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3.

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Luca Resulatti wollte nicht das Leben führen, das für ihn bestimmt war. Er wollte auch nicht auf den Tod warten, der für ihn vorgesehen war. Er wollte nicht enden wie sein Großvater. Der war als Korberkind geboren worden, hatte sein Leben lang nichts anderes getan als Körbe zu flechten, und er war auch als Korber gestorben – und wie ein Korber: im Schneegestöber einer zu kalten Novembernacht. Dabei war Luca Resulattis Großvater keinesfalls ein trauriger Mensch gewesen. Und wenn ihn hin und wieder doch die Traurigkeit überkam, dann lenkte er sich ab, indem er seinem Enkelkind, das ihm zugefallen war, wundervolle Luftschlösser baute. So war etwa der Bretterverschlag, in dem sie hausten, nur deshalb so löchrig, damit, wie der Großvater dem Kleinen glaubhaft erklärte, ja damit das goldene Glück durchs Dach auch reichlich auf sie niederrieseln könne.

Je älter Luca wurde, umso mehr liebte er seinen Großvater. Und umso mehr schmerzten die warmen Weisheiten des altersschwachen Mannes, die, wie Luca wusste, nur noch ihm galten. Es waren Geschenke zum Abschied. Und die wiegen besonders schwer. Luca schmerzte es auch mitanzusehen, wie höchste Weisheiten mit niedrigsten Lebensumständen einhergehen. Es schmerzte, dass Tugendhaftigkeit und Fleiß nicht satt machten. Das war schlimmer als der Hunger selbst.

Als die Arthritis die Finger des Großvaters immer mehr anschwellen ließ und das Flechten der Körbe schließlich zur unerträglichen Tortur wurde, beschloss der Alte Mundharmonika spielen zu lernen. Dazu seien keine flinken Finger nötig und das Musizieren würde sicher auch nicht weniger Geld einbringen als das Körbeflechten. Dass er keine Mundharmonika besaß und darüber hinaus noch nie einen Ton auf nur irgendeinem Instrument gespielt hatte, schien Lucas Großvater nicht zu verunsichern. »Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg«, sagte er feierlich. »Und was ein Jenischer nicht kann, das kann er lernen.« Zur Bekräftigung für den Kleinen – und sich selbst – legte er zärtlich seine schwere Hand auf die Schulter des Enkelkinds. Dann lächelte er Luca an und sagte: »Weißt du, wir Zigeuner finden immer einen Weg. Wir sind wie das Wasser.«

Drei Wochen später verfolgte der Großvater einen seiner Träume. Er verfolgte ihn ganz intensiv, und weil es ein so schöner Traum war, wollte er ihn diesmal, dieses eine Mal, nicht wieder loslassen. Und so entschied sich Lucas Großvater, bis in alle Ewigkeit weiter zu schlafen.

Am Abend zuvor hatte er auf einer verrosteten Mundharmonika zum ersten Mal fehlerfrei eine einfache Melodie gespielt.

Luca Resulatti hatte sich schon Monate vor dem Tod seines Großvaters entschieden. Er wusste, was er tun würde, an dem Tag, an dem er zum ersten Mal in seinem Leben niemanden, wirklich niemanden mehr haben würde. Sobald es so weit wäre, würde er aufbrechen. Er würde sich auf die Suche machen nach dem anderen Teil seiner Sippschaft. Auf die Suche nach seinem Onkel, dem Herrn über Elefanten, Bären und Löwen. Nach seinem Onkel, von dem sein Großvater immer erzählt hatte, er sei einer der größten Zirkusdirektoren, die Italien je erlebt habe. Jener Onkel, den er selbst nie zu Gesicht bekommen hatte und von dem es hieß, dass er sich in der Umgebung nicht blicken lassen könne, wegen Geschichten, die lange her wären und von denen man besser nichts wissen sollte. »Zu deinem eigenen Vorteil«, wie Lucas Großvater stets betonte und jedem darauf folgenden Drängen seines Enkels widerstand, was Seltenheitswert hatte.

