Читать книгу Fuchserde - Thomas Sautner - Страница 10

2.

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Lillis Wehen wurden immer stärker, doch das ließ sie die beiden Gendarmen nicht merken. Sie hatte die Beine unter ihrem langen, schweren Rock versteckt, hockte auf dem staubigen Boden, den Rücken ans Wagenrad gelehnt, und sah in zwei pausbäckige Gesichter, die von Fusel und Schweinefett aufgedunsen waren. Als der kleinere der beiden zu reden begann, schoben sich die Falten seines Doppelkinns übereinander wie die Lappen einer alten, speckigen Ziehharmonika. »Verschwindet sofort vom Gemeindegebiet, wenn ihr keine Wandererlaubnis und kein Hausierbuch habt«, keifte er, nahm den Holzknüppel von seinem Gürtel und ließ ihn ein paarmal lässig in die flache Hand klatschen. Lilli hatte keine Angst. Sie war zornig, und das war der Grund, warum sie erwog, die beiden zu verhexen. Sie hätte ihnen Kröpfe wachsen lassen können oder eitrige Furunkel. Beides womöglich. Freilich wusste sie, dass das Kraftverschwendung gewesen wäre, denn der Zauber würde keinesfalls rasch genug wirken, um die Gendarmen zu vertreiben. Weit schwerer aber noch wog, dass sie die Flüche viel, sehr viel Kraft kosten würden. Kraft, die ihr und ihrem Ungeborenen, das immer heftiger nach draußen ins Leben drängte, bei der nahen Geburt fehlen würde. Und dennoch war die Versuchung für Lilli groß, die beiden Fettwänste für ihre Gemeinheit noch mehr zu strafen als es Gott, für jedermann offensichtlich, ohnehin bereits getan hatte.

»Ist schon in Ordnung«, sagte da Lillis Mann, der ihren Holzkarren zur Nachtrast am Tag davor in alter Übung und mit Vorbedacht an einem Grenzstein angehalten hatte. »Komm Lilli«, sagte er in ruhigem, fröhlichem Ton, »steh auf, wir rücken ein bisschen herüber auf Zwettler Boden, zur anderen Gemeinde.«

Es hatte schon Nächte gegeben, in denen es bis zum Morgengrauen so ging: von einer Gemeinde in die andere, und wieder retour. Für die beiden Gendarmen war der einfache Trick neu. Die rasche Lösung der Angelegenheit irritierte sie. Also setzten sie sich einige Meter neben dem Karren der Jenischen ins Gras, und es dauerte eine Weile, bis sie schließlich begreifen mussten, dass ihnen nun von Gesetzes wegen keinerlei Handhabe mehr gegen die Fahrenden blieb. Für Lilli dauerte die Nachdenkpause der beiden zu lange. Ihr Kind wollte nicht länger warten. Und da die beiden Gendarmen keine Anstalten machten, sich auch nur ein paar Zentimeter von der Stelle zu bewegen, lief sie, ihren prallen Bauch mit den Händen haltend, auf den nahen Hügel und verschwand hinter ein paar Haselnusssträuchern. Keine halbe Pfeifenlänge verging, da tauchte sie wieder auf. Ihr Mann, ihre Kinder und die beiden Gendarmen sahen sie vom Hügel herunterkommen. Ihre nackten Füße schienen über die Wiese zu schweben. Ihre Sohlen streichelten vom Himmel her das Gras. Ihr offenes, rabenschwarzes Haar war eins mit dem Wind und ihre goldenen Ohrringe glänzten im Sonnenlicht. Sie hatte ihren knöchellangen, schmetterlingsbunten Rock nach oben gerafft, sodass man ihre schönen Beine bis weit über die Knie sehen konnte. Lillis Gesicht war Entspannung und ihr Lachen der Frühling. Im Rock trug sie ihren Sohn. Zu Ehren des Ururgroßvaters, der einst im Moor versunken war, als er für die Familie Land gesucht hatte, sollte er Franz heißen.

Fünf Wochen war es nun her, dass sie von Amaliendorf aufgebrochen waren. Während der ersten Frühlingstage hatten sie ihr Hab und Gut und all die Tandlerwaren, die in den letzten Monaten fabriziert worden waren, auf den Karren gepackt. Sie hatten ihrem guten, alten, zotteligen Hund das Geschirr umgelegt, damit er beim Ziehen helfen konnte, und waren Richtung Süden aufgebrochen. Den ganzen langen Winter über hatten die Frauen und Mädchen aus unansehnlichen Fetzen, aus Stoffund Wollresten bunte Kleider, hübsche Schürzen und Tischdecken, schöne Westen und Umhänge gezaubert, hatten gestrickt und gehäkelt. Hatten die unzähligen getrockneten Heilkräuter sortiert, die sie im Wald und im Moor gesammelt hatten, bevor der Schnee die Landschaft so fest einschloss, als wollte er sie nie wieder freigeben. Sie hatten die Kräuter im hölzernen Mörser zerstampft und sie anschließend fein säuberlich in kleine Stoffsäckchen verschnürt. Die Männer und die Buben wiederum hatten Holz mit Flacheisen und Feilen bearbeitet, auf dass handelbare Holzschuhe daraus würden, sie hatten unzählige Besen gebunden, mehrere Dutzend Körbe und Schwingen geflochten und kurzstielige Pfeifen geschnitzt.

Gemeinsam war die ganze jenische Sippschaft bei der Arbeit in der kleinen Stube zusammengehockt, dem einzigen Zimmer im Haus, das dank des behelfsmäßigen Ofens und des darin verheizten Torfs zumindest so warm gehalten werden konnte, dass man den eigenen Atem nicht mehr sah. Was aber noch behaglicher wärmte, waren die Geschichten und Märchen, die von der Ältesten erzählt wurden. Sie war die Einzige, die nicht Hand anlegte, und dennoch durfte sie am nächsten zum Ofen sitzen. Ihr Zutun war nämlich nicht minder wichtig für das Gelingen der Arbeiten, und das war allen bewusst. Um aber ganz sicherzugehen, erwähnte die Alte eine ihrer Weisheiten besonders häufig: »Alles Gute, was man tut, ist seines Lohnes wert«, beendete sie viele ihrer Geschichten und beobachtete mit Wohlgefallen das stumme Nicken der anderen.

Als Lilli und ihr Mann samt den Kindern und dem Ungeborenen aufgebrochen waren, war ihr Karren so hoch mit Hausrat und anderen Handelswaren beladen, dass zu fürchten stand, der klapprige Wagen könnte beim erstbesten Windstoß oder beim nächsten Schlagloch umkippen. Nahrung hingegen führten sie kaum bei sich. Für nur drei Tage wurde Proviant geladen. Mehr sollte schließlich und endlich auf der Reise erbettelt oder vorteilhaft gegen Ware eingetauscht werden.

Beim Abschied von den anderen, die in den nächsten Monaten die kargen Felder zu bewirtschaften haben würden, flossen Tränen. Ein Wiedersehen würde es erst in gut einem halben Jahr geben, dann, wenn die Tage fürs Herumziehen zu kurz und zu kalt würden, dann, wenn bald die Raunächte übers Land kämen, knapp vor dem nächsten Winter – also noch lange, lange nicht. Denn dieser Winter war gerade erst dabei, sich widerwillig zu verabschieden, mit den letzten Schneeresten, die an den Wegböschungen der schwachen Sonne trotzten.

Bevor der Wagen losrollte, umarmten einander alle und die Älteste steckte Lillis Mann beim Abschied einen alten, zusammengeschrumpelten Erdapfel in die Manteltasche. Worte verlor sie darüber keine.


Die Herkunft der Jenischen ist nicht restlos geklärt. Vermutet wird, dass sie, anders als andere Fahrende, etwa Roma und Sinti, europäischen, womöglich keltischen, Ursprungs sind. Zudem stießen im Laufe der Jahrhunderte Menschen zum Volk der Jenischen, die wegen Hunger, Armut, Krieg, Massenkrankheiten oder Realteilung zur Wanderschaft gezwungen waren. Im Mittelalter sah sich etwa ein Fünftel der Menschen genötigt umherzuziehen, im 17. und 18. Jahrhundert gar ein Viertel. Noch im 19. Jahrhundert waren es etwa zehn Prozent. Bei den Jenischen unter ihnen wurde aus der Not des Reisens eine Tugend sowie ureigenste Tradition und Lebensform. Ihr Brot verdienten sich die Jenischen als Handwerker, Kesselschmiede, Pfannenflicker, Korbflechter und Besenbinder, Bettler, Hausierer mit Waren aller Art, als Schausteller, Wahrsager, Kräuterfrauen, Kartenleger, Seiltänzer, Bärentreiber, Vogelhändler, Zirkusbetreiber, Drehorgelspieler und mit vielen anderen Tätigkeiten.

Heute gibt es in Europa Schätzungen zufolge zwischen zweihundertfünfzigtausend und eineinhalb Millionen Jenische. Eine Gruppe davon sind zum Beispiel die Tinkers in Irland, Schottland und England. Ihre Sprache (Shelta) ist die reinste Form des noch gesprochenen Keltischen. Jenische leben aber unter anderem auch in Frankreich, Spanien, Italien, der Schweiz, Norwegen, Schweden, Finnland, Deutschland, Tschechien, der Slowakei, Ungarn und in Österreich.

Die Jenischen haben eine eigene Sprache, mit der sie sich über alle Landesgrenzen hinweg untereinander verständigen können. Bedeutung und Herkunft des Wortes »Jenisch« sind strittig. Die Wortwurzel könnte im Romanes liegen und die Sprache der Wissenden und Eingeweihten bezeichnen. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Jenisch eine Mischung aus Keltisch, Romanes, Jiddisch sowie regional gefärbten Wortkreationen. Jenisch hat keine eigene Grammatik, allerdings einen großen Wortschatz. Die Fahrenden verwendeten und verwenden Jenisch als Geheim- und Berufssprache.


Die Götter verließen deine Ahnen keinen einzigen Tag. Während ihrer ganzen langen Reise nicht. Ab dem Tag, an dem die Familie von Amaliendorf aufgebrochen war, stand sie unter ihrer Obhut. Und weißt du warum, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weil ihnen die Älteste der Sippe einen Glückserdapfel mitgegeben hatte, so wie es noch heute Brauch ist hier heroben, bei uns im Waldviertel. Den Erdapfel hatte sie im Sommer ausgegraben. Und ab diesem Moment, ab dem Augenblick, an dem dieser Erdapfel dem sonnengetrockneten Acker entnommen worden war und die groben Hände der Alten ihn zum ersten Mal befühlt hatten, bekam er die Aufgabe, der Familie beizustehen. Alleine mit diesem Gedanken fütterte die Alte den Erdapfel. Immer wenn sie ihn ansah, ihn zwischen ihren Händen rieb und mit ihrem knöchrigen Daumen aufs Neue grüne Triebe abstreifte, konzentrierte sie sich darauf, dass dieser Erdapfel dazu bestimmt war, Glück zu bringen. Vielleicht hundertmal wurde der Erdapfel auf diese Art von der Alten mit Liebe und Energie aufgeladen. Je älter und somit kleiner, runzeliger und härter er wurde, desto mehr Kraft wohnte in ihm.

Als er schließlich gut ein halbes Jahr später in die Rocktasche von Lillis Mann plumpste, war er kein gewöhnlicher alter Erdapfel. Er war Schutzschild und Glücksbringer zugleich: Er bewahrte seinen Besitzer und dessen Liebste vor dem schlimmsten Unglück und half dem Glück etwas nach, wenn es nötig war. Außerdem stand die Familie dank des Erdapfels stets unter dem Schutz der Ältesten. Wenn sie sich einmal alleine fühlten, nahmen sie den Erdapfel, reichten ihn in der Runde herum, ließen ihn zwischen ihren Fingern tanzen, befühlten ihn, rochen an ihm, nahmen ihn fest in ihre Faust: Lilli, ihr Mann und die Kinder. Und dann wussten sie, dass die Älteste und mit ihr die ganze Sippe bei ihnen war. Dann wussten sie, dass alles gut war und dass ihnen nichts geschehen konnte.

Ich finde es schön, dass du nicht lachst, wenn ich dir diese Geschichte erzähle, mein kleiner, schlauer Fuchs. Als ich sie dir das erste Mal erzählte, konntest du dein Kichern nicht zurückhalten. Doch inzwischen bist du älter geworden und ich weiß, dass auch du die Kraft des Glückserdapfels mittlerweile zu schätzen weißt.

Kannst du dich noch erinnern, wann der Erdapfel auf dieser Reise zum ersten Mal seine Wirkung tat? Zum ersten Mal schüttete er Glück aus, als ihn Lillis Mann kurz nach der Abreise in seiner Rocktasche entdeckte. Als er nach seiner Pfeife greifen wollte, rollte ihm der Erdapfel in die Hand. Kaum hatten seine Finger das runzelige Etwas ertastet, begriff er: Die Älteste hatte an ihn und seine Familie gedacht. Sie hatte einen Glückserdapfel reifen lassen, auf dass ihnen nichts geschehen konnte, auf dass sie wohl behütet seien. Lillis Mann durchrieselte das Glück. Er behielt die Hand in der Tasche, umfasste den Erdapfel, und mit einem Mal ließ sich der Wagen leichter ziehen, mit einem Mal war die Angst verflogen, die ihn die letzten Kilometer begleitet hatte, und der Zweifel, ob diese Wanderschaft nicht zu beschwerlich sein würde für seine schwangere Frau und die kleinen Mädchen. Nein, nun war alles gut. Mit einem Mal war er voller Zuversicht. Als er sicher war, dass seine Augen nicht mehr allzu sehr glänzten, hielt er an, drehte sich zu Lilli um, die mit den Kleinen auf dem Karren saß, lachte sie an und sagte: »Ich liebe dich.« Ab diesem Moment hatte auch Lilli keine Angst mehr.

Ja, mein kleiner Fuchs. Das war das erste Mal, dass der Erdapfel seine Wirkung getan hatte.

Wenige Wochen später, es war im Morgengrauen, da setzten Lillis Wehen ein. Und bald darauf, als die Sonne eine Handbreit über den Wipfeln stand, fiel ein gesunder, kräftiger Bub aus Lillis Schoß. »Wurde auch Zeit«, sagte ihr Mann und lachte, als ihm Lilli nach drei Mädchen den ersten Buben entgegenstreckte.

So leicht die Geburt dank der wochenlang zuvor eingenommenen Kräutermixturen und der aufgetragenen Heilsalben verlief, so mühsam zäh verrann die Zeit knapp davor. Denn deine Vorfahren waren von zwei Gendarmen aufgehalten worden, die Streit anfangen wollten. Deine Ahnen wussten nach nur wenigen Augenblicken, dass es sich um armselige und mit sich selbst unzufriedene Menschen handelte. Sie verrieten sich, wie sich alle unglücklichen Kreaturen verraten: durch Hass, Wichtigtuerei und Neid. Gottlob hatte sich Lillis Mann schon viel Lehrreiches von der Ältesten abgeschaut und darum wusste er, wie zu handeln war. Es ist sinnlos, solche Menschen bekehren zu wollen, denn das provoziert sie nur und ist der Mühe nicht wert. Unnütz ist es auch, mit der Faust zu antworten, das verlängert nur den Ärger. Also ging Lillis Mann den Weg des Raben. Du weißt doch: Der Rabe ist unscheinbar, er trägt kein buntes Kleid. Und doch steckt er voller Intelligenz und eleganter List. Lillis Mann machte nicht viel Aufsehen. Er ging sowohl mit seinen Nerven als auch mit seinen Muskeln sparsam um. Er tat nicht mehr und nicht weniger, als nötig war: Er zog seinen Karren ein paar Meter über die Gemeindegrenze – und damit aus dem geistigen Horizont der plötzlich nicht mehr zuständigen Gendarmen.

Auch Lilli hatte viel von der Ältesten mitgegeben bekommen. Eine Gabe, die besonders hervorstach, hatte sie allerdings bereits in die Wiege gelegt bekommen: das Hexen. Hexen ist, wie du weißt, mein kleiner, schlauer Fuchs, ein durchaus brauchbares Geschenk der Götter. Mit Hexerei wurden schon viele brave Menschen von Unheil befreit, und etliche böse Menschen wurden in ihrem zerstörenden Treiben gebremst. Allerdings ist die Hexerei eine Kunst, die nicht nur Können verlangt, sondern, und das ist zumindest ebenso wichtig, große Weisheit. Mit der war deine Ahnin aber leider nicht gesegnet. Lilli war ungestüm und allzu jähzornig. Und so schleuderte sie ihre Verwünschungen ebenso wahl- und ziellos durch die Gegend, wie Zeus seine Blitze an einem schwülen Sommerabend. Weil sie dafür von ihrem Mann oft gescholten wurde, verschwieg ihm Lilli bald ihre Hexereien, die ihr, sobald sie ihr entfahren waren, oft selbst nicht ganz koscher waren. Und so kam es, dass sich auf ihrer Reise erst auf dem Rückweg zeigte, wo Lilli Monate zuvor Ärger bereitet worden war: Es wimmelte nur so von ehemals gemeinen Gendarmen, geizigen Bauern, rabiaten Bürgern und lüsternen Burschen, die ihnen, nun sehr stumm und das Gesicht rasch abwendend, mit Eiterbeulen, Furunkeln und Geschwüren wieder begegneten.

Als sich diese Wiedersehen einige Male zugetragen hatten, fragte Lillis Mann nicht mehr nach den Gründen für die Verwünschungen. Er rügte seine Frau auch nicht mehr. Er drehte sich nur kurz nach Lilli um, die gerade wie zufällig wegsah, schüttelte den Kopf und steuerte auf den jeweils armseligen Tropf zu. Lilli wusste dann, was sie zu tun hatte, um ihren Mann zu besänftigen. Sie sprang vom Karren und gab heilende Salbe, lindernde Kräuter und schmerzstillendes Wurzelpulver. Wie viel Geld sie den Gadsche* dafür abknöpfte, erzählte sie ihrem Mann nicht. Sie tat die Einnahmen einfach in die gemeinsame Schatulle. So falle ihr Geschäft mit den zuerst aus Zorn verhexten und dann aus Liebe – Liebe freilich nur zu ihrem Mann – geheilten Opfern nicht auf, dachte sie.

Zu verheimlichen versuchte sie ihrem Mann auch, wie sehr die vielen Verwünschungen sie auszehrten, wie viel Seelenkraft sie sie kosteten – auch die rettenden Gegenzauber, die neben den Tinkturen und Mixturen für eine Heilung unabdingbar waren.

Dass Lilli zu spät die nötige Ruhe und Weisheit fand und zu lange verschwenderisch mit ihrer Gabe und ihrem Ärger umgegangen war, zeigte sich, als sie schon nach vierzig Wintern schwer krank wurde und ihren Körper mit jenen Furunkeln, Beulen und Geschwüren übersät fand, die sie einst anderen an den Hals und wer weiß wo sonst noch hingewünscht hatte. Als ihre teils erwachsenen Kinder sie knapp vor ihrem Tod fragten, wie dieses Unheil nur über sie kommen konnte, da sie doch besser als alle anderen mit Hexerei, Heilkräutern und Kobolden umzugehen wisse, hieß Lilli ihre Kinder eine einfache Übung sehr, sehr sorgfältig zu machen. »Lasst eine Eisenkugel auf eine Marmorplatte fallen«, sagte sie und lächelte bitter.

Hast du das schon einmal gemacht, mein kleiner, schlauer Fuchs? Hast du schon einmal eine Eisenkugel auf eine Marmorplatte fallen lassen? Es ist eine sehr lehrreiche Lektion über Aktion und Reaktion. Denn merke dir, mein kleiner Fuchs: Alles, was du im Leben tust, hat Konsequenzen. Für dich und für deine Umwelt. Mag es dir noch so klein und nichtig erscheinen – mit allem, was du tust, bist du Quell für Neues. Und das Schöne ist: Du bekommst jeden Tag, ja sogar jede Minute, das Geschenk, dich für Gut statt Böse, für Liebe statt Hass zu entscheiden.

Unsere Urahnin Lilli hat sich nach ihrem Tod ganz dem Guten zugewandt. Als Mulo* konnte sie zwar noch eine Generation lang das Hexen auf Erden nicht lassen, und sie mischte sich immer wieder in den Lauf der diesseitigen Dinge ein. Doch stets tat sie es in großer Weisheit und Liebe. Und nie wieder zu irgendjemandes Schaden.

* Mit einem Stern gekennzeichnete Begriffe werden im Glossar erläutert

Fuchserde

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