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Datenbankauszug 1201

Kurz vor dem Untergang der Erde gaben einige Erfindungen der Menschheit die Möglichkeit in die Hand, den Planeten in nennenswerter Zahl zu verlassen. Die Hast bei der Entwicklung führte dazu, dass etliche Fragen in Bezug auf die neuen Techniken offenblieben. Durch den Exodus ging dann noch zusätzlich eine große Menge Hintergrundwissen verloren und das für immer, da auch die verantwortlichen Wissenschaftler nicht überlebten. Man kann Maschinen bedienen, ohne viel Ahnung über die inneren Vorgänge zu haben. Praktisch jeder kann zum Beispiel eine Pistole abfeuern, einige Hochbegabte schaffen es, anhand des Anschauungsexemplars Ersatzteile oder auch eine ganze Waffe zu fertigen, fast niemand wird die physikalischen Grundlagen und die prinzipielle Funktionsweise bis ins Letzte verstehen. Um aber das vorhandene Design in entscheidenden Punkten zu verbessern, wäre ein Team bestens ausgebildeter und mit allem notwendigen Wissen ausgestatteter Spezialisten erforderlich. Diese Spezialisten existierten jedoch schlicht und ergreifend nicht, auf keinem der Planeten, die von der ersten Welle erreicht werden konnten. Der Umstand, dass nach dem Exodus im ersten Jahrhundert auf jedem Planeten der Überlebenskampf alle verfügbaren Ressourcen auffraß und niemand die Zeit fand, über Weiterentwicklungen der technischen Grundlagen nachzudenken, trug nicht zur Verbesserung der Situation bei. Nachdem die jeweiligen Bevölkerungen ihre Lebensgrundlage soweit gesichert hatten, dass sie ihren Blick nach draußen richten konnten, begannen unverzüglich die Kriege, die sich bis in die heutige Zeit nahezu pausenlos hinzogen. Erzeugt wurde die Situation durch die unglaublich schlimmen Zustände auf den Planeten. Wohin sich die von der Erde geflüchteten Menschen auch wandten, den Garten Eden fanden sie nicht. Die zur Besiedlung ausgesuchten Planeten wehrten sich gegen die neuen Herren und brachten den nicht übermäßig zahlreichen Siedlern hohe Verluste bei. Die verzweifelte Situation bewirkte eine Veränderung der Herrschaftsstruktur. Es zeigte sich, dass die Tradition der Demokratie zu kurz und zu zerbrechlich gewesen war, um der Rückkehr der in den Jahrtausenden zuvor herrschenden Diktaturen ernsthaften Widerstand entgegensetzen zu können, zumal unter den gegebenen Umständen. Die jeweilige Ausprägung der totalitären Regime variierte von Planet zu Planet, im Ergebnis konnte es der Bevölkerung egal sein. Überall setzte sich eine kleine Gruppe durch und unterdrückte den großen Rest mit aller Härte. Zwar begünstigten die kurzen Entscheidungswege und das rücksichtslose Einsetzen entrechteter Menschenmassen das Überleben als Ganzes, gleichzeitig wohnte jeder Diktatur bereits der Keim für weiteres Elend inne. Im Moment der Wiederaufnahme der Raumfahrt begegneten sich Herrschaftssysteme, die weder willens waren, irgendwelche Kompromisse einzugehen, noch darin Übung hatten, sich mit einem gleichrangigen Konkurrenten in friedlicher Diskussion auseinanderzusetzen. Die Kriege zogen sich schier endlos in die Länge, weil der technische Stand bei allen gleich geblieben war. Die Grundlage der Weltraum- und Waffentechnik entsprach immer noch voll und ganz der, die am Tag des Exodus mit ins Weltall genommen worden war. Die Bevölkerungszahlen der einzelnen Planeten waren einigermaßen vergleichbar und damit auch die militärische Stärke und die industriellen Ressourcen.

Für Raumschlachten und ganz allgemein für die Raumfahrt ergaben sich mithin zwei Probleme, die seit Urzeiten niemand zu lösen sich die Mühe gemacht hatte, weil der Wissensstand nicht ausreichte und bei pausenloser Kriegsführung weder genug Menschen noch finanzielle Mittel für Grundlagen-Forschung zur Verfügung standen, von der notwendigen Geduld ganz zu schweigen: Energie-Erzeugung und Energie-Transport. Etwas Effizienteres als eine Wasserstoff-Helium-Fusionsmaschine stand nie zur Verfügung. Der für den Normalraum üblicherweise zum Einsatz kommende Antrieb war der Ionenhammer. Dieser benötigte enorm viel Energie, um eine Beschleunigung zu bewirken, die wenigstens im Ansatz militärischen Ansprüchen genügte. Um ab einem gewissen Punkt die Beschleunigungswerte für die Besatzung erträglich zu machen, brauchte es den Gravitationsnegator, der wiederum in puncto Energieverbrauch alles bisher da Gewesene in den Schatten stellte. Insbesondere wuchs der Bedarf an Energie quadratisch für jedes zusätzliche g Beschleunigung an. Da Ionenhammer und Gravitationsnegator ihre Leistungsaufnahme prinzipbedingt gleichzeitig in die Höhe schraubten, war die Grenze des Leistbaren unangenehm rasch erreicht. Zumal da noch das zweite Problem lauerte, der Transport der Energie vom Meiler zu den Verbrauchern. Einfache Kabel und Leitungen genügten den Ansprüchen längst nicht. Die Lösung bestand in hochfesten Rohren, durch die glühendes Plasma geleitet wurde. In den Plasmakupplungen, ein mehr als schlichtes Wort für die Herkules-Arbeit, die dort verrichtet werden musste, fand die Umwandlung statt. Ein brauchbarer Sternenantrieb bestand also aus einem Meiler, einem Ionenhammer, einem Gravitationsnegator und jeweils zwei Plasmakupplungen zwischen Energieerzeuger und –verbraucher. Dies nahm enorm viel Platz in Anspruch, zumal der eigentliche Antrieb für das Erreichen anderer Sonnensysteme auch noch eine Menge Energie und Raum benötigte, wenngleich nicht zur selben Zeit wie der Rest des Ensembles. In einem Schlachtkreuzer musste zudem noch Raum reserviert bleiben für die Bewaffnung, für Landetruppen und Beiboote. Aus den vorgenannten Gründen verbot sich der Einsatz von Waffen mit übermäßigem Energiehunger, zum Beispiel alle Sorten von Strahlwaffen. Man konnte auf einem Raumschiff einfach nicht gleichzeitig feuern und dabei manövrieren, was unbedingt notwendig wäre für einen erfolgreichen Kampf.

Im Laufe der Zeit und ganz ähnlich vorgehend wie Menschenaffen, nämlich durch Versuch und Irrtum, hatte man in zahllosen katastrophalen Fehlversuchen die ideale Größe für einen Schlachtkreuzer herausgefunden, in dem Gewicht, Manövrier- und Beschleunigungsfähigkeit, Energiebedarf und Maschinenleistung, sowie der Platzbedarf der Crew in optimalem Verhältnis zueinanderstand. Das Ergebnis sah so aus, dass um die sechzig Prozent des Rauminhaltes eines Schiffes für Energie und Antrieb reserviert wurden. Unglücklicherweise handelte es sich sowohl bei den Planern als auch bei den Offizieren der Schiffe um Adlige, die ihren Anspruch auf einen gewissen Lebensstandard in ihre Berechnungen einfließen ließen. Nach der reinen Lehre, wenn man also alle subjektiven Argumente und egoistische Motive außer Acht ließ, lag der Quotient für Energie und Antrieb bei etwas über fünfundsechzig Prozent. Zudem könnte die Panzerung stärker ausgeführt und ein paar zusätzliche Features eingebaut werden, die auf der einen Seite eine nicht geringe Unbequemlichkeit für die Mannschaft mit sich brachten, auf der anderen Seite jedoch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil in der Schlacht bedeuten konnten. Glücklicherweise wurden alle Schiffe von Adligen geplant und befehligt, die aus prinzipiellen Erwägungen heraus lieber in der Schlacht starben, als sich nur einen Tag lang irgendwelchen Unannehmlichkeiten auszusetzen.

Zum nicht geringen Entsetzen der Feinde Horaves existierte jedoch eine Ausnahme: die Grizzly.

*

Das Verzögerungsmanöver war sehr brutal verlaufen. Da ein Schlachtkreuzer nur einen Ionenhammer besaß, der aus rein praktischen Gründen das Heck bildete, konnte die Grizzly nur in die Richtung beschleunigen, in die die Nase zeigte. Die Verfolgung eines anderen Schiffes geriet wegen dieses Umstandes zu einem wahren Eiertanz. Das Schiff beschleunigte eine Zeit lang, bis es einen komfortablen Geschwindigkeitsüberschuss gewonnen hatte. Um nicht mit hohem Tempo an der Jacht vorbei zu orgeln, musste es auch wieder abgebremst werden, damit bei Erreichen des anderen Schiffes die gleiche Geschwindigkeit anlag. Dazu wurde die Grizzly um hundertachtzig Grad gedreht, anschließend volle Triebwerksleistung gegeben und dann das Ganze retour. Die Jacht versuchte natürlich, auf jede mögliche Weise ihre Flucht zum Erfolg zu führen. Deshalb führte sie einige Manöver aus, beschleunigte, bremste auch wieder ab, versuchte schließlich eine sich immer weiter zuziehende Hundekurve, damit die Grizzly nicht mehr rechtzeitig abbremsen konnte und vorbeiflog. Dies alles zwang Nazifa dazu, jedes Manöver des Flüchtlings mitzugehen, die Vektoren und Beschleunigungen anzupassen. Im Ergebnis tanzte das Schiff hin und her, drehte sich ständig, bremste, beschleunigte, passte den Kurs an. Natürlich hatte die schwächer motorisierte Jacht keine Chance, dennoch wurde die Verfolgung gerade im Endanflug zu einem waghalsigen Unterfangen. Glücklicherweise kompensierten die Negatoren auch die raschen Drehbewegungen.

»Noch sechzig Sekunden bis Waffenreichweite.«

Nazifa starrte hoch konzentriert auf das Holo, mit einem halben Auge auf ihr kleines Datenfenster und schaffte es nebenbei auch noch, Istvan kurz anzulächeln.

»Alle Waffensysteme klar zum Gefecht«, meldete er kurz und versenkte sich in seine Anzeigen.

Roscoe Tanner tippte auf ein Feld neben dem rechten Display, mit dem er die interne Kommunikation steuerte: »Füsiliere: bereitmachen. In zwei bis vier Minuten erfolgt Ausschleusung.«

Die knarzende Stimme Anheusers quittierte knapp. Er klang gerade so, als ob er bereits an seiner Leine zerrte und die verbleibende Wartezeit als ungeheuer nervend empfand. Die Füsiliere befanden sich bereits an Bord der Sturmboote, winzige, stark gepanzerte Nussschalen, die unbedarften Normalbürgern klaustrophobische Panikattacken verschafften. »Die Jacht stellt den Ionenhammer ab«, meldete Nagama, horchte in den Ohrstecker hinein, um anzuschließen: »Sie rufen uns.«

Tanner schüttelte den Kopf und stützte ihn sodann in den linken Arm, die für ihn typische Geste, wenn er fassungslos und erstaunt, aber nicht besorgt war.

»Aufschalten.«

Das jeweils linke Display vor dem Kommandantensessel und den Sitzen des Ersten und Zweiten Offiziers wechselte von reiner Datenanzeige zur durchsichtigen Variante. Durch die sich langsam bewegenden Kurven und Textzeilen war nun das Bild eines Mannes zu sehen, dem man die skrupellose Brutalität förmlich ansehen konnte. In einem runden, mit Schweiß bedeckten Gesicht glitzerten tückische Augen, die sich unruhig bewegten. Eigentlich wirkte er wie der Prototyp des professionellen Gewalt-Verbrechers, inklusive der wie arrangiert wirkenden Narbe auf der linken Wange. Eine frische Platzwunde an der rechten Augenbraue, gerade ausgeblutet und noch ohne Kruste, störte das Bild jedoch erheblich. Offenbar hatte der Kerl seinen letzten Kampf nicht mit der zu erwartenden Souveränität gewonnen. Irgendwo tief verborgen hinter der unbewegten Miene schien die gehetzte Ruhelosigkeit des in die Enge getriebenen Tigers hindurchzuscheinen. Nach außen gab der Mann den arroganten Großkotz. Mit leicht näselnder Stimme, die ein ganz klein wenig quengelig wirkte, spuckte er große Töne: »Das ist nahe genug, Horave. Wir haben die Prinzessin. Also macht nichts falsch, ja? Ein Schuss von euch und ich schneide das Früchtchen in Stücke. Ihr werdet die Nase wegdrehen und hübsch kräftig abbremsen. Bestätigen Sie.«

Tanner biss die Zähne aufeinander, um nicht zu grinsen. Er mochte falsch liegen, aber die abfällige Bezeichnung für eine Kaiserliche Tochter und die Platzwunde mussten einfach in Bezug zueinanderstehen. Im Grunde verabscheute er die Adligen wegen zahlreicher Dinge, unter anderem, weil sie allesamt Feiglinge waren. Die Prinzessin schien da etwas anders gestrickt zu sein. Und zu seiner nicht geringen Freude durfte er heute seine Abscheu über die Kaiserin im Rahmen seines taktischen Konzeptes frei ausleben. Bei aller Gefahr für seine Zukunft und die seiner Besatzung erlaubte er sich dennoch, seine Freude für den Kerl hörbar werden zu lassen. Mit triefendem Sarkasmus gab er ihm den Blues: »Junger Freund, ich fürchte, Sie müssen sich etwas anderes überlegen. Dies ist zwar ohne jeden Zweifel ein Schiff der Kaiserlichen Flotte. Ich bin aber nicht im Mindesten adlig. Ich bin Captain Roscoe Tanner. Dies ist die Grizzly. Ergeben Sie sich, oder Sie werden zerstört. Mit allem, was sich an Bord befindet. Entscheiden Sie sich jetzt. Wie ist mir furzegal.«

Das war natürlich glatt gelogen, aber das konnte der Kerl auf dem Display nicht wissen. Was er wusste, ließ ihn auf der Stelle erbleichen. Kaum jemand kannte die Wahrheit, alle kannten die Legenden, die sich um die Grizzly rankten. Das gefürchtete Außenwelter-Schiff! Schlachtschiff der Hölle! Nie hatte es gegenüber hochgestellten Gegnern auch nur den Hauch von Gnade gegeben. Der Captain drohte niemals, um damit etwas kampflos zu erreichen, er setzte es immer in die Tat um. Immer!

Dem namenlosen Verbrecher wurde schlagartig bewusst, dass er eine Geisel hatte, die er gegenüber jedem Schiffskommandanten Horaves beliebig einsetzen konnte. Nur gegen einen überhaupt nicht, und genau dem war er begegnet. Tanner betrachtete den nun sehr blassen und stark schwitzenden Mann und sah ihm beim krampfhaften Nachdenken zu. Er beschloss, die Dinge zu forcieren, bevor der Kerl auf dumme Gedanken kam.

»Ich nehme jederzeit Ihre Kapitulation entgegen«, meinte er freundlich und kappte die Verbindung. Mit frischer Schärfe gab er knappe Befehle: »Füsiliere ausbooten. Angriff nach Plan. Waffen, Einsatz frei.«

Vier Sturmboote wurden zwei Sekunden später nach unten aus dem Schiff geworfen, zündeten ihre Reaktionsdüsen und sprangen in Richtung Jacht. Istvan Horvath reagierte wie ein Pianist. Mit fliegenden Bewegungen prüfte er kurz die Beweglichkeit seiner Finger, dann haute er in die Tasten.

*

Datenbankauszug 1302

Nach der Wiederentdeckung der interstellaren Raumfahrt hatte man einige Zeit benötigt, die ursprünglich vorhandene Technologie nach und nach industriell verfügbar zu machen. Im Bereich von Bewaffnung und Panzerung dauerte es eine Weile, um den Stand der Technik zu erreichen, der dem Niveau von vor dem Exodus entsprach. Darüber hinaus vermochte sich kein Planet weiter zu entwickeln, die Kämpfe brachen in den Augenblick los, als die ersten beiden Planeten je ein Schiff besaßen, die sich im Weltall finden konnten. In dem Gemetzel, was folgte und bis zum heutigen Tage andauerte, spielte ab diesem Zeitpunkt nur noch Masse eine Rolle. Möglichst viele Schiffe mit möglichst starker Bewaffnung bauen zu können, sie in der Schlacht möglichst rücksichtslos einzusetzen, etwas anderes zählte nicht.

Diese Einstellung der Entscheidungsträger erwies sich in zweifacher Hinsicht als unfassbar dumm. Zum einen führte der Verzicht auf jede Technologie-Forschung auf der einen Seite, und das blinde Anrennen in Materialschlachten auf der anderen Seite zu sinnlosem Blutvergießen. Jahrhunderte vergingen, in denen beständig die qualifiziertesten und stärksten Köpfe eines jeden Planeten und jedes Reiches in den Kämpfen umkamen. Manch ein mäßig kluger Kopf rettete sich in gespielte Unfähigkeit, die Elite starb, meistens, bevor sie für adäquaten Nachwuchs sorgen konnten. Da die Schiffe zudem ganz überwiegend mit Edelleuten bemannt wurden, führte der langjährige Prozess zu geistiger und zahlenmäßiger Verarmung der Führungsschichten. Hier bot sich eine plausible Erklärung an für die unaufhörlich fortschreitende Verrohung der Sitten und Verhaltensweisen. Aus dieser Entwicklung schien es keinen Ausweg zu geben, denn an dem relativen Patt im All änderte sich nichts.

Dort oben lag der zweite Grund, warum das Handeln der Mächtigen als die perfekte Dummheit gelten konnte.

Zwischen Panzerung und Bewaffnung herrschte nämlich eine Art zerbrechliches Gleichgewicht, und das im wörtlichen Sinne. Die Panzerung der Schiffe war der Schlüssel. In all den Jahren war es den Menschen nicht gelungen, eine wie auch immer geartete Möglichkeit zu finden, ein Raumschiff mit einem Schutzschirm zu versehen. Sicher, im Labor funktionierten manche Methoden, theoretisch waren selbst Hyperschirme denkbar. Praktisch scheiterten alle Versuche an der ungelösten Frage der Energieversorgung. Die transportablen Fusionskraftwerke vermochten zwar eine ganze Menge Energie zu erzeugen, hatten aber doch ihre Grenzen. Antrieb und Schwerkraftkontrolle verschlangen Unmengen von Energie, die für sich allein die Erzeuger vollständig auslasteten. Ein Schutzschirm würde noch zusätzlich ein Mehrfaches verbrauchen und das war nicht mehr darstellbar. Im Prinzip standen die Schiffkonstrukteure vor dem gleichen Problem wie vor Urzeiten die Entwickler erdgebundener Panzer. Ein schlagkräftiges Kriegsgerät erhielt man aus der geschickten Gewichtung der Komponenten Antrieb, Panzerung und Bewaffnung. Würde man eine Komponente über Gebühr stärken, so ginge dies nur durch Schwächung der anderen Komponenten, man erhielt also ein einseitig starkes und gleichzeitig auf einem anderen Gebiet empfindlich schwaches Gerät. Für Raumschiffe komplizierten sich die Dinge noch zusätzlich. So ein Schutzschirm war schließlich nicht nur im Kampf eine feine Sache. Er bot auch Schutz vor Meteoriten, kosmischer Strahlung und anderen Überraschungen, die Mensch und Material in Gefahr zu bringen trachteten. Zwar erreichten die Schiffe nicht einmal annähernd die Lichtgeschwindigkeit, dennoch waren in der Anfangsphase der Raumfahrt die Unfälle nicht selten, und immer verliefen sie in der lebensfeindlichen Umgebung des Weltalls katastrophal. Ein neuartiges Material hatte schließlich die Lösung gebracht: Cardonium.

Der künstlich herzustellende Stoff bestand aus einem flexiblen Kristallgitter und war demzufolge auch fähig, auf äußere Reize zu reagieren. Im normalen, ruhenden Zustand ein Stoff, der hart und metallisch aussah und auch sehr hart war, veränderte er sich dramatisch, wenn Hitze oder ein mit hoher Geschwindigkeit fliegender Gegenstand auf die Cardonium-Hülle traf. Das eine wie das andere führte zu einer Umkristallisation, mit der sich das Material zum einen wesentlich verhärtete, gleichzeitig die Energie an benachbarte Kristalle abzugeben imstande war. Wenn zum Beispiel eine Atomrakete auf einen Schiffsrumpf auftraf, so führte das dazu, dass die Explosionsenergie an alle Kristalle der Hülle weitergegeben wurde, sodass zum einen die Wellenfront des Aufschlags um das Schiff herumlief wie die Wellen, die vom Aufschlag eines Steins in den Teich weglaufen. Zum anderen wurde die getroffene Stelle extrem hart und kompakt und absolut undurchdringlich. Die Umkristallisation an sich verschlang den Großteil der Waffenenergie und verhinderte so tief greifende Schäden. Nach Abgabe der Energie kehrten die Kristalle in die Ausgangsposition zurück und das Spiel konnte von Neuem beginnen.

Mit Cardonium hatte sich der Kampf mit Raketen schlagartig erledigt. Auf diese Weise war die Hülle eines Raumschiffes nicht mehr zu durchdringen. Allgemein erwies sich nun jegliche Art von Fernwaffe als untauglich. Man musste wieder nahe heran, um überhaupt eine Chance zu haben. Die supermodernen Schlachtkreuzer kehrten zu den Taktiken der technischen Steinzeit zurück. Man nannte es wie damals Dogfight.

Der dicke Haken an der neuartigen Panzerung war, dass er in beide Richtungen als Hindernis funktionierte. Explosionen im Inneren eines Schiffes führten regelmäßig zum Totalverlust, da die Panzerung auch in diesem Fall nicht nachgab und die Druck- und Feuerwellen solange im Schiff herumtobten, bis nur noch eine leere Hülle blieb, wie bei einem dicken Käfer, der schon lange tot ist und dessen Körper verlassen am Wegesrand liegt.

Die ideale Form für einen Schlachtkreuzer war auch bald gefunden. Bedingt durch die Art des Kampfes kamen alle Konstrukteure, auch unabhängig voneinander, zu dem Ergebnis, ein gewölbter Faustkeil stelle die ideale Form dar. Hinten brauchte man eine große Öffnung in der Hülle, um dem Ionenhammer genügend Fläche zu lassen, mit deren Hilfe der an sich eher leistungsarme Antrieb doch noch auf akzeptable Beschleunigungswerte kommen konnte. Nach vorne hatte sich die Form von allen Seiten zu verjüngen, um in Planetennähe zumindest ansatzweise aerodynamischen Erfordernissen zu entsprechen. Außerdem hatte sich die Form bei Treffern von vorne bewährt, egal ob kosmischen oder menschlichen Ursprungs. Die leichte Wölbung, mit der sich ein Miniaturmodell in die fast offene Handfläche schmiegen konnte, brachte taktische Vorteile. An der Unterseite, durch die Wölbung von überlappender Panzerung geschützt, befanden sich die Schleusen. Dort konnte man die Panzerung öffnen, um Beiboote, Minen oder Raketen auszustoßen, ohne ein höheres Risiko einzugehen, sich einen Treffer in den ungeschützten Bauch einzufangen.

So war ein Schlachtkreuzer also so gut geschützt wie eine Schildkröte, doch ebenso wie bei diesem Tier gab es Schwachstellen. Die große Schwachstelle war, wie konnte es anders sein, der Antrieb. Groß wie ein Fabriktor lud er zum hinein schießen geradezu ein. Die Besatzungen hatten somit zwei vorrangige Ziele: Dem Gegner einen Treffer in den Ionenhammer verpassen, gleichzeitig dasselbe für das eigene Schiff verhindern. Daneben existierten allerdings noch weitere Schwachstellen, bedingt durch die unerlässliche Notwendigkeit nach draußen sehen zu können. Die Sensoren, das Teleskop und die zahlreichen elektronischen Horchapparaturen benötigten einen kleinen Durchbruch durch die Hülle, ebenso die Korrekturtriebwerke. Hierdurch zeigte sich die an sich undurchdringliche Hülle mit potenziellen Schwachpunkten übersät wie ein Streuselkuchen. Die Kunst der Entwickler konzentrierte sich auf die Anordnung der Schwachstellen. Diese wurden mit Masse rundum am Heck, an den Seiten und am „Bauch“ positioniert, der Bug, der idealerweise zum Gegner zeigte, wies eine andere Art von Schwachstelle auf: die Bewaffnung.

Durch einen Blendenmechanismus im Normalzustand verborgen, fuhren die Waffen im Kampf aus ihrer eigenen Panzerung heraus. Das Gefecht wurde üblicherweise auf nahe Distanz geführt, alles über tausend Meter galt als aussichtslos, dafür waren die Manövriergeschwindigkeiten zu hoch. Mit Fernraketen traf man immer einen vorbereiteten Gegner, der Zeit genug fand, den bestens geschützten Bug auf das ankommende Geschoss zu richten. Andererseits entwickelten die so genannten modernen Raumschiffe keine wirklich hohen Beschleunigungen und Endgeschwindigkeiten, um im Laufe des Gefechtes ein Übergewicht in Gestalt mehrerer Schiffe schaffen zu können, mit denen ein einzelner Gegner in die Zange genommen werden könnte. In der Konsequenz entwickelte sich fast immer ein Kampf eins gegen eins, in dem es auf Beweglichkeit, Intuition und taktisches Geschick ankam. Und auf die Stärke der Waffen. Im Prinzip führte ein Schiff drei Sorten von Waffen mit sich: Vernichtungswaffen gegen planetare Ziele; dies Art Waffe war der Grizzly untersagt. Waffen, um die Sensoren zu blenden, meist in Gestalt diverser Raketen und angetriebener Minen, die mit Hitze und Strahlung eine Zerstörung oder doch wenigstens die zeitweise Blendung bewirkten. Und letztlich die Hauptwaffe, mit der ein gegnerisches Schiff zerstört werden konnte: die Kanonen.

Da auf normalem Weg eine Panzerung aus Cardonium praktisch nicht zu durchdringen war, blieb nur ein Trick übrig, den die Physiker Schwingungskatastrophe nennen. Eine Vielzahl kleiner Explosionen veranlassen die Kristallgitter zu zahlreichen Abwehrreaktionen, die vielen Veränderungen des Gitters führt zu Überlappungen und sich aufschaukelnden Verstärkungen und Ausweichbewegungen, die in der Summe schließlich an einer Stelle zum spontanen Bruch der Hülle führen. Gänzlich unverstanden war dabei die Erfahrung, dass eine ganz bestimmte Menge Sprengstoff pro Explosion den besten Effekt erzielte, die notwendige Zahl und Dichte der Explosionen jedoch schwankte und abhängig schien von winzigen Details, die bei der Produktion der Hülle zu unterschiedlichen Bedingungen geführt haben mochten. Der Entwicklung und dem Gebrauch von Kanonen zugrunde lag die Vernichtung der Gnomatou, ein Schiff von Ordune, die im Vertrauen auf ihre Unverwundbarkeit in das Trümmerfeld eines gerade von ihr zerstörten Frachters geflogen war. Der Frachter hatte Munition geladen, die sich in feurigen Kaskaden in Nichts auflöste, auch im Augenblick des Durchfluges. Die graue Oberfläche des Ordunesen hellte sich in Sekundenschnelle in flackernden Lichtbogen auf und … zerbrach in drei Teile. Die Wissenschaftler benötigten beinahe drei Jahre, bis es gelang, den Effekt unter Laborbedingungen zu reproduzieren. Es vergingen weitere fünf Jahre, bis dieselben Wissenschaftler dahinter kamen, dass die Bedingungen für das Bersten der Hülle sowohl von der Dicke als auch von der schieren Größe abhingen. Nach Abschluss der Forschungen endete das kurze Zeitalter der unverwundbaren Planetenvernichter.

Mangels Gegenwehr und probater Bekämpfungsmöglichkeiten hatten sich bis dahin Schlachtkreuzer nicht bekämpfen können und der eigentliche Zweck eines bewaffneten und mit Cardonium gepanzerten Schiffes erschöpfte sich darin, die Welten der Feinde unbewohnbar zu machen. Da dies prinzipiell auch den Schiffen des gerade ausgelöschten Gegners möglich war, blieben Siege unmöglich. Leider schreckte das kaum jemanden ab und so verlor die Menschheit eine ganze Reihe Planeten und auch Reiche, bis die Wissenschaft die Menschheit als Ganzes quasi in letzter Minute rettete, in dem ein Weg gefunden werden konnte, Cardonium doch zu durchdringen. Nicht wenige hellsichtige Geister mutmaßten allerdings schon damals, dass hierdurch kein echter Durchbruch zur Rettung des Menschen vor sich selbst erzielt worden war, sondern lediglich die Leiden des Einzelnen und das Siechtum der ganzen Rasse verlängert wurde, wobei das Endergebnis weiterhin klar und hell am Horizont erkennbar blieb, die unverrückbare und völlige Vernichtung der Spezies Mensch. Die Regierenden verfügten weder über die geistigen Ressourcen noch über die Laune, langfristige Konsequenzen ihres Handelns zu reflektieren. Die Kriege gingen weiter, zeitlich begrenzte Friedensabkommen wurden allein wegen vollständiger Erschöpfung geschlossen, niemals aus einer wie auch immer gearteten Einsicht heraus. Als wäre die Situation nicht schon so fragil und elend genug, befleißigten sich die jeweiligen Machthaber zudem noch eines Herrschaftsdenkens, mit dem zuverlässig ausgeschlossen werden konnte, das Potenzial an qualifizierten und motivierten Offizieren auszuschöpfen. Nur einmal in der Geschichte Horaves hatte man eine Ausnahme machen müssen. Aber nun war der Krieg gewonnen und der „Fehler“ konnte behoben werden. Eines aber hatten die Adligen Horaves noch nie wirklich verstanden, ein eisernes Gesetz der Natur, das so auch eins zu eins auf menschliche Handlungsweise übertragbar war: Jede Aktion führt zu einer Reaktion. Oder, übersetzt auf menschliches Handeln: Jede Handlung fordert eine Gegenhandlung heraus. Der Handelnde glaubt hierbei stets in gleichsam pathologischer Selbstüberschätzung zu wissen, wie die Reaktion aussehen wird und diese selbstverständlich beherrschen zu können. Doch ist es noch nie gelungen, in die Zukunft zu sehen, niemals, nicht für eine einzige Sekunde.

*

Istvan Horvath tat, was getan werden musste. Die Steuerbefehle Nazifas vorausahnend gab er kurz Feuerstöße ab. Die beiden Rotorkanonen im Kaliber elf Zentimeter spuckten jedes Mal eine Geschoss-Wolke aus, die zu gleichen Teilen aus Sprengmunition und gehärteten Wuchtgeschossen bestand. Die Wolken trafen sich, zeitlich um eine Winzigkeit versetzt, auf verschiedenen Stellen des Rumpfes der Jacht. Der Waffenspezialist benötigte einige Feuerstöße, bis er die Bewegungen des Gegners verstanden hatte und in der Lage war, sie einigermaßen präzise in die Berechnungen seines eigenen Feuers einfließen zu lassen.

Für den unbedarften Zuschauer musste das Ganze wie ein Ringkampf wirken, nur dass ein Kind gegen einen Preisboxer antrat. Die Jacht maß kaum achtzig Meter in der Länge, die Grizzly knapp über vierhundert Meter. Zudem verfügte die Saskia über keinerlei Offensivbewaffnung. Ihre einzige Möglichkeit zur Gegenwehr bestand im Absetzen der wenigen Blendgranaten, worauf die Mannschaft aber aus gutem Grund bislang verzichtet hatte. Der Effekt würde nur wenige Sekunden andauern, wenn überhaupt. Somit eignete sich eine Blendgranate für die Jacht nur, um für die kurze Zeitspanne Ruhe zu haben, die der Hyperspleiß zum Laden benötigte. Da das Schwerefeld der Sonne bis hierher reichte, entfiel die Möglichkeit, eine Raumkrümmung zu erzeugen und einfach zu verschwinden. Ergo war es sinnlos, eine Blendgranate abzufeuern.

Istvan seinerseits trachtete danach, die Sensoren der Saskia mit konzentrischem Beschuss abzurasieren. Dabei brauchte er nicht genau zu treffen, lediglich nach Möglichkeit den Rumpf von vorne bis hinten mit Granaten abzustreuen. Er traf sehr gut, was auch daran lag, dass sich die Grizzly bis auf sechshundert Metern genähert hatte, wodurch die Geschosse aus den beiden riesenhaften Kanonen keine halbe Sekunde bis zum Aufschlag benötigten. Die Jacht wurde in Feuerwerk gehüllt, in rasender Folge wuchsen flammende Blumen aus ihr heraus, was zu großen Teilen eine optische Täuschung war, denn der Rumpf hielt noch.

Die Sturmboote kamen in Zweiergruppen ins Zentrum seines Holos geflogen, durch den Geschosshagel vor Entdeckung gefeit. Sie kamen jedoch rasch voran, und da die Jacht immer noch um die Hochachse tanzte, um dem Angriff zu trotzen, sah Istvan die Notwendigkeit, unverzüglich zum zweiten Teil überzugehen. Im gewölbten Unterboden öffnete sich gleich neben der Hangarschleuse eine kleine Luke, aus dem eine kegelförmige Rakete fiel. Sie setzte sich mit flammenden Reaktionsdüsen in Bewegung und der Waffenoffizier gab Nazifa ein Zeichen. Unverzüglich gab der Schlachtkreuzer seine leicht überhöhte Position auf und versuchte mit harten Manövern, auf einer Ebene mit der sich windenden Jacht zu gelangen. Die Pilotin täuschte eine Wendung an, tat so, als wolle sie mit zur Saskia gerichtetem Ionenhammer abbremsen und die Entfernung wieder etwas vergrößern, führte die Bewegung jedoch nur halb aus. So schwenkte sie bereits wieder zurück, als die Jacht sich ihrerseits drehte, um die Bremsung des Verfolgers zu nutzen, um von der Grizzly weg zu beschleunigen. Dadurch geschah es, dass die Saskia eine halbe Sekunde später den Kanonen den Rachen des Ionenausstoßers präsentierte. Istvan zögerte nicht, peilte eine Zehntelsekunde lang zum linken Rand des quadratischen Austrittsfeldes hin und gab Feuer.

Es reichte gerade so. Die Steuerdüsen der Saskia feuerten bereits panisch, um den offenen Hintern des Schiffes in Sicherheit zu hieven, da schlugen die Granaten ein. Der Waffenoffizier der Grizzly hatte speziell für diesen Feuerstoß ausschließlich Hartkernmunition angewählt. Explosionsgeschosse hätten das Risiko einer Kettenreaktion mit sich gebracht, immerhin galt in der Flotte ein Treffer in die offene Austrittsöffnung des Ionenhammers als Fangschuss, der in der Regel weiteren Beschuss überflüssig machte. Im Unterschied zur üblichen Raumschlacht war heute Präzision gefragt. Das Schiff sollte intakt bleiben, nur nicht mehr weiter weglaufen können.

Es war ganze Arbeit. Die Hartkerngeschosse drangen in den linken Bereich des offenen Hecks ein, verschwanden wie verschluckt. Die Jacht drehte sich um, zeigte mit der Nase wieder zum Verfolger. Für die nächsten Sekunden unterbrach Istvan die Beschießung und wartete auf das Ergebnis seiner Bemühungen. Er brauchte nicht lange zu warten. Offenbar wollte die Saskia wieder gegen die Grizzly beschleunigen, um hinter sie zu gelangen, aber das Manöver missriet auf spektakuläre Weise. Ein Teil der Austrittsöffnung flammte wie gewohnt auf und spie den ellenlangen Ionenstrahl aus, in der linken Ecke jedoch blähte sich ein gelblich eingefärbter Ballon aus Flammen heraus und verpuffte wirkungslos im All. Eine halbe Sekunde später stand der komplette Ionenhammer still. Auch die Positionsdüsen erloschen.

Istvan verzog das Gesicht zu einem kleinen triumphierenden Grinsen und gab der Rakete neue Befehle. Der Kegel sprang regelrecht nach vorne, bremste sofort wieder ab und senkte sich auf eine Stelle im vorderen Drittel der Jacht, dort leicht nach rechts versetzt. Das dicke Ende des Kegels krachte auf die Hülle, hüpfte wieder hoch, senkte sich erneut auf die Jacht herab, nun deutlich langsamer. Bei diesem zweiten Kontakt klappten kleine Füße aus dem Kegel heraus, die wie Landebeine aussahen. Tatsächlich waren sie etwas viel Besseres: Saugnäpfe. Mit ihrer Hilfe fixierte sich der Kegel, saß unverrückbar auf der Hülle und begann mit der eigentlichen Arbeit. Aus dem stumpfen Ende sprang gleißendes Licht heraus, brandete gegen die Hülle an und verfärbte sich und den angestrahlten Punkt im Cardonium ins Violette.

Dies stellte die zweite Möglichkeit zur Überwindung einer Raumschiffhülle dar. Genügend Zeit und Energie vorausgesetzt, vermochte ein hochenergetischer Plasmastrahl das Cardonium schlicht und ergreifend aufzuschweißen. Der Vorgang nahm einige Zeit in Anspruch, weil auch hier mit rasch fluktuierendem Energieniveau operiert werden musste. Kein Weg führte an der Überlastung der Fähigkeit zur Energieableitung der Kristallgitter vorbei.

Die Zeitspanne nutzten die Sturmboote. Die beiden ersten Boote warfen ihrerseits Saugnäpfe aus, um an der Jacht festzumachen. Die Leinen an diesen Saugnäpfen, gleichfalls aus Cardonium, dem universellen Material zum Einsatz im Weltall, wurden eingeholt, wodurch die Sturmboote auf der Außenhülle landeten. Sogleich öffneten sich zahlreiche Luken in den Seitenwänden, aus jeder Einzelnen quoll ein Füsilier in vollem Raumkampfanzug heraus. Der gepanzerte und allerlei Gerät behangene Anzug wirkte extrem unförmig, wie ein überdimensionierter Ziegelstein, ausgestattet mit ganz ähnlicher Beweglichkeit. Doch das täuschte nur einen kleinen Augenblick lang. Kaum aus den Luken befreit feuerten die Antriebseinheiten, woraufhin die Füsiliere in erstaunlich flotten Manövern um die Jacht herumflogen und sich in die gähnende und nun auch kräftig qualmende Öffnung des Ionenhammers warfen. Kaum waren sie verschwunden, erreichte die Kegel-Rakete ihr Ziel. Das bestrahlte Cardonium flammte einen winzigen Moment hell auf und wechselte sogleich in tiefes schwarz. Der Strahl drang nun durch die Hülle, erlosch jedoch sofort. Die Saugnäpfe lösten sich, veränderten sich blitzartig zu einer Art Greifwerkzeug und ergriffen die Ränder des frisch entstandenen Loches. Die Rakete drehte sich unter ihren eigenen Werkzeugen durch, das Triebwerk feuerte. Wie ein Kobold hüpfte der Kegel auf seinem Feuerstrahl hin und her, sehr schnell und abrupt. In diesen Sekunden machte sich die Rakete eine Eigenschaft des Cadoniums zunutze, die nach der Durchdringung mit einem Plasmastrahl üblicherweise auftrat. Das an die hineingebrannte Öffnung angrenzende Material wurde spröde. Nicht sehr lange, vielleicht eine Minute, doch es reichte. Die Rakete bog die heißen Ränder des Loches auf, ein etwas umständlicher Prozess, der sehr schnell durchgeführt werden musste. Schließlich war eine Öffnung von vielleicht zwei Metern Durchmesser gebogen, als die Rechner der Rakete erkennen mussten, dass es nicht mehr weiter ging. Folgerichtig öffnete sich der eiserne Griff der Werkzeuge, und die Rakete kehrte zur Grizzly zurück.

Die beiden verbliebenen Sturmboote hatten die Zeit genutzt, um sich auf der Hülle zu verankern. Sobald die Rakete ihre Position verließ, öffneten sich auch bei diesem Boot die Luken und ein Schwarm gepanzerter Füsiliere bevölkerte die Außenhülle der Jacht. Der erste Mann an der Öffnung warf eine Granate hinein, wartete ab, bis der Glutball an ihm vorbei verpuffte, und stürzte sich kopfüber in die Saskia.

Die Brückencrew beobachtete den Kampf über die Displays. Fünf der beteiligten Füsiliere trugen Helmkameras mit sich, deren Aufnahmen direkt ins Mutterschiff gesendet wurden. Major Anheuser hielt sich hinter der Spitze seines Trupps auf, erhielt dadurch die Muße, über das Helmdisplay im Splitscreen-Verfahren alle Einzelheiten des Unternehmens überwachen und lenken zu können. Alle Führungsoffiziere der Raumlande-Füsiliere durchliefen eine langwierige Ausbildung mit dem Ziel, komplexe Informationen auswerten zu können, ohne in Panik oder auch nur Hektik zu verfallen. Die Kunst bestand darin, vielfach sowohl optisch als auch akustisch einströmende Reize bewusst zu verarbeiten, das Sinnvolle vom Unwichtigen zu unterscheiden, die Fakten zu bewerten, sich gleichzeitig Gedanken zu machen, einen Plan zu fassen und ihn den Soldaten mitzuteilen, während gleichzeitig der Strom an neuen Informationen nicht abriss. Erstaunlich viele Menschen vermochten eine derartige Situation für eine kurze Zeit zu bewältigen, für eine für ein Gefecht wesentlich zu knappe Zeit. Bereits nach etwa dreißig Sekunden begannen die Fehler, die ersten wichtigen Informationen gingen unbeachtet durch, der Stress stieg unaufhörlich, die Konzentration ließ in der Form nach, dass sich die Aufmerksamkeit auf immer weniger Details richten ließ. In der Folge stieg die Fehlerquote rapide an, solange, bis sich die Delinquenten entnervt abwandten und flohen. Im Ergebnis schafften es nur äußerst wenige Rekruten, die Anforderungstests zur Gefechtsfeldleitung zu bestehen. Der riesige Major war der beste Absolvent, den Katinka je hervorgebracht hatte. Er war zu etwas fähig, was die Wissenschaftler „fraktionierte Schizophrenie“ nannten, er konnte sich verhalten wie mehrere Personen mit der entsprechenden Anzahl an Sinnesorganen, die Eindrücke jedoch wie ein Gesunder zentral und einheitlich auswerten.

Wie ein in sich ruhender Guru marschierte Anheuser hinter seinem Trupp her, ein persönlicher Leibwächter ständig hinter ihm, nahm ungerührt die Meldungen und Schreie seiner Leute entgegen, besah sich die Bilder aus den Kameras und gab ruhig und knapp seine Befehle. Die Eroberung des Schiffes verlief wie erwartet. Die Abwehr des Gegners konzentrierte sich auf die Region um das Loch, welches von der Enterrakete aufgerissen worden war. Die sich entwickelnden Kämpfe dort gaben dem Major wichtige Hinweise. So versuchten die Verteidiger, den Weg vom Loch zur Zentrale zu blockieren und die Angreifer zum Heck hin abzudrängen. Befriedigt nahm der Füsilier eine geistige Notiz in sein Gedächtnis auf, offenbar befand sich das für diese Leute Wichtige tatsächlich in der Zentrale. Zuerst jedoch teilte er seinen Trupp, schickte sechs Mann querab durchs Schiff. Die Füsiliere sollten nachschauen, was sich in der Gegend des Schiffes abspielte, in die der andere Stoßtrupp abgedrängt werden sollte.

Die Männer und Frauen, die durch das Loch kamen, sollten viel Lärm machen, aber keinen Bodengewinn. In ihren nahezu unzerstörbaren Panzeranzügen waren sie den Verteidigern haushoch überlegen, da diese nur in normalen Vakuum-Anzügen steckten, mache nicht einmal das. Gleichwohl verfügten sie über großkalibrige Schnellfeuerwaffen und rückstoßfreie Kampfraketen. Letztere waren durchaus dazu geeignet, einen Füsilier in Schwierigkeiten zu bringen. Zwar bestand auch der Anzug eines Füsiliers zum überwiegenden Teil aus Cardonium, war also praktisch undurchdringlich. Das Risiko bestand jedoch gar nicht in der Möglichkeit einer Beschädigung der Ausrüstung. Es gab im Gefecht lediglich zwei Risiken. Erstens trug ein Raumlandesoldat aufgrund der besonderen Fähigkeiten seines Anzuges eine erstaunliche Menge an Waffen und Munition mit sich. Es konnte passieren, dass sich Teile davon im gegnerischen Feuerhagel entzündeten. Zweitens war da die Beschleunigung. Egal, ob sich eigene Munition entzündete, oder ein Gegner einfach eine genügende Menge Sprengstoff in unmittelbarer Nähe des Anzugs zur Explosion bringen konnte, durch den Druck der Detonation wurde eine Beschleunigung auf den Anzug und damit auch auf den Mann im Inneren ausgeübt. Die Anzüge verfügten nicht über einen Trägheitsnegator, der exorbitante Energieverbrauch ließ es nicht zu. So schlug sich der Druck der Explosion in ein Bewegungsmoment nieder, das ohne Weiteres bis über vierzig g hinausgehen konnte. Die vierzigfache Beschleunigung war das Allerhöchste, was ein Mensch über eine Sekunde aushalten konnte, höhere Andruckwerte führten dazu, dass Adern von den Organen abrissen und weitere, noch unappetitlichere Dinge im Körper geschahen. Verkompliziert wurden die Risiken, wenn diese Dinge in geschlossenen Räumen stattfanden, und ein Raumschiff bestand definitiv aus geschlossenen Räumen. Der durch die Explosion weggeschleuderte Füsilier wurde nämlich zwangsläufig an die nächste Wand geschleudert und erlebte dort die zweite Beschleunigungskatastrophe, dieses Mal mit entgegengesetztem Vektor. Im Prinzip wurde der Füsilier mithin einem Vorgang unterworfen, der in fataler Weise einem Verkehrsunfall ohne jede Knautschzone entsprach.

In einem normalen Kampf sollten derlei Risiken keine Rolle spielen, die Ausbildung war hart bis an die Grenze zu Brutalität und jeder Füsilier war darauf trainiert, seine Überlebensinstinkte auszuschalten. Die Erfahrung aus den Kämpfen der letzten Jahre sah hingegen ein wenig anders aus. Adlige Frontoffiziere zeichnete ein gewisses Maß an… Vorsicht aus. Üblicherweise vermieden sie es, Mann-gegen-Mann-Situationen heraufzubeschwören. Lieber begnügte man sich mit dem gegenseitigen Zuwerfen von Bomben, dem aufstellen von Sprengfallen und ganz allgemein einem Hang zu taktischem Geschiebe in der Form, lieber ein allgemeines Gerenne zum Zwecke des kampflosen Überholens zu veranstalten, als sich echter körperlicher Auseinandersetzung zu stellen. Die Füsiliere von Katinka waren da anders gestrickt, was den Verteidigern der Saskia offenbar nicht bekannt war. Mit Freuden ließ man sich auf ein Geplänkel ein, mit wenig Feuer und Qualm entwickelte sich ein Bewegungskampf, in dessen Verlauf die Zentrale immer mehr in die Ferne rückte. Für die Verteidiger schien alles normal zu verlaufen, die Vorgehensweise entsprach dem der üblicherweise anzutreffenden kaiserlichen Füsiliere. Anheuser marschierte mit acht Mann in Richtung Zentrale und begegnete keiner Menschenseele. Damit galt sein Plan schon jetzt als gelungen. Moderne Raumschiffe kamen mit sehr wenig Personal aus, dies galt ganz besonders für eine kleine Jacht. Sicher, die Maschinen gerieten unvergleichlich gewaltig, doch machte die Größe keinen Unterschied in Bezug auf die Personalstärke. Ob ein Fusionsmeiler das Format einer Handtasche hatte oder den Umfang einer mittleren Fabrik, das Wirkprinzip blieb ebenso gleich wie der Grad der Automatisierung. Eine Jacht benötigte im Prinzip nur drei Mann, die sich im Schichtbetrieb im Sessel des Piloten abwechselten und einige weitere Besatzungsmitglieder, die sich um die Aggregate kümmerten. Natürlich würde im Krisenfall, wenn auf dem Maschinendeck ein schwerwiegendes Problem oder gar ein Unfall auftrat, der Bedarf an Personal sprunghaft in die Höhe schnellen. Dieses zusätzliche Personal vorzuhalten unterblieb aber in der Regel sogar auf Kriegsschiffen. Zum einen gab es die benötigte Anzahl an qualifiziertem Personal gar nicht, zum anderen konnten noch so viele Mannschaften nicht sehr viel gegen einen durchgehenden Meiler oder ähnliches unternehmen. Um es auf einen Nenner zu bringen: Die aktuell verwendete Technikplattform war einerseits wenig anfällig für Fehler, verzieh Fehler aber andererseits ganz schlecht.

»Bombe!«

Anheuser befahl sofort für alle Trupps vollen Halt. Das bedeutete für die Ablenkungseinheit verstärkte Kampftätigkeit, aber das war ihm egal. Der Warnruf war von Sergeant Watkins gekommen, der den Suchtrupp leitete. Dessen Soldaten hatten querab nachgeschaut, weshalb eigentlich der Trupp vom Loch in diese Region abgedrängt werden sollte. Er hatte die Lösung gefunden. Für normale Sprengfallen verwendeten die Füsiliere das Codewort Granate. Bombe war für ernsthaftere Installationen reserviert. Anheuser vergrößerte einen Teil seines Displays und sah nun, was Watkins sah. Dessen Anzug verfügte über ein Endoskop, ein ausfahrbarer flexibler Schlauch mit Kamera, mit dem er um Ecken sehen konnte. Seine Leute befanden sich hinter ihm in Wartestellung. Das Bild des Endoskops zeigte die Notzentrale des Maschinendecks. Diese musste aufgrund gesetzlicher Vorgaben und praktischer Gründe auf jedem Schiff vorhanden sein. Für den Fall eines Totalausfalls der Brücke existierte auf dem Maschinendeck auf diese Weise eine Miniaturausgabe des Befehlsstandes, mit der ein Heimflug im beschädigten Zustand bewerkstelligt werden konnte. Die Notzentrale stellte wirklich nur einen absoluten Notbehelf dar, es gab noch nicht einmal eine feste Wand. Zwischen den beiden Fusionsmeilern und den Hauptabnehmern der Energie, dem Ionenhammer und dem Trägheitsnegator, musste die Energie mit dicken Leitungen transportiert werden. An Abnehmern und Erzeuger waren sogenannte Plasmakupplungen angeflanscht, die, ähnlich dem Prinzip der Überlandleitungen für Strom, die Energie transportabel machten. Zwischen den Kupplungen floss glühendes Canton-2-4-Plasma in dicken Rohren. Der Raum zwischen den Aggregaten war angefüllt mit diesen Rohren, ließ aber noch Raum für weitere Installationen.

Im Falle der Saskia waren die Rohre unter der Decke verlegt, sodass ein annähernd runder Platz von vielleicht acht Metern Durchmesser frei blieb, um am Boden die Notzentrale einzubauen. Die Geräte und Stühle dieser Zentrale standen allerdings frei im Raum, wie ein halbwegs geordnetes Möbellager. Keine Trennwände, kein Schott, kein Lärmschutz. Und laut war es an diesem Ort zweifellos. Plasmakupplungen jaulten gemeinhin ganz jämmerlich, die Leitungen ließen stets ein tiefes Sausen ertönen, insgesamt herrschte eine Geräuschkulisse, die der in einem Klimabetriebsraum eines Hochhauses sehr ähnlich war, nur lauter und intensiver.

Das alles störte die Füsiliere nicht weiter, der Anzug dämpfte alles auf annähernde Lautlosigkeit herunter. Wesentlich interessanter war da schon die große glänzende Kiste, die mitten in der Notzentrale stand und auf deren Spitze eine rotierende Kamera zu besichtigen war. Watkins ahnte, was seinen Kommandeur interessierte und vergrößerte das Bild. Die Aufschrift auf der Kiste war nun lesbar. Anheuser fluchte wild, hatte sich aber sogleich im Griff.

»Skipper?«, fragte er grimmig, schaltete das Display und die Verbindung auf den vertraulichen Modus.

»Ich sehe es auch«, gab Tanner zurück, eine leichte Beunruhigung schwang in seiner Stimme mit. Gefestigter sprach er weiter.

»Diese Idioten meinen es wirklich ernst. Ich erhalte gerade die Meldung, dass man ein Gespräch wünscht, und zwar auf der Stelle. Ich vermute, die wollen verhandeln. Und wenn das trotzdem in die Hose geht, dann sprengen sie den ganzen Laden in die Luft. Ich möchte nur zu gerne wissen, wo die das Zeug herhaben.«

Das "Zeug“ befand sich in der Kiste und diese Kiste war offizielles Nachschubmaterial der Kaiserlichen Flotte. Es enthielt Lyso-Plasma, den Brennstoff, den die kegelförmigen Raketen zum Aufschweißen von Cardonium benutzten. Es war sehr heiß, expandierte ungeheuer rasch und gab daher auch eine ziemlich gute Bombe ab. Besonders an diesem Ort. Lyso-Plasma verhielt sich ohne Ausrichtung durch entsprechende Apparaturen wie ein Blitz, es bündelte sich zu einem Strahl, der wild umherzuckte. Dabei musste unweigerlich eine der Plasmaleitungen getroffen werden. Eine Kettenreaktion würde in Gang kommen, alles Plasma verbrennen, die Kupplungen verglühen, der Meiler wegen der verbrannten Steuerelektronik nicht zurückschalten, überhitzen und detonieren, dass Schiff komplett von innen ausbrennen. Anheuser knurrte angewidert: »Die wollen keinen Kampf gewinnen, die wollen berühmt werden.«

Tanner nickte leicht, seufzte sachte und stellte die entscheidende Frage:

»Hast du einen Plan?«

Den hatte der riesenhafte Major in der Tat bereits im Verlaufe des Gesprächs entwickelt. Er schenkte seinem Captain ein böses Grinsen.

»Die Kamera ist der Schwachpunkt. Ihre Anwesenheit bedeutet, dass in der Zentrale jemand sitzt, der ganz bewusst auf den Knopf drücken will und damit bis zum letzten Augenblick warten wird. Wir müssen beides gleichzeitig machen, Sturm der Zentrale und Sicherung der Bombe.«

»Schön, und was ist mit der Prinzessin? Du kannst nicht einfach eine Granate reinwerfen, um alle zusammen zu erwischen. Die Prinzessin muss überleben, selbst wenn sich hinterher herausstellen sollte, dass es eine Hochstaplerin ist.«

Anheuser nickte mehrmals rasch, die aufeinander gepressten Zähne ließen seine Kieferknochen noch mehr hervortreten. Selbst in den Wangen schienen die Muskeln trainiert zu sein. Was keiner ahnte, sie waren es tatsächlich.

»Ich schon klar. Die Zentrale hat zwei Eingänge. Wir werden von beiden Seiten gleichzeitig reingehen und mit Schockgeschossen arbeiten müssen. Dabei kann die Prinzessin nicht getötet werden.«

Der Skipper machte eine Grimasse irgendwo zwischen Ungläubigkeit und Zustimmung. Er kannte die Optionen, die Anzahl war sehr übersichtlich. Trotz der angespannten Lage belustigte ihn die diplomatische Ausdrucksweise des Füsiliers, dessen Antwort zwar den Tod der Prinzessin ausschloss, das hohe Risiko einer ernsthaften Verletzung jedoch unerwähnt ließ. Es gab kaum eine Alternative. Natürlich konnten seine Leute die Bombe unschädlich machen, indem sie Kamera und Zünder mit einer Neutrino-Granate zerstörten, doch damit gaben die den taktischen Vorteil aus der Hand. Solange die Gangster an Bord der Saskia all ihre Hoffnungen auf die Bombe richteten, waren die Chancen gut, die Prinzessin wohlbehalten aus den Händen ihrer Häscher zu befreien. Schlug man den Verteidigern des Schiffes die Bombe aus der Hand, würden sie sich auf ihre Geißel besinnen.

»Gut, macht es so. Ich beschäftige mich ein wenig mit dem Anführer und lege das Bild auf dein Display.«

»Roger.« Anheuser wechselte auf den allgemeinen Kanal und gab seine Anweisungen.

*

Der Sonnenuntergang verlief wie immer, also absolut überwältigend. Die riesige Sonnenscheibe prangte in metallischem Kupferrot über dem endlosen Meer, dessen tiefes Türkis sich in zahllose rasch wechselnde Farbspiele auflöste, als die Sonne ihren unteren Rand in den Horizont tauchte. Den Vorgang zeichnete eine frappante Ähnlichkeit mit den Kaleidoskopen aus, die man den Kindern von Katinka zum Spielen schenkte. Solche Sonnenuntergänge waren es, die den Reichtum des Planeten begründeten. Anerkanntermaßen galt Katinka als schönste7 aller Welten. Niemals wieder konnte der Mensch einen Planeten betreten, der wie dieser Schönheit und Harmlosigkeit in sich vereinte. Die Evolution hatte auf diesem Planeten bei der Entwicklung der Natur einen partiellen Gedächtnisverlust erlitten. Es gab keine Raubtiere, weder zu Wasser noch zu Land. Alles, was in der Biosphäre kreuchte und fleuchte, ernährte sich von Sonnenlicht oder von Pflanzen. Das Wasser beherbergte neunundneunzig Prozent der gesamten Biomasse, was nicht weiter verwunderlich schien angesichts des verschwindend geringen Anteils, den das Land im Verhältnis zum Meer einnahm. Direkt am Äquator existierte der einzige Kontinent, ein zerfaserter Fleck von zweitausend Kilometer Länge und vierhundert Kilometern Breite, unendlich viel Strand mit relativ wenig Fläche in der Tiefe. Entlang des Äquators verteilte sich dann noch wie an einer Schnur aufgereiht eine Anzahl ständig kleiner werdender Inseln. Die Adligen von Horave kolportierten auf ihren Orgien eine Version der Entstehungsgeschichte, wonach ein Riese den Hauptkontinent aus dem Himmel heraus erbrochen und beim weglaufen noch ein paar Spritzer verloren hatte.

Erbherzog Stanislaus spuckte angewidert aus. Horave! Was sollte man auch von diesen Banausen erwarten? Die glaubten auch an ein ominöses Monsterraumschiff, das ihnen die Rotsteinberge vor die Tür geworfen haben sollte. Ungebildete Hornochsen waren sie alle zusammen. Unglücklicherweise besaßen sie aber die Macht. Und gerade deswegen verzog sich das an sich sehr freundliche und feinnervige Gesicht des Erbherzogs bereits seit Stunden zu einer übellaunigen Maske. Der Vizekönig hatte ihn zur Audienz gebeten. Da der Vizekönig ein genusssüchtiger Mensch war, dem die Bevölkerung Katinkas inklusive des Landadels herzlich gleichgültig blieb, stellten Audienzen eine absolute Ausnahme dar. Dies konnte entweder bedeuten, dass den Vizekönig eine zeitweilige Impotenz plagte, oder aber es drohte handfestes Ungemach. Und da Erbherzog Stanislaus regelmäßig recht gute Basisinformationen über Kondition und Gesundheit des Vizekönigs erhielt, vermochte er sich plastisch vorzustellen, dass der anstehende Termin keine wirklich erfreuliche Veranstaltung zu werden versprach.

Er stand am Rande des kleinen Flugfeldes, dort, wo der Belag aus hitzefestem Plast direkt in den ultrafeinkörnigen Sand des Strandes überging und erwartete seinen Aufruf. Er mochte sich gar nicht umdrehen, stand doch hinter ihm das Symbol der Fremdherrschaft. Ein Palast von epischen Ausmaßen, mehr breit als hoch, um sich deutlich über den drängenden Mangel an Siedlungsraum auf einer Wasserwelt lustig zu machen. Links ein kleiner, überaus hässlicher Wohnturm, in dem die Service-Abteilung des Vizekönigs mehr hauste als wohnte. Obszöner Protz, gleich daneben Elend im Reihenbau, überall wimmelte es zudem von Sicherheitsleuten und Kaiserlichen Dragonern, der gefürchteten Leibwache des Stellvertreters der Kaiserin auf Katinka. Zum nicht geringen Glück für die Bevölkerung hatte die Kaiserin für ihre Zwingburg eine Insel requiriert, was dem Kontinent einiges an Unannehmlichkeiten erspart hatte und noch immer ersparte.

»Seine Eminenz, der Vizekönig, lässt bitten.«

Der Großherzog unterdrückte einen Fluch. Der Horaveische Adel hielt sich in seiner unendlichen Selbstherrlichkeit selbst den Göttern überlegen, man beliebte selbst auf den Adel, der auf den Kolonien beheimatet war, herabzublicken, möglichst oft zu demütigen und grundsätzlich als minderwertig zu betrachten. Derlei Einstellungen färbten stets auf nachrangiges Personal ab. Selbst dieser nichtswürdige Lakai, der zu nichts anderem taugte, als den ganzen Tag Botschaften seines Herrn wortgetreu und ohne Einschaltung seines eigenen Gehirns weiterzugeben, befleißigte sich eines mehr als herablassenden Tones, dem er zu allem Überfluss mit einer näselnden Sprechweise zusätzliche Verachtung verlieh. Ihm blieb als Strafmaßnahme nichts weiter, als dem Kerl eine Antwort zu verweigern. Stumm und mit abweisendem, kalten Blick folgte er dem Lakaien in den Palast. Auch wenn er sich abwesend und in sich gekehrt gab, so entging ihm doch kein einziges Detail. Für den möglicherweise daraus entstehenden Nutzen nahm er alles Wichtige wahr und verankerte es in seinem Gedächtnis, von der Zahl, Bewaffnung und Positionierung der Wachen angefangen bis zu den räumlichen und technischen Gegebenheiten. Insbesondere registrierte er die Veränderungen, die sich seit seinem letzten Aufenthalt vor acht Monaten ergeben hatten.

Der Gang in den Audienzsaal gestaltete sich ansonsten reichlich langwierig. Durch das Tor gelangte er in einen großen Saal, der von Kaiserlichen bevölkert wurde. Dann folgte ein langer Säulengang, eine Empore, dahinter weitere Räume, einige riesige Büros, schließlich eine weitere Sicherheitsschleuse und dann das Ziel. Ein niedriger, lang gestreckter Saal, zu beiden Seiten von Säulen flankiert, am entfernten Ende ein hohes Podest, darauf der Thron. Der Erbherzog straffte sich und trat am Lakaien vorbei den Gang zum Fuße des Thrones an. Das würde wieder eine anstrengende Veranstaltung für seine Genickmuskeln werden. Der Vizekönig befand sich auf einem wirklich hohen Podest, viel Platz blieb nicht mehr zwischen seiner Glatze und der Decke. Die Untertanen waren gezwungen, steil nach oben zu blicken, um ihn den protokollarischen Regeln entsprechend ins Gesicht sehen.

Mit unbewegter Miene überwand der Erbherzog die Strecke, ohne weiter auf die Bediensteten zu achten, die schweigend rechts und links zwischen den Säulen standen. Die Nackenhaare stellten sich ihm auf. Sie alle hatten auf ihn gewartet, kein einziges Gespräch war bei seinem Erscheinen unterbrochen worden. Keine Zeit für tiefschürfende Gedanken, der Sockel des Throns war erreicht, er beugte sein Knie und murmelte die Ehrbezeugung, gerade laut genug, um von den Wänden dröhnend zurückgeworfen zu werden. Anschließend blickte er nach oben, sah den für das Amt ungewöhnlich schlanken Vizekönig, der ungnädig auf ihn herabblickte. Dieser Blick taugte nicht als Gradmesser für Gefahr, wandte der Vizekönig ihn doch stets und ständig an, um die Herzen der Bittsteller in die jeweiligen Hosen rutschen zu lassen. Die Stimme schließlich klang etwas dumpf, verwaschen, ganz und gar nicht königlich, als ob ein Jüngling sprach, der unter Druck stand, dringend weg wollte und sich des Termins möglichst rasch zu entledigen suchte.

»Erbherzog Stanislaus, welch seltene Freude, Euch bei Hofe begrüßen zu dürfen. Erspart Euch bitte den Anschein von Beglückung und lasst uns sogleich zum Thema kommen.«

Der Vizekönig seufzte auf, raschelte mit einem von unten nicht sichtbaren Papier, was dem Erbherzog Gelegenheit gab, ein wenig kalten Schweiß abzusondern.

»Nun denn, wie Ihr wohl wisst, ist der Krieg gegen die Untermenschen der Hurshen-Union siegreich beendet. Dies führt unweigerlich zu einer gewissen … Umverteilung der Aufgaben der Kolonien der Kaiserin. Kriegsdienste werden nunmehr nicht weiter benötigt, weshalb alle bewaffneten Einheiten demobilisiert werden. Ähem.«

Der Vizekönig raschelte wieder. Ringsum war es totenstill, während Stanislaus von kaltem Entsetzen gepackt wurde. Nun also wurden alle Befürchtungen schreckliche Realität. Das Kaiserreich dachte nicht im Traum daran, die Kolonien für ihre geleisteten Dienst zu belohnen, etwas durch verringerte Abgabenlast oder eine Winzigkeit an Freiheit. Oh nein, im Gegenteil. Horave hatte sich als schwach erwiesen, unfähig, ohne die Hilfe seiner versklavten Außenwelten zu überleben. Als Dank würden jetzt die Zügel noch straffer angezogen, für die Notwendigkeit der Hilfeleistung sollten die Helfer bestraft werden. Stanislaus hatte so etwas befürchtet. Was sollte man von diesen Herrenmenschen auch anderes erwarten? Die Außenwelten galten ihnen als Wirtschaftsgüter mit allem, was sich darauf bewegte.

»Die hierdurch frei werdenden Ressourcen stehen selbstredend der Kaiserin zu. Wir haben uns dazu herabgelassen, einige erste Berechnungen anzustellen. Demzufolge lautet die Anweisung an Katinka, dem Kaiserreich im Zuge der anstehenden Siegesfeiern fünftausend unverbrauchte Soziolatricen zur freien Verwendung zu überantworten. Daneben ist es mir eine besondere Pflicht, Euch mitzuteilen, dass eine große Anzahl hochwohlgeborener Ehrenmänner von Horave angekündigt sind. In der Hauptsache handelt es sich um Flottenkommandeure, denen die Kaiserin nach den anstrengenden Kämpfen einen Urlaub zugestanden hat. Man gedenkt, einen längeren Erholungsurlaub zu verleben. Das diesbezügliche weibliche Personal in den Refugien ist zu verdoppeln. Dies sind die Pflichten, die Euch aufzutragen sind.«

Kalte Wut stieg in Stanislaus hoch. Diese dekadenten Schweinepriester planten ganz offensichtlich, alle jungen Frauen Katinkas zu Huren herabzuwürdigen.

Ihm war durchaus bewusst, einem nahezu allmächtigen Mann gegenüberzustehen, und dennoch: Er selbst gehörte auch dem Adelsstand an. Grobe Provokation würde keinen Erfolg bringen, eine ganz leichte Provokation mochte den Vizekönig immerhin ärgern. Schlimmer konnte es nicht kommen.

»Hoheit, es freut mich über alle Maßen, von den eigentlich gesetzlich vorgeschriebenen Mitbestimmungsrechten des hohen Adels von Katinka befreit worden zu sein. Ich hatte im Stillen schon befürchtet, zurate gezogen zu werden und womöglich gegen die Interessen des Reiches entscheiden zu müssen.«

»Genug!«

Der Vizekönig schrie so laut, dass es mehrmals von den marmornen Wänden zurückhallte.

»Noch ein Wort und ich werde Euch zur Rechenschaft ziehen, Elender.«

Die Zeit für Nettigkeiten war definitiv vorbei. Stanislaus wollte und konnte nicht mehr zurück. Zuviel stand auf dem Spiel.

»Ihr habt mithin in Eurer hochwohlgeborenen Weisheit beschlossen, dass es gut getan ist, wenn Ihr die Gesetze der Kaiserin in einem kleinen unbedeutenden Punkt ignoriert, und gleichzeitig ebenfalls beschlossen, einen Adligen von hohem Rang zu bedrohen, wenn er sein angestammtes Recht wahrnimmt und dies vor dem Vizekönig der Kaiserin von Horave vorbringt? Apart, wirklich apart.«

»Wache!«

Drei Dragoner traten aus dem Seitenschiff hervor und gruppierten sich um Stanislaus. An und für sich ein unerhörter Affront, doch gleichzeitig die letzte Warnung. Der Vizekönig war umgeben von Speichelleckern, er war es ganz und gar nicht gewohnt, mit Widerworten konfrontiert zu werden, noch dazu solchen, die mit leichter Hand und völlig frei von Angst dargeboten wurden. Ihm fehlte schlicht die Gewöhnung an Menschen mit anderer Meinung. Zudem empfand er Freude daran, anderen Lebewesen seinen Willen aufzuzwingen. Selbstständig denkende Menschen waren ihm ebenso ein Gräuel wie Zeitgenossen, denen er seinen Willen nicht aufzwingen konnte. Üblicherweise fanden solche Leute den frühen und schmerzhaften Tod, bei dem Erbherzog diese Konsequenz zu beschließen würde jedoch zu viel Staub aufwirbeln. Mehr Staub jedenfalls, als es zu diesem Zeitpunkt wert war. Bebend vor Wut beugte sich der Vizekönig so weit nach vorne, wie es Bauch und Balance gerade noch zuließen.

»Schweigt stille, ich rate es Euch gut. Ich bin der von Gott und der Kaiserin gesandte Vizekönig, Herrscher über alle Edelleute, lebendes Inventar und jegliche materiellen Werte auf diesem verfluchten Planeten. Ich allein entscheide über Recht und Unrecht, niemand sonst, auch Ihr nicht. Mir allein obliegt die Entscheidung, was zum Wohle des Reiches zu tun ist, und wenn eine dieser Entscheidungen bedeutet, dass ganz Katinka untergeht, dann sei es so. Nichts und niemand wird mich davon abhalten, die notwendigen Schritte zu unternehmen. Hört es und beherzigt es. Damit Ihr es auf keinen Fall vergesst, trage ich Euch zusätzlich zu den bereits offenbarten Pflichten auf, vorab ein schnelles Schiff nach Horave zu senden mit zweihundert erlesenen Soziolatricen, als Siegesgeschenk an die Kaiserin, zu deren freien Verfügung. Und nun dürft Ihr Euch entfernen. Schätzt Euch glücklich, über keine weiblichen Nachkommen zu verfügen.«

Die Füsiliere machten kehrt und Stanislaus musste mit ihnen gehen. Zur Wut kam der Schreck hinzu. Es konnte also doch schlimmer kommen. Durch sein fahrlässiges Verhalten hatte er soeben zweihundert Töchter des Planeten zu lebenslangen Sklavendiensten unter demütigenden Umständen verurteilt. Nein, nicht er, rief er sich zur Ordnung. Die Willkürherrschaft des Kaiserreiches war hierfür verantwortlich zu machen. Selbst wenn er sich nicht aufgelehnt hätte, das Ergebnis wäre das gleiche gewesen. Der Vizekönig war kein schneller Denker, den Plan mit dem Geschenk an die Kaiserin hatten andere bereits vor dem Termin gefasst. Stanislaus gab dem Despoten nur die Gelegenheit, die Sache einem Sündenbock unterzuschieben. Nachdem er sich einige Zeit mit der neuen Erkenntnis beschäftigen konnte, fand er genügend Ruhe für sachdienliche Überlegungen.

Ohne zu wissen, wie er eingestiegen war, blickte er die Welt unter sich gedankenverloren aus dem kleinen Seitenfenster. Seine Welt. Er war hier geboren, seine Vorfahren waren hier geboren. Katinka war eine arme Welt gewesen, Rohstoffe fanden sich nur sehr wenige und die wenigen Ressourcen lagen allesamt im Boden der Tiefsee begraben. Insofern hatten dem Planeten die Möglichkeiten gefehlt, nach der Verrottung der Siedlerschiffe den Raumflug wieder aufzunehmen. Einerseits blieb den Menschen dadurch das Massaker der ersten Eroberungswelle erspart. Ungezählte Kleinode des Himmels hatten die Mordbrenner aus der Geschichte getilgt, auf der Suche nach Rohstoffen, Reichtümern und gesunden Menschen war Gnade ebenso ein Fremdwort geblieben wie Menschlichkeit oder Intelligenz. Andererseits fand Horave kurze Zeit später den Planeten und verleibte ihn sich ohne Zögern ein. Immerhin ließen die neuen Herren die örtliche Hierarchie weitgehend intakt, zumal sich auch auf Katinka eine Ständegesellschaft herausgebildet hatte. Ein Flottenstützpunkt wurde errichtet, eine Station in die Umlaufbahn gebracht und ein protziger Palast errichtet, in den der Vizekönig samt erschütternd umfangreichem Gefolge einzog. Aus verschiedenen Umständen entwickelte sich in der Folge ein mehr als zweifelhaftes Privileg. Da war die einzigartige Schönheit des Planeten, die es als Urlaubsziel prädestinierte. Durch eine Laune der Natur schien Katinka außerdem noch ein Ort zu sein, an dem ganz besonders viele ganz besonders schöne Frauen zu finden waren. Dabei waren die Frauen in ihrer Schönheit noch ganz und gar unterschiedlich. Man fand an den Stränden des Hauptkontinents bezaubernde Wesen sowohl mit brauner als auch mit heller Hautfarbe, zierliche Gestalten und große, starke Figuren, immer jedoch zeichneten sie sich durch geraden Körperwuchs aus, ebenmäßige Gesichtszüge, makellose Haut und robuste Gesundheit. Alles Eigenschaften, die auf den abgewirtschafteten Zentralwelten bei den durch endlose Kriege, den damit verbundenen unsäglichen Lebensbedingungen und permanenten Verlusten an Menschenleben geschundenen Bevölkerungen nicht mehr sehr weit verbreitet waren. Ein Jahrhundert in Frieden und Wohlstand würde alles wieder ins Lot bringen, doch so etwas Exotisches wie langfristiger Frieden war nicht in Sicht.

Und so fiel das Auge des Horaveischen Adels zwangsläufig auf die Schönen von Katinka. Innerhalb von Sekunden war klar, in welcher Form die Kolonialwelt Katinka hinfort ihren Tribut zu leisten hatte. Urlaub mit All-inclusive-Service vor allem, wobei für einen Adligen all-inclusive der Wortsinn sehr genau galt. Eine weitere Tributleistung war der Export von Frauen, die nicht nur auf Horave hoch gehandelt wurden, sondern im Falle einer Niederlage auch die Reparationsleistung aufhübschte. Nicht selten wurde in den Salons des Hochadels das Gerücht kolportiert, insbesondere Ordune sei ganz wild auf Krieg mit Horave, weil als Reparationsleistung fast ausschließlich katinkische Frauen gefordert wurden. Die Stimmung der Bevölkerung vermochte die Herrschaft Horaves nicht aufzuhellen. Man war glücklicher gewesen ohne Kolonialherren, ohne Raumfahrt und ohne einen Vizekönig, der sich jeden Tag eine Jungfrau ins Schloss bestellte.

Und jetzt sollte das einzige Kriegsschiff Katinkas abgegeben werden, als Gegenleistung würde bald jede ehrbare Frau des Planeten von den Herrenmenschen Horaves geschändet worden sein. Die Geburtenrate zeigte seit bald zwanzig Jahren stetig nach unten, und obwohl Geburtenkontrolle verboten war, wurden etwa drei Mal mehr Männer geboren als Frauen. Kein Vater war scharf darauf, eine Tochter groß zu ziehen, nur, um sie in die Hände eines schmierigen Gutsherren oder Admirals geben zu müssen.

Stanislaus ließ seinen Gedanken freien Lauf. Ziemlich rasch verknüpfte er die Pläne, die er und seine Getreuen in Erwartung des schlimmst möglichen Falles gefasst hatten, mit dem aktuellen Ereignis. Es passte alles zusammen, als ob der Höchste ihm durch die Wut des Vizekönigs einen Trumpf in die Hand spielen wollte. Und genau genommen war es eben das: Ein Geschenk. Das Vorhaben der Horaver war ihm nun bekannt. Alles, was er zu tun hatte, war, eine Warnung auf den Weg zu bringen.

Das Display klappte aus der Armlehne, einige Tastenberührungen später erschien das Bild eines nicht übermäßig hübschen Mannes mittleren Alters.

»Zu Euren Diensten, Herr.«

»Basil, wir haben einen hochwohllöblichen Auftrag des Vizekönigs umzusetzen.«

Basil de Montmillard, sein persönlicher Sekretär und Angehöriger der niedersten Rangstufe des katinkischen Adels, blinzelte zwei Mal. Stanislaus nickte befriedigt und fuhr fort: »Der Vizekönig entsendet zweihundert unserer schönsten und stärksten Frauen zur Siegesfeier der Kaiserin. Sorgen Sie dafür, dass sie unverzüglich zur Abreise bereit sind. Am Besten, wir wählen für den Transport unser schnellstes Schiff. Und, Basil, begleiten Sie die Damen, sicher ist sicher. Die Kaiserin wird es sicher zu schätzen wissen, wenn die Geschenke unversehrt übergeben werden. Dazu sollten Sie einige Wachen mit auf die Reise nehmen.«

Basil zuckte mit keiner Wimper, selbst die Augen blieben so ausdruckslos wie zwei Brunnenlöcher. Tonlos bestätigte er:

»Sehr wohl, Herr. Es wird geschehen.«

Der Bildschirm erlosch und klappte geräuschlos weg. Erbherzog Stanislaus rieb sich sinnierend das Kinn. Wie beiläufig manche Dinge doch begannen, bevor sie in einem gewaltigen Gemetzel gipfelten.

*

Roscoe Tanner, Captain des Schlachtkreuzers Grizzly, schaute seinen namenlosen Gesprächspartner, selbst ernannter Kommandant der Freizeitjacht Saskia, in einer Art konzentrierter Lässigkeit an. Er verfügte über einige Erfahrung im Umgang mit gegnerischen Verhandlungsführern, sodass er seine Spannung perfekt verbergen konnte. Zu einem gewissen Teil empfand er darüber hinaus auch Freude am Verhandlungspoker. Er verstand etwas von Körpersprache, konnte aus Haltung, Körperspannung und Ausdruck der Augen stets mit hoher Sicherheit auf die Wahrheit hinter der Fassade des anderen schließen. Im Laufe seines Lebens hatte er zudem lernen müssen, ihm aufgetischte Lügen aus dem Bauch heraus zu identifizieren. Jeder Einwohner von Katinka konnte das, bei dieser Art von Kolonialherrschaft eine zwingend notwendige Eigenschaft.

Aus dieser Vorgeschichte heraus vermochte Tanner die Angst des namenlosen Gangsters förmlich zu spüren. Die selbstgefällige Arroganz war gänzlich aus dem groben Gesicht gewichen. Verbal versuchte er jedoch alles, um das Bild des harten und alles im Griff habenden Entführers aufrechtzuerhalten. Ein sehr dummer Versuch, schon Kleinkinder schlossen überwiegend aus Körperhaltung und Gesichtsausdruck auf die Absichten und Gefühle ihrer Alten und nur am Rande auf die blanken Worte.

»Jetzt hören Sie genau zu, Horave. Sie werden die Soldaten aus dem Schiff holen und uns unserer Wege ziehen lassen. Alles andere wird sich sehr negativ auf die Gesundheit der Prinzessin auswirken. Haben Sie verstanden?«

Aus den Augenwinkeln sah Tanner, wie sich Sir Ulrich erhob und die Brücke verließ. Eine kluge Entscheidung, denn der Erste Offizier konnte sich kaum noch beherrschen. Wäre er geblieben, hätte es bis zur ersten pampigen Antwort nicht mehr allzu lange gedauert, mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. Tanner schenkte dem schwitzenden Mann auf dem Display ein treuherziges Lächeln:

»Guter Mann, ich würde ja gerne. Glauben Sie mir, ich sehne mich nicht danach, einer Vertreterin der Kaiserlichen Familie das hochwohlgeborene Gesäß zu retten, ganz sicher. Aber Sie wissen sicherlich, dass auf allen Schiffen unserer Flotte automatische Aufzeichnungsgeräte installiert sind. Ich kann mir nicht erlauben, einen Fehler zu machen. Daher sehe ich mich im wahrsten Sinne des Wortes gezwungen, Ihr Schiff zu erobern.«

Der Gangster stand zu sehr unter Druck, um die Lücken in der Argumentation des Captains zu entdecken. Gäbe es diese Aufzeichnungsgeräte, dürfte Tanner ganz sicher nicht darauf zu sprechen kommen und in geradezu defätistischer Weise über die Prinzessin reden. Stattdessen versuchte der Kerl, den Captain mit einer Variante des bösen Blicks zu bezwingen.

»Reden Sie keinen Quatsch. Das letzte, was ich tue, ist, der kleinen Schlampe den Kopf abzuschneiden. Also, zum letzten Mal: raus aus meinem Schiff.«

Tanner lächelte ebenso entschuldigend wie falsch:

»Ich will an dieser Stelle wirklich nicht diskutieren, wessen Schiff die Saskia ist, ich sehe aber doch ein gewisses Patt in der augenblicklichen Situation.«

»Patt?«, gurgelte der Gangster entgeistert. Ein dicker Schweißtropfen rann von der rechten Schläfe ausgehend über die Wange und blieb am Unterkieferknochen hängen, vorwitzig glitzernd und gar nicht daran denkend, sich in den Abgrund zu stürzen. Dem sah sich sein Eigentümer schon ziemlich nah. Das Mikrofon auf der Brücke der Jacht übermittelte elektronisch gefiltert nur die Stimme des Mannes vor dem Bildschirm, dennoch war nicht zu übersehen, dass von außerhalb des Bildausschnittes irgendjemand auf den Verbrecher einredete. Dessen Augen wanderten immer wieder in die Richtung, der Mann hatte offenbar Mühe, sich auf das Gespräch mit der Grizzly zu konzentrieren. Ihm fehlte schlicht die Ausbildung, wie sie Major Anheuser genossen hatte. Tanner sprach sanft und gleichzeitig eindringlich mit ihm wie mit einem kranken Gaul: »Natürlich. Ich kann die Eroberung der Jacht nicht aufgeben und kann gleichzeitig die Brücke nicht stürmen. Sie können nicht weg und gleichzeitig dürfen Sie Ihrer einzigen Geisel nichts tun, weil sonst ich derjenige sein werde, der Ihnen etwas tut. Daher bleibt keine andere Alternative als zu verhandeln.«

»Verhandeln?«, echote der Mann. Vermutlich wurde ihm ganz langsam bewusst, dass er für dieses Palaver zu viel Zeit verbrauchte, während er an anderer Stelle wichtige Entscheidungen treffen müsste. Andererseits wagte er nicht, die Verbindung einfach zu kappen. Er hatte seine Forderung vorgebracht und nun war er gezwungen, sie nach Kräften durchzusetzen. Ein Misserfolg mochte fatale Folgen haben und passte ohnehin nicht in das Weltbild eines Entführers. Tanner nutzte derweil die hektische Denktätigkeit, um in die Lücke zu stoßen:

»Sie sollten Ihre Forderungen überdenken. Wir haben einen gewissen Vorrat an Gold an Bord. Wir könnten einen Austausch durchführen, der Sie in die Lage versetzt, mit einem schönen Sümmchen das Weite zu suchen. Was halten Sie davon?«

Kurz ließ Tanner ein treuherziges Grinsen aufleuchten, er spürte einige erstaunte Blicke auf sich ruhen. Die Grizzly hatte ganz sicher kein Gramm Gold an Bord.

Jedenfalls irritierte der Vorschlag den Mann auf der Jacht noch wesentlich stärker als die eigene Besatzung. Immerhin handelte es sich um einen in der Geschichte der Kaiserlichen Flotte einmaligen Vorgang. Noch niemals hatte ein Schiff von Horave eine Verhandlungslösung auch nur in Erwägung gezogen, von der Zahlung eines Lösegeldes ganz zu schweigen. Entsprechend unvermutet traf das Angebot den Gangster, sodass er einen Augenblick erlebte, in dem er die Kontrolle verlor und ganz verdattert vor sich hinmurmelte.

»Das geht nicht. Ich muss sie abliefern. Es geht nicht, so ein Ärger.«

Roscoe Tanner gab sich alle Mühe, so zu tun, als ob er das alles nicht hören würde. Stattdessen sprach er rasch weiter, um dem Kerl keine Gelegenheit zu geben, sich seines Fauxpas bewusst zu werden. Er erhöhte einfach sein Angebot in der Hoffnung, die Gewissenskonflikte seines Kontrahenten verschärfen zu können. Möglicherweise verkleisterte die Gier dessen Hirn und verschaffte so die fehlenden Sekunden.

»Also schön, Sie scheinen mir ein harter Knochen zu sein. Ich lasse Ihnen darüber hinaus einige Flaschen Hypersprit da, damit Sie auf die andere Seite des Reiches kommen, ohne nachtanken zu müssen. Außerdem hätte ich da noch ein paar Gefangene aus der Volksunion anzubieten, weibliche Gefangene, möchte ich hinzufügen. Die würde ich gerne loswerden, in vertrauenswürdige Hände sozusagen.«

Es glich einem Schauspiel, den Augäpfeln des Gangsters beim Hervorquellen zuzusehen. Tanner hatte ihm eine zweite Sache präsentiert, bei der die Gier hohe Wellen schlug. Weibliche Gefangene galten überall als höchst begehrte Beute, als wahlweise teuer loszuschlagendes Handelgut oder als willkommene Objekte zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse. Oder schon mal beides nacheinander. Der ironische Aspekt an Tanners Charakter riet zur Offerierung eines weiteren Handelsgutes mit hohem Gier-Faktor. Bei drei müsste der Kerl eigentlich im eigenen Saft explodieren wie ein Ei in der Mikrowelle. Doch dazu kam es nicht mehr.

Tanner bemerkte Tadeusz Duda, der ihm ein Zeichen gab. Er nickte befriedigt, schaute den Gangster an und meinte fast mitleidig:

»Es war nett, mit Ihnen gesprochen zu haben. Aber ich muss jetzt mal aufs Klo. Sie entschuldigen mich. Kayaa Katinka.«

Den Schlachtruf Katinkas sprach er ganz gelassen und ruhig aus, dennoch tat er seine Wirkung. Das Bild erlosch und schien trotzdem einige Sekunden lang das überraschte Gesicht des Gangsters festzuhalten.

*

Major Dwight D. Anheuser übernahm selbst die Spitze seines Zuges. Dies konnte er sich angesichts des völligen Fehlens von Besatzungsmitgliedern und Verteidigern durchaus leisten. Daneben entsprach es seinem Selbstverständnis, in der heißen Phase eines Unternehmens von vorne zu führen. Seine extrem guten Reflexe würde er brauchen können, eine Riesengestalt wie die Seine konnte in einem engen Flur selbst ein Blinder mit Krückstock nicht verfehlen.

Langsam schlich er sich mit seinen Leuten durch die Flure der Jacht, durch das Maschinendeck zu den Unterkünften der Besatzung, von dort zu den luxuriösen Bädern und Freizeiträumen des Wohndecks, das den Passagieren diente, von dort zu den technischen Kontrolleinrichtungen, die sich rund um die eigentliche Zentrale gruppierten.

Anders als auf einem Schlachtkreuzer konzentrierten sich hier nicht alle wichtigen Apparaturen innerhalb einer Schale aus verstärktem Cardonium, was den Sturm einfacher machen sollte. Stattdessen waren laute Maschinen oder nicht ständig benötigte Kontrollen ausgelagert worden, um auch in der Zentrale ein wohnliches Umfeld zu schaffen. Auch der Captain einer Jacht sollte nach Möglichkeit an den Annehmlichkeiten der Passagiere teilhaben können. Nach den Plänen, die Anheuser sich aus der Datenbank der Grizzly beschafft hatte, würde er auf eine kreisrunde Zentrale von etwa sechs Metern Durchmesser treffen, ohne Stufen, ohne Galerie, ohne Geländer, ohne Prallwände zwischen den Kontrollpanelen, die in einem Schlachtkreuzer bei schweren Erschütterungen verhinderten, dass ein Besatzungsmitglied so weit durch die Zentrale geschleudert wurde, dass es einen anderen treffen und ebenfalls schwer verletzen konnte. Dafür befanden sich ordinäre Möbel inmitten der Zentrale, auf denen der Captain einen hochgestellten Besucher zum Plausch bitten konnte. Insgesamt ähnelte die Zentrale der Saskia eher dem Arbeitsplatz eines Büroleiters als einer Installation auf einem Sternenschiff. Anheuser knurrte abfällig. Die Eigenart des Adels, sich auf Teufel komm raus das Leben so angenehm wie eben möglich zu machen und sei es auf Kosten der allgemeinen Sicherheit, würde ihm heute sehr entgegenkommen.

Der Trupp erreichte die Außenwände der Zentrale und verteilte sich, ohne den Sichtkontakt zu verlieren. Anheuser betrachtete intensiv sein Display, ordnete seine Gedanken und gab die Anweisungen: »Also gut, Leute, vorbereiten auf shock and awe. Halbkreis. Tigana, Djorkaef und Tresor links durch die Wand, Henry, Platini und Maier rechts dasselbe. Hildebrand macht mir den Katschmarek. Aufstellung!«

Die Füsiliere bewegten sich erstaunlich leichtfüßig und leise um Schreibtische, Kontrollen und sonstige Hindernisse herum und gingen auf die zugewiesenen Positionen. Heidi Hildebrand, eine erstaunlich kleine und stämmige junge Frau, machte den Katschmarek. Die Bezeichnung kennzeichnete den Soldaten, der einer taktischen Operation den Rücken zu decken hatte. So wandte sie ihren Kameraden den Rücken zu, und sicherte den Rückraum, in jeder Hand eine Waffe. Bis zum Abschluss der Kampfhandlungen würde sie sich nicht umdrehen, ganz egal, was passieren mochte. An ihr würde keiner vorbei kommen, jedweder Überraschungsangriff aus den Tiefen des Schiffes würde scheitern. Wenn es dafür überhaupt Personal gab.

Der Major sprach derweil mit der Gruppe, die sich unter hinhaltendem Feuer langsam zur Falle auf dem Maschinendeck hatten treiben lassen, und nun nur noch eine Ecke entfernt waren.

»Carbone, wie ist der Status?«

Claudia Carbone wusste genauso gut wie ihr Kommandant, dass eine mündliche Meldung im Grunde überflüssig war, doch half sie gerade in dieser Situation, ein wenig Zeit zu verbrauchen und den Stress zu lindern. Alle Soldaten waren im Bilde über die bevorstehende Operation, worum es ging, um wen es ging und dass nichts schief gehen durfte. Sie antwortete knapp und sachlich:

»Keine Verluste, keine Beschädigungen. Gegenseite hat offenbar Probleme mit der Munition, Kadenz lässt fortlaufend nach, ist im Augenblick nur als sporadisch zu bezeichnen. Wir sind noch eine Biegung vom Objekt entfernt. Um uns herum ist alles kaputt. Wir müssen uns weiter nach Plan zurückziehen, um nicht frei in der Pampa zu stehen, oder den Gegenschlag beginnen.«

Anheuser teilte Carbones Einschätzung. Die Füsiliere blieben bei dem Gefecht zwar unverletzt, nicht jedoch die Jacht. Nicht so sehr durch die Hartkernmunition der Feuerwaffen, sondern durch die kleinen Raketen wurden erhebliche Beschädigungen angerichtet. Ganze Kabinen flogen bei einem Treffer auseinander, die nicht aus Cardonium bestehenden Wände lösten sich meist in Fetzen auf und hinterließen einen großen Trümmerhaufen. Nach und nach hatte der Kampf zwischen Carbones Trupp und den Gegnern eine breite Schneise durch die Jacht geschlagen, die sich immer mehr dem Schicksal der Verschrottung näherte. Wichtiger für den Augenblick war aber die Erkenntnis, dass der Plan aufgebraucht war. Der Rückzug im Schneckentempo war nicht mehr weiter möglich, es war nicht genug Schiff übrig und das musste in sehr kurzer Zeit auch den Leuten in der Zentrale klar werden.

»Watkins, bereit?«

»Bereiter geht es nicht«, knarzte es aus dem Kopfhörer. »Reaktionszeit zwo Sekunden.«

»Verstanden.«

Zeit, der Grizzly den entscheidenden Wink zu geben.

»Grizzly, Grizzly, bereit für Zugriff. Erbitte unverzüglich Genehmigung, Zeitfenster sehr eng. Wiederhole, Zeitfenster sehr eng.«

Alles schwieg. Aus dem hohlen Nichts glaubte Anheuser, ein Rauschen heraushören zu können, was natürlich eine Illusion war. So schlecht war die Horaveische Technik nun auch wieder nicht.

Die erlösenden Worte tropften aus dem Äther:

»Kayaa Katinka.«

Das Zeichen zum Angriff. Alle Füsiliere hatten die Worte vernommen, den eigentlichen Einsatzbefehl gab Anheuser selbst. Es war ein schlichtes »Drei«. Jeder zählte für sich die drei Sekunden ab, dann brach die Hölle los. Der Lärm vertrieb rabiat die Stille. Auf dem Maschinendeck legte Claudia Carbone die kleinkalibrige Schusswaffe weg und nahm die Raketen-Schleuder zu Hand. Ein anderer Füsilier ihres Trupps konnte endlich zur auf seinem Rücken befestigten Motorkanone greifen und tat dies äußerst beherzt. Die Kanonen spuckten einen meterlangen Feuerstrahl aus, der doch nur das äußere Zeichen für den ungeheuren Geschosshagel darstellte, den die Waffe über dem Gegner ausschüttete. Carbone und zwei andere Füsiliere fügten mit den Mini-Raketen aus der Schleuder der allgemeinen Vernichtungskraft zusätzliche Zerstörungen bei. Die Männer auf der anderen Seite wurden förmlich weggefegt und bereits nach zehn Sekunden musste Carbone die Einstellung des Feuers befehlen, um zu verhindern, dass einzelne Raketen bis zur Zentrale durchbrachen.

Watkins hatte andere Probleme und die löste er auf deutlich filigranere Weise. Aus dem reichen Fundus an speziellen Kampfmitteln wählte er eine EMP-Granate, die nach ihrer Zündung an der Bombe sowohl den Empfänger für das Sprengsignal als auch die Kamera unbrauchbar machte. Gleichwohl sprang er mit zwei anderen Soldaten in die Ausläufer der Explosion hinein zur Bombe hin, die hektischen Warntöne seines Anzuges ignorierend. Einige kleinere Störungen in der Kraftunterstützung für die Beingelenke traten auf, leicht humpelnd erreichte er dennoch sein Ziel. Mit einer Handbewegung waren die Anbauten weggefegt und die Kiste wurde so schnell wie möglich geöffnet. Wie nicht anders zu erwarten fanden sich darin nicht nur sechs Plasma-Flaschen, sondern auch eine kompakte Bombe mit Zeitzünder. Vielleicht einhundert Gramm Komposit-Sprengstoff, in jedem Fall ausreichend, um in die Flaschen einige Risse zu zaubern. Der Rest würde zu schnell gehen, um von den Gehirnen der Füsiliere verarbeitet werden zu können. Zu allem Überfluss war von außen nicht zu erkennen, wie viel Zeit noch bleiben würde. Auch sonst gab es keine Anhaltspunkte. Watkins kannte die Bauart und wusste sofort, dass eine Entschärfung nicht möglich war. Dennoch gab es eine Möglichkeit, die einzige Möglichkeit. Das Ding war gegen alles und jedes geschützt, sofern man versuchte, in das Innere vorzudringen. Das wollte er aber gar nicht. Mit einem beherzten Griff löste er die kleine Bombe aus ihrer Verkantung zwischen zwei Flaschenhälsen, stand auf und rannte los, so schnell, wie es der leicht angeschlagene Anzug vollbringen konnte. Er nahm keine Rücksicht, legte die Hände auf den Rücken, damit die Bombe nicht beschädigt wurde, und zündete die Manövriertriebwerke. Die Panzerung des Anzuges war gut genug, um bei dem einem Rennpferd ähnlichen Tempo Türzargen und leichte Wände einfach zu zermalmen. Zwischen den Maschinen im letzten Teil des Maschinendecks musste er waghalsig kurven, doch er schaffte es. Im Flugmodus preschte er aus dem beschädigten Teil des Ionenhammers, warf sofort sein Bündel mit kraftverstärkter Armschleuder ins All und ging augenblicklich auf Gegenkurs. Keine drei Sekunden später flammte ein kurzer, stechend heller Blitz auf und erlosch sogleich wieder. Watkins verschob den Schreck auf später, die Meldung musste zuvor raus:

»Bombe wirkungslos, wiederhole, Bombe wirkungslos.«

Anheuser und seine Leute gingen den geraden Weg. Im Halbkreis stürmten sie vor, wobei nur der Major die Tür nahm. Die verputzten und bemalten Wände der Zentrale stellten für kraftunterstützte Infanteristen in Panzeranzügen kein ernsthaftes Hindernis dar. Anhand der Pläne waren die Füsiliere in die Lage versetzt worden, genau an den Stellen durch die Wand zu brechen, an denen auf der anderen Seite keine massiven Kontrollapparaturen den Durchmarsch behinderten.

In diesem Augenblick kam das über die Zentrale und aller darin Befindlichen, was ein Füsilier unter shock and awe verstand. Für spezielle Aufträge, besonders solche in Raumschiffen und auf Planeten beim Häuserkampf, trugen die Soldaten Sirenen am Anzug. Daneben griffen sie zu Schock-Granaten, die gleichermaßen blendendes Licht wie Infraschallstöße aussandten. Der Infraschall wirkte auf die inneren Organe von ungepanzerten Personen, in dem er sie zu unkontrollierten Zuckungen zwang, was insbesondere bei Herzen zu einem Gefühl führte, das dem Erleben eines Herzinfarktes nicht unähnlich war. In jedem Fall führte die kurzfristige Blendung der Augen im Zusammenspiel mit dem Infraschall bei den Opfern zu infernalischen Schmerzen in allen wichtigen Organen und dem Ausfall der wichtigsten Sinne. Kampfunfähigkeit war die erhoffte Folge.

Im konkreten Fall trog die Hoffnung nicht. Anheuser stürmte durch die aufknallende Tür hindurch in die Zentrale, nahm wahr, wie sich von den Seiten her seine Soldaten in einem Regen aus Trümmern den Zugang durch die Wände erzwangen, zählte gleichzeitig sieben Personen, die nicht zu den Füsilieren gehörten. Alle sieben stürzten augenblicklich schreiend und zuckend zu Boden, drei von ihnen lösten jedoch nicht den Griff um ihre Waffen. Bedingt durch das unkontrollierte Zucken krümmten sich auch die Finger und die Waffen feuerten. Leuchtspurgeschosse zogen quer durch die Zentrale ihre Bahn wie die Pinkelfontänen sturzbetrunkener Adliger, nur um einiges gefährlicher. Anheuser konnte in dem Gesamtbild, das er augenblicklich in sich aufnahm, keine Prinzessin erkennen, umso wichtiger wurde die Ausschaltung der Bewaffneten. Den Körperpanzern der Füsiliere machten die Hartkerngeschosse nichts aus, normalen, ungeschützten Menschen dagegen sehr wohl.

Es dauerte nur zwei Sekunden. Bedingt durch die taktische Lage nahmen sich die Füsiliere die kurze Zeitspanne, um ihre Ziele eindeutig zu identifizieren und sorgfältig zu zielen. Dann eröffneten Tigana und Platini das Feuer aus lächerlich klein wirkenden, aber ungemein wirkungsvollen Schusswaffen. Die Munition drang nicht in die Körper der um sich schießenden Gangster ein, sondern gab ihnen einen starken kinetischen Impuls mit, der wie der Faustschlag eines Schergewichtlers wirkte. Weitere zwei Sekunden später war das Schießen vorbei. Die Füsiliere gaben die geschlossene Front auf, verteilten sich so, dass sich mindestens einer neben einem der immer weiter schreienden Personen einfand. Gegen das ziellose Schlagen und Wälzen der Betroffenen wurden rasch Fesseln angelegt und verborgene Waffen gesucht. Erst danach wurden Sirenen und Granate abgestellt. Da auch an den anderen Brennpunkten der Jacht der Kampf beendet war, senkte sich eine Stille über das Schiff, die in den Ohren hämmerte. Das Schreien ging in Winseln und Jammern über, was von den überregulierten Außenmikrofonen der Anzüge einige Sekunden lang nicht übertragen wurde. Immer noch suchte Anheuser nach der Prinzessin. Gleichzeitig setzte er die eingehenden Meldungen seiner Soldaten in eine entsprechende Meldung an die Grizzly um:

»Schiff gesichert. Keine Kampftätigkeit mehr. Keine Verluste. Keine Verletzte auf unserer Seite. Prinzessin noch nicht gesichtet.«

Erste dunkle Vorahnungen wollten in das schon reichlich beschäftigte Bewusstsein des Majors einsickern, da rief Füsilier Henry dazwischen: »Gotcha!«

Mit drei raumgreifenden Schritten durchmaß Anheuser die Zentrale und besah sich Henrys Fund. Sogleich dankte er den Göttern, ihm die Weisheit geschenkt zu haben, den Einsatz von Waffen auf die Schockmunition beschränkt zu haben. Einer der drei Männer, die im Sturz um sich geschossen hatte, war offenbar der Bewacher der Prinzessin gewesen. Vermutlich hatte er sie fest an seine Seite gezwungen und schließlich beim Sturz mit sich gerissen. Nun lag sie unter ihm und Hartkernmunition, auf den Bewacher abgefeuert, wäre durch beide Körper gedrungen und hätte sie ganz ohne Zweifel ebenfalls getötet. Ein großer Teil von Konzentration und Anspannung fiel von den Schultern des hünenhaften Majors und machte der besorgniserregenden Erkenntnis Platz, mal wieder so gerade eben Glück gehabt zu haben.

»Berichtige, Grizzly, mutmaßliche Zielperson gefunden.«

»Was heißt denn mutmaßlich? Ich hätte es gerne ein wenig genauer. Ist sie unversehrt?«

Der Captain klang nicht wirklich besorgt, dennoch kam seine Stimme streng und hart aus dem Kopfhörer. Anheuser beeilte sich, hob den erstaunlich schweren Mann von ihr herunter, zog den rechten Handschuh ab und tastete nach dem Hals der Gestalt, die nun in ganzer Größe zu sehen war. Wobei von Größe eigentlich nicht gesprochen werden konnte. Die Angehörigen der Kaiserlichen Familie zeichnete neben respektabler Körpergröße auch eine gewisse Fettleibigkeit aus. Das Erste lag an den unbelasteten Lebensumständen fern aller Engpässe, das Zweite an dem Überfluss an Nahrung und Getränken. Die verschmutzte und mit Blutklecksen gesprenkelte Gestalt am Boden entsprach diesem Bild in keiner Weise. Sie war klein, zierlich und wirkte durch und durch schwach. Zudem hatte sie rotblonde Haare, während die Kaiserliche Familie in der Regel über blonde Haare verfügte. Unglücklicherweise war es verboten, Bilder von Mitgliedern der Kaiserlichen Familie in Schiffsdatenbanken aufzunehmen, sodass es keine Vergleichsmöglichkeit gab. Vom Alter her mochte es hinkommen, Weiteres entzog sich seiner Kenntnis. Immerhin lebte das Mädchen, der Puls schlug kräftig und regelmäßig.

»Sie lebt, ist gesund und sieht gar nicht aus wie eine Kaiserliche.«

Auf der Brücke antwortete beredtes Schweigen. Zeit, die Leere mit einigen Anweisungen zu füllen.

»Carbone, zu den Booten zurück und nach Hause. Watkins, alles klar? Bischen dick aufgetragen, oder? Nimm deine Leute und suche den Rest des Schiffes ab. Ausrüstung, die von Frauen zu nutzen ist, einsacken und aufs Mutterschiff bringen. Henry, zum Hangar, aufmachen und eines der Boote einschleusen. Djorkaef, den Bordrechner filzen. Interessiert mich, was das für Typen sind. Skipper, sollen wir die Gefangenen rüberbringen?«

»Ihr habt Gefangene? Nein, ich denke, lasst sie da. Wir brauchen unsere freien Räume für die Kaiserlichen, seht zu, dass ihr ein paar Räume zum Gefängnis umrüsten könnt. Die Jacht muss ohnehin als Prise nach Horave zurück. Ich schicke ein paar Techniker rüber, die sich das Maschinendeck ansehen. Wir lassen den Kahn nur im äußersten Notfall zurück. Befrag die Leute und knaste sie vor Ort ein.«

Anheuser brummte unwirsch. So was gehörte nicht zu seinen Aufgaben, nun musste er seine Befehle neu ausrichten.

»Carbone, Kommando zurück. Trupp teilen, eine Hälfte rückt ab, die andere macht den Bautrupp. Auftrag: Errichtung eines Gefängnisses.«

»Bestätige. Wir nehmen die Brenner und bauen es komplett neu in die Trümmerwüste. Da kann ich mir dann sicher sein, keine Schwachstellen im Nest zu haben.«

»Mache es so.«

Der Major gab seinen Leuten einen Wink, woraufhin sie damit begannen, die drei überlebenden Gangster zu packen und aus der Zentrale zu schleifen. Plötzlich trat ihn etwas. Irritiert blickte er nach unten. Die Prinzessin, wenn sie denn eine war, sah ihn an. Ihr blasses, von Blut verschmiertes Gesicht hatte sich in der kurzen Phase der Unaufmerksamkeit ins Rötliche verfärbt, die Augen sprühten Feuer, sie sagte irgendwas, jedoch zu leise für die Außenmikrofone. Anheuser öffnete kurz entschlossen seinen Helm und konnte sogleich die helle, nicht unsympathische Stimme der jungen Frau vernehmen.

»Welche von allen guten Geistern verlassenen Wilden veranstalten denn so etwas? Erst zu spät kommen und dann zu doll. Ich glaube, mein Kopf ist gebrochen, diese rasenden Kopfschmerzen. Kann ich erfahren, was hier los ist? Bin ich immer noch gefangen? Meine Güte, wo ist hier ein Spiegel?«

Typisch weiblich, dachte Anheuser, während er die fluchende Frau mit kritischer Distanz musterte. Alle Gedanken, gleichgültig ob sinnvoll oder nicht, gefiltert oder nicht, ohne weitere Hemmungen ausgeplaudert. Und dann erwarten, der Zuhörer könne auf Anhieb den eigentlich wichtigen Gedanken erkennen, auf den allein die Dame in Wirklichkeit eine Antwort wünschte. An dieser Stelle wurde es haarig. Von der Besatzung der Grizzly hatte noch niemand die Gelegenheit erhalten, Auge in Auge einer leibhaftigen Angehörigen des Kaiserhauses entgegen zu treten. Er konnte ihr schlecht die Hand reichen und sie vom Boden hochreißen. Es existierten da eine Menge Etikette und Vorschriften, deren Missachtung ungeahnte Konsequenzen nach sich ziehen mochten. Innerhalb der Flotte kursierten unter den Niederen in Form von Gerüchten und Legenden zahlreiche Begebenheiten, bei denen Adlige vornehmlich wegen Verstößen gegen die Etikette harte Strafen ausgesprochen hatten. Wie man hörte, brachten es die Hochwohlgeborenen fertig, wegen reiner Formfehler im Umgang mit ihnen wesentlich härter zu strafen als wegen Vorkommnissen und Missetaten, die eigentlich nach dem gesunden Menschenverstand die schlimmeren Vergehen hätten sein sollen.

Anheuser war ein Mann der Tat und kannte nichts anderes als den Angriff, also griff er an. Nicht ganz unfreundlich sprach er die junge Frau an, gab sich dabei jedoch alle Mühe, in seinem Erscheinungsbild die abschreckenden Aspekte zu verstärken: »Würden Ihro Gnaden die Güte haben, sich auszuweisen? Dies ist eine Jacht von Horave, die wir gerade den Händen unbekannter Verbrecher entrissen haben. Erklärt Euch, zu welcher Seite gehört Ihr?«

Die Frau stemmte sich auf Ellbogen halbwegs in die Höhe, gab den Versuch aber mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. Keuchend gab sie ihren Namen bekannt: »Ich bin Penelope, Tochter von Iphigenie III., Kaiserin der Galaxis, Herrscherin über Horave und alle Kolonien, oberste Priesterin der Erleuchteten Kirche und Erste Richterin. Ich bin an zweiter Stelle in der Thronfolge, und nebenbei bemerkt diejenige, die den Notruf aussandte. Und nun möchte ich wissen, wer zum Teufel über uns hereingebrochen ist. Außerdem möchte ich einen Arzt.«

*

Mit einigermaßen gemischten Gefühlen betrat Roscoe Tanner die Zentrale der Saskia. Die Nachricht von Major Anheuser, wonach die Prinzessin einen Arzt benötige, hatte ihn alarmiert. Mit einem Sturmboot setzte er zusammen mit der medizinischen Abteilung über und kämpfte sich zusammen mit den anderen durch die Trümmer. Er bemerkte die zierliche Frau mit den rötlichen Haaren unmittelbar vor dem Moment, als der Arzt sich über sie beugte. Glücklicherweise handelte es sich bei dem Arzt der Grizzly um eine Frau, da die Prinzessin eine Erstversorgung durch den Füsilier und ausgebildeten Nothelfer Michel Platini abgelehnt hatte. Sie wollte von einem Mann nicht angefasst werden, zumal dieser Mann ganz deutlich erkennbar ein Niederer war.

Viola Teresita da Joya würde die Edle allerdings auch nicht wirklich zufriedenstellen. Nicht nur, weil sie vier Jahre bei den Füsilieren gedient hatte, bevor sie sich der Medizin zuwandte. Nicht nur, weil sie trotz ihrer Schönheit groß und stark war wie ein Ochse. Es war ihre Eigenart, burschikos und mit zielsicher schlechtem Geschmack ihre Patienten gelegentlich das Gruseln zu lehren. Einen schwer verletzten Soldaten konnte sie mit derben Scherzen und merkwürdigem Verhalten oft genug von seinen Leiden ablenken, aber bei einer Prinzessin? Auch deshalb hatte es Tanner für besser gehalten, vor Ort zu sein. Nicht, dass seine Anwesenheit Viola in irgendeiner Weise beeindrucken würde. Es ging auch gleich richtig los.

»Wo ist denn hier der Notfall? Die Kundin ist ja noch ganz, keine fehlenden Gliedmaßen, keine klaffenden Wunden.«

Viola sprach mit heiterer und dem Anlass unangemessen lauter Stimme noch nicht einmal zur Prinzessin selbst, sondern zu Anheuser gewandt. Die beiden waren fast gleich groß, der bullige Major in den Schultern breiter, die Ärztin um die Hüften rundlicher. In eingeweihten Kreisen galt ihr Hintern als die „Kathedrale von Katinka“, nicht nur Männer sprachen mit verklärtem Blick über ihre körperlichen Vorzüge. Dafür waren ihre Manieren mit „gewöhnungsbedürftig“ außerordentlich beschönigend umschrieben. Anheuser rollte mit den Augen, was Viola breit lachend ignorierte und sich mit einer Geschwindigkeit über die daniederliegende Prinzessin beugte, dass diese erschreckt zusammenzuckte.

»Nur keine Angst, Schätzchen, seit der Party gestern bin ich noch nicht wieder zusammengebrochen.«

Sie lachte glucksend, zog ein Diagnosegerät aus der Schatulle an ihrer Hüfte, als handele es sich um eine Waffe und klappte es auf. Der Pistolengriff erinnerte noch einigermaßen an eine Schusswaffe, aus dem darüber angebrachten Sockel faltete sich ein rechteckiger Bildschirm, der sofort begann, an den Rändern Daten abzuspielen. Viola führte das Gerät über jede einzelne Körperstelle der Prinzessin, deren Innereien sehr plastisch auf dem Schirm erschienen. Tanner konnte die wesentlichen Details von seiner Position halb rechts hinter der Ärztin gut verfolgen. Er wäre jedoch nicht auf die technischen Hilfen angewiesen gewesen, da Viola es sich nicht nehmen ließ, ihre Erkenntnisse in Form eines heiteren Vortrages zum Besten zu geben.

»Leichte Spreizfüße, das kommt davon, wenn man zu oft in Stöckelschuhen vor dem Liebsten herumstolziert. Keine Arthrose, alles fit und altersentsprechend gesund. Mhm, der Ofen ist kalt, keine Schwangerschaft. Na, da haben wir aber Glück gehabt, das Schatzkästlein haben die Bösewichte in Ruhe gelassen.«

Vier Füsiliere befanden sich in der Zentrale, Harry Westhouse, der Sanitäter, und Tanner. Die Soldaten machten große Augen, der Sanitäter kannte seinen Doc und nahm ihr Gerede mit großer Gelassenheit auf. Tanner betrachtete die Prinzessin, die gerade in arge Luftnot geriet. So ein Arzt war ihr ganz sicher noch nicht begegnet. Mit offenem Mund starrte sie die große Ärztin an und vergaß vor Schreck zu atmen. Die Ärztin fuhr ungerührt mit ihrem Vortrag fort: »Brustkorb intakt, wenn man von der chronischen Mangelernährung abzusehen bereit ist, Hals zu dünn, aber gut durchblutet, Zähne, ach herrje, wer hat denn diese Kronen zusammengepfuscht? Schön teuer sind sie ja, drunter bildet sich aber schon wieder Karies. Keine Sorge, das kriegen wir auf dem Heimflug hin. Kopf … Ach du Scheiße. Westhouse, das Singer-Skalpell.«

Der Sanitäter, um einiges schmächtiger als seine Chefin, reagierte mit der Erfahrung des langjährigen Frontkämpfers. Mit fliegenden Händen klappte er das Equipment auseinander, lagerte den Kopf der Prinzessin auf einer Platte, legte zwei Tabletts daneben, randvoll mit chirurgischem Besteck und Verbandsmitteln gefüllt und reichte schließlich ein klobiges Gerät hinüber, das an einen schwangeren Pürierstab erinnerte.

»Viola?«

Tanner fragte mit sanfter Schärfe, während die Ärztin der immer noch entsetzt starrenden Prinzessin eine Hochdruckspritze gab, woraufhin diese bewusstlos in sich zusammensackte. Den Pürierstab in der Hand und ohne sich umzudrehen erklärte die Ärztin, schlagartig sachlich und kontrolliert und ohne jegliche Heiterkeit: »Sie ist wohl mit Schmackes gegen dieses Teil hier gekracht, als der Kerl sie umgerissen hat und dann noch auf sie drauf fiel. Da ist dicht unter der Knochenschale ein Aneurysma. Die Arterie hat was abgekriegt, hält nicht mehr dicht und bläht sich auf. Eine kleine Sickerblutung hat schon begonnen. Das Ding wird platzen, ob in ein paar Minuten oder einigen Stunden ist egal, weil die nächste heftige Bewegung das Geschehen auslösen kann. Ich operiere sie hier, anschließend schaffen wir sie auf die Krankenstation. So, es geht los.«

Aus dem Pürierstab klappte ein Cardonium-Messer, das durch das Mini-Kraftwerk im Innern in rasend schnelle Schwingungen versetzt wurde. Die Notoperation begann und wurde in enormer Geschwindigkeit durchgeführt. Tanner hatte nicht einmal Gelegenheit, die Füsiliere vor die nicht mehr vorhandene Tür zu schicken. Viola klappte die Haut weg, schnitt ein Fenster in den Knochen am Hinterkopf, und legte mit wenigen raschen Schnitten das Zielgebiet frei. Im weiteren Verlauf der Operation zeigte sich die Vielseitigkeit des Pürierstabs. Es handelte sich in Wirklichkeit um das chirurgische Gegenstück zum Schweizer Messer, speziell entwickelt für die Erfordernisse an der Front. In Dunkelheit, Dreck und fern aller Versorgungslinien sollte der Arzt in der Lage sein, alle relevanten Operationen, von der Amputation bis zur Erstversorgung schwerster Verbrennungen, mit einem Instrument durchzuführen. Die Vorteile lagen auf der Hand, weshalb sich diese oder ähnliche Geräte in allen Militärstrukturen des bekannten Weltalls durchgesetzt hatten. Frontärzte wie Viola brachten es zu unerreichbar scheinender Meisterschaft in Bezug auf Präzision, vor allem aber in puncto Geschwindigkeit. In aller Regel gab es nämlich nur einen Arzt pro Kompanie, viel zu oft nur einen pro Bataillon, bei harten Kämpfen mit Dutzenden von Verletzten sollte auch der Letzte in der Reihe noch rechtzeitig Hilfe erhalten.

Anheuser trat neben den Captain und raunte: »Da haben wir aber ganz schön Glück gehabt.«

Tanner nickte leicht abwesend, er war noch damit beschäftigt, die möglichen Konsequenzen einer gescheiterten Befreiung der Prinzessin mit den möglichen Konsequenzen zu vergleichen, die durch das ungebührliche Verhalten diverser Besatzungsmitglieder zu entstehen drohte.

»Für heute haben wir besorgniserregend viel Glück in Anspruch nehmen müssen.«

Er wollte noch mehr sagen, doch in diesem Moment meldete sich die Brücke.

»Grizzly an Captain. Eilt. Grizzly an Captain. Eilt.«

Nagama Tais Stimme klang angespannt, Tanner war sofort wieder voll bei der Sache.

»Was gibt es, Nagama?«

»Kontakt in vier Stunden Entfernung. Eine Drohne von Horave. Wir erhalten eine Nachricht, die für uns bestimmt ist.«

»Lass hören.«

»Wir sollen uns unverzüglich auf den Weg machen nach Horave. Sollen uns direkt bei Großadmiral Minutaglio melden. Kein Scherz. Wir sollen die Hauptwelt anlaufen.«

Leicht konsterniert schauten sich der Füsilier und sein Captain an. Das hatte es noch nie gegeben. Horave schickte eine Suchdrohne quer durch den Grenzgürtel, um nach ihnen zu suchen und ihnen zu befehlen, den Zentralplaneten anzufliegen. Es war der Grizzly bei Todesstrafe verboten, nach Horave zu fliegen. Das konnte nicht sein.

»Ist das sicher? Wirklich sicher? Ja? Wird ein Grund angegeben, weshalb wir urplötzlich etwas tun sollen, was uns bislang streng verboten war.«

Nagama schwieg volle drei Sekunden, bevor sie leise sagte: »Man will uns die längst fällige Belohnung zukommen lassen.«

Tanner atmete lange aus, fasste sich an die Stirn und sagte, zu Anheuser gewandt:

»Damit ist unser Glück beendet.«

Kampf um Katinka

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