Читать книгу Die Zwanzigste Stunde - Thomas Riedel, Susann Smith - Страница 9

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Kapitel 5

Robert begab sich durch die Tür in den menschenerfüllten Vorraum des ›Blue-Moons‹. Die Luft im Pub war dick. Er hörte abgerissene Töne der Tanzkapelle und das Schleifen von Füßen, die sich im Tanzsaal über den glatten Parkettboden bewegten.

Ein Mitarbeiter näherte sich ihm, um ihm den Mantel abzunehmen.

»Danke«, wehrte Robert ab. »Ich habe nicht die Absicht zu bleiben. Ich suche Mr. Straightbolt.«

»Der Gentleman ist an der Bar.«

Robert bahnte sich seinen Weg in den trüb beleuchteten Raum. Er war außerordentlich erleichtert über die Auskunft, denn er hatte schon ein Dutzend Etablissements vergeblich nach Dwayne Straightbolt abgesucht. Nach diesem letzten Versuch hatte er sich zu den Newdales begeben wollen.

Schon einmal hatte er sich hier aufgehalten, und zwar mit Margaret. Damals hatte er sich über die Wandbemalungen belustigt, zum schwungvollen Rhythmus der Hausband getanzt und sich von ihr in den Schwarm ihrer Verehrer einreihen lassen.

Niemand achtete auf ihn, während er sich durch die Menge schlängelte. Der Abend war viel zu fortgeschritten, als dass man einem noch so sorgenvoll aussehenden jungen Mann, der seine Garderobe nicht abgegeben hatte, Aufmerksamkeit geschenkt hätte.

Robert erblickte den Gesuchten.

Straightbolt saß auf einem hohen Schemel an der Bar, umgeben von mehreren Gentlemen. Der eine war Bruce, der Besitzer des Lokals, ein anderer der Oberkellner, die übrigen waren ungepflegte, übernächtigt aussehende junge Leute, die belustigt zu sein schienen. Bruce und der Oberkellner trugen eine gläserne Miene zur Schau, wie es der Fall bei solchen Menschen ist, wenn ihnen ein wertvoller Kunde Unannehmlichkeiten bereitet.

»Alle sollen etwas trinken«, sagte Dwayne betont würdevoll.

»Gewiss, Mr. Straightbolt, gewiss«, beschwichtigte Bruce.

»Und sie sollen alle an der Bar sitzen, schön der Reihe nach … Los, Bruce, mein Freund, holen Sie sie her!«

Es mochten sich an die hundert Personen im Vorraum befinden. Die Lage war schwierig. Wenn Bruce sich weigerte, dem Wunsch seines Gastes nachzukommen, würde Dwayne ungemütlich werden. Kam Bruce seinem Befehl nach, so würde er, wenn er erst einmal nüchtern war, wegen der hohen Rechnung toben.

Robert näherte sich und legte seine Hand auf Dwaynes Arm.

Wütend fuhr dieser herum, um den neuen Störenfried tüchtig anzuknurren.

Aber Robert ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. »Dwayne! Ich muss mit dir unter vier Augen sprechen!«

»Ausgeschlossen«, erwiderte Dwayne. »Unter gar keinen Umständen gebe ich vor dem frühen Morgen Audienz.«

»Komm' zur Besinnung, Dwayne!«, erwiderte Robert scharf.

Dwayne rutschte von seinem Schemel herunter und breitete seine Arme aus. »Oh, und wie ich mich besinne, mein Sohn. Oh, ja, ich besinne mich! Aber lass' dir einen guten Rat geben …«

»Ich brauche keinen guten Rat«, unterbrach Robert ihn rau. »Ich habe mit dir zu reden. Auf der Stelle! Und zwar unter vier Augen!«

Dwayne schaute blinzelnd in den raucherfüllten Raum. »Hier sind zu viele Augen.« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Der Waschraum! Eine hochvornehme Sache. Waschräume gibt's in den meisten Pubs nicht … Los, komm!« Er griff nach Roberts Arm.

»Zigarren? Zigaretten?« Ein Mädchen mit einem Tablett stellte sich vor Dwayne auf und schaute ihn lockend an.

»Gerne, mein schönes Kind. Eine Schachtel ›Wild Woodbine‹, eine Schachtel ›Old Judge‹, dann noch eine Schachtel ›Craven A‹ …«

»Um Himmels willen, komm endlich!«, drängte Robert. »Lass' doch diese Komödie!«

Dwayne lächelte das Mädchen an. »Nachher, mein schönes Kind.« Er versetzte ihr einen unsittlichen Klaps, als sie weiterging.

*

Sie schritten die Stufen hinunter.

Im Waschraum ließ Dwayne Wasser in ein Becken laufen und fing an sich die Hände zu waschen.

»Höre, Dwayne«, begann Robert, »wir haben Margaret gefunden.«

»In welcher Opiumhöhle hat sie sich versteckt?«, fragte Dwayne, sich die Hände einseifend.

