu seinem Körper, seiner Haltung und seinem Gesichtsausdruck passte. Ein Kerl wie er musste einfach optimistisch gepolt sein, in einem solchen Muskelgebirge erwartete man ganz sicher keinen Bedenkenträger. Mit den real drohenden Risiken hatte das wenig zu tun, nur dachte der Major nicht in Kategorien wie Risiko. Sein Ansatz lautete: Ignoriere ein Risiko, dann ignoriert es auch dich.

»Ganz so kalt wird die Küche nicht sein. Wenn die da drüben fliehen wollen, wird es heiß im Antriebsteil, sehr heiß.«

»Nichts, was unsere Körperpanzer nicht vertragen könnten. Alles, was wir brauchen, ist ein Loch im Antriebsstrang, dann kühlt das Weltall den ganzen Bereich in Minuten.«

Tanner nickte. Es hatte keinen Zweck, weiter über die Gefahren und Unwägbarkeiten des kommenden Einsatzes zu diskutieren. Der Kommandant gab das Ziel vor und der Frontoffizier entschied über die taktische Variante. So hatten sie es immer gehalten, im Gegensatz zu der strikten Hierarchie, die vom Flottenkommando vorgegeben wurde, aber eben auch immer erfolgreich. Tanner vertraute seinen Leuten, so wie sie ihm vertrauten. Anders konnte er sich sein Kommando nicht vorstellen. Man musste sich im Leben entscheiden, auf welche Weise man die Dinge anpackte. Ob man daran zugrunde ging oder obsiegte, lag nicht notwendigerweise in den eigenen Händen. Insofern war es müßig, sich Sorgen zu machen.

»Gut, genehmigt. Achtet auf guten Funk, wir werden wahrscheinlich was improvisieren müssen. Schaffe deine Leute in den Absetzhangar, es bleibt nicht mehr viel Zeit.«

Als hätte er es beschrien, ertönte die weiche Stimme Nagama Tais: »Die haben uns bemerkt. Ionenhammer wird hochgefahren. Beschleunigung setzt ein.«

»Also schön. Dwight, drei Minuten bis X-Beschleunigung.«

Der riesenhafte Füsilier knurrte nur abschätzig, stemmte sich aus dem Sessel und marschierte mit raumgreifenden Schritten davon. Die Brückencrew überprüfte still noch einmal peinlich genau die Gurte. Nazifa drehte den Kopf zur Seite, nahm Blickkontakt zu Nagama Tai auf, die etwas erhöht an der Seite der Brücke ihren Platz hatte, nahm ihr Nicken auf und sagte:

»Die Jacht ist uns unterlegen. Die in der Datenbank aufgeführten acht g übertrifft sie nicht. Mit augenblicklicher Beschleunigung verlängert sich die Aufholjagd um mehr als eine Stunde. Ich schlage vor, wir gehen auf x plus drei und verkürzen um dreißig Minuten.«

Sie musste die Gründe und die daraus erwachsenen Schwierigkeiten für die Besatzung nicht erwähnen, zu oft waren derartige Manöver schon notwendig gewesen.

»Gut, zwei Minuten dreißig. Schwerer Beschleunigungsalarm.«

Der Erste Offizier berührte eine winzige Taste und schon dimmte die Beleuchtung auf ein fahles Halbdunkel, einzelne Lampen begannen zudem, in düsterem Gelb zu blinken. Gleichzeitig raste ein Alarmton durch Schiff, der an das Kratzen an einem rostigen Eimer erinnerte. Durch den Alarm machten sich alle Besatzungsmitglieder binnen Kurzem bereit, größere Belastungen zu ertragen. Normalerweise schaffte der Ionenhammer etwa zwanzig g, soviel vermochte der Gravitationsnegator auszugleichen. Eine höhere Beschleunigung war möglich, in diesem Fall reichte die Energie jedoch nicht aus, das mehr an Beschleunigung auszugleichen. X plus drei bedeutete, drei g mehr vom Antrieb abzurufen, als der Negator aufzufangen in der Lage war. Die Besatzung würde also für die nächste Zeit drei Mal soviel wiegen wie üblich.

»Fangen wir sie ab, bevor sie den Bereich für Krümmung erreichen?«

»Auf jeden Fall, Skipper, sie bewegen sich von uns weg und wir kommen aus der Krümmungszone. Bis sie auf der anderen Seite des Systems wieder in den sicheren Bereich gelangen, haben wir sie auch zu Fuß eingeholt.«

Tadeusz Duda antwortete flapsig, offensichtlich wollte er dem Ersten ein wenig nacheifern. Tanner schnaufte amüsiert durch und wandte sich an den Waffenoffizier: »Istvan, du weißt, was das Ziel ist. Sanfte Gewalt ist das Gebot der Stunde. Erst bewegungsunfähig machen, dann ein schönes Loch schneiden, möglichst weit weg von der Zentrale. Zum guten Schluss ein tiefer Schnitt in den Antriebskanal. Kriegst du das hin?«

Eine rein rhetorische Frage, dennoch musste sie gestellt werden. Der kleine Mann lächelte spitzbübisch und machte eine wegwerfende Geste: »Kein Problem. Eine Jacht ist kein ernsthafter Gegner.«

»Schon richtig. Wollen wir hoffen, dass die Burschen da drüben auch zu dieser Erkenntnis kommen.«

Tanner zog seine Stirn in Falten. Das womöglich bevorstehende Gefecht bereitete ihm keine ernsthaften Sorgen. Wesentlich konkreter erschien ihm dagegen die Möglichkeit, die Leute da drüben könnten sich noch kurz vor knapp ihrer brisanten Fracht entledigen. Sollte sich die Prinzessin tatsächlich an Bord befinden und sollte der Teil der Besatzung, der erst für die Notwendigkeit des Notrufs und anschließend für das abrupte Ende desselben gesorgt hatte, sich dazu entschließen, die Prinzessin über Bord gehen zu lassen, dann würde es wirklich übel werden. Auf große Entfernung war es reine Glücksache, mit den Sensoren einen kleinen menschlichen Körper zu entdecken. Der Kommandant zweifelte keinen Augenblick daran, wer am Ende die Verantwortung für den Tod des Kaiserlichen Sprösslings angehängt bekäme.

Die Zeit lief ab, Nazifa führte einige Kommandos mit ihren Händen und Unterarmen aus, die von außen nicht sichtbar waren. Sie starrte wieder in ihren Holo, im Zentrum das eigene Schiff, ein gutes Stück voraus und leicht nach rechts unten versetzt die Jacht. Im Holo wurde auch die Ionenspur abgebildet, ein guter Indikator für die eingeschlagene Richtung. Der Lärm an Bord veränderte sich nicht, doch allmählich wurden die Besatzungsmitglieder in die Sitze gepresst. Langsam, dann nach und nach schneller werdend, verringerte sich der Abstand zur Jacht.

*

Kampf um Katinka

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