Der Tag, den Lucas Großvater durch seinen Tod zum Abreisetag für seinen Enkel machte, schien der denkbar ungünstigste für den Beginn einer langen Wanderung. Der Schnee lag kniehoch, was seit Jahren nicht mehr der Fall gewesen war, und eisiger Wind peitschte übers Land. Wie schon sein Großvater konnte Luca alles, was er besaß, auf seinem Rücken tragen. Um seine Füße hatte er mit Bast Gamaschen aus Lederresten gebunden, um seinen Körper – zusätzlich zur Kleidung – Zweige. Dazwischen hatte er Moos gestopft. Dennoch klapperten seine Zähne, als er nach stundenlanger Wanderung zum ersten Mal bei einem Bauern anklopfte, und sein Körper zitterte vor Kälte. Als niemand öffnete, klopfte er nochmals, diesmal fester. Seine Knöchel spürte er nicht mehr. Dann trommelte er mit der Faust an die schwere Holztür. Als sie sich endlich öffnete, grinste Luca Resulatti breit und bemühte sich, fröhlich zu erscheinen. Kurz überlegte er, ob man ihm ansah, dass er seine Mimik nicht mehr unter Kontrolle hatte, weil er vor Kälte nicht nur in seinen Händen und Füßen, sondern auch in seinem Gesicht kein Gefühl mehr hatte. Er grinste und sprang fidel hin und her, weil er von seinem Großvater gelernt hatte, dass die Menschen mit Leid nichts zu tun haben wollen, dass sie an Problemen vorbeisehen, und dass sie die Not anderer nur interessiert, wenn sie ihr Mitleid von der sicheren Ferne aus zeigen können; freilich nicht durch Taten, sondern nur sich selbst und anderen Gaffern, durch Händeringen, Seufzen, womöglich die eine oder andere Träne. Sehr wohl aber mögen Menschen ihren eigenen Vorteil, und den am liebsten, wenn er durch Dritte nicht erkannt wird, sondern als Großmut erscheint. Deshalb gluckste Luca, sprang von einem Bein auf das andere, und die rund um den Gürtel und die Brust gebundenen Zweige wippten dazu: »Darf ich etwas tun für Sie, gnädiger Herr?«, trällerte Luca und ergänzte krächzend: »Scheren schleifen, Körbe flechten, Besen binden, Schirme oder Kessel flicken, alles gegen nur eine warme Mahlzeit und eine Nacht im Stall? Sie täten eine gute Tat!«

Der Bauer bekam vor Staunen den Mund nicht zu. Als er sich von dem ungewöhnlichen Anblick erfangen hatte, schüttelte er den Kopf und lachte: »Was bist denn du für ein kauziger Waldgnom. Hüpf doch um Himmels willen nicht so herum, du zerspringst ja noch vor Kälte. Na, komm schon herein.«

Es lief nicht immer so gut. Einige Bauern wiesen Luca Resulatti auch ab. Und es mag ja Zufall gewesen sein, aber jedenfalls schien es Luca so, als ob er umso herzlicher aufgenommen wurde, und umso großzügiger für seine Dienste entlohnt wurde, je kleiner der Hof war. Und dass er umso schroffer und billiger abgefertigt wurde, je wohlhabender die Bauersleute waren. Ein Großbauer war es auch, der sich mit höhnischem Lachen von ihm abwandte und wieder im Haus verschwand, nachdem ihm Luca angeboten hatte, seine Töpfe zu flicken. Luca ahnte nichts Gutes und wollte sich schon davonmachen, da kam der Bauer zurück. In seiner rechten Hand hielt er drei blitzend neue, emaillierte Töpfe, in seiner linken Hand nochmals drei. »Diese Töpfe haben mich in der neuen Manufaktur nicht mehr gekostet als ein paar läppische Flickarbeiten von dir«, triumphierte er, und seine Töpfe schepperten dazu. »Jetzt könnt ihr schauen, wo ihr Zigeunerpack bleibt!« Luca nickte nur und machte kehrt. Er hatte sich einige Meter entfernt, da plärrte ihm der Bauer nach. »Warum ziehst du überhaupt mitten im Winter durch die Gegend? Sonst kommt ihr doch immer erst im Frühjahr. Und außerdem schleppt ihr doch sonst eure ganze Sippe mit. Warum bist du ganz allein?« Luca sah im Gehen über seine Schulter und schrie, lauter als es notwendig gewesen wäre: »Kauf dir die Antworten doch in der neuen Manufaktur!«

Die meisten Bauern wussten zu jener Zeit die Dienste der Fahrenden noch zu schätzen. Sie liebten die Geschichten, die die Jenischen zu erzählen wussten und mit denen sie die Wangen der um den Tisch versammelten Kinder zum Glühen brachten. Auch Luca Resulatti beherrschte die Kunst des Erzählens. Und so schilderte er etwa die abenteuerliche Herkunft eines Besens, der, bevor er in seinen Besitz gekommen sei, schon einer alten Hexe gedient habe. Die sei damit über Schlösser und Burgen geflogen und ihr guter Geist stecke noch immer in den Fasern des Besens, was die Frauen des Hauses ja bald bemerken würden. Denn dieser und nur dieser Besen fege Hof, Diele und alle Böden beinahe wie von selbst. »Euch Jenischen kann man auch wirklich keine Ware abkaufen, an der nicht eine Geschichte klebt«, lachte daraufhin der Herr des Hauses. »Wenn noch ein paar von euch kommen, ist bald unser ganzer Hausrat verzaubert.«

An Zauber grenzte es auch, dass Luca Resulatti es schaffte, all die Dinge, die er versprach, auch tatsächlich einzuhalten. Denn es konnte freilich keine Rede davon sein, dass er sämtliche Fertigkeiten, die er anpries, auch beherrschte. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Regenschirm geflickt, noch nie einen Topf oder eine Pfanne repariert. Was er wirklich konnte, war Körbe flechten – und improvisieren. Beides hatte er von seinem Großvater gelernt. Also werkte er einfach drauf los, wenn es galt, Dinge zu tun, die er bisher nur andere tun gesehen hatte. Und irgendwie funktionierte es immer. Wenn auch manchmal eben nur irgendwie.

Bei jedem Hof, in jedem Dorf und in jeder Stadt auf seiner Reise fragte Luca, ob »der berühmte Zirkus Resulatti« einmal in der Nähe Station gemacht habe. Doch niemand hatte jemals etwas von diesem berühmten Zirkus gehört, geschweige denn, eine der Vorstellungen besucht. Mit den Monaten wuchs in Luca Resulatti eine Sorge, die ihren Ausdruck darin fand, dass er nicht mehr nach dem »berühmten Zirkus Resulatti« fragte, sondern nur noch nach dem »Zirkus Resulatti«. Abermals Monate später, es war mittlerweile Spätsommer geworden, hatte Luca die Erfolglosigkeit satt. Also fragte er, ob denn nicht »irgendein Zirkus« in der Gegend gewesen sei. Das ließ die Trefferquote geradezu explodieren. Und Luca schöpfte wieder Hoffnung.

Nie und nimmer hätte er gedacht, dass es so viele Zirkusse gibt. Manche davon, so befand er, hätten sich, ginge es nach ihm, keinesfalls Zirkus nennen dürfen. Seiner Ansicht nach waren es armselige Häufchen von Menschen, die sich Artisten schimpften, nur weil sie es beispielsweise mehr schlecht als recht schafften, auf einem Seil zu balancieren, das zwei Meter über der Erde gespannt war, und dabei ein paar Bälle jonglierten. Nein, Zirkus müsste mehr sein, fand Luca Resulatti: größer, lauter, bunter, exotischer, gewagter. Kurzum: Ein richtiger Zirkus müsste so sein wie der seines Onkels. Und er würde nicht aufgeben, bis er diesen Zirkus gefunden hatte.

In der Zwischenzeit begnügte sich Luca Resulatti damit, sein eigener Zirkus zu sein. Er gewöhnte sich an, seine Besen und Körbe nicht bloß anzubieten und sie mit Anekdoten zu versehen. Zusätzlich verlegte er sich darauf, die Besen geschickt durch die Luft zu wirbeln, um sie schließlich elegant wieder aufzufangen. Er jonglierte mit Körben aller Art und Größe und ließ sie, sozusagen als Schluss- und Höhepunkt seiner Darbietung, ineinander auf seinem Kopf landen, sodass er letztlich einen meterhohen, wackeligen Turm aus Körben auf seinem Kopf balancierte. Und weil ihm dieses Kunststück noch zu wenig spektakulär schien, hatte er bei all der Herumspringerei die alte Mundharmonika seines Großvaters zwischen die Lippen gepresst. Dementsprechend hektisch klangen die Melodien. Den Leuten gefiel es.

Der Zirkus war es auch, der ihn auf einen neuen Verkaufsschlager brachte: Elefantenschmalz. Luca Resulatti pries das Schmalz als immens kräftigend an. Schließlich stamme es vom mächtigsten und größten Tier der Erde. Dass in den Tiegeln nur gewöhnliches Schweineschmalz war, das Luca zur Tarnung mit zerriebenen Waldkräutern verrührt hatte, vertrug sich mit den vom Großvater übernommenen hohen Moralvorstellungen durchaus. Schließlich könne man nicht auf die Dummheit jedes Bauerntölpels Rücksicht nehmen, sagte sich Luca. Genauso verhielt es sich bei zwei noch raffinierteren Produkt-Einführungen: den Tränen der Jungfrau Maria und den Milchtropfen aus der Brust der Mutter Gottes.

»Circo Carloso«, stand in großen Lettern an den Wagen, die von Pferdegespannen durch den warmen Sand der Landstraße gezogen wurden. Allein die Staubwolke, mit der die mehr als ein Dutzend Wagen ihn einnebelten, beeindruckte Luca Resulatti. So müsste er sein, dachte er, der Zirkus seines Onkels. Vor dem ersten Gespann wurden tatsächlich zwei Elefanten hergetrieben, hinter dem Tross rannten einige Zebras, Kamele und sogar eine Giraffe. In einem Käfigwagen sah man auf den Eisenstäben herumlungernde Schimpansen, in einem anderen wurden Löwen, wieder in einem anderen Tiger transportiert. Ja, das war ein richtiger Zirkus.

»Wo macht ihr Halt?«, rief Luca im Laufen den zwei Burschen zu, die am Kutschbock des letzten Wagens saßen.

»Malcesine«, kam von einem als Antwort.

»Und wie heißt der Zirkusdirektor?«

»Steht doch auf den Wagen. Kannst du nicht lesen? Carloso!«

Luca Resulatti war nicht enttäuscht. Er hatte nicht einmal zu hoffen gewagt, dass es der Zirkus seines Onkels sei. Und lesen? Ja, er konnte lesen. Anders als sein Großvater. Der hatte zwar keine Bücher lesen können, dafür aber in Gesichtern. »Ich sage dir, Luca, das Herz eines Menschen zeichnet sich auf seinem Gesicht ab«, hatte er hin und wieder gesagt, bevor sie gemeinsam mit ihren Körben hausieren gingen. Zum Beweis hatten sie geheime Handzeichen vereinbart, die der Großvater für seinen Enkel machte, sobald sich die Tür öffnete. Die offene Hand an der Hosennaht bedeutete: Das ist ein offener Mensch, wir haben gute Geschäfte vor uns oder zumindest ein freundliches Gespräch. Die geschlossene Hand bedeutete: Das ist ein verschlossener Mensch, der mit sich hadert, es wird schwierig, Geschäfte zu machen, und wahrscheinlich auch trostlos. Luca konnte sich an kein einziges Mal erinnern, bei dem sein Großvater geirrt hatte.

Ein paar Stunden später war die Zirkuskolonne in Malcesine an ihrem Standplatz angekommen. Mit nur etwas Verspätung folgte, vom schnellen Gehen keuchend und schweißnass, Luca Resulatti. Zum Rasten ließ er sich keine Zeit. Er inspizierte einen Wagen nach dem anderen und schließlich sah er ihn: Das musste er sein, der Zirkusdirektor, das musste Signore Carloso sein. Der Mann war nicht gerade hochgeschossen, vielleicht knapp eins siebzig groß. Er war spindeldürr, so um die vierzig Jahre alt, hatte krauses, schwarzes Haar und trug einen gezwirbelten Bart über seiner Oberlippe. Auf seinem Kopf saß ein schwarzer Hut, er trug ein weißes Hemd, darüber ein schwarzes Gilet. Schwarze, blank polierte Schuhe mit leichten Absätzen glänzten unter seiner schwarzen Stoffhose. In seinen Mundwinkeln steckte eine Virginia, an der er mehr zu kauen schien, als dass er sie rauchte. Luca Resulatti war zu nervös für lange Einleitungen: »Signore Carloso! Darf ich für Sie arbeiten?« Lucas Gegenüber lehnte sich an seinen hölzernen, rot-blau-gelb bemalten Wohnwagen, verschränke die Arme und schien zu lächeln. Aber genau konnte Luca das nicht beurteilen, vielleicht kaute der Mann auch nur auf eine sehr eigene Art und Weise an seiner Virginia. »Was kannst du?«, fragte der Zirkusdirektor. Luca wollte nicht riskieren, abgewiesen zu werden. Deshalb antwortete er so, wie es ihm bereits auf seiner Reise Erfolg eingebracht hatte: »Alles. Ich kann alles, Signore Carloso.«

»Alles«, wiederholte der Zirkusdirektor nachdenklich und mit betont beeindruckter Miene. »Nun, wenn das so ist und du wirklich alles kannst, dann beginne damit, die Damenlatrinen zu putzen.«

Das war nicht die Tätigkeit, die sich Luca für seinen Einstieg ins abenteuerliche Zirkusleben vorgestellt hatte. Da er aber sicher war, dass Großvater beim Anblick dieses Mannes seine offene Hand an die Hosennaht gehalten hätte, gab Luca Resulatti nicht auf: »Signore Carloso. Wenn Sie das so wollen, werde ich es machen. Aber ich bitte Sie, mir eine verantwortungsvollere Tätigkeit zu geben.« Das scheinen die richtigen Worte gewesen zu sein, freute sich Luca, denn nun lächelte der Zirkusdirektor. Mit Sicherheit lächelte er. Zigarrenkauen alleine konnte das nicht sein.

»Wie heißt du, mein Junge?«, wollte der Zirkusdirektor wissen. Als Luca Resulatti mit stolzgeschwellter Brust seinen Vor- und seinen Nachnamen aussprach, kippte die Virginia seines Gegenübers nach vorne und kurz, ganz kurz, wurde aus dem stolzen, eleganten Zirkusdirektor Carloso ein weicher, schmächtiger Mann.

»Ich habe es geahnt«, sagte Carlo Resulatti.

Er sperrte sich mit seinem Neffen in seinem Wohnwagen ein. Sie tranken und aßen gemeinsam. Sie erzählten einander in groben Umrissen ihr Leben der letzten Jahre, lachten über Anekdoten und erzählten einander Geschichten, wie sie nur Jenische erleben können. Nur eines wollte Carlo Resulatti nicht erzählen: Warum er von zu Hause fortgegangen war und seinen Namen geändert hatte. Vielmehr rang er seinem Neffen ein Versprechen ab: Niemals und um keinen Preis dürfe er das Geheimnis um seinen Namen verraten. Und auch seinen eigenen Nachnamen solle er tunlichst verschweigen. »Es ist auch zu deinem Besten«, sagte Carlo Resulatti.

»Muss ich jetzt noch immer die Damenlatrinen putzen?«, fragte Luca nach einer Weile, setzte ein keckes Gesicht auf, auch um wieder gute Laune in das zuletzt ernste Gespräch zu bringen, und boxte seinen Onkel freundschaftlich in die Rippen.

»Na schön«, antwortete er. »Da du von den Damenlatrinen offensichtlich nichts hältst, putzt du eben die Herrenlatrinen.« Luca Resulatti erkannte an den hochgezogenen Augenbrauen und dem ernsten Gesichtsausdruck seines Onkels, dass er nicht spaßte.

»Luca«, sagte sein Onkel dann. »Ich spüre, du willst hoch hinaus. Und du wirst es auch noch weit bringen, denn du bist klug und hast anscheinend schon viel gelernt. Aber denke daran: Der Weg ist lang. Und der Wolf wird nicht an einem Tag zum Oberhaupt des Rudels.«


In der warmen Jahreszeit, von Frühjahr bis Herbst, fuhren die Jenischen im Familienverbund im Land umher, um Geschäfte zu machen. Wenn es Winter wurde, lebten sie in abgelegenen Gegenden, die von der sesshaften Bevölkerung wegen ihrer Widrigkeit oder Gefährlichkeit gemieden wurden, etwa an Berghängen, in Auen und nahe von Mooren. In der Sprache der Jenischen gibt es, entsprechend der Reise- und der Nicht-Reise-Saison, nur zwei Jahreszeiten: den Hitzling (Sommer) und den Biberling (Winter).

Den sesshaften Kaufleuten und Handwerkern waren die Fahrenden aus Konkurrenzgründen stets ein Ärgernis. Den Landleuten jedoch waren sie willkommen. Denn sie lieferten auch in abgelegene Gegenden Waren aller Art und reparierten schadhaft gewordenes Geschirr sowie Werkzeug direkt vor Ort. Außerdem brachten sie von ihrer Reise die neuesten Nachrichten, willkommene Abwechslung und Unterhaltung. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verloren die Fahrenden dann sukzessive an Bedeutung: Aufgrund der verkehrstechnischen Erschließung auch entlegener Flecken und der Verbesserung der Nahversorgung waren Wanderhändler immer weniger gefragt. Zudem wandelte sich die Wiederverwertungsgesellschaft zur Wegwerfgesellschaft. Das machte Scherenschleifer, Pfannen-, Kessel- und Schirmflicker überflüssig. Handarbeit, etwa das Korbflechten und das Besenbinden, konnte mit der neuen Massenfertigung nicht mithalten. Übrig blieben bei dieser Entwicklung die Fahrenden. Sie wurden bald nur noch als lästig empfunden.


Luca Resulatti ist einer der ersten deiner italienischen Ahnen, dessen Leben uns überliefert ist, mein kleiner Fuchs. Er war vierzehn Jahre alt, als er eines Tages neben seinem toten Großvater erwachte. Luca war nicht erschrocken, als er bemerkte, dass sein Großvater nicht mehr atmete. Er war auch nicht verzweifelt. Ihm war nur schrecklich kalt. Weißt du, warum Luca so ruhig war? Er war ruhig, weil er wusste, dass der Tod nichts Schlimmes ist, sondern nur die Rückkehr zu sich selbst. Und er war ruhig, weil er stolz war, längst erwachsen zu sein, nämlich seit einem ganzen Jahr schon, und weil er wusste, dass er sehr gut selbst für sich sorgen konnte.

Sein Großvater hatte ihn auf das Alleinsein vorbereitet. Seit Lucas Eltern und Geschwister an Typhus gestorben waren, hatte er das getan. Nach dem Tod des Großvaters verlor Luca keine Zeit. Er packte seine Siebensachen und dann tat er das, was ihm sein Großvater als letzte Aufgabe mitgegeben hatte: Er brannte die Hütte ab, mitsamt dem Leichnam seines Großvaters darin. Die Gadsche sollten nichts von ihm finden, kein Härchen und keinen Fetzen Gewand. Lucas Großvater wollte nicht, dass sie sich hermachen über seinen leblosen Körper, er wollte nicht, dass sie sich mit ihm beschäftigen und so seine Seele stören, wenn sie gerade auf der großen Reise ist. Aus diesem Grund riet der Großvater seinem Enkel auch, sich niemals fotografieren zu lassen. »Ein Foto ist wie ein Teil von dir«, warnte er Luca. »Ebenso könntest du deine abgeschnittenen Fingernägel oder Haarbüschel von dir unachtsam liegen lassen. Und du weißt doch: Nichts ist einfacher, als dich mithilfe solcher Mittel zu verhexen. Lass dir nur ja nicht die Seele rauben!«

Als sich Luca vom brennenden Holzverschlag abwandte, wusste er nicht, welchen Weg er nehmen sollte. Aber er kannte sein Ziel. Längst hatte er beschlossen, Zirkusdirektor zu werden. Es dauerte nur zehn Jahre, zehn Jahre voll Unnachgiebigkeit, voll guter und schlechter Erfahrungen, zehn Jahre des Lernens und des Verantwortung-Übernehmens, nur zehn Jahre, und er war an seinem großen Ziel angekommen: Er wurde Herr über einen der größten Zirkusse Italiens. Sein Onkel hatte ihm alles beigebracht: alles über die Seele der Tiere und alles über die Seele der Menschen. »Mehr brauchst du nicht zu wissen«, sagte er zu ihm. »Mehr kann man gar nicht wissen.« Als er im Sterben lag, übergab er den Zirkus nicht an seine beiden Töchter, die er sehr liebte, sondern an Luca.

Die Wirklichkeit, mein kleiner, schlauer Fuchs, die Wirklichkeit beginnt in deinem Kopf. Du schaffst sie jeden Tag aufs Neue. Wenn du ein Ziel mit jeder Faser deines Herzens anstrebst, hat das Schicksal gar keine andere Wahl, als es dich erreichen zu lassen. Denn du hast mehr Energie in dir, als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst.

Luca Resulattis Onkel Carlo war vermutlich an Lungenkrebs gestorben. Weil es aus seinem Mund pausenlos qualmte, musste er sich von seiner besorgten Frau immer wieder beschimpfen lassen. Seine Reaktion darauf war stets dieselbe: »Mein Bruder hat nicht geraucht. Er hat nicht gesoffen. Er hatte nicht einmal Weibergeschichten. Und trotzdem ist er so früh gestorben, im Alter von sechs Jahren.« Carlo Resulatti brauchte seinen Humor, um mit dem Vergangenen zurechtzukommen.

Ihren Anfang hatte die Tragödie mit der Wettleidenschaft von Carlos Vater genommen. Von ihm hieß es, er habe noch nie in seinem Leben eine Wette, die er angenommen hatte, verloren. Dennoch war er im Ort ein begehrter Wettpartner. Denn wenn man auch damit rechnen musste, seinen Wetteinsatz an ihn zu verlieren, so schien die spektakuläre Gegenleistung, die Carlos Vater zum Gewinnen der Wette erbringen musste, den Geldeinsatz in jedem Fall wert. So kam es schon vor, dass Carlos Vater mitten in der Nacht nackt auf den Kirchturm kletterte und die Glocken läutete oder dass er zehn Gläser Schnaps ex trank, durch die Nase. Und irgendwann einmal wettete er dann, dass er die Frau des Bürgermeisters verführen und ihr Höschen noch in derselben Nacht an die Rathaustür nageln würde.

Als er wieder nüchtern war, wusste er, dass er es diesmal zu weit hatte kommen lassen. Gegenüber seiner Frau sah er kein Problem, schließlich war das Weib des Bürgermeisters eine Gadsche, und als Ehebruch galt bei den Jenischen nur Liebe mit einer anderen Zigeunerin. Wenn allerdings der Bürgermeister Wind von der Sache bekäme, und dafür würde wohl spätestens das Höschen seiner Frau am Rathausplatz sorgen, dann käme das einem Todesurteil gleich. Jeder wusste um den Jähzorn des Bürgermeisters und von seinem Hass gegenüber den damals praktisch vogelfreien Jenischen und den anderen Fahrenden. Da eine Wette aber nun einmal eine Wette ist und Carlos Vater weder seinen legendären Ruf noch seine Ehre verlieren wollte, beschloss er, die Sache durchzuziehen. Eine Woche später hing um fünf Uhr früh eine ziemlich große, seidene, mit Spitzen versehene Damenunterhose an der Tür des Rathauses.

Zwei Stunden später standen sie schon in der Hütte von Carlos Vater, die Männer des Bürgermeisters. Sie klopften nicht an, sie stellten keine Fragen und sie verloren auch sonst kein Wort. Sie durchschnitten die Kehle von Carlos Mutter, die Kehle seines Großvaters, jene des sechsjährigen Bruders und auch die des Neugeborenen. Carlos Vater ließen sie am Leben. Sie schnitten ihm lediglich die Hoden ab und nagelten sie an die Eingangstür. Beim Hinausgehen stellten sie den Wetteinsatz auf den Küchentisch: eine Flasche Schnaps.

Als Carlo und seine Großmutter einen Tag später von einem ausgedehnten Streifzug zurückkamen, trafen sie in der Nähe ihrer Hütte merkwürdigerweise keine Menschenseele. Carlo sah in die ängstlichen Augen seiner Großmutter. Als die Hütte in Sichtweite war, beschleunigte er seinen Schritt und deutete seiner Großmutter zu warten. Je näher er der Hütte kam, desto lauter hörte er seinen eigenen Atem. Als er durch die offene Tür trat, fand er seine Familie im eigenen Blut. Sein Vater hing mit einem Strick um den Hals vom Querpfosten der Stube. Auf dem Tisch stand eine volle Flasche Schnaps.

Weißt du, warum ich dir diese Geschichte erzählt habe, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weil ich dir am Beispiel deines unglückseligen Ahnen die Gratwanderung zwischen Ehre und Dummheit zeigen wollte. Denke immer daran, denn auch du bist noch ein eitler Hitzkopf.

Außerdem hat unser Ahne eine weise jenische Redensart nicht beherzigt. Du kennst sie schon. Sie lautet: »Jeder erhalte das Dreifache von dem, was er mir wünscht und tut.« Denkt und handelt ein Mensch gegenüber anderen gut, mein kleiner, schlauer Fuchs, dann strömt ihm von allen Seiten Segen zu. Tut er das Gegenteil, wird er unter negativer Strahlung zu leiden haben. Sogar, wenn dir jemand trotz deiner Freundlichkeit keinen sichtbaren Dank zeigt, seine Seele sendet dir Kraft, ganz unabhängig davon, ob dein oder sein Verstand etwas davon bemerkt. Darauf ist Verlass, mein kleiner, schlauer Fuchs. Es ist von jeher so gewesen. Und es wird immer so sein.

Fuchserde

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