»Schön, wenn es so einfach wäre«, meinte Robert und musterte ihn. »Du wirst dich fassen müssen, Dwayne.«

»Warum?«

»Margaret ist tot. Sie wurde ermordet.«

Dwayne fuhr herum, verlor das Gleichgewicht und sank gegen die Wand. Dort lehnte er, die Hände wie abwehrend ausgestreckt, sodass das Seifenwasser auf den Boden tropfte. »Das ist eine höllische Art, einen nüchtern zu machen«, stöhnte er.

»Es ist aber wahr. Sie wurde erwürgt. Ich fand ihren Leichnam auf der hinteren Bank von Darlenes Landauer. Scotland Yard hat mich geschickt, dich zu suchen. Wir sollen in die Wohnung der Newdales kommen.«

Dwayne schüttelte den Kopf, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. »Mord?« Ungläubig starrte er Robert an. »Das ist wirklich kein übler Scherz von dir?«

»Mir wäre wohler, wenn es einer wäre.«

»Bei Gott!« Dwayne trocknete seine Hände ab und schaute in den Spiegel. Er zog die Lider herunter und betrachtete seine blutunterlaufenen Augen. »So etwas …«, murmelte er. »Das ist wirklich ein Gespräch ohne Zeugen, Robert … Aber lass' uns jetzt gehen.«

*

Von allen Seiten eilte man dienstbeflissen herbei, als sie wieder oben auftauchten. Diensteifrig brachte der Oberkellner Dwaynes Mantel und Zylinder aus der Garderobe.

Bruce half ihm in den Mantel und winkte unwillig ab, als Dwayne ihm einen Scheck ausstellen wollte. »Ein anderes Mal. Ihr Kredit ist unbegrenzt.« Für ihn war es wichtig, dass er sein Etablissement schnellstens verließ. »So hab' ich ihn noch nie gesehen«, flüsterte er Robert zu. »Er muss bei Pferdewetten ordentlich verloren haben oder sonst etwas.«

*

Der Portier winkte ein ›Hansom Cab‹ heran.

»›Boyton Road‹ 91«, wies Robert den Kutscher an und ließ sich neben Dwayne auf der Bank nieder.

»Nein!«, widersprach der. »›Cobham Road‹ 21. Und zwar rasch!«

Der Mann mit dem Zylinder auf dem Kutschbock zeigte sich geduldig. »Entschließen Sie sich, Gentlemen.«

»Sie kutschieren in die ›Cobham Road‹ 21«, knurrte Dwayne. »Und wenn du dich nicht fügst, Robert, kannst du dir ein anderes Cab nehmen.«

Der Einspänner setzte sich in Bewegung.

»Ist das nicht Rachel Evermers Adresse?« Robert sah ihn schräg von der Seite her an.

»Richtig erraten«, erwiderte er.

»Sie ist aber nicht zu Hause«, erklärte Robert. »Sie ist bei Darlene.«

»Wetten, dass sie nicht bei Darlene ist?«

»Ich beschwöre dich, Dwayne. Sie ist bei Darlene!«

In der ›Meads Road‹ musste die Kutsche kurz halten, da ein anderes Gespann kreuzte.

»Du kannst ja aussteigen, wenn du nicht mitkommen willst«, bemerkte Dwayne. »Wechsel nur die Pferde mitten auf dem Weg!«

Robert zuckte die Schultern und setzte sich zurück. Es war wichtig, Dwayne zu den Newdales zu bekommen. Flanders hatte sich großzügig gezeigt und Darlene die Möglichkeit gegeben, ihre Familie selbst von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen, und ihn ausgesandt, Dwayne zu suchen, ohne ihm die Polizei auf die Fersen zu hetzen. Außerdem hatte er es bis jetzt vermieden, die Presse zu benachrichtigen.

*

Zehn Minuten später hielt das ›Hansom‹ in der ›Cobham Road‹ vor der Hausnummer 21.

»Warten Sie«, befahl Robert dem Mann auf dem Kutschbock. »Wir brauchen Sie noch.«

Gemeinsam betraten sie den Vorraum des großen Wohnhauses. Der Nachtwächter betrachtete Dwayne, der wie ein Baum in starkem Wind schwankte, voll Misstrauen.

»Miss Rachel Evermer«, sagte Dwayne.

»Miss Evermer ist nicht da.«

»Unmöglich«, beharrte Dwayne. »Läuten Sie in ihre Wohnung hinauf.«

Der Nachtwächter stöpselte am Schaltbrett herum und drückte einen Knopf.

»Er mogelt!«, schimpfte Dwayne. »Ich werde ihm dafür den Hals brechen. Er mogelt!«

»Dann läuten Sie doch selbst hinauf, Mr. Straightbolt!«, forderte ihn der Mann auf.

Dwayne drückte lange und nachdrücklich auf den Knopf. »Tut mir leid, dass ich Sie beleidigt habe«, sagte er anschließend kleinlaut. »Wenn Sie meinen, dass eine Entschuldigung für diese Beleidigung nicht genügt, will ich gern Ihre Sekundanten empfangen. Sie müssen nämlich wissen …«

»Dwayne!«, ermahnte Robert ihn direkt. »Lass' uns gehen!«

»Oh! Du hast recht!«

Sie kletterten wieder auf die lederbezogene Bank des ›Hansom Cab‹.

»Rachel Evermer, Haute Couture, ›Westbury Avenue‹, Ecke ›Crawley Road‹«, befahl Dwayne.

»Überleg' doch einmal, du Dummkopf«, fuhr Robert ihn verärgert an. »Es ist drei Uhr vorbei. Keine Seele ist augenblicklich in Rachels Geschäft.«

»Außer Rachel!«, entgegnete Dwayne.

Roberts Augen maßen die Entfernung von seiner rechten Faust zu Dwaynes Kiefer. »Hör' mal«, sagte er, »wenn Rachel nicht da ist, wirst du dann zu den Newdales mitkommen?«

»Ehrenwort«, versicherte Dwayne. »Aber Sie wird dasein, das ist so sicher, wie der Sonnenaufgang oder wie … oder wie … sicher wie etwas, wie der Sonnenaufgang oder wie … oder wie …« Er verstummte.

Nach einer Kurve hielt der Einspänner hinter einem schwarzen Landauer vor einem Haus, das ein großes Schild trug: ›Rachel Evermer – Haute Couture‹.

Dwayne stieg aus und bewegte sich schwankend auf den verriegelten Eingang des Geschäfts zu.

Robert folgte ihm. Auf halbem Weg hörte er, wie die Fondtür des dunklen Landauers zugeworfen wurde und jemand hinter ihm herschritt. Er drehte sich um und sah sich einem Mann gegenüber, der eine Melone auf dem eiförmigen Kopf trug.

»Was wünschen Sie, Gentlemen?«, erkundigte sich der Mann.

Dwayne gab Robert Zeichen. »Gib ihm Geld, damit er Kaffee trinken kann, und sag' ihm, dass er sich packen soll!«

Wie eine Schildkröte zog der Mann den Kopf zwischen die Schultern. Dann explodierte er. »Ich bin Sergeant Ironside, Scotland Yard. Von der Mordkommission, wenn Sie es ganz genau wissen möchten!«, tobte er. »Und wenn Sie nicht direkt in eine Zelle wandern wollen, stehen Sie mir gefälligst Rede und Antwort!«

»Mordkommission?!«, reagierte Robert verwundert. »Haben Sie mit Inspector Flanders zu tun?«

»Allerdings. Ich bin sein Assistent!«

»Oh!«, entfuhr es Robert. »Mein Name ist Merrivell.«

»Sind Sie derjenige, der den Leichnam in Miss Newdales Kutsche entdeckt hat?«

»Ja«, nickte Robert und deutete auf Dwayne. »Das ist Mr. Straightbolt. Ich wollte ihn gerade zu den Newdales bringen. Aber er hat sich in den Kopf gesetzt, dass Miss Evermer hier ist, und dass er zuvor mit ihr reden muss.«

»So, so? Sie befindet sich allerdings hier … Allerdings wird Inspector Flanders entscheiden, ob und wann jemand mit ihr sprechen kann. Er ist gerade bei ihr!«

Inzwischen hatte Dwayne die Nachtglocke in Betrieb gesetzt, und Robert sah im Hintergrund des Geschäfts ein Licht aufblitzen. »Woher wusstest du, dass Rachel hier sein würde, Dwayne?«

Der machte ein weises Gesicht. »Sagte dir ja, dass es so sicher wäre wie … Nun eben, völlig sicher, oder nicht?«

»Aber woher wusstest du das?«

»Ich weiß alles, mein Lieber. Ich weiß immer alles!«

Die Tür öffnete sich, und Flanders stand da, die Pfeife zwischen den Zähnen, die Hände in den Taschen seines Mantels. Fragend blickte er Robert an.

»Das ist Mr. Straightbolt, Inspector. Er …« Robert brach ab, da Dwayne bereits an Flanders vorbeidrängte und geradewegs durch den Laden schritt, wobei er nur einmal gegen einen Tisch stieß. »Ich bedaure es sehr … Aber er ist völlig betrunken.«

»Wie hat er die Nachricht aufgenommen?«, wollte Flanders wissen, während er beobachtete, wie Dwayne im Hintergrund im Büro verschwand.

»Er ist zu betrunken, um auf etwas zu reagieren«, erwiderte Robert. »Er bestand nur darauf, Rachel zu sprechen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich ihm zu fügen, da ich ihn sonst nicht vom Fleck gebracht hätte. Woher er wusste, dass sie hier ist, kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Ich möchte es auch lieber selbst herausfinden«, entgegnete Flanders. »Kommen Sie herein?«

»Wenn Sie irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Mann haben, Inspector, rufen Sie mich nur«, meldete sich Sergeant Ironside.


Die Zwanzigste Stunde

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