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Kapitel 3

M

issmutig starrte Detective Chief Inspector Isaac Blake aus dem Fenster seines momentanen Büros in der ›Burnett Road Police Station‹, welches ihm und Detective Sergeant Cyril McGinnis vom ›Area Commander‹-Police Chief Inspector Mark Higgins zugewiesen worden war. Wieder einmal waren er und sein Kollege, im Rahmen der Amtshilfe, zur Lösung eines Falles angefordert worden. Inzwischen kannten die beiden in Inverness und den umliegenden Highlands gut aus. Blake erinnerte sich noch ausgezeichnet an den Fall der Familie Mackay in Tongue [1]. Sein nachdenklicher Blick nahm keinerlei Notiz von dem im Hochland so seltenen blauen Himmel, der sich makellos über Inverness wölbte. Das imposante Bild des hoch über dem schäumenden ›River Ness‹ aufragenden repräsentativen Burgschlosses ›Inverness Castle‹, auf dem im 11. Jahrhundert der schottische König MacBeth, weniger grausam wie von William Shakespeare geschildert, regiert hatte, nahm er ebenfalls nicht wahr.

Blake war im höchsten Maße unzufrieden.

Seit mehreren Tagen beschäftigten sie sich nun schon mit der Angelegenheit um das rätselhafte Verschwinden von Professor Helmsdale und der jungen Miss Drummond, doch letztlich mussten sie sich beide eingestehen, dass sie nicht das Geringste hatten herausfinden können. Nicht die allerkleinste Spur hatte sich ihnen gezeigt. Die durch die starke Explosion völlig zerstörte Villa des spleenigen Professors, die scheußlich zugerichtete Leiche des alten Hausdieners und das spurlose Verschwinden des Mädchens gaben ihnen schier unlösbare Rätsel auf.

Im besonderen Grade ärgerte sich Blake über die schlechte Presse der ›Scottish Daily Mail‹. Die verdammten Lohnschreiber bewarfen ihn jeden Tag mehr mit ihrem Schmutz. Auch wenn sich Blake bereits daran gewöhnt hatte, nervte es ihn. Es war ihm bewusst, dass er als gebürtiger Londoner keine Freunde unter den ränkeschmiedenden Provinzschotten hatte. Sicher, die ›Daily Mail‹ und ihr schottischer Ableger waren nur Boulevardblätter mit stark eingeschränkter Seriosität, und natürlich mussten deren Schreiberlinge mit Irgendetwas ihre Sixpence verdienen, doch dazu durfte einem nicht jede Schlagzeile recht sein. Im Augenblick erschienen sie ihm wie hungrige Schakale, die nach einer langen Fastenzeit endlich wieder die Spur eines ungefährlichen Wildes gefunden hatten und nun in der Verfolgung nicht mehr lockerließen. Das Widerwärtige an der Sache daran war nur, dass sie ihren leichtgläubigen, aber zumeist sensationsgierigen Lesern glauben machen wollten, sie wären einer äußerst gefährlichen Bestie auf der Spur.

Während Blake darüber nachdachte funkelte es wütend in seinen grauen Augen. Noch am Tag zuvor hatte ihm James Thornton, der Nachfolger des in den verdienten Ruhestand gegangenen langjährigen Chief Superintendent, unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er in dieser Angelegenheit schnellstens einen Erfolg erwartete. Schnelle Erfolge hatte auch der Dickwanst oder ›Fat Bloke‹, wie er liebevoll hinter vorgehaltener Hand von den meisten im Yard genannt worden war, verlangt, aber Thornton machte keinen Hehl daraus, dass er dessen Zögling Blake nicht mochte.

Abrupt drehte sich der Chief Inspector um und sah in das grinsende Gesicht seines Sergeants.

Detective Sergeant McGinnis war, bei einem Gewicht von dreihundertzwanzig Pfund und einer Größe von sechs Fuß fünf Inch, ein wahrer Bär von einem Mann. Er hatte das Aussehen eines Preisringers aus der Schwergewichtsklasse, und dennoch eine seltene Gemütlichkeit. Vor sechs Jahren hatte ihn Blake überzeugen können, vom Streifendienst zur Kriminalpolizei zu wechseln, und seit etwas mehr als fünf Jahren arbeiteten sie als Team. McGinnis wurde oft unterschätzt. Nicht jeder erkannte auf Anhieb, dass Sergeant McGinnis ein äußerst intelligenter Mann mit einem nahezu fotografischen Gedächtnis war, der sich blitzschnell auf neue Situationen einstellen konnte und passende Lösungen fand.

Obwohl er gerade erst seinen fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert hatte, fristeten nur noch wenige Haare ihr spärliches Dasein auf seinem kugeligen Schädel. Mit seinen treuherzigen vergißmeinichtblauen Augen sah er zu Blake hinüber.

Die beiden kannten sich bereits seit dem Tag, als McGinnis noch blutiger Anfänger beim Metropolitan Police Service war und auf Streife ging. McGinnis war damals in eine Bandenstreitigkeit geraten, eine Schießerei mit einer Schwerverletzten und drei Toten. Ein Pärchen war zufällig zwischen die Fronten geraten, und er hatte der lebensgefährlich verletzten jungen Frau das Leben retten können. Für ihren Partner und zwei der Gangmitglieder kam leider jede Hilfe zu spät. Blake war damals schon bei der Mordkommission und der frisch von der Polizeischule gekommene Constable war ihm gleich positiv aufgefallen. Allein McGinnis‘ präziser Aussage zum Ablauf des Geschehens, war es zu verdanken, dass die Schuldigen langjährige Haftstrafen erhielten.

Obwohl Sergeant McGinnis sehr bullig aussah, war er dennoch sehr rücksichtsvoll. Zwischen ihm und Blake hatte sich eine unterschwellige Freundschaft entwickelt. Eigentlich war es längst an der Zeit sich zu duzten, aber sie taten es nicht. Blake siezte ihn weiterhin, sprach ihn aber oft mit dem Vornamen an, umgekehrt blieb es ebenfalls beim Sie und einem dienstlichen Sir. Doch letztlich konnte, mit den vielen Jahren der engen Zusammenarbeit, der eine nicht mehr ohne den anderen auskommen.

Chief Inspector Blake lief mit unruhigem Schritt und verärgerter Miene im Raum hin und her.

In McGinnis‘ Augen trat ein besorgter Ausdruck. »Wie sieht es mit einem ordentlichen Frühstück aus?«, fragte er mit seiner Tenorstimme.

»Nein!«, kam es knurrend zurück.

»Sie sollten aber etwas zu sich nehmen!«, verlangte McGinnis energisch. »Ich werde Miss Maddows bitten, uns einen starken Kaffee zu bringen. Und ein paar ordentliche Sandwiches wären sicher auch nicht schlecht.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er aus dem Zimmer.

Chief Inspector Blake setzte derweil seine unruhige Wanderung durch den Büroraum fort. Er war ein mittelgroßer Mann, von schlanker Statur, mit einem energischen, aber attraktiven Gesicht, das von zwei skeptischen kühlen, grauen Augen unter ungewöhnlich stark ausgeprägten Augenbrauen beherrscht wurde. Er war jetzt dreiundvierzig alt und ›immer noch zu haben‹, wie er manchmal in spöttischer Selbstironie bemerkte.

Blake hatte zur Klärung diverser Aufsehen erregender Fälle entschieden beigetragen und war deshalb in bestimmten Kreisen recht gefürchtet. Nur in diesem speziellen Fall wollte ihm einfach nichts gelingen.

Es war eigentlich nicht seine Art zu fluchen, aber heute war ihm danach.

Urplötzlich kroch der verführerische aromatische Duft starken Kaffees in seine Nase. Er sah auf und bemerkte, wie Miss Maddows, mittelgroß, schlank und immer auf ein gepflegtes Äußeres bedacht, ein Tablett mit Tassen, Kanne, Milch, Zucker und einigen Sandwiches auf seinem Schreibtisch absetzte.

Die Enddreißigerin mit dem frechen Kurzhaarschnitt lächelte ihn schüchtern an.

»Wünsche den Herren einen guten Appetit!«, sagte sie freundlich. »Eine kleine Stärkung wird Ihnen sicher guttun.«

Dann verließ sie mit klappernden Absätzen und gekonntem Hüftschwung das Büro.

»So, jetzt setzen Sie sich endlich und frühstücken!«, forderte McGinnis, der inzwischen wieder an seinem Tisch Platz genommen hatte, seinen Vorgesetzten auf. »Sie werden sehen, wenn Sie etwas im Magen haben, denkt es sich wesentlich leichter.«

Blake schmunzelte. Die Logik dieser Worte schien ihm nicht so recht einzugehen. Widerstrebend setzte er sich hin und begann zu essen. Allmählich breitete sich ein Gefühl behaglicher Wärme in seinem Körper aus. Nach und nach verschwanden die Unmutsfalten von seiner Stirn.

»Was mich verwundert ist, dass es wohl kaum eine Stelle in den beiden Häusern gibt, die wir nicht buchstäblich auf den Kopf gestellt hätten«, begann Blake nachdenklich, »und nichts gefunden haben, außer der völlig zerschmetterten Leiche Dunmores. Da war nichts, einfach gar nichts, das uns auch nur den geringsten Anhaltspunkt über das rätselhafte Verschwinden dieses verrückten Helmsdale hätte geben können.«

»Wenn der Professor in seiner Villa gewesen wäre, hätten wir zumindest Überreste von ihm finden müssen«, bestätigte McGinnis. »Und was ist mit diesem jungen Mädchen?«

»Aus dem Gespräch mit der Mutter weiß ich, dass ihre Tochter von einem Besuch bei einer Freundin gegen zehn Uhr abends zurück war und direkt nach oben in ihr Zimmer gegangen ist.« Blake nippte an seinem Kaffee, den ihm McGinnis eingeschenkt hatte. »Laut ihrer Mutter war sie erst seit ein paar Tagen von einer schweren Grippe genesen und daher noch etwas anfällig. Sie sagte, sie sei gegen elf Uhr noch einmal im Zimmer ihrer Tochter gewesen, und da habe diese bereits tief und fest geschlafen. Kurz nach Mitternacht hat es dann fürchterlich geknallt und die halbe Villa ging dabei zu Bruch.«

Blake nahm einen weiteren Schluck Kaffee. Dann klopfte er eine Zigarette aus dem vor sich auf dem Tisch liegenden Päckchen und zündete sie an.

»Es gibt noch einen weiteren Beweis dafür, dass diese Alice zur fraglichen Zeit in ihrem Zimmer war. Auf dem mit Glassplittern bedeckten Fußboden wurden Blutspuren entdeckt, die unzweifelhaft von ihr stammen«, ergänzte McGinnis zwischen zwei Bissen in sein Schinken-Sandwich. »Die Jungs von der ›Fatal Accident Inquiry‹ haben im Labor einen Test gemacht und dabei festgestellt, dass dieses Blut dieselbe seltene Blutgruppe hat wie die der Mutter. AB Rhesus negativ. Kommt nur bei einem Prozent der Bevölkerung vor.«

Chief Inspector Blake nickte und nahm einen Zug von seiner Zigarette. »Aber wo ist sie geblieben?« Er zuckte ahnungslos die Schultern. »Wir wissen, dass sie nicht zu Tür hinaus konnte. Die hatte sich verkeilt. Logischerweise bleibt also nur noch das Fenster. Doch draußen war nicht die geringste Blutspur zu entdecken ...«

»Und was ist mit der Wunde am Hals des alten Dunmore?«, unterbrach ihn Sergeant McGinnis. »Doktor Witherspoon fand die Wunde recht seltsam. Seinem Bericht zufolge ähnelt es Kanüleneinstichen.« Er stopfte sich einen weiteren Bissen in den Mund und spülte direkt mit einem Schluck Kaffee nach. »Erinnert mich verdammt an den Fall Tongue! Diesen Möchtegern-Vampir von ›Varrich Castle‹!« Er warf Blake einen seltsamen Blick zu. »Russel Mackay wird doch nicht von den Toten wiederauferstanden sein?«

Blake lächelte, wippte aber im nächsten Augenblick ratlos mit dem Kopf. »Nachdem was wir beide bereits erlebt haben, kann man das nicht ausschließen, aber ich halte es für sehr unwahrscheinlich«, meinte er. »Im Augenblick kann ich mir jedenfalls keinen Vers daraus machen.« Unzufrieden klopfte er mit zwei Fingern auf die Tischplatte. »Die Spuren auf der steinernen Balustrade des Balkons, vor dem Schlafzimmer des Mädchens, sind ebenfalls sehr mysteriös. Als ich die Fotos der Spurensicherung gesehen habe, war mein erster Gedanke, dass es sich um die Abdrücke eines riesigen Raubvogels handelt, der seine Fänge in den Stein geschlagen hat.«

»Ist das nicht ein wenig weit hergeholt?«, lächelte McGinnis.

Blake schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz und gar nicht«, stellte er fest. »Ähnliche Spuren habe ich vor Jahren während eines Urlaubs in Lanslebourg-Mont-Cenis in den französischen Alpen gesehen.«

McGinnis sah ihn neugierig an.

»Damals hatte ein mächtiger Steinadler seine Fänge so in eine Felsspalte verklemmt, dass er aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Das Tier war schon völlig erschöpft, als wir es zufällig bei unserer Kletterei fanden und aus der tödlichen Umklammerung befreien konnten. Ich erinnere mich noch gut daran, dort vergleichbare, wenn auch wesentlich kleinere Kratzspuren gefunden zu haben. Verursacht wurden sie durch die verzweifelten Befreiungsversuche des Tieres.« Er nahm sich einen Schluck Kaffee. »Aber damit kommen wir auch nicht weiter.« Blake gab sich einen Ruck. Der nachdenkliche Ausdruck in seinem Gesicht verschwand, und in seinen Augen funkelte es energisch. »Es ist einfach nicht anders denkbar! Alice Drummond hat nach ihrem schrecklichen Erwachen einen solchen Schock erlitten, dass sie ihr Gedächtnis verloren hat und sich irgendwo versteckt hält, oder es liegt ein Verbrechen vor, dass mit der Explosion in unmittelbarem Zusammenhang steht.« Er drückte den Rest seiner Zigarette in den vor ihm stehenden Aschenbecher.

»In dem Fall neige ich allerdings mehr zur letzteren Annahme«, sagte McGinnis.

»Ich auch, Cyril, ich auch!«, nickte Blake. »Auf jeden Fall habe ich sämtliche Dienststellen im gesamten Distrikt alarmiert. Sie haben alle eine genaue Beschreibung des Mädchens.« Sein markantes Gesicht wurde hart. »Im Augenblick stochern wir zwar noch im Nebel herum ... aber auch der löst sich irgendwann einmal auf.«

Sergeant McGinnis, der sein Frühstück bereits vertilgt hatte, warf einen fragenden Blick auf die noch vor Blake liegenden Sandwiches.

Ohne ein Wort zu sagen, schob sie ihm der Chief Inspector zu.

»Danke«, grinste McGinnis und griff direkt zu. »Wenn die Explosion im Haus des Professors nicht das zufällige Ergebnis eines wahnwitzigen Versuchs gewesen ist, sondern das Produkt eines Verbrechens, und wenn weiterhin das eigentümliche Verschwinden von Alice Drummond damit zusammenhängen sollte, dann wird es Zeit, dass wir herausfinden, wie das alles miteinander zusammenhängt.« McGinnis schien gesagt zu haben, was abschließend gesagt werden musste, denn jetzt wandte er sich hungrig dem nächsten Sandwich zu und schwieg.

Chief Inspector Blake hatte noch einen Schluck Kaffee zu sich genommen und war dann unvermittelt aufgestanden. »Sie halten hier die Stellung, bis ich wieder zurück bin, Cyril! Ich werde mir draußen ein wenig die Füße vertreten. Vielleicht bekomme ich bei einem Spaziergang einen klaren Kopf. Möglicherweise schaue ich auch noch auf einen Sprung bei Doktor Witherspoon vorbei. Ich habe da noch so einige Fragen.« Er lächelte seinem Kollegen zu, schlüpfte in seinen Mantel, griff nach seinem Hut und ging.

McGinnis blickte ihm schmunzelnd nach. Dann betrachtete er das Sandwich in seiner Hand an. »Na, Kleines? Du willst doch, dass ich dich beiße ... Komm sag es mir ... oh, jaaaaaa.« Herzhaft biss er hinein. Mit dem Sandwich in der Hand stand er auf und öffnete ein wenig das Fenster. Die frische Morgenluft tat gut. Nachdenklich sah er Blake unten vor dem Polizeikomplex auf dem Gehweg nach, bis der Chief Inspector um eine Ecke verschwand. Der Fall schien wirklich sehr verzwickt zu sein. Mit Verwunderung bemerkte McGinnis, dass ihn ein leichter Schauder erfasste, als er an die düsteren Ereignisse der letzten Tage dachte.


Kreaturen der Nacht